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Full text of "Der Salon für Literatur, Kunst und Gesellschaft"

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Kunst und Gesellschaft 


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Lieralur, Kunſt und Gefelichafl 


Der Salon 


nun 


| Herausgegeben 

&. 9. Vayne. 
Band II. 1887. 

— — ñii 


Reudnitz Bei Teipzig, 
Verlag von A. H. Payne. 
1887. 


15423 


Inhalt des zweiten Bandes. 





Seite 
An der Pußta. Novelle von Emil Peihlau . . . —V 1 
Adolf Friedrih Graf von Schad. Ein Dichterporträt von Eruſt Biel. 20. 140 
Bon den nordweſtdeutſchen Infeln, der Nordſeeküſte und ber ze re 31 
März. Gebiht von Frida Shan . . 2 2 2 2. ne 42 
Eine Fäiher-Ausftelung Bon —h— . re 43 
Geſchichte einer Grasmüde. Aus dem Stalienifchen des ©. Beroa. Deutſch 
von Pauline Shan; . .. ... . 52. 162 
Zur Poloniſirung des eſipreußiſchen Adels, Bon v. Dat teen 
Zuverfiht. Gebiht von Hermance Potier . . . 87 
Die Wirkung des elektrifchen Lichts auf die Bflanzenegtiwidelung. Bon 8. R. 89 
Flamme und Aſche. Gediht von D. Saul . . . 9 
Der Piebe Anfang und Ende. Ein Abenteuer aus dem Leben Karis Ir von 
Schweden. Bon DO. Reuber . . . 2 2 2 2 2 22... 121 
Auf Capri. Gedicht von Reinhold Auds . . . 2 2 2 nenn. 151 
Die Sage von el Dorado. Bon Wilhelm Bope. von Emil 
7) I We 152 
Ludwig Ubland. Zu — bnderjahügen oeunbin von nRich Jul. 
George . . i A — 197 
Aus dem Gebiete der — Bon R. Raab er br. are 206 
Eßbouquet. Blüette in einem Alt von Hans von Reinfels — Par 214 
Wie Gertrud von Frank einen Mann befam. Cine wahre Gedichte von dor 
ftance Baroneffe von Gaudby . . . 241 
Frankreich im Lichte feiner Piteratur. Kritische ci ans von "Charles Fuſter. 
Ueberſetzt von Ewald Paul . . . nn. 257. 3834. 495. 623 
Hier vor dem Haus die alte Finde, Gedicht ‚von Baul Warnde . . . . 267 
Zur Naturgeſchichte des Schanfpielers. Skizze von — — Te 
An das Schidjal. Gedicht von Leo Hanin . . . . 20. 283 
Ein vergeffener Saft. Skizze von U. v. Winterfeld . . 2 2 2 0 0.284 
Antel. Eine polnische Dorfgefhichte von Boleslaus Prus . . 2... 29 


Held Teuerbant oder Marimilians Brautfahrt. Bon Dr. 3. Nover „. . . 314 
Feuilleton. Novelliftiiche Plauberei von Marie v. Wilden . . 2 2... 330 


Die Lebensalter. Gedicht von Alfred Bed . . 2 2 2 2 2 nen. 8335 
Kapitän Fieramoslas Berlegenbeiten. Bon *,* . 361 
Die Baumeiſter in der Thierwelt. Von —— Bi ar ee er 
Auf Ummegen. Novelle von Hermann Birkenfeld . . . . . . 404. 517 
Dichters Früblingsflage. Gedicht von 3. Bertha Semmig . . . . . 43 


Ein denlwürdiges Album. Bon Dr. Adolph Kohut . 436 
Widerſtreit. Gebiht von Paul Barſch , 443 
Die franzöfifhen Bäder. Bon E. von Jagow . ..441 
Eine Hochzeit. Von A. Ch. Edgren-Leffler. Deutſch von Emil Jonas 481 
Eine Bauernhochzeit im oſtpreußiſchen Oberlande. Bon Hildebrandt— 
Streblen . . F Da ne wa Rees ee 
Die Mufe des Sonetts. Bon Herman Sem mig. u 


„Ab, die Nächte ohne Schlummer“ — Gedicht von Hermance potier — + 


Ein Modemärchen. Bon Eliſabeth Pollaeſek et 559 
Kapitulirt. Schwank in einem Alt von Hans von Reinfels . 571 
Erſte Liebe. Novelle von E. Wismar . : 601 
Berühmte Geigenbauer und ihre Kunft. Bon 1. Ehrlich 633 
Ein Kind der Welt. Novellette von S. J. Volſteg 643 
Grillparzer und ſeine Beziehungen zur Tonkunſt. Von Ferbinaub J 670 
Strandritt in Kaſſuben! Gedicht von Kurt von Köppen 681 
Ein Beſuch bei den Kartäuſern. (Mit zwei Illuſtrationen.) 682 
Liebichaften Auguft des Starten. Bon Dr. 9. Tb. Traut . 686 
Zur Gefchichte der Kometen . . ; an 696 
Am Kamin ; . 95. 29. 336, 458. 587. 701 
Neuefte Dioven . 113. 233. 353. 473. 593. 709 


/ 


Kunfblätter. 


Der Heine Held. Nah einem Triginal- 
gemälde von Karl Reichert. 

Schnepie im Frühling. 

Brofeffor Alma Tadema. 

Der Nil bei Alt-Kairo, 

Polniſche Panzerreiter. 

Landſchaft am Jordan. 

Ludwig Uhland. 

Eule mit Jungem. 

Farbenftudien. Nach dem Originalge⸗ 
mälde von C. Reichert. 

Der Thurmfaltl. 

Lugano vom Paradiſo aus. 

Oberhalb Menaggio gegen Bellagio. 

Steinmarder auf ber Yauer. 

Auifiiche. Fischer, auf einer Eisſcholle ins 
Kaipiiche Meer getrieben. 


Jeruſalem. 

Trapezunt. 

Rußiger Galanthomme. Nach dem Origi— 
nalgemälde von L. Gapler. 

Der erſte Urlaub. Nach dem Original— 
gemälde von Oswald Stieger. 

Revanche. Nach dem Originalgemälde 
von D. Maſtaglio. 

Schneelawine in Colorado. 

Farbenftudien. Nah dem Driginalge- 
mälde von Emma Müller. 

Herbitkild. Nach einer Originalzeichnung 
von Ernft Heyn. 

Das Klofter Grande 
Grenoble. 

Das Innere der Kirde zu Grande» 
Chartreuſe. 


Chartreuſe bei 


8 Ber 


"ag auum 29€ 











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In der Yußta. 


Novelle von Emil Veſchkau. 


I. 
Zt, dlos, in den leichte i Yen: ir des Himmelsrandes 
N o| verichtvimmend, dehnt jich die Ebene. Eine ungeheure 
Dede, in der a da3 Auge ängſtlich an das filber- 
gran ‚glänzende Rohrdach einer Fermen ütte, an Die 
eije im Winde ſchwingende, mit dunklen Flechten über: 
wachjene Schöpfitange eines Haidebrunnens heftet. 
Braune Kräuter, die unter dem Gluthauch der Sonne 
jchon im Frühſommer vertrodnet find, graugrünes, jpärliches 
Gras, zwijchen dem ab und 8 der roſtfarbene Staub emporwir— 
belt, an dem verſiegten ſumpfigen Bächlein ein verdorrter Weidenſtrunk 
und gelbes, vom Sturm geknicktes Rohr. Die Haidelerche hat ihr 
Singen eingeſtellt und ſich in ihrem Neſte hinter einer Erdſcholle ge— 
borgen, das Zirpen und Pfeifen der a und Sandfäfer iſt 
veritummt. Stein Laut jtört dieje tiefe Einfamfeit und auf den heißen 
Zuftwellen jcheint der Tod über dad Land dahinzujchweben. 

Jetzt aber blüht es im der Ferne auf im zauberijchen Farben. 
Aus dem Dunite — chimmern feuchte Matten, — Haine, 
ſaphirfarbenes Waſſer. an Aa wie die Wellen fröhlich auf und 
niedertanzen und glaubt, ihr Murmeln zu hören, in das ſich das leije 
Rauſchen des jchwankenden Laubes mengt. Ein köftlicher, erquidender 
Hauch jcheint aus dem märchenjchönen Landjchaftsbilde herüberzumehen 
und immer friiher leuchten die „zarben und immer lieblicher erglänzt 
der rojenrothe Saum der jchneeigen Wolfen, die I hinter Wäldern 
und Triften erheben wie jchöngejchwungene, mit Gletſchern übergofjene 


öhen. 
v Der Mann, der auf flinfem, braunem Rößlein durch die Haide 
reitet, läßt jich durch das Bild nicht trügen. Die Pußta iſt feine Hei— 
mat und er weiß, daß er nur ein Blendwerk der Steppengeijter vor 
ſich Hat, die ſich umſonſt bemühen, ihn von feinem Wege abzulenken. 
Diejer führt nach) der Czarda ggum ewigen Trunk“ und er findet 
ihn wie jeder Pußtenjohn, ohne Wegweiſer, ohne auch nur einer Rad» 
pur zu folgen. Wäre es auch pechichwarze Nacht, er würde ſein 
1 


Der Salon 1887. Heft VIL Band IL 








2 In der Pußta. 


tel jo ficher erreichen, wie der Maulwurf den Eingang zu feiner 
öhle findet. 

Es iſt ein junger Burjche mit einem derben, knochigen Gefichte, 
zujammengefniffenen Yeuglein und glänzend jchwarzem an den Enden 
in zwei Ddrabtartigen Spigen ein wenig nach aufwärts gezogenen 
Schnurrbart. Seine Wangen find braun wie der Pußtajtaub, fein 
Ihwarzes Haar aber wallt nicht bis zum Naden rg wie das der 
Einheimijchen, es ijt militäriich verfchnitten und an den Schläfen glatt 
nad) vorne gejtrichen. Er trägt verjchnürte, enge Hojen, hohe Stiefel, 
einen Debrecziner furzen Belz aus dunfelblauem Tuch mit Schwarzer 
Verſchnürung und einen ſchwarzen Filzhut, der mit einem farbenpräd)- 
tigen Blumenstrauß geſchmückt tft. 

In der Nähe des Brunnens ſpringt er vom Pferde, erquidt fich 
mit einem friichen Trunf und labt das Thier. Dann jeßt er neuge- 
fräftigt jeinen eg fort und ſo munter hat ihn die Hand voll after 
gemacht, dab er die Lippen jpigt und zu pfeifen anfängt und nad) 
einer Weile gar ind Singen geräth. 


„Im Schilf die wilde Ente brütet, 

Der Weizen wählt im fetten Grund; 

Wo aber treue Mädchen wachſen, 

Der Ort war mir noch niemals fund, 
Niemals noch!“ 


„Zeremtete!“ unterbricht er ſich dann plöglich, feinem Pferde die 
Sporen in die Weichen drüdend „Was für ein dummes Lied! Daß 
mir das jegt in den Sinn fommt! In der — „Zum ewigen 
Trunk“ giebt's doch gleich ein treues Mädchen. ci! Mas fie fir 
— machen wird! Freilich, dem Farkas Miska bleibt jedes Mäd— 

en treu!“ 

Und während ein ſelbſtbewußtes Lächeln über ſeine Lippen glei— 
tet und ſeine Aeuglein keck aufblitzen, beginnt er ein anderes Lied: 


„Sn den Weinberg ging ich bin, 
Auf die Reben that ich fteigen, 
Bon Rebenzweig zu Rebenzweigen; 
Nah Blonden fteht mein Sinn. 


Zu der Wiefe ging ich bin, 

Auf die Brombeer that ich fteigen, 

Bon Brombeerzweig zu Brombeerzmeigen; 
Nah den Braunen fteht mein Sinn. 


That von da zur Ezarba geben, 

Um mein braunes Lieb zu feben; 
Und der Braunen Küffen, Prefien, 
Macht die Blonde mich vergeflen.‘ 


„And wenn fie mir nicht treu geblieben wäre?“ jegt er dann 
feinen Gedankengang fort. goal! Bin kn nicht jegt Verwalter beim 
Herrn Grafen von Telefi? Dutzendweiſe laufen jie dem Farkas 

tisfa zu, wenn er ein Weib braucht! Vielleicht iſt re auch nicht 
mehr jo ſauber — na, das wollen wir jehen. Die Sauberjte war te 


In der Pupta. 3 


und alle Blonden und Braunen zufammen find nicht wie die ſchwarze 
Here, die Ercſi. Mir wäfjert fchon der Mund nad) ihr!“ 


„Ohne Did, mein Liebchen, 
Dir nicht nah, Dir fern, 
Möchte ih am Himmel 
Selbft nicht fein ein Stern. 


Ohne Di, was wäre 

Werth der Himmel mir? 
Tag und Nacht ich flöge 
Lieb’, herab zu Dir! *) 


Und wieder giebt er feinem Pferd die Sporen, damit es den 
Gang bejchleunige. Nur ein paar Stunden noch), dann wird er fie in 
die Arme fchfieben, an jeine Bruft prejjen, nachdem er fie fünf 
Jahre lang nicht — 

Endlos wie je dehnt ſich die Haide. Braune Kräuter, ſpärliches 
Gras, wieder ein Brunnen und das ſilbergraue Rohrdach der Hütte 
jcheint nicht näher gefommen zu jein. Dort drüben wälzt ſich jetzt 
langjam eine graue Majje über die Fläche dahin, eine hohe graue 
Geitalt ragt darüber. Es ijt eine Heerde und ihr Hirt, die nach dem 
Pferche ziehen. Das ferne Blöfen der ri und das Gebell des 
FT * jetzt die Stille, manchmal rauſcht auch ein Flug ſchwer— 
älliger Trappen durch die Luft oder der krächzende Schrei eines Fal— 
fen ertönt. Hoc) über dem Eleinen Räuber zieht ein Adler, ohne die 
Schwingen zu bewegen, ruhig jeine Kreiſe. 

Das Luftbild mit feinem Märchenjchimmer ift längjt verſchwun— 
den, die Sonne jenkt fich nach der Wolfenfchicht, die den Horizont 
umjäumt. ruht das helle Gold auf der weiten Fläche, nun aber 
ziehen Nebeljchleier über den feurigen Ball und fahle Schatten fliegen 
uber das Land. Tiefer und tiefer finkt die Sonne und dann leuchtet 
plöglid dunkler Purpur auf und die zarten Wölfchen, die an dem 
blaßblauen Gewölbe un dahin ziehen, jchimmern in ar Licht. 
Himmel und Wolfen und Erde verjchwimmen im farbigen Dufte und 
nur da und dort bligt e8 wie Silber auf oder jenkt jich wie jchwerer 
Schatten in die Fluten von Gold und Roth. Dann verblaßt eine 
Farbe nad) der andern, es flattert wie ein graues Gewebe über das 
bunte Spiel und die Haide — nun ſo düſter, als hätte der Tod 
wirklich den Sieg errungen. Leiſe flüſtert der kühle Nachtwind in 
dem Steppengras und den dürren Binſen und der Abendſtern funkelt 
heller, während der Himmel dunkler und dunkler und endlich zu einer 
tief ſchwarzblauen Kuppel wird, an die ſich Milliarden glitzernder 
Funken hefteten. 

Der Reiter hat aufgehört zu pfeifen und zu ſingen und öfters 
als während des Tages gebraucht er die Sporen, ob wohl das Pferd 
feine Schuldigkeit thut und über die Haide dahinfliegt wie eine nächt— 
liche Spufgejtalt. Der Weg will fein Ende nehmen und nichts unter 
bricht jet die Einjamfeit, al3 da und dort ein fernes rothes Blinfen, 


*) Ungarifche Bollslieber. 
1* 


4 In der Pupta. 


der Schein. eines Hirtenfeuerd. Aber Miska befümmert das wenig. 
Er weiß, daß er ich nicht verirren fann und daß mit jedem Aus— 
reifen feines Thieres der Augenblid näher rüdt, wo er die fchwarze 

irne auf ihren rothen Mund küſſen wird. Und dann giebt es wohl 
auch ein Gulyas oder ein fjaftiges Pörkelt und dazu einen tüchtigen 
Schluck rothen Erlauerd. Einen oder auch mehrere — wozu war 
man denn in der Czarda „Zum ewigen Trunf“! 


II. 


Die Czarda des Antäl Iſtvan war eine der Bayer der Pußta. 
Ein ebenerdiges, weitläufiges Gebäude, mit Rohr gededt und einem 
mächtigen Storchneft Hinter dem Schornſtein. In der Mitte die 
Haupthüre, die von einem durch jchlanfe Holzjäulen een Dad) 
geihügt ift. Zu beiden Seiten der Thüre —8 e und zwiſchen 
den Säulen, guirlandenförmig aufgehangen, glutrothe Paprikaſchoten. 

An das Hauptgebäude — In. zwei Stüge mit Ställen 
und Wirthichaftsräumen, an deren Außenjeiten man ange, eingehegte 
Streifen Oartenlandes ſah. Da leuchteten gelbe Feuerlilien aus dem 
Grün hervor, Bohnen rankten ſich an den Wänden und dunfelgrüne 
Melonen und goldgelbe — lagen auf der braunen Erde zwiſchen 
den groben, fhön eformten Blättern. Nach rückwärts zu war der 
Hof mit Weiden eflechte eingefriedigt und auch hier gab es ein Thor, 
durch welches Pferd und Wagen ihren Einzug —* konnten. 

In der Küche — einem groben, era wärzten Raum, von 
deſſen Dede Spedjeiten, Bündel von rothglänzenden Zwiebeln, ſchwarz— 
geräucherte Stüde Fleiſch und flache, trodene Brode herniederhingen 
— fladert auf dem niederen Herde Tag für Tag ein gewaltiges offe- 
nes Teuer, über dem an etjerner Kette der große, von den Flammen 
umfpielte Keffel hängt. Aber nicht jeden Tag wird der Spieß davor 
jo flinf gedreht wie heute und nicht jeden Tag ſchmort daran der 
„König aller Braten” — ein junges Lamm. 

Seite aber läßt Antäl jchon „etwas fpringen“ — feiert er doch 
jeine Verlobung mit der jchwarzen Erefi, die ihm bisher das Haus 
führte. Antals Küche und Keller find berühmt in der Pußta und 
heute läßt er ſich nicht jpotten, das haben die Lämmer und Hühner 
gefühlt. Und was ein halbes Dutzend diefer Burſche in weißen Gat- 
jen und pelzverbrämter Mente ejjen und trinken kann, das hat der 
Antal an diefem Nachmittag, an dem es Feine Kreide gab, erfahren. 
Mit dem Trinken aber hatte es noch fein Ende und das fing erit 
recht an, als die Sonne unterging und durch die Thüre herein vier 
hagere, jonnverbrannte Burjche famen mit jtraffen jchwarzen Haaren 
und dichten, on lojen jchwarzen Bärten. Sie trugen alle verwetterte 
und verfefte unfle Kleider, von denen die Schnüre trübjelig herunter- 
hingen, und fie hatten nicht weniger trübjelige Gefichter. Als fie aber 
dann Geige und Violoncell, Klarinette und Cymbal aus den Futte— 
ralen nahmen — hei, da war die Ezarda wie verwandelt! Das war, 
als ob plöglicd Feuer in Stroh geichlagen hätte, und was die Zigeu- 
ner auch jpielten, ob es num wie Jauchzen oder wie jchmerzliches 
Stöhnen Hang, ob es nun wie Blut aus offenen Wunden träufelte 
oder wie wahnjinnige Luft lachte und tollte — es war ein Zauber, 


In der Pußta. 5 


der alles berauſchte und die Herzen wilder ſchlagen —— als der 
feurige Wein. Bald wurde die Stube mit den plumpen Bänken und 
Tiſchen längs der Wände und dem rieſigen grünen Kachelofen in der 
Ede zu enge und der Schwarm drängte in das „Herrenzimmer“. Da 
gab es Dielen, blanke Dielen und eins, zwei, drei jpielten die Zigeu— 
ner den Czardas auf und die Burjche ſchwenkten die Mägde, dab es 
ihnen vor den Augen flinmmerte und fie feuchten wie die Blasbälge 
in der Schmiede. 

Um dieſe — war es, daß Antäl unter die Thüre trat und, wie 
es in jeiner Gewohnheit lag, wieder einmal in die Nacht hinaus 
horchte. Blauſchwarz jpannte fich der sun über der Haide und 
das janfte Licht der Sterne erfüllte den Raum. Die Töne der 5 
nerfideln klangen leiſe, gedämpft herüber, dazwiſchen ein gelles Auf— 
lachen, der Angſtſchrei einer Dirne. Aber die feinen Ohren Antäls 
hörten noch mehr. Sie hörten auch den elle Spin Pferdes, der 
näher und näher fam, und als Erefi durch die Thüre rief: „Piita, 
wo bleibjt Du?“ antwortete er in — Tone: „Tanze nur wei— 
ter, Schätzchen, ich komme gleich. Es reitet einer durchs Schilf — es 
wird noch ein Gaſt ſein.“ 

Wirklich hielt wenige Sekunden ſpäter ein Pferd vor der Thüre 
und ein Mann ſprang von demſelben. 

„Isten hossta — Gott zum Gruß!“ ſagte der Wirth, „wo kommſt 
Du her?" 

„Bon der Tanya rel Telefi, ich bin der Farkas Miska.“ 

„And willit über Nacht bleiben?“ 

Sa. Wo ijt der Lengyel Gaspar?“ 

„ver iſt geitorben.“ 

„Dann biſt Du der neue Wirth?“ 

„Sa. Antäl Ijtväan.“ 

„Und was giebt es heute in der Czarda? Zigeuner jpielen auf —“ 

„Du bijt willfommen, wenn's Dir gefällt. Ich feiere heute meine 
Verlobung.“ 

„Ah — und mit wen?“ 

„Met Ereji, der Tochter von Szabo Ferencz, wenn fie Dir be— 
annt tjt.“ 

Miska zuckte zuſammen, als ob ihn ein Blitz geitreift hätte Er 
zog heftig an jeinem Schnurrbart und ein lauernder, haferfüllter Blick 
traf den Wirth der Czarda. 

Diefer war ein — ſtämmiger Mann, mit kühn geſchnittenem 
Geſicht, langem, rothblondem Haar und eben jolchem Schnurrbart. Er 
trug hohe Stiefel, eine weiße Gatja und eine blaue, ärmelloje Jade, 
die mit Silberfnöpfen bejegt war. 

„Sie it Schön, Deine Braut“, jagte Miska, nach den Fenſtern 
bfiend, bei welchen geöltes Bapier die Stelle von Glas vertrat. 

„Du fennit ſie?“ fragte Antäl. 

„Es iſt lang her. Ich war bei den Hufaren — drei Jahre. Dann 
war ich bei dem Grafen Teleki in Dientt — den habe ich auf einer 
Reiſe begleitet. Wir waren überall — in Amertfa — in Indien — 
da haben wir Tiger gejagt. Aber Du — biit Du aus der Gegend? 
Du bift mir ganz fremd.“ 


6 Sn der Pufta. 
Er war dicht an den Wirth herangetreten und mujterte ihn 


arf. 

Antal wich aus. 

Ich bin jeit zwei ag hier. Ic war früher in Budapeft. 
Als ich hierher fam, war Erefi hier die Magd. Sie iſt tüchtig und 
fauber — jehr jauber. Du jolljt mit ihr tanzen.“ 

„Sch bin müde. Ich will in die Küche gehen und jehen, ob etwas 
zu haben ijt.“ 

„Sa — geh! Und dann fomm nur tanzen. Ein Burſch wie Du 
wird nicht müde, wenn er auch den ganzen Tag im Sattel ſitzt. Ich 

abe auch jo eine Zeit gehabt. J— will Dir auch Dein Pferd be— 
— — die Märis iſt in der Küche — geh nur, geh!“ 
Er wies mit der Hand . der Küchenthüre, aus der rother 
enerjchein heraus auf den Flur fiel. Dann nahm er das Pferd am 
Sügel und während er in das Haus trat, führte er e8 durch) das Turn 
thor in den Stall und füllte die Krippe mit Hafer und Häckſel. 


III. 

In der Küche fand Misfa die alte Märis damit oh t, ges 
trodnetes Haidekraut und dürren Dünger — das Holz der u — 
ins Feuer ji werfen. Scharfer, ätender Rauch erfüllte den Raum 
und jammelte fich an der wenig mehr al3 mannshohen Dede in dich- 
ten Wolfen, die langjam nach dem Schornftein drängten. 

Es gab aud) Mir Miska noch ein jaftiges Stück Lammbraten, 
aber der Appetit war ihm verdorben. Dem Farkas Miska, dem ſchön— 
jten Burjchen im ganzen Unterland abtrünnig zu werden! Wachtmetjter 
bei den Hufaren und Verwalter beim Grafen Telefi — und jeßt jollte 
er vor der Thür einer Ejilosdirne umkehren? Kein Wunder, daß ihm 
weder der Yammbraten noc) der rothe Erlauer mundete und daß ihm 
itatt des Appetites die Luft fam, jemanden an der Gurgel zu fafjen 
und mit jeinen Fäuſten zu bearbeiten. 

Aber das ging nicht. Der Antäl war ein Kerl, mit dem fich 
wohl a bejonnen hätte, anzubinden. Und das ganze Haus voll 
Freunde! 

Was war es nur, das ihm an dem Wirth ſo auffiel? Es war 
keine Geſtalt, wie man ſie im Unterlande ſah, und es ſchien ihm, als 
müßte er dem Manne ſchon irgendwo begegnet ſein. 

Er trat zu der Muaͤris und fragte ſie, wie lange jte im Haufe 
jet und ob fie den alten Lengyel Gaspar nod) gekannt habe. 

Sie jchüttelte den Kopf und erwiderte, daß fie erjt mit Antäl 
gefommen jet. 

„Mit ihm, aus jeiner Heimat?“ fragte Miska. 

„Nein. Ich bin erjt ein Jahr da. Die Herrichaft hat mich fort- 
gejagt, weil ich alt bin und nicht viel mehr arbeiten fann.“ 

„Und Antal hat Dich) aufgenommen?“ 

„sa. Und er hat gejagt, daß ich immer bei ihm bleiben kann, 
bis meine Zeit kommt.“ 

„Wo iſt er her?“ 

„Sch weiß es nicht. Er ift gut und die Ereſi auch. Es ijt ein 
ſchönes Paar.“ 


In der Pußta. 7 
* hat die Czarda gekauft?“ 


„su. 

„Und hat Geld?“ 

„Biel, viel Geld. Die Ercſi — die wird e8 gut haben! Das ift 
eine Heirat! Die hat ein Glüd gemacht!“ 

Miska wußte genug. Geld aljo, Geld war 8! Geld ift — 
jtärfer, al3 der ſchönſte Burſche. Aber er wollte ihr die Hölle hei 
machen, er wollte doch ihr Geficht jehen, wenn er vor fie trat und 
jte an ihren Treubruch mahnte! 

„Wird wohl auch eine glüdliche r werden“, jagte er jpöttiich. 

„Ada isten, Gott gebe es. Sie iſt gut und wird ihn glüdlic) 
machen, wenn auch nicht alles iſt, wie's ſein joll.“ 

„So hat jie's ihm nicht leicht gemacht?“ 

„Sie * ihn erſt nicht wollen. Und dann — mein Gott, ſie iſt 
oft ſo kopfhängeriſch, als hätt' ſie was anderes im Herzen. Bald 
hat ſie „ja“ gejagt und bald wieder „nein“. Und heute, da hat fie ja 
noch in der Früh' geflennt wie ein Kind.“ 

„Und Dir hat jie nichts gejagt?“ 

„Kein, gar nichts, es ijt ein wahres Kreuz. Aber fie ift gut und 
fie wird ihn doc) glüdlich machen und er iſt ja ganz vernarrt in fie. 
Jetzt ijt jie auch wieder lujtig und tanzt Czardas mit ihm, da mußt 
Du nur einmal zujchauen, es ijt ein jchönes Paar. Es ıjt eine rechte 
esreude, wie jie tanzen. Geh nur hinüber.“ 

„Das will ich auch glei thun, Mütterchen. Ich bin jelber jchon 
neugierig.“ 

Damit verließ er die Küche und trat in das vorderjte der Wirth- 
ichaftszimmer. 

Hier jagen ein paar Burjche an einem der Tiſche, und als er 
eintrat, jtredten jie ihm mit freundlicher Geberde die Gläjer entgegen. 

„Isten hossta“, jagte er, eines derjelben faſſend und auf einen: 
Zug leerend. „Drinnen wird getanzt?“ 

Die Burjche nidten mit den Köpfen. 

„Da hörſt Du's.“ 

In der That begannen die Zigeuner zu ſpielen und jetzt ſtanden 
auch einige der Burſche auf und ſtellten in vor die Thüre. Miska 
folgte ihnen und juchte, während er ſich Hinter jeinen Vordermännern 
jorgjam verbarg, die Braut des Antäl. 

Seine Augen bligten auf, als er jie gefunden hatte, und umwill- 
fürlich jtampfte er mit dem Fuß auf den Boden und jchnalzte mit 
den Fingern. Ste war bei Gott noc) immer das hübjcheite Mädel 
Hr der Hukta und auc in Budapeſt und in Wien gab es faum eine 
Ichönere. 

Ereſi war eine jchlanfe, Fräftige Dirne mit Wangen, deren Farbe 
an den Sammthaucd der Pfirfiche gemahnte, und Lippen, roth wie 
Baradiesäpfel. Sie hatte langes, blaujchwarzes Haar, das in diden, 
mit rothen Bändern gejchmücten Flechten herntederhing, und eigen- 
thümliche, von einem gedämpften Feuer erfüllte, tiefblaue Augen. 

Als Miska fie erblidte, faßte Antäl fie eben um den Leib und 
trat mit ihr in den Kreis der Tanzenden. 

Die Zigeuner jpielten ein melancholiſches Andante, dejjen jeltfam 


8 In der Pußta. 


ergreifende Melodie einer überjchwänglichen Zärtlichkeit Ausdrud gab. 

ührenddejjen drehten die Tänzer ihre Mädchen nach rechts oder 
links, jie mit verliebten Blicken betrachtend und bisweilen die beſporn— 
ten Abſätze zuſammenſchlagend. Die Mädchen wieder legten ihnen Die 
Hände auf die Schultern und hüpften ab und zu in die Höhe, ohne ic) 
dabei vom Plate zu bewegen. Dann aber jauchzten plöglich Violine 
und Klarinette hell auf und eine wilde, rajende Mufif folgte auf die 
wehmüthigen Klänge Die Tänzerinnen jtemmten lächelnd die linken 
Hände in die Seiten und legten die rechten auf die Schultern der 
Tänzer, und nun gab es em Drehen und Winden, Fliehen und 
Hafchen, ein Springen und Beugen, das immer toller und toller wurde 
wie das wahnwigige Auf: und Niederklettern der von üppigen, bald 
lieblich-graziöjen und bald fed-bizarren Tonfiguren umflatterten Klänge 
der Geige. Und in dieſes Durcheinander tünten die Jauchzer der 
Burjche, das wilde Atmen der Mädchen und das Klirren der Sporen, 
und Dabei bligten die Augen und blinkten die Zähne, als gäbe es 
feine größere Luft auf Gottes Erde, als müßte man immer jo weiter 
rajen, bis an das Ende aller Dinge. 

— entſtand eine Stockung — ein wilder Aufſchrei — Erefi 
ſank zu Boden. Die Zigeunerfidel verſtummte und alles drängte ſich 
um die Ohnmächtige, die in der Mitte der Stube lag mit todtblaſſen 
Wangen, geſchloſſenen Augen und halb offenen Lippen. 

tan neßte ihr Stirn und Schläfen mit Wafjer und, hielt x ein 

mit Eſſig getränftes Tuch vor den Mund, während die alte Märis 

nad) ihren Wundertropfen rannte. Aber als fie mit dem Fläfchchen ins 

—— trat, hatte Ercſi das Bewußtſein ſchon wieder erlangt. Ihre 

angen waren noch bleich, aber ihre Augen waren offen und flogen 
ängſtlich von einem der Umſtehenden zum andern. 

„Komm, Märis“, ſagte ſie dann, „ich will an die Luft. Laßt mic) 
— laßt mid) allein! Draußen wird mir gleich bejjer werden. Und 
tanzt weiter — tanzt weiter!“ 

Antal nahm rn am Arme und führte fie hinaus, die Maris 
folgte. Dann küßte fie Antäl auf den Mund, jtrich mit der De 
ee ihren Scheitel und jagte: „Soll ich bei Dir bleiben, mein ſüßer 

at?“ 

„Rein, Piſta“, antwortete jie, „geh — geh. Ich will Luft — Ruhe 
— bald bin ich wieder bei Dir.“ 

Er ging und fie ſank auf die Banf und barg den Kopf in 
den Händen, während Muris ſich jtill neben ihr auf einen Sche- 
mel ſetzte. 

So war er aljo fer noch gekommen und jie — was hatte fie 
gethan! Ein Schauer lief über ihren Körper und wieder drehte fich 
alles in ihrem Kopf. Was hatte jie gethan! 

Vor fünf Jahren, da hatte fie geduldet, dag Misfa fie an dem 
Tage, da er die Heimat verlieh, in die Arme nahm, fie küßte und ihr 
jagte, da er jie zum Weib nehmen wolle, wenn er wieder komme. 
Ste war dem jchmuden Burjchen gut und freute fich kindiſch auf den 
Tag, an dem fie mit ihm vor den Altar treten jollte. Als aber die drei 
Jahre Militärzeit um waren, fam Miska nicht und auch fein Brief fam 
von ihm. Sie ergab ſich in den Gedanken, daß er jein Wort ver: 


In'der Pußta. 9 


eſſen hatte, aber als ſie Antaͤl eines Tages fragte, ob ſie ihn lieb 
As wolle, da erfannte fie, daß fie nicht jo leicht wie Misfa die 
Treue zu brechen vermochte. Sie hatte auch den Antäl gern, denn 
er war ein guter Menjch, und es — ſie, als ſie ſah, wie weh 
ihm die Zurückweiſung that. Zogein aber rief es in ihr: „Nie, nie 
werde ich einen andern küſſen können“, und ſchon der Gedanke daran 
machte fie vor Scham erzittern. Nein, wenn Misfa auch nicht kam 
— Ka wollte jie einen andern nehmen, immer wollte fie ihm treu 
eiben. 

Aber e3 fam anders und fie wußte ſelbſt nicht, wie es kam. Sr 
während die Thränen der Neue über ihre Wangen flofjen, jagte jie 
0, daß fie jchlecht war, als fie fich blenden ließ durch das Gold 

es Antal, dur) den Traum, Frau zu fein, ne zu fein, das Weib 

eines Mannes, der alles that, was er dr an den Augen abjehen Eonnte. 
Das en das in der Bruſt urfprünglicher Menjchen — wunder⸗ 
bar ſtark iſt, bereitete a. Schmerzen, wie jie jie nie dar und ihre 
Schuld erjchien ihr taujendmal größer, als fie es in Wirklichkeit war. 
Und dann jeufzte fie tief | und jah lang, die Hand an das wild- 
pochende Herz gepreßt, in die ftille Nacht hinaus. Was follte num 
werden — was wollte Misfa — was mußte fie thun? Und jo ſchwer 
legte jich diefer Zweifel auf ihre Seele, daß fie plötzlich zufammen- 
zudte und in lautes, Frampfhaftes Schluchzen ausbrad). 

„Um Gott, Kind“, fagte die Märis geängftigt, „was haft Dır, 
was fehlt Dir?“ 

Ste ſchwieg und weinte weiter. 

„Bilt jo glücklich — haft den beiten Mann von der Welt — 
einen jchönen Mann — einen reichen Dann — Shr jeid beide allein 
* habt keine Eltern — niemand, der Euch was dawider thun 
önnte —“ 

Niemand! Ereſi fuhr auf und beſann ſich. Hatte fie denn 
wirklich Miska gejehen, oder war fie frank, verfolgte fie ein Spuf, wie 
die Baronin Aranfa, die fie ins Narrenhaus jperren muhten? Wo 
war er denn hingefommen, warım war er nicht neben ihr — als fie 
wie todt dalag — und erwachte? 

Sie richtete ſich auf, drängte ihre Thränen zurüd und fragt: 
Märis, ob ein Gaſt angekommen jet. 

Jawohl, mein Herzchen“, antwortete die Alte „Ein jchmuder 
Junge Mit dem jollteft Du — damit Du auf andere Gedan— 
ken kommſt. Der hat die Welt — Der war in Budapeſt beim 
Franz Deak und in Wien beim König und noch weiter, wo die Men— 
ſchen ſchwarz ſind, als ob ſie die Kinder in den Rauchfang hängten. 
Geh — der ſoll Dir was — — das wird Dich wieder auf— 
heitern. Oder ſag mir, was Du für Kummer haſt, daß Dir leichter 
wird — geh, meine Süße, ſprich, ſprich!“ 

Erejt ſchwieg und jtarrte vor fich hin. Dann nad) einer Weile 
fuhr fie fich mit den Händen über die Augen und jagte in entjchlofje- 
nem Tone: 

„Sch will mit dem Fremden plaudern. u. — vielleicht fommt 
er heraus. Und jage Piita, daß ich noch in der Luft bleiben will und 
daß mir jchon bald wieder ganz gut jein wird.“ 


10 In der Pußta. 


Maris nickte und ging und eine Minute fpäter folgte Miska 
dem Mädchen nad) dem an der rechten, jtillen Seite des Hauſes ges 
legenen Garten. 


IV. 


Als fie durch das Pförtchen traten, ftieg der Mond wie eine 
riefige, glutrothe Scheibe aus der Wolfenmauer am Horizont empor. 
Bei dem zagen Lichte ſah Miska doch, daß Ercſi wie mit Blut über: 
offen war und er gab jeinem Schnurrbart fchnell einen unternehmen- 
en Schwung. 

Aber fie jah ihn nichts weniger al3 zärtlich) an umd ein düſterer, 
troßiger Ausdrud lag in ihren Zügen. 

„Bas willjt Du jet von mir?“ jagte fie mit feiter, aber doch 
ein wenig zitternder Stimme. Sie fühlte, daß fie nicht ganz im Rechte 
war, jo Heise mit ihm zu jprechen. 

„Was ich will?" lachte er auf. „Was anderes, als Did. Oder 
haft Du Dein Wort vergejjen ?* 

„Du — Du haft & bergeiien — ich habe gewartet, bis Deine 
Militärzeit zu Ende war — drei Jahre — und dann bis heute — 
noch zwei Jahre — warum biſt Du nicht gekommen?“ 

„Mein Rittmeijter, der Graf Telefi, hat mich mitgenommen — 
auf eine Reife um die Welt. Ich gefiel ihm und er verſprach mir 
ein hübſches Sümmchen und eine Verwalterjtelle auf einer Tanya. 
Er hat ſein Wort gehalten und nun bin ich herübergeritten, um Did) 
zu holen — als mein Weib.“ 

Erefi jah ihn verwundert an. 

„Barum haft Du mir das nicht gejchrieben ?* 

„Das wäre — gegangen, denn das Schreiben iſt ein ver— 
fluchtes Ding. Aber ich hab’ es einem diktirt und eh wir in Trieſt 
— gingen, da hab’ ich den Brief noch ſelber in den Kaſten 
eſteckt.“ 

„Sch habe feinen Brief bekommen.“ 
„Dann hat ihn Antäal unterjchlagen.“ 
Ereft fühlte wieder den Schwindel nahen und ſank auf eine 


anf. 

„Das wäre jchändlich, ſchändlich — wie ic) e8 dem Bilta nicht 
zutraue.“ 

Miska fuhr auf. 

„Pilta — Piſta — hol mich der Teufel, was mir da einfällt. 
Diefes Geficht — der Bart ift zwar weg — aber roth find jeine 

aare — der rothe Piſta — a mich der Teufel, wenn er es wäre! 
ör' einmal, Erefi, hat Antäl nicht eine Zeichnung auf dem rechten 
Arm, einen Kranz aus Eichenlaub und darınnen einen Todtenkopf?“ 

„Sa, das hat er“, antwortete Ercſi. „Er trägt immer lange 
Aermel, aber ich jah e8 einmal.” 

„Dann, Ereji, bift Du mein — und — nein, jo viel Glüd hätt’ id) 
gar nicht erhofft. Tauſend Silbergulden baar — damit fangen wir 
ein Geſchäft an in Budapeſt!“ 

Ercſi fahte ihn am Arme und der Mond, der nun bereits hoc) 


In der Puhta. 11 


ftand und die Luft mit flimmerndem Silber erfüllte, beleuchtete jcharf 
ihr erregtes Gelicht. 

„Bas joll das bedeuten, Misfa, was meinjt Du?“ 

Er ja 2 vorfichtig nach allen Seiten um, aber nicht3 war zu 
jehen als die fenjterloje Giebelwand des Haufes, das hohe Bohnen- 
geranfe, die hellen und dunklen Kugeln der Kürbiffe und Melonen 
und die von weißem Lichte überflutete, zum nächtlichen Himmel ver- 
dämmernde Ebene. 

Dann jegte er fich auf die Bank, dicht neben Ercji und beugte 
jich zu ihrem Ohre. 

„Halt Du nie von dem „rothen Piita“ gehört, dem Räuber aus 
dem Bakonyerwalde ?“ 

„Rein — nein — aber was ſoll da3 — ſprich, Misfa —“ 

„Er war einer der gefürchtetiten Räuber im Oberlande. Er ging 
nur se die Reichen und deßhalb hatten ihn die Eleinen Leute gern 
und halfen ihm durch, wo jie nur fonnten. Wie man ihm auch auf 
den Leib jtieg, er war nicht zu fangen und jelbit der Preis von tau= 
jend Silbergulden, den man dem verſprach, der ihn todt oder lebendig 
einlieferte, verfing nicht. Eines Tages aber fand man feinen Leid): 
nam — halb verweit — neben dem Leichnam eines Pferdes in einem 
Abgrund und es jtand damals in allen —— daß ein glücklicher 
Zufall das Land vom „rothen Piſta“ befreite.“ 

Ercſi athmete auf. 

„Und warum erzählit Du mir das?“ 

„Weil der rothe Briten nicht todt fein joll. Ein Kamerad vom Regi- 
mente erzählte mir’ und jchwor darauf, er habe ihn in Budapeſt 
gejehen. Es war Yo Geitalt, jein Geſicht — nur ohne den Bart 
— und, jagte er, für einen beherzten Kerl wäre da etwas zu verdie- 
nen gewejen. Der Burjche hatte ihn oft genug gejehen, denn e8 war 
ein —* ein Kanasz aus dem Bakonyerwald, und deßhalb wollt' er 
auch nicht d’ran. Aber zu erfennen wäre er leicht, jo jagte er, wenn 
man ihm nur auf den Arm ſieht. Dort hat er einen ———— 
und einen Todtenſchädel eingeätzt.“ 

Ereji umklammerte zitternd den Arm des Burſchen. 

„Mein Gott — jo iſt es Piſta — aber der Räuber iſt ja todt!“ 

„Nichts als eine Finte von ihm! Er hat irgend einen armen 
Teufel abgethan, den Todten in jeine Kleider gejtedt, vielleicht auch) 
noch Papiere und jonjt was dazu, und dann hat er jelber dafür ge- 
jorgt, daß man den Leichnam zur rechten Zeit fand. Sein Schaf: 
chen ig er im Trodenen — warum follte er ſich nicht zur Ruhe 
je 

Ercji bebte an allen Gliedern und fie letitete feinen Widerftand, 
als Miska jeinen Arm um ihren Naden ſchlang und fie küßte. Es 
wurde ihr jo wire im Kopfe, daß fie nur einen Gedanken N feſt⸗ 
zuhalten vermochte: wie furchtbar Gott ſie für ihre Treuloſigkeit ge— 
traft hatte. Sie jah Piita, wie er einen armen, harmloſen Menden 
hinmordete, um jeine Zukunft zu jichern und jchauderte zujammen. 
Und dann traf ihr Blick jenen Misfas und der tiefe Schmerz über 
ihren Berrath trieb ihr wieder die Thränen in die Augen. Sie fahte 


12 In der Pufita. 


jeine Hände, preßte fie Teidenichaftlih an ihre Lippen und jtammelte 
dann, 2 Gejicht an jeiner Bruft bergend: 

„Miska, verzeih mir! Ich habe mich ja vergangen, aber es fiel 
mir nicht leicht. Es iſt wie ein Rauſch über mic) gefommen, als ob 
2 behert wäre, er war immer jo gut, nicht bloß gegen mich, gegen 
alle, jie haben ihn alle lieb — und doch hab’ ich noch heute früh an 
Did gedacht und au Gott gebetet, daß er mir den rechten Weg weile. 
Sei wieder gut, Misfa, verzeih mir — es war wirklich wie ein Raujch 
— ich weiß nicht, was mic) jo geblendet hat — und ich hab’ ja 
Deinen Brief nicht befommen — er hat ihn behalten, ja, gewiß, das 
hat er — und ich habe immer noch auf Dich gewartet — es war 
mir jo jchiwer ums Herz — ic) war nicht ro, Misfa, es hat mich 
nicht ruhen lafjen Tag und Naht — id) habe Dich) nicht vergejfen — 
aber er war jo gut, er hat mich behert — id) weiß nicht, was er mir 
gethan oo erzeih mir, Miskal“ . 

„Iſt ja Längit alles verziehen“, unterbrad) jie der Burjche, wieder 
vorsichtig ın die Kunde jpähend. Dann prefte er fie noch inniger an 
ji) und küßte fie von neuem. 

„Du fleine Here, wie hab’ ich Dich Lieb! 

„Es ijt wahr, Miska? Du kannt es vergejjen?“ 

„Ah bad, was liegt daran! Wenn ich Dich nur Habe! Und jo 
iſt es ja viel bejjer — wie prächtig werden wir jet leben! Tauſend 
Silbergulden — da gehen wir nad) Budapeft — und Du ziehit 
Kleider an wie eine Herrichaft — und der Farkas Miska wird nod) 
ein großer Herr — wir fangen ein Gejchäft an — einen ne 
— hei, Du fleine Here, das wird anders jein, als auf der Tanya 
Rin * beaufſichtigen.“ 

„Aber was meinſt Du nur?“ fiel ſie ihm verwundert ins Wort. 
„Was für tauſend Silbergulden — ich verſtehe Dich nicht.“ 

Er zog ihren Kopf an fein Geficht und flüjterte ihr ins Ohr: 

„Der —* für den rothen Piſta.“ 

Jetzt ruht jie zurüd und jah ihn erjchroden an. 

„Du willit ihn verrathen?“ 

„Freilich, mein Herzchen, freilich. Man wird doch nicht die 
Beute entfommen lafjen, die einem ins a läuft? Aber wir haben 
jie noch nicht umd jegt heißt es vorfichtig ſein, jehr vorſichtig denn 
der „rothe Piſta“ iſt ein geriebener Burſche. Aber er hat feine Ahnung 
und Du, mein Echat; mußt das Netz zuziehen. Het, wird der zap- 

eln und Augen machen! Jetzt geht's ans Ende, edes barätom! 
Aber Vorficht, Vorſicht, die Sache iſt nicht Leicht.“ 

Ereji wich immer mehr zurüd, ohne daß er es merkte, jo jehr 
war er in jeine Bhantafiebilder vertieft, und ihre Augen jtarrten ſein 
fächelndes Geficht an, als jühe fie eine unheimliche Schredgeftalt. 

„sch könnte auf der Stelle weiterreiten“, fuhr er fort, „und die 
Banduren holen. Da könnte er aber Wind befommen und dann — 
mit den Panduren iſt es auch nicht weit her — ein Kerl wie der 
„rothe Piſta“ jchlüpft ihnen durch die Finger, wenn jie jchon glauben, 
ihn jeitzuhalten. Wir werden ihn binden, wenn er im Bette liegt, 
wenn er ſchlä t — aber nein — der iſt ſtark wie ein Stier und zer— 
reißt alle —3— Und dann ſeine Freunde — die helfen ihm gewiß 


In der Pupßta. 13 


durch — nein, nein — ſicher ift ficher und die taufend Silbergulden 
jind ung nur er wenn er todt iſt. Was meinjt Du, Herzchen — 
jieh her — ich habe da ein jchönes Dolchmeffer — ic) Es e3 in 
Budapejt gekauft — es hat zwei Gulden gefoftet — wie leicht könn— 
tejt Du das — ich meine, wenn er mit Dir koſt — Du legſt den 
Arm um jeine Schultern — jo — und ſtößt es ihm ins Genid — 
er jpürt e8 faum, fällt Hin und wir haben ihn ſicher.“ 

Ercſi regte ſich nit. Im dem grell auffallenden Mondlicht er- 
ſchien ihr Selicht bleich und jtarr, wıe das eines Steinbildes. Aber 
ihre Bruſt hob und ſenkte fich wild und in ihren Augen brannte ein 
düjteres Feuer. 
üch * ſeinen Arm zurück und ließ die blanke Klinge im Mond— 
icht funkeln. 

„Du willſt, mein Schatz, nicht wahr? Fürchte Dich nicht — ein 
Druck und alles iſt vorbei.“ 

„Ercſi — wo biſt Du?“ rief die Stimme Antaͤls vom Haufe her. 

Erefi fuhr auf und mit einer rajchen Bewegung nahm jie das 
Meſſer und verbarg e3 in ihrem Bufentuche. 

ne wußt' es ja, mein Herzchen, Du bijt muthig, ein Pracht: 
mädel!“ 

„Still“, flüſterte fie, „ih muß jetzt hinein.“ 

„Ein Küßchen noch!“ er 

Aber ſie entwijchte ihm mit einer flinfen Wendung und eine 
Sekunde jpäter verjchwand fie hinter der Ede des Saufes Miska 
ſah ihr ſchmunzelnd nach und dann rieb er ſich die Hände und ſagte: 
„Der Farkas Miska ijt ein Glüdskind. en Si bei den Hujaren, 
Verwalter beim Grafen Telefi, und jet taujend Silbergulden und jo 
ein Prachtmädel! Nur fo weiter — ada isten!“ 


hf s 

Der Mond jtand 0. am Himmel und neigte jich bereit3 gegen 
Untergang, al3 aus dem Hofthore der Czarda zwei Dreigejpanne fuh- 
ren. Leichtgebaute Leiterwagen, auf deren Bänken Männer und Wei- 
ber jaßen, während vorne auf der Gabel der Big der Kutſcher 
jtand und den langen Riemen jeiner kurzſtieligen Peitſche um Die 
Ohren der fleinen braunen Pferde faußen ließ. Wie Pfeile ſchoſſen 
jie em und bald ſah man nur mehr zwei dunkle Punkte auf der 
jilberflimmernden Ebene fich fortbewegen, während das Jauchzen der 
ee und das Kichern der Mägde noch durch die tiefe Stille her- 
überflang. 

Drinnen, in der gedielten Stube, die ald Tanzboden gedient hatte, 
waren Geige und Klarinette verjtummt. Die Zigeuner lungerten in 
der Küche umher, brannten ihre kurzen Pfeifen am Feuer an und füll- 
ten ihre Tajchen mit Brod und Heiten des jungen Lammes. In dem 
Wirthichaftszimmer aber, das ieh! von einem diden, abjcheulichen 
Qualm erfüllt war, jaßen die Burjche um den großen irdenen Wein- 
frug herum und ein alter Cſikos mit hagerem, braungelbem Antlig, 
langem grauem Schnurrbart und bligenden dunklen Augen jang mit 
rau a aber doc) Elangvoller Stimme das Lied vom herrlichen, Tode 
gen Wein: 


14 In der Pukta, 


„Waffer, Dich treffe mein grimmiger Fluch, - 
Haft ja nicht Farbe, Geſchmack noch Geruch. 
Wein ber! Wein, ein kühlender Trunt 
Macht, ich weiß es, mich wieder jung. 


Wenn mid ein Aergerniß peinigt und quält, 
Oder bie fröblihe Laune mir fehlt, 

Wein gebracht, Wein! So ruf! ih dann aus, 
Spüle die Qual und die Balle binaus, 


Kurz ift das Peben und fummerbejchwert, 
Obne den Wein, was wär’ es denn wertb! 
Noch im Himmel würd’ es mid reu'n, 
Tränk' ih auf Erden nicht ſüßen Wein! 


Und dann ſank der Mond weiter und die Wolfen ftiegen vom 
Horizont empor und umfingen ihn mit ihren jchwarzen Fangarmen 
wie riefige PBolypen. Die alte Märis war am De eingejchlafen, 
die Mägde hatten ich zur Ruhe begeben. Ein Knecht jchleppte Strob- 
bündel ın die Gaſtſtuben und bald lagen die Burjche darauf, in ihre 
Schafpelze gehüllt und ſchnarchten. Auch Miska lag nicht bejjer, denn 
es giebt feine anderen Betten in der Ezarda. Aber er konnte lange 
den Schlaf nicht finden, denn die taufend Silbergulden und die heihen 
blauen Augen der Erejt, ihre runden Arme und ihr buntbejäumter 
Faltenrock gaufelten bejtändig vor ihm Hin und ber, und wenn die 
qualmende Dellampe, die von der Dede herniederhing, im Verlöſchen 
aufiprühte, glaubte er die Opalfette blinken zu jehen, die auf ihrer 
jammetweichen Bruit lag. 

Erefi war wie verwandelt in die Czarda zurüdgefehrt. Etwas 
jtarres, entichloffenes lag in ihren Zügen und wenn man ihr einen 
feden Scherz zurief, antwortete jie | feder, aber ohne zu lachen. 
Dabei lag es ihr wie ein Stein in der Bruft und fie hatte Die 
Empfindung, als könnte fie ubig, ohne mit einer Wimper zu zuden, 
dabei fein, wenn man alle diefe Burjche tödtete und Misfa und Piſta 
dazu. Sie ergriff das Glas, das ihr Miska reichte und leerte es auf 
einen Zug wie ein Mann, und als Piſta jchmeichelnd feinen Arm um 
ihren Leib legte, entwand fte fich ihm bligichnell, jegte jich neben den 
alten Gfifos und legte ihm zutraulich die Hand auf die Schulter. 
Und dabei jprühte aus ihren Augen ein fremdes Feuer und tolle, 
wahnwigige Worte Fangen von ihren Lippen, jo Daß die Burjche 
bald einander zuraunten: „Sie ijt betrunfen.“ Antäl aber betrachtete 
fie nicht ohne Sorge und endlich forderte er fie auf, jchlafen zu 

eben. 
6” „Du bift noch nicht ganz wohl“, jagte er, „es ift beifer für Dich, 
zu ruhen.“ nn 

„Sc muß noch mit Dir jprechen“, antwortete fie und ein finjte- 
rer Bli traf ihn, während ihre Bruſt wild auf und nieder wogte. 

Er faßte ihre Hand und drüdte ſie. 

„Sc komme.“ 

„Dann komm’ gleich. Wir werden in den Garten gehen — es ift 
jo fchwül hier — zum Erſticken.“ 

folgte ihr und betrachtete fie ängitlich. 


In der Pufta. 15 


„Halt Du Schmerzen, Ereji?“ 

„Rein, mir ijt ganz wohl. Mir ift nur heiß — zum Eritiden.“ 

„Es iſt Ihwül — es wird ein Wetter geben. Dort kommt es 
ſchon jchwarz — das Haidekraut jeufzt — hörſt Du es? 

Sie trat in den Garten und feste ſich auf diefelbe Bank, auf 
der fie kurz zuvor neben Misfa gejejjen. Als Bilta fie mit jet- 
nem Arm umſchlang und jie küſſen wollte, ſchauderte fie zurüd. Es 
kam ihr in den Stan, dag Miska fie mit derjelben Bewegung an 
ſich gezogen hatte. 

Üas iſt Dir nur?“ fragte Antäl bejorgt. 

„Dort die Bohnen — es hat hat jich etwas bewegt —“ 

„Der Wind, mein Schag. Es fommt ein Wetter — wir werden 
ihlafen gehen.“ 

„Kein, nein, nein!“ 

- Und dann wandte fie plöglich ihr Gejicht ganz dem neben ihr 
—— Manne zu und dieſer erſchrak faſt vor dem Blick ihrer 
Augen. 

Kennſt Du den „rothen Piſta“, den Räuber aus dem Bakon— 
yerwald?“ fragte ſie mit bebender Stimme, haſtig Wort für Wort 
hervorſtoßend. 

Es entging ihr nicht, wie Antaͤl zuſammenzuckte und wie ſein 
Antlitz ſich veränderte. 

„Du biſt es“, ſagte ſie mit fliegendem Athem, ihre Brauen finſter 
zuſammenziehend. 

„Um Gottes willen“, flüſterte er, „still — ſtill — wer hat Dir 
das Geheimniß verrathen — Ereſi, was weißt Du?“ 

„Du haſt einen Menſchen gemordet, um Dich verbergen zu Fön: 


nen. a 

„Das iſt Lüge“, braufte er auf. „E3 war mein Kamerad — der 
in den Abgrund jtürzte Ich fand ihn dort und da fam mir der 
Einfall. Ich tauge nichts zum Räuber; es fehlt mir nicht an Muth, 
aber ich bin weich, ic) fann feinen Menſchen tödten und ich bin fein 
Gauner. Aus Verzweiflung ging ich unter die Räuber — aus Em: 
pörung, weil fie mich quälten wie ein Thier und weil ich fein Recht 
fand — aber ich täujchte mich, ich taugte nichts für das Handwerf. 
Und doch konnte ich mid) nicht befreien, doc) gab es feinen Weg zurüd! 
Da fam mir der Himmel zu Hilfe — ich Stedte den Verunglüdten in 
meine Kleider und es gelang mir, alle zu täujchen. Woher hajt Du 
das Geheimnig, Ercſi, ſprich — ?“ — 

„Du mußt fliehen“, ſagte fie, „schnell entfliehen. Ich weiß nicht 
allein darum, man will Dich fangen.“ 

„stehen? — Und Du fliehft mit mir?” 

„ein.“ 

„Du bift mein Weib.“ 

„sch bin es nicht — ich kann es nicht fein. Sch Habe einem an— 
dern die Treue gelobt.” 

„Einem andern —?“ 

Er jprang auf, feine Augen glühten. Erefi war es, als hätte fie 
ihn nie jo ſchön geſehen. 


„Höre mich, Pilta. Gott hat es jo gewollt — wir fünnen es 


16 In der Pußta. 


nicht ändern. Ich war nicht ehrlich, als ic) Dir „Ja“ fagte, ich hätte 
es nicht thun jollen.“ 

„Du fannjt mich nicht Tieben — Du liebjt einen andern — 0!” 

Er jtampfte wild auf den Boden, aber er wurde gleich wieder 
ruhiger und jegte ſich wieder. 

„Sag, was Du mir zu jagen hajt. Ich habe Dich jo lieb, Ereji, 
wie — mein Gott, ich kann es nicht jagen, das kann nur ein Zigeus 
ner jpielen.“ 

Er faßte ihre Hand und preßte fie an jeine Bruft. 

„Weit Du das Lied von den Gräbern, Erefi? So iſt's mir — 
I ja — und wenn ich todt wäre — der Rosmarin über mir müßte 

orthin wachjen, wo Du wohnjt. Ich kann Dich nicht laſſen, Ercfi 
— ic fann es nicht — und wenn Du nicht mein ſein willſt, dann 
nimm ein Meſſer und jtih zu — jtich zu!“ 

Ste ſchrak heftig zujammen und fuhr mit der Hand nad) der 
Bruſt. Sie fühlte plöglich den falten Stahl und es war ihr, als 
brenne er ihr glühend heiß in dem Leib. Eine entjegliche Furcht er- 
faßte fie — & glaubte Miskas Geſicht zu jehen, das ihr wie das 
eines grinjenden Teufels erſchien — und mit einer jchnellen Bewegung 
jchleuderte fie den Dolch weit weg in das Geranfe der Melonenblätter, 
wo er in einer der dunklen Kugeln jteden blieb. 

Antäl jprang auf, faßte das Mejjer und trat auf Erefi zu. 

„Ber hat Dir das gegeben?“ 

Sie barg das Geſicht in den Händen und zitterte, 

„Der andere, nicht wahr?“ jagte er höhniich. „Der andere — 
dem Du Treue gelobt hajt — den Du liebſt!“ 

Er Iegte jene Hand auf ihre Schulter und feine Finger ums 
— ſie krampfhaft und drangen ihr in das Fleiſch wie eiſerne 
Feſſeln. 

„Er gab Dir das Meſſer, damit Du mich tückiſch, feige hinmor— 
den —*8 Ih weiß es ja — tauſend Silbergulden jtehen noch 
immer auf meinem Kopf — wenn ſie mich auch für todt halten. 
Tauſend Gulden — das wäre ein ſchönes — — nicht 
wahr? Nun — geh, geh, Du Treue — ich will Euch den Spaß nicht 
verderben. Weißt Du denn, warum ich in die Pußta kam, warum ich 
nicht in der Fremde geblieben bin? Weil ich geſtorben wäre vor 
Heimweh, weil ich es nicht ausgehalten habe. Fliehen — ich wäre 
vielleicht geriohen mit Dir, weil ich diejes Land lieb habe, wie eine 
Mutter, aber Dich jo viel, viel mehr. Aber allein — foll ic) wie ein 
weinendes Kind unter den fremden Menſchen jtehen? Und glaubjt 
Du, daß ic) den Tod fürchte, dem ich Hundertmal ins Geficht gejchaut 
= Weine nit — Du Sollit Deine taujend Gulden haben, wenn 
u auch nicht das Herz dazu haft — da — jieh her!“ 

Er hatte ſich das Hemd aufgerifjen und das Meſſer fuhr nach 
der nadten Brut. 

Schon träufelten die dunklen Blutstropfen über das weiße Lin- 
nen, aber in demjelben Augenblid, da die jcharfe Spige in das Fleiſch 
drang, hatte Ercſi den Horngriff des Dolches erfaßt und entrang ihn 
mit übermenjchlicher Kraft der nervigen Fauſt. 


In der Pußta. 17 


Und dann warf jie fi) an die Bruft des Mannes, umjchlang 
ihn mit ihren Armen und legte ihre heißen Lippen auf die Wunde, 

„Erefi — jegt wär’ es vorbei — warum quäljt Du mich noch 
länger?“ 

„Weil ich Dich lieb habe, wahnfinnig lieb, Piſta. Weil ich weiß, 
daß ich ohne Dich nicht leben kann, und weil ich jet nicht jterben 
mag — jegt, wo ıd) es weiß — jebt, ja jet!“ 

Es wie Flammen durch ſeine Adern, während ſie ihr Geſicht 
mit wilder Inbrunſt an ſeine nadte Bruſt preßte. 

„Ercſi — und der andere?“ 

Iccch weiß nichts mehr, als daß ich Dich lieb Habe, wahnjinnig 
lieb! Und ich weiß jest auch, daß ich Dich immer lieb gehabt habe 
— immer — ganz anders als Misfa — und Du biſt ja auch fo 
gut — ſo viel bejjer —“ 

„Ereft — mein fühes Weib!“ 

Sie ſanken auf die Banf und umarmten ſich mit heißer Leiden- 
ichaft und aus der Betäubung, in der fie verfanfen, erwachten fie erit, 
als plöglich alles in blauglänzendem Licht aufflammte und gleich darauf 
ein kurzer, jcharfer Donnerjchlag die Luft erzittern machte. Dann war 
es Nacht, jternlofe Nacht, der Wind fegte ſtoßweiſe durch das Haide- 
fraut umd ein kühler Hauch drang wie ein Strom durd) die Schwüle. 
Und dann rolgte Fi auf Blitz, Donner auf Donner, ein unaufhör— 
(iches blaues Aufleuchten und dumpfes, fernes rollen, ſchwere Tro— 
pfen fielen, das Hofthor knarrte in den Angeln, die ‘Pferde wieherten 
ın den Ställen. 

„Bas willſt Du thun?“ fragte Erefi ängſtlich, als Antal ſich 
durch einen Spalt im TFenfter überzeugt hatte, daß Misfa noch auf 
feinem Strohbündel lag. 

„Sie Ichlafen alle”, erwiderte er leife. „Ich hole jegt mein Geld 
— Du holit Deine Sachen. In einer Minute habe ich ein — 
— wir fahren nach Vacsbanya — dort faufen wir andere Kleider — 
und — mit der Eiſenbahn. Schnell, Ercſi — und vorſich— 
tig — ſtille!“ 

„Du lieber Piſta!“ 

Sie fiel ihm noch einmal um den Hals und küßte ihn wild. Und 
dann flog fie in das Haus, während Antäl nach dem Hofe ſchritt. 


v1. 


Leife graut der Tag, dann aber will die Dämmerung nicht ſchwin— 
den. An * bleifarbenen — hängen ſchwere, ſchwarze Ballen 
und der Regen rauſcht klatſchend auf den ausgedörrten Boden her— 
nieder, der ihn begierig aufjaugt. Zwiſchen den Büjcheln des braunen 
Haidefrautes ſchlängeln ſich Yin e Bächlein dahin und da und dort fallen 
die finfenden Tropfen ın weite jchwarze Tümpel. Schwarz tjt jebt 
das Rohrdach der Czarda und fait — erſcheinen die naſſen Lehm— 
wände. Die Bohnenſtangen Liegen am Boden, die Feuerlilien ſenken 
— i * Häupter und zwiſchen Melonen und Kürbiſſen flutet das 
dunkle er. 

Es iſt ſtille, todtenſtille in der Czarda. Nur das Raſcheln und 

2 


Der Salon 1887. Heft VII. Band 11. 


18 In der Pußta. 


Klatſchen des Negens und manchmal in langen Baujen, das Rollen 
fernen Donners jtört die tiefe Ruhe. 

Miska Schläft auf feinem Strohbündel und plöglid) iſt es ihm, 
al3 hörte er wieder das Wiehern der Pferde. 

Er fährt auf und blidt erjchredt um ſich. Es iſt ihm wüſt im 
Kopfe und er fann ich nicht gleich bejinnen, was von dem jeltjamen 
Bildertanz Traum und was davon Wirklichkeit tft. 

Wirklich it, daß es regnet. Diejes Klatſchen und Praſſeln iſt 
nicht zu leugnen. Auch dag Schnarchen jeiner Schlaffameraden ijt 
wirtlich aber vom Pferdegewieher iſt nichts mehr zu hören. 

E3 war aljo ein dummer Traum, was ihn beängjtigt hatte. Der 
„rothe Piſta“ und die jchwarze Ereſi waren auf und davon gefahren, 
und als er dem Wagen nacheilen wollte, da jchwang der —* die 
Peitſche und der lange Riemen mit den ſcharfen Knoten fiel ſchnei— 
dend auf ſeine Wange. 

Die Wange war geſund — keine Spur eines Schmerzes — es 
war ein Traum geweſen — ein dummer, unmöglicher Traum, denn 
dem Farkas Miska ging kein Mädel durch. Und noch dazu mit einem 
Räuber, mit einem Heimatloſen — während er, der Farkas Miska, 
Verwalter auf einer Tanya war — ganz abgeſehen von den tauſend 
Silbergulden! 

Es war ein dummer Traum und er fühlt ſich ſo müde und abge— 
ſchlagen, als ob er gar nicht geſchlafen hätte. Gähnend dreht er ſich 
nach der andern Seite und verſucht es, weiter zu ſchlafen. 

Aber da fällt ihm wieder die Ereſi ein. Warum kommt ſie noch 
immer nicht — warum bleibt alles ſo ſtille? Hat ſie ihn ſchon abge— 
than? Oder hat ſie am Ende eine Dummheit gemacht? 

Es wäre Fr eine verfluchte Sache, taujend Silbergulden zu ver: 
(tieren, die man on jicher in der Tajche zu haben glaubt. 

Und wenn fie br verrathen hätte, wenn der Piſta Nache nähme? 

Draußen regt ich etwas, eine Thüre fnarrt. 

Miska jpringt auf und nimmt eine Gjifospeitiche, die an der 
Wand hängt. 

Dann geht er vorfichtig hinaus auf den Flur und blickt ins Freie. 

Der Regen hat nachgelajjen, ein blaßblaues Stüdchen Himmel 
blinzelt freundlich durch die jchwarzen, raſch ziehenden Wolfen. Ein 
frifcher, erquicdender Hauch, der den Geruch der feuchten Erde mit ſich 
führt, weht zur Thüre herein. 

In der Ferne ſchwanken vier hagere jchwarze Geſtalten, die Arme 
dicht an den Körper gejchmiegt, über die dunkle Fläche. Es find die 
Zigeuner, die weiter ziehen zur nächſten Czarda, wie jie es gewohnt 
ind, Tag für Tag, jahraus jahrein. 

Miska wird es noch wülter im Kopf. Er fröftelt und hat ein 
le al3 hätte er am Abend zu viel getrunfen. 

o bleibt die Ereſi? — Am Ende wäre e83 doc) bejjer gewejen, 
die Panduren zu holen? 

Da regt ſich wieder etwas und wie er ſich umblickt, fieht er Die 
alte Maris. 

Warum lacht das Werbsbild nur jo höhniſch und der Knecht im 


In der Pußta, 19 


groben Leinenhemd und der ausgefranften Gatja Hinter ihr — will 
auch der ihn höhnen? | 
R — „bossta, ſüßer Freund!” jagte fie ſchmunzelnd. „Wer hätte 
as gedacht?“ 

„Was denn?“ fährt er auf und muftert fie mißtrauiſch vom Kopf 
bis zu den Füßen. 

„So ein Mädel, jo cin Mädel — was da drinnen nicht ſteckt!“ 

„Du meinjt die Ereji?“ 

„Freilich — die Ercſi! Wen denn jonjt als die Ercſi! Da hab’ 
ich geglaubt, daß ſie einen andern im Herzen hat und jeßt geht fie 
mit dem Pijta in die Welt, wie ein liches tolles Komtejjerl.“ 

Miska preßte die Lippen zwiſchen die in und ballte die Fäuſte. 

„Und der rothe ginn iſt der Herr!“ jagt der Knecht mit bligen- 
den Augen. „Schade — jetzt möcht ich ihm erft gern dienen!“ 

„Hol Euch der Teufel!“ brummt Miska und dann verlangt er 
jein Pferd, während die Märis und der Knecht jich bedeutjame Blicke 
zuwerfen. 

Draußen Hat es inzwijchen aufgehört zu regnen. Der bide 
Himmel wächſt und wächſt und bald ſpannt er ſich rein und durch— 
ſcheinend wie Kriſtall über der endloſen Ebene. Die Kräuter richten 
jich auf, die Lerchen fliegen jchmetternd in die Luft und Heujchreden 
und Sandfäfer friechen aus ihren Schlupfwinfeln hervor und pfeifen 
und zirpen luſtig in dem jchönen Sonnenfchein. Das Dad) der en 
glänzt wieder wie mattes Silber und die Feuerlilien glühen und leud)- 
ten, al3 wären jie eben erjt erblüht. Alles jcheint verjüngt zu fein, 
alles funfelt und gligert und jtrahlt und lacht und es ijt gar nicht 
mehr jo einſam in der Pußta. Es ijt, ala ob Gott aus dem Schlum- 
mer erwacht wäre, wie es in dem alten Ejifosliede heißt, und auch in 
der Pußta glänzt —* Auge und weht ſein Athem. 

Aber der einſame Reiter, der über die Haide DEN, fühlt 
nichts davon. Seine jchwarzen Aeuglein find finjter ins Leere geric)- 
tet, feine Lippen jind feſtgeſchloſſen. Nicht einmal das Lied von der 
Ente, vom Weizen umd von den treuen Mädchen, die nirgends wachjen 
wollen, fommt ihm in den Sinn, und wenn das Rößlein einmal den 
Schritt mäßigt und begehrlic) nad) einem Fleden grünen Grajes blidt, 
dann jtöht er ihm wüthend die Sporen in die Weichen und Flucht ein 
ganzes Dutzend Flüche, einen gräßlicher als den andern. Und dabei 
dreht er ungeſtüm jeinen jchwarzen Schnurrbart, daß die Finger 
ichnalzen, und denkt an die jchönen Stlbergulden, die in nichts zer: 
fladert waren, wie das zauberijche Blendwerk der Steppengeijter, das 
ihn geftern vergebens gelodt hatte. 


———=--— 


——— 
88 
Pi 
A) 





Adolf Friedrich Graf von Hal. 


Ein Dichterporträt von Irnſt Biel. 








SR, uſere Zeit it vom Weltſchmerz tief durchlättigt, tiefer 
als umfere Realiſten es zugeben wollen. Leicht ließen 
Hr lich, auf allen Gebieten des geiftigen Schaffens Die 
SH ji Belege dafür aufweilen, daß die alte weltflüchtige und 
EN weltfeindliche Lebensanjchauung einer rejignirten. Nega- 
‚tion, der wir ſchon bei den Hindus wie im a 
> Zejtamente, bei dem Griechen nicht minder wie bei den 
Römern begegnen, uns nod) immer hei im Blute ſteckt. 
Weit entfernt davon, durch die geijtigen Errun len unjerer 
Tage abjorbirt und voy einer harmgnijchen Weltauffajjung verfchlun- 
en worden. zu, fein, Hat der Weltjchmerz fich vielmehr in unſerm 
ahrhundert erjt eigentlich zu einer typiſchen, in fich gejchloffenen und 
weltbewegenden Gricheinung herausgebildet: wir haben, eine mis 
organifirte Philoſophie der Verzweiflung; wir haben eine hiftoriich 
entwidelte Literatur des Peſſimismus. 

Erſt unjere Tage haben den Schritt von der bloß jporadijch 
fühlbar werdenden weltichmerzlichen Stimmung zu einer Stinunung 
des Weltjchmerzes gethan, Der Weltjchmerz ijt ein integrivender Zug 
in der Phyfiognomie der, Zeit geworden. Diejer Zug aber tritt heute 
nirgends jo greifbar in die Erſcheinung wie auf dem Gebiete der Dich- 

Natürlich! Spiegeln ſich doc) die intimjten Negungen und 
Impulſe, die jubtilften Strebyngen und Initinkte einer Zeit, gewiſſer— 
maßen ihre Derzengangelegenheiten, tet? am wahrſten und ungetrüb- 
tejten da wieder, wo der zartejte Gradmeſſer der geijtigen Eigenart 
einer Periode liegt — in der zeitgenöffiichen Poeſie, und bier, auf 
dem Gebiete der Poeſie, find es folgerichtig wieder die feinjten und 
empfindlichjten Getiter, die vom Fluidum der Epoche am mächtigiten 
ergriffen werden. Heitfündiger find aber meiſtens auch Zukunftskün— 
diger; jie empfinden vorahnend das faum erſt vernehmbar werdende 
Gerieſel der herannahenden Flut, wenn andere Geijter ihre Zeit noc) 
tief im Stadium der Ebbe glauben. Der Weltjchmerz gehört zur 
Signatur der Zeit — ja! aber auch der Drang I von ihm zu 
befreien, macht ſich mehr und mehr als ein Zeichen unjerer Tage gel- 


Adolf Friedrich Graf vom Shark. 21 


tend. Die Schlange Zeit will fich Ichälen, und wenn die abgerungene 
Haut im Sande liegen wird, werden wir auch den Weltfchmerz über— 
wunden haben. 

Unter den heutigen dichterifchen Zeit⸗ und Zukunftskündigern ift 
einer der allerberufeniten Adolf Friedrich Graf von . Seine 
Dichtungen leihen dem tiefelegiichen Zuge des modernen Weltſchmer— 
zes einen typiſchen Ausdrud, aber fie ringen fich, ganz parallel dem 
Zuge der Zeit, aus der Negation zur mn aus der dunklen wwelt- 
ſchmerzlichen Sehnfucht ac) Licht und Glüd au einem höheren Stand- 
punfte empor, auf dem diefe Sehnfucht ſchließlich als abgethan er: 
icheint; denn neben den Gedanken des Weltjchmerzes — richtiger über 
ihn — jtellt die Schadjche Dichtung einen zweiten Gedanken: fie ver- 
flärt den Weltichmerz optimiftiic in eine allumfaſſende Liebe, in Huma— 
mtät und hoffendes er sehe in einer bejjeren Zukunft des Menjchen- 
geſchlechts. Ganze gr ungen unſeres Sängers, gerade jeine bedeu— 
tenditen, bejchäftigen 4 ausſchließlich mit der Einheit diefer beiden 
Gedanken — jo die „Weihgefänge”, jo die „Nächte de3 Orients“, fo 
„Memnorn“, jo in gewiſſem Sinne auch „Heliodor“. 

Sp viel im Kürze über den Weltſchmerz und feine optimiftifche 
Verklärung in der Dichtung Schacks! 

Und neben dem hiermit angedeuteten Grundzuge fpringt ein wei- 
teres Merkmal in der dichteriichen Phyſiognomie unſeres Poeten präg- 
nant ins Auge: ein gewiſſer umftäter ektizismus, der bei allen 
Zeiten und Völfern in die Schule geht, bei allen Dichtern und Den- 
fern jeine Anleihen macht und den man wohl am richtigjten als einen 
romantischen bezeichnet; denn unjer Dichter hat mit den R ikern 
— nicht gerade zu feinem Vortheil — eine wahre Umiverfalität der 
Stoff- und Fotmenwelt gemein; er ftudirt die poetifchen Werke aller 
Epochen und Nationen und folgt in großer Bejtimmbarfeit fernen Vor- 
bildern in den verichiedeniten Bahnen. Seine „Gejammtelten Werke“ 
(1883) weiſen im Ton des Vortrages, wie im der Mannigfaltigkeit 
der in Anwendung gebrachten Dichtungsgattimgen eine bunte Mnjter- 
farte der Strebeziele wie des Gejchmades ein jeine Poeſie ſchreitet 
mit Vorliebe auf dem Kothurn der Reflexionen einher; ihr tft das 
og magna sonaturum in vollem Maße eigen; ebenjo Häufig jedoch 
ſchwingt fie die Geißel einer überlegenen Satire; die Poſitur des 
Kampfes tft ihre natürliche Poſitur, aber das Lächeln der Ironie jteht 
ihr gerade jo gut zu Geſicht wie die Falte des — en⸗ 
fers; fie verleugnet nirgends ihre ausgeſprochene Sympathie für das 
kosmiſch beleuchtete Natur- und Landichaftsgemälde und den breiteren 
Wurf des Zeit- und Situationsbildes, allein Hunter ımd Komik find 
ihr nicht minder geläufig wie Ernjt und Tragif. Ein auch nut flüch— 
tiger Blick auf Schacks e beitätigt die Wahrheit des Behaupteten: 
Erheben fich die „Nächte des Orients“ und die „Weihgefänge* — um 
nur einige Beijpiele anzuführen — zu prophetijchem Schwunge und 
einer erhabenen Größe der Weltanfchautng, fo ergehen ſich „Durch alle 
Vetter“ und „Ebenbürtig“ in einem oft tollen Humor und muthwilli— 
ger Laune; zeigen uns „Lothar“ und „Heliodor“ im ganzen ein düſte— 
res, melancholiſches Kolorit, I ichlagen „Der Kaiſerbote“ und „ans 
can“ einen maliztöjen, jarfaftiichen Ton art. 


22 Adolf Friedrich Graf von Schack. 


Die Bielheit der * wirkſamen Farben verleugnet nirgends 
die Signatur des Eklektiſchen. Aber wie in der Schackſchen Dichtung 
neben dem Gedanken des Weltſchmerzes als Korrektiv der Gedanke der 
Humanität und eines hoffenden Ausblickes in die Zukunft des Men— 
ſchengeſchlechtes ſteht, ſo neben dem Eklektizismus, nicht minder aus— 
gleichend und verſöhnend, das Prinzip des Modernen und das des 
J— Schack fühlt ſich mit Entſchiedenheit als modernen Men— 
ſchen; er ſteht mit ſeinem ganzen Schaffen mitten in der Kulturarbeit 
unſerer Tage und ſpiegelt die geiſtigen, künſtleriſchen, politiſchen und ſo— 
zialen Intereſſen und Aufgaben unſerer yet bewußt in jeinem Dichten 
wieder, und zwar in der Art, daß jein efleftiich errungenes Beligthum, 
dieje Summe des Nachempfundenen und Nachgedachten aus den Wer: 
fen der erlejenen Geiſter aller Literaturen, im Lichte jeines modernen 
Fühlens eine individuelle Prägung — Fühlt er ſich aber als 
modernen Menſchen, jo fühlt er ſich auch in jedem Pulsſchlage als 
Deutjchen. Wie er nicht jatt wurde, die zum Theil jelbjtverjchuldete 
Schmad) und Erniedrigung des früheren Deutjchland zu verjpotten 
und zu geigeln, jo fann er ſich nicht genug thun ım Lobe und in der 
Berherrlihung unjerer neuen und neuejten deutjchen Errungenjchaften. 
Die treue Anhänglichkeit an Deutjchland, der unerjchütterliche Glaube 
an die große gejchichtliche Sendung des Germanenthums jpricht, ver: 
hüllt oder offen, aus den meiſten jeiner Schöpfungen; bildet doch der 
nationale Gedanke jchon in den Iyriichen Anfängen unjeres Dichters _ 
einen der Grundtöne, um jpäter im „Lothar“, den politifchen Luſt— 
jpielen und den „Nächten des Orients“ ich zur dominirenden Idee 
aufzujchwingen. Schaf prägt Ddiejen nationalen Gehalt in jeinen 
Dichtungen jo eigenartig aus, daß auch hierin ein fräftiges Gegen— 
gewicht gegen den efleftiichen Charakter jeiner Schöpfungen nicht zu 
verfennen tt. | 

Ich vefapitulive: zwei Grundzüge jind es, die in der Schadjchen 
Dichtung in die Erjcheinung treten: der verſöhnte Weltſchmerz und 
der überwundene Eflektizismus; wie der Weltjchmerz in unſerm Dich- 
ter von einer optimiftiichen Weltanicjauung, jo wird in ihm der Eflef- 
tizismus von dem Prinzip des Modernen und dem des Nationalen 
verichlungen. — — 

Die Werke des Grafen Schad lajjen fi ihrem Wejen nach am 
zwanglojejten und überjichtlichiten in vier Gruppen zerlegen, zunächit 
in ſpaniſch-arabiſche und indiſch-perſiſche wifjenichaftliche Studien und 
Ueberjegungen, jodann in Lyrik, ferner in fomijche und ernſte Epit, 
endlich in politijch-jatiriiche und eigentliche Dramatik, wobei zu bemer: 
fen ijt, dab die Chronologie der einzelnen Werfe, wenn man den 
Moment ihrer Entjtehung ins Auge fat, eine fajt durchweg unfichere 
und jchwanfende iſt, da unſer Dichter jeine Erzeugnijfe meiſtens erſt 
jahrelang nad) ihrer Geburt der Deffentlichfeit übergab, wie beiſpiels— 
weije das politische Luſtſpiel „Der Kaijerbote“ vermuthlich gleich nach 
dem Revolutionsjahre 1848 entjtanden ijt, während es erit 1873 das 
Licht der Preſſe und des Buchladens erblickte, 

Ein noch junger Kavalier von faum dreißig Jahren, führte Schad 
ji) durch ſein dreibändiges Werk „Gejchichte der dramatifegen Litera⸗ 
tur und Kunſt in Spanien“ (1845 bis 1846) in die Literatur ein. 


Adolf Friedrich Graf von Schack. 23 


Man war überrajcht — man war verwundert. Ein unter den jchrof- 
fen Vorurtheilen und traditionellen Gewohnheiten jeines® Standes auf: 
gewachjener pe Edelmann — er war am 2, Auguit 
des Jahres 1815 zu Schwerin geboren — zeigte in jo jugendlidyem 
Alter die moralische Kraft und geiftige Konzentration, ein umfang- 
reiches Werk wifjenjchaftlicher Natur zuitande zu bringen. Die bloße 
Kunde hiervon erwedte ein den Verfaſſer ehrendes Eritaunen. Das 
Werk jelbjit aber, das jtrenge Forſchung mit glänzender Darftellung 
verband, erhöhete diejes Erjtaunen noch um ein erhebliches. Und das 
mit vollem Recht! Denn die „Gejchichte der dramatischen Literatur 
und Kunſt in Spanien“, welcher 1854 ein Band „Nachträge” folgte, 
bejchreitet mit großem Wagemuth ein von der deutjchen Ai enſchaft 
bis dahin wenig kultivirtes Gebiet und erledigt ſich ihrer Aufgabe 
mit einer erſchöpfenden Weite des Umblickes und ſeltener kritiſcher 
Schärfe und Sicherheit in der Beurtheilung der einzelnen Werke. 

ſt gleichzeitig mit dieſer Erſtlingspublikation Schacks erſchien 
ſein „Spantjches Theater“ (1845), welches uns in ſeinen zwei Bänden 
eine Reihe trefflicher Ueberjegungen aus den dramatischen Dichtern der 
Spanier bietet, während jein viel jpäteres ebenfalls zwerbändiges 
Werk „Poejie und Kunjt der Araber in Spanien und Sizilien“ (1865) 
ein weitgreifendes fulturgejchichtliches Gemälde vom Bolfe Muhammeds 
entwirft. Bei dem großen Mangel an Vorarbeiten ijt das Verdienſt 
befonders diejes letzteren Buches doppelt hoc) —— lag doch 
nicht nur die Kunſt- und Literaturgeſchichte der Araber in Spanien, 
ſondern auch ihre politiſche Geſchichte ſehr im Argen, bis der große 
holländiſche Orientaliſt Dozy dem Uebel Erna abhalf, indem 
er die arabijchen — keine: im Originaltert edirte und Die 
Geſchichte Spaniens unter den Arabern kritiſch behandelte. Schad 
steht, was die politiſche Gejchichte betrifft, in jeiner „PBoefie und Kunſt 
der Araber in Spanien und Sizilien“ durchaus auf den Schultern 
Dozys, aber in Betreff des Hauptgegenitandes jeines Werfes jtellt er 
jich völlig auf eigene Studien: wiederholtes Reifen und längeres Ver— 
weilen in Spanien und Italien ee. ihn in die Lage, eingehende 
Unterjuchungen kunſt- und literaturgejchichtlicher Natur auf der pyre— 
näiſchen Halbinjel zu unternehmen und unmittelbar aus den Quellen 
zu jchöpfen. Nur dieje perfönliche Kenntnignahme von Land und Leuten, 
Kultur und Sitten des jüdlichen Europas und des Morgenlandes und 
ihre jtetige Wiederholung — Schad war jpäter als Kammerherr und 
Legationsrath de3 Großherzogs von Medlenburg- Schwerin auf3 neue 
nad) Spanien, Italien und Konjtantinopel gefommen — nur fie, ver- 
bunden mit fortgejegten Studien der einjchlägigen Literaturen, fonnte 
unſern Autor in den Stand jegen, Werke von jo großem wijjenjchaftlichem 
Werthe und zugleich jo lebensvoller Darjtellungsform zu jchaffen. Diefe 
lebensvolle Daritellungsform tritt aber vielleicht am glänzenditen in dem 
Abjchnitte über die Moefie der Araber vor Muhammed hervor, einer 
Epoche, die befanntlic) Erzeugnifje gezeitigt hat, welche die jpäteren 
arabijchen Dichtungen weit hinter jich läßt. Schads Schilderung des 
prachterfüllten, farben- und gejtaltenreichen Lebens und Schaffens der 
Araber in Spanien und Sizilien erweiit fich als eben jo lichtvoll in 
der Anordnung und Gruppirung des Gejammtjtoffes wie fejjelnd und 


24 Adolf Friedrich Graf von Schad. 


individuell belebt in der Formung des Einzelnen, und die Auswahl 
von Ueberſetzungsproben, die fich daran ſchließt, trägt zur Beranjchau- 
lichung des Gegenjtandes ungemein bei 

LUnferes utors Hauptleiitungen auf dem Gebiete der orientali- 
jchen Literaturkunde und der Ueberjegungsfunft ſind aber neben dem 
mit Emanuel Seibel herausgegebenen „Nomanzero der Spanier und 

sortugiejen” ( N) die metrijche WUebertragung der „Deldenjagen Des 
Firduſi“ (1851) und die „Epiichen Dichtungen aus dem Perfiichen des 
irdufi” (2 Bd. 1863), Kachdichtungen, die ung tief in Das eigenartige 
!eben des Drients einführen und in denen die wunderbare Einheit von 
Naivetät und Pathos, von unbefangener Lebensfreudigkeit und tief: 
gründiger Weisheit, die den großen perjiichen Sänger charakterifirt, 
eine meifterhafte Wiedergabe findet; gemeinjam mit den „Stimmen 
vom Ganges” (1856) befunden jie eine vollendete Kunſt der Nach— 
empfindung. Das leßterwähnte Werk bejtcht in einer Auswahl und 
Bearbeitung charakteriſtiſcher Legenden, die zum größten Theil den 
Parunas, jenen großartigen theojophijchen Didtun en entlehut find, in 
denen die Inder ihre Götter, den Wiſchnu voran, befangen und die in 
ihren Grumdideen, in der Verneinung des Willens rg Xeben, der 
Weltflucht und der pantheijtiichen Auffaſſung des Alls, ſich vielfac) 
mit den Anjchauungen der Budohiiten begegnen; fie erichließen uns 
die ganze bezaubernde Romantik des Oſtens und eröffnen uns, oft 
mit bejtridender Grazie, oft mit tiefem Ernſt die intereſſanteſten Ein— 
blide in die Welt der Inder, in ihre Lebensgewohnheiten, ihre Gott: 
und Weltanſchauung, ihr jtaatliches und geiellichaftliches Leben. 

Ich habe nur noch der Uebertragungen der anmuthigen „Strophen 
des Dmar Chijam“ (1878) zu erwähnen, welche den Xejer wie eine 
Vorausverfündigung des zwei Jahrhunderte nach diefem Dichter ins 
Leben tretenden Hafis gemahnen, um damit meine Ueberſicht über die 
exotiſchen Studien und Nachdichtungen Schads abzujchliegen und mic) 
nunmehr jeinen Driginalichöpfungen — 

Zunächſt ein Blick auf die Schackſche Lyrik! Es kommen hier die 
Sammlungen „Gedichte“ (1866), —n (1878) und „Lotos⸗ 
blätter“ (1882) in Betracht, welche fait durchgängig jenen Geiſt einer 
Ihönen Jdealität athmen, dei im unſerer Literaturgejchichte durch die 
Namen Schiller, Hölderlin und Platen bezeichnet wird. Die Lyrif 
unjeres Poeten bat den Weitblid in Geſchichte und Welt, den Tief- 
blid in das Herz des Menjchen und der Natur. Schads rein menſch— 
liche Seite, jeine pantheiſtiſche Weltanichauung und vorwiegend pathe- 
tiſche Gefühlsrichtung, kommt in diejen jubjektiven Dichtungen natür- 
lich am frappanteiten zum Austrag, und nad) diefer Richtung hin find 
ihnen unter den gejammten übrigen Erzeugnifien unjeres Sängers nur 
die „Nächte des Orients“ und „Heliodor“ an die Seite zu Stellen; fie 
jind meiſtens von einem gewijjen priejterlichen Pathos erfüllt, haben 
ein ausgejprochen kosmopolitiſches Gepräge und das glühende Kolorit 
des Südens bei nahezu völliger Abwejenheit didaktiicher Elemente. 
Schacks inmer geſchmackvoll gebauete Strophen, die bald die marmor: 
jchöne Plajtit Platens, bald den farbenprächtigen Glanz Freiligraths 
befunden, erheben ſich — und dies gilt bejonders von den —* 
geſängen“ — in begeiſterter Propaganda für die modernen Wiſſen— 


Adolf Friedrih Graf von Schack. 25 


Ihaften zu einem den Fortichritt des Jahrhunderts feiernden Hym— 
nenſchwung, der einen entichieden großen Zug hat. page Ah gan: 
zen Jammer der Men * erfüllt, verſenken fie ſich in die Betrachtung 
der Natur und der Weltgeſchichte und leſen aus beiden ſich die tröſt— 
liche Ueberzeugung heraus, daß, wie Schad dies im Nachwort zu den 
„Nächten des Drients“ ausdrüdlich betont, das Paradies der Menſch— 
heit fein vergangenes, fondern ein Paradies der Zukunft fei. Diejer 
ich aus dem Weltſchmerz fiegreich losringende freudige Optimismus, 
der oft genug mit einem begeijterten Patriotigmus des Dichters zu- 
jammenklingt und, wie oben dargelegt, einen Grundzug der Schadjchen 
Dichtung bildet, tritt im Gejammtbilde des Poeten faum irgendiwo jo 
markant hervor wie in jeiner Lyrif. 

Nach dem Gejagten leuchtet ein, daß .die Lyrik im engern Sinne 
des Wortes, das jangbare Lied, in dem fich ein rein privates Empfin- 
den austönt, in der Poefie Schad3 kaum einen Plab findet. Eine 
dem Perfünlichen abholde, mehr auf das Weltganze gerichtete Reflexion 
überwiegt in ıhr das bloß Gefühlsmäßige. 

Und die Schadjiche Epik? Sie zeigt eine jehr bewegte Linie, die 
unruhige Linie des Taftens und Stchverjuchens nach allen Dimen- 
jionen der Gattung hin. Da iſt zunäcjit eine Sammlung von zehn 
Heinern epiſch⸗lyriſchen Jugenddichtungen, Novellen in Verſen unter 

Titel: „Epiſoden“ (1869) in denen das erotiſche Element das ge— 
meinfame Band bildet. Wie das epiiche Schaffen umferes Dichters im 
groben, fo gewähren die „Epijoden“ im Eleinen das Bild des Schwei- 
Fed in alle Zonen und en des Schwelgens in allen Formen und 
jarben: Griechenland, Italien, Deutichland, der Orient und das 

llenkukuksheim eines märchenhaften Luftreichs — das find Die 
Hätten, in welche uns der epiich-Iyrische Pegaſus Schads trägt, bald 
im pathetiichen Kothurnfchritt des Trochäus, bald im gemächlichen 

o des Jambus, hier im ſchlichten Gewande reimlos aufmarfchirender 
Verszeilen, dort im Jaumnachichleppenden Prachtgewande ftolzer ottave 
rime. Inhaltlich bieten die „Epiſoden“ in_ihren wechjelnden Motiven 
viel des Intereſſanten. Mag uns der Dichter in „Siorgone” und 
„Lais“ den Sieg der entjagenden LXiebe über fich jelbjt, hier im eimer 
weiblichen, dort in einer männlichen Seele, jchildern, mag er ung in 
Glycera“ Die Glut Leidenfchaftlicher Eiferfucht und ihre endliche Be- 
Ihämung Durch ein edles Herz, in „Stefano“ aber die ausdauernde 
Beharrlichfeit einer ſtarken Mannesliebe im Kampfe mit ſtarrem Mäd— 
hentroge dichteriich zur Anfchauung bringen, mag er in „Dandolo“ 
und in „Fiordiſpina“ den freudigen Opfermuth im Dienfte des Bater- 
landes verherrlichen, in „Ubaldo Lapo“ aber ein rührendes Bild der 
Verehrung des Schülers gegenüber jeinem Meifter entwerfen, mag er 
im „‚slüchtling von Damaskus“ das hiſtoriſche Trauerjpiel vom Unters 
gange des Dmajjadengejchlechtes. und der wunderbaren Rettung Ab— 
durrhbamans an uns vorüberrühren oder endlich in dem Märchen „Der 
Regenbogenpring“ eine jchnetdige Satire auf die Leerheit und Lächer— 
lichleit des modernen Hoflebens in Scene jeßen — immer in dieſen 
„Epiioden“ wird ein eigenartiger und fein pointirter Gehalt in an- 
en ormen ausgejtaltet, immer werden uns in ihnen Gaben 
eines echten Dichtergeiftes dargeboten. Nur in der tragiichen Liebes— 


26 Adolf Sriedrih Graf von Schack. 


geichichte „Roja“, welche die deutlichen Spuren einer unreifen Jugend 
arbeit an der Stirn trägt, jchläft unjer Homer. Das Motiv iſt barof, 
die Ausführung jenjationell und der Eindrud des Ganzen der des 
jugendlich Forcirten und Weberjchraubten. 

Durchaus als ein Jugendproduft fennzeichnet ſich auch die Dich— 
tung „Lothar“ (1872), die, wie die „Epijoden“, ein jtrenges epiſches 
Gefüge entbehren läßt und jtarf mit lyriſchen Elementen durchjegt iſt. 
Das Schattenhafte der Charaktere und ‚Situationen, dag Blajje in 
den Anfichten über Welt und Leute, die gar zu allgemeine und ab— 
itrafte Begeifterung für Menjchheit und Baterland, all dies läßt 
männliche Reife und gefättigte Realität oft peinlich vermijjen und 
macht auch das ehrliche und rücdhaltloje Eintreten für die Ideale der 
Bene: und Aufklärung, welches den ethiichen Grundton der Dichtun 

ildet, unjerm obotritijchen Romanzier, der ſich von den mittelalterli 
feudalen Anjchauungen jeines bevorrechteten Standes jo freimüthig 
losſagt, alle Ehre — das politische und joziale Glaubensbefenntni 
Zothars entbehrt hier doch zu jehr der fernigen Konzentration und fon= 
freten Sachlichkeit, um den Leſer wahrhaft paden und fejjeln, erjchüt- 
tern und ergreifen zu fünnen. Der Held, dejjen Jugendgejchichte uns 
umständlich erzählt wird, iſt der Sohn eines deutichen Edelmannesg, 
welcher Teßtere unter York und Blücher gegen den eriten Napoleon 
gefochten. Lothar wendet jich als Heidelberger Student und Burjchen- 
Ichafter nad) einem Duell mit einem adelsftolzen Junfer ins Ausland 
und tritt dort, mit den Waffen in der Hand, überall für die Befreiung 
der Völfer von Tyrannei und Unterdrüdung ein, zunächit in Spanien, 
ter Lieblingsjtätte der Schadichen Poeſie, wo er jchwer verwun— 
det wird, dann in Afrika, wo er in die Gewalt der Mauren, darauf 
in Griechenland, wo er bei Mijjolunghi in türkische Gefangenschaft 
geräth, um aus diefer durch Adele, jeine Jugendgeliebte, wunderbar 
befreit zu werden und alsdann mit feiner Retterin nach Deutjchland 
zurüdzufehren. Die in vier- und — gereimten Jamben abge— 
faßte Dichtung klingt in einer begeiſterten Verherrlichung des deutſchen 
Vaterlandes ſtimmungsvoll aus und zeigt uns am Schluſſe den Hel— 
” n treuem Beharren auf dem Standpunkte der Ideale jeiner 
Jugend. 

„Lothar“ iſt, wie die meijten anderen Schadjchen Dichtungen aud), 
zu einem großen Theile eine Frucht der ausgedehnten Reifen, die unjer 
Boet von Jugend auf jo — unternommen und noch heute all— 
jährlich zu unternehmen pflegt. „Ich ſchrieb ihn zum größten Theil“, 
heißt es in der Widmung an Ferdinand Gregorovius, „angeſichts der 
Gegenden, durch welche ich meine an führe, unter den Palmen und 
Zelten Syrien und auf dem Dache des lateinischen Kloſters zu Jerus 
jalem, an den Ufern des Quadalquivir und auf der herrlichen, über 
den Abgrund hängenden Alameda von Ronda, auf einer Nilbarfe und 
inmitten der age ea Zrümmer des hundertthorigen Theben!“ Die 
friiche Art, wie „Lothar“ entitanden, fein theilwerjes Wachen und 
Erblühen unmittelbar aus dem Boden des wirklichen Lebens, ijt der 
Dichtung aufs erfreulichjte zugute gefommen; denn gerade diejenigen 
ihrer Bejtandtheile, weldhe auf vom Dichter Selbjtgejhautes und Er- 
(ebtes zurüdzuführen find, die glänzenden Natur: und Landjchaftse 


Adolf Sriedrid) Graf von Schack. 27 


bilder, die prächtigen Städte und Völfergemälde, die uns hier entrollt 
werden, gerade ſie gehören zu den jchöniten Stellen diejes vielleicht 
lebensvolliten, wenn auch feineswegs zu epijcher Kraft und Konzijion 
durchdrungenen Gedichtes unferes Poeten. 

Etwa auf dem gleichen Kunftniveau wie „Lothar“ die Ro⸗ 
mane in Berjen „Durch alle Wetter“ (1870) und „Ebenbürtig” (1876), 
welche in ihren oft mit baroden Reimen bunt gejchmücdten ottave 
rime — romanhafte Vorgänge ſchildern, in die leicht hingeworfene 
Erzählung aber ein vielfarbig ſchillerndes Moſaik behend und zwang— 
(08 hineinflechten, ein Moſaik von eigenen Erlebnijjen und Lebens- 
anihauungen des Dichters, von Neflerionen und Exkurſen ernithafter 
und jchalfhafter, jattriicher und phantaftiicher Art. Die geſchickt nach- 
gebildeten Muſter Schads find. hier die italienischen Epifer Pulci, 
Arioſt und Berni, an welche ſich befanntlich auch Lord Byron in 
jeinem „Don Yuan“ — Oder ſchöpfte er ſeine Anregungen nur 
aus der indirekten Quelle des brittifehen Dichterheros? Die über: 
müthige Phantaſtik diefes Genres, die ihre üppigen Ranken um alles 
möglidje und einiges unmögliche —— um Himmel, Erde und 
Unterwelt, die ſonderbare Marotte dieſer Dichtungsart, alles das, worauf 
& ihr eigentlich ankommt, jcheinbar nur nebenbei zu jagen und diejem 
Nebenbei noch ein anderes Nebenbei und immer noch) eines zugejellen 
und jo die — —— die epiſche Handlung und die handelnden Eharak- 
tere, ganz aus den Augen zu verlieren — dieſe Phantaitif, die eigent- 
(ich der ärgjte Widerpart aller jtrengen Kunftform iſt, fie ift natürlich 
nicht nach — Geſchmack, auch nicht — ich geitebe es — nad) 
meinem. Aber was jchließlich auch den äfthetiichen Rigoriſten, wofern 
er ein Mann des Fortjchrittes und der Aufklärung tft, mit dieſen 
Schadjchen Dichtungen verfühnen muß, das it die Gefinnung, die in 
ihnen lebt. Sit das ein Edelmann von Gottes Gnaden, diefer Adolf 
Friedrich von Schad! Ja, wahrlich) von Gottes und nicht von Stan- 
des- oder Geburtsgnaden! Wie er in „Durd) alle Wetter“ eine Pa— 
todie unjerer Senjationsromane liefert und moderne Schäden und 
Mißſtände jozialer und anderer Art geigelt, jo bietet er in „Ebenbür- 
tig“ feinen eigenen Standesgenojjen umerjchroden die Stim und reift 
diefen Rittern des blinden VBorurtheils und der gedanfenlofen Tradi- 
tion rückſichtslos die jeidene Maske vom Geficht. Den „Fürſten, 
Grafen und Baronen“ unjerer Tage ruft er im erjten Buche von 
„Ebenbürtig” freimüthig zu: | 


Die beut'ge Welt, ich fage das Euch nüchtern, 
Gebt über Euh und Eure Junkerei 

Zur Tagesordnung über: Pferbeziichtern 

Und Sportömen legt fie noch das Recht nicht bei, 
Das Haupt jo ftolz zu beben, nein, fragt fchüchtern, 
Wo denn Eu'r Titel zu dem Anſpruch jet 

Und mweift Euch auf den Adel alter Tage — 

Hört Ihr davon, e8 bilnft Euch eine Sage. 


Und wie die Dichtung in ihren hervorjtechenden Einzelheiten, in ihren 
Refferionen und allen Zuthaten des äußern Schmudes ihren Stachel 


28 Adolf Friedrich Graf von Schack. 

gegen die Thorheiten der vornehmen Geſellſchaft richtet, ſo auch in 
dem Kern der Handlung: Ein — Fürſt ſieht das Schickſal 
über ſich verhängt, daß ſäumtliche Nachtommen bürgerliche Ehen 
ſchließen; ihn oh nöthigen die Berhältnijje eine Gouvernante an den 
Altar zu wen: jein Diener aber heiratet eine alte ungarifche Für— 
jtin. Das iſt alles bald mit eradglichem Humor, bald mit beißender 
Satire gefchildert, und in dem Ganzen feiert eine heitere Humanität, 
eine göttliche Ironie wahre > des Triumphes. 

Haben die jatirifchen Romane „Durch alle Wetter” und „Eben- 
bürtig“ eine joziale Tendenz, jo nehmen die „Nächte des Orients“ oder 
„Die Weltalter“ (1874) einen philojophijchen Aufihwung. Iſt dort 
ein realijtifcher, in Humor, d Ironie den alltäglichen Dingen 
zugewandter Zug vorherrichend, jo begegnen wir hier eimer durchweg 
idealiſtiſchen Haltung, die nur mit den großen Schidjalen der Menjc)- 
heit rechnet. In den „Nächten des Orients“, welche ſich der verjchieden- 
ſten Metra bedienen, pulfirt das Blut einer fubjeftiviten Lyrik, obwohl 
jie ſich in eine Art epiich-didaftiiches Gewand Fleidet. Wir haben hier 
ein geichichtsphilojophiiches Gedicht von glänzendem Kolorit vor uns, 
das nach den höchiten Gedanfenzielen jtrebt. Der Dichter wendet ſich 
aufänglich migmuthig von jeiner Zeit ab; er glaubt mit den vergange- 
nen Gejchichtöperioden das Heil der Menjchheit verjunfen, findet aber 
nach langen peſſimiſtiſchen Gedanfengängen jeinem Räthſel endlid) 
doch die optimijtiiche Löſung. Liegt biete Löjung m der Dichtung 
jelbjt auch jchon Ear ausgeiprochen, jo interpretirt Schad in dem 
oben bereit3 erwähnten Nachworte zur zweiten Auflage diejelbe aus— 
drüdlich folgendermaßen: „Der Menjch“, jagt er dort, „ijt nicht von 
einem urjprünglich reinen und glüdlichen Zujtande jpäter entartet, 
hat fich vielmehr im Laufe unzählbarer Jahrtaufende allmählich aus 
thieriſcher Rohheit erhoben und jteigt zu immer höherer Entwickelung 
auf; nicht in der Vergangenheit liegt das goldene Zeitalter, jondern 
in der Zukunft.“ Wer glaubt hier nicht einen der Hauptſätze der 
Darwinſchen Entwidelungslchre zu hören? Und in der That, das 
— der modernen Naturwiſſenſchaft findet hier ſeine poetiſche 

vera Es iſt eime in jedem Sinne moderne Anſicht von der 
Welt und den Dingen, die, dichteriſch verflärt und vertieft, aus dieſer 
großartigen Schöpfung zu uns jpricht; überdies gelangen in ihr die 
beiden hervorragendjten Eigenjchaften des Schaden Talents am 
ungebrochenjten zum Ausdrud, jeine große Gabe für jtimmungsvolle 
Landſchaftsmalerei und der tiefe metaphyfiiche Zug feines Wejens. 
Ich kann mir nicht verjagen, zum Verſtändniß der Dichtung die Hand- 
(ung und den Gedankengang derjelben m kurz zu ſtizziren. 

Zur Zeit des vatifaniichen Konzils begiebt ſich der Dichter europa- 
müde nad) Arabien. Begleitet von zwei jungen Eingeborenen, durch: 
reitet er die Wüſte und ſieht den blutigen Kämpfen der arabijchen 
Horden, welche das Land durchziehen, unfreiwillig zu. „Ihor“ nennt 
er fich, weil er „bei Söhnen der Natur“ den Frieden gejucht. Unter 
den Ruinen der Wüjte gejellt fich ein Greis zu ihm, der ſich Hadſchi 
Ali nennt und von dem Bewußtjein der Erbärmlichkeit alles Irdiſchen 
tief erfüllt it. Diejer führt ein wunderfräftiges Elixir mit ſich, von 
dem er jagt: 


Adolf Friedrich Graf von Schark. 29 


Wer einen Tropfen koftet von dem Saft, 
Aufthun vor dem fi wie durch Zauberfraft 
Die Pforten der Vergangenheit, 

Und mäblen darf er nux die Zeit, 

Die er ald Gegenwart erbliden will. 


Der Dichter trinft — er füllt in tiefen Schlaf, und die frühe Vorzeit, 
da Menſch und Thier in ihrem Weſen faum geichieden, jteht vor ihm. 
un Fade t er, * — mit dgu Er emeinjam gr 
dern. Die Erjchermung jenes geheimnißvollen eiterd wandelt fi 
lötzlich: er iſt wie J Prophet geworden. Sie gelangen nad) Per— 
hen Hier gedenft der Dichter der Arier und ihres LTichtfultus. Er 
trinkt abermals vom dem Elirir — und lebt in den Zeiten der Ster- 
nenanbetung; er iſt in einem ldorfe und Knecht eines Häuptling®. 
Menjchenopfern wohnt er bei it Zeuge aller Gräuelthaten des 
Heidenthums. Nachdem er aus jeinem Schlafe erwacht, gieben fie 
weiter, nad) Indien, Alt entwirft eim düſteres Bild vom Leben der 
Phönizier, Babylonier, Ajiyrer, Aegypter und Ssraeliten. Sie fommen 
nah Kajchmir. Hier Dei der Dichter im Traum die Größe Griechen: 
lands, das prächtige Zeitalter des Perikles. Aber er iſt Sklave eines 
vornehmen Atheners — die Schönheit findet er wohl im alten Hellas 
aber nicht Die Freiheit. Enttäuſcht jegt er mit jenem Begleiter die 
Banderung fort, aber nirgends auf feinem Wanderzuge, weder in den 
ih immer wiederholenden Traumbildern noch in den ——— 
ſophen Betrachtungen Alis, findet er das ſehnſüchtig geſuchte, men- 
Ihenbeglücende Zeitalter. Nicht das alte Indien mit feinem Glauben 
an da3 alles verſöhnende Nirvana, nicht die Periode der Völkerwan— 
derung, nicht die des erjten Chriſtenthums, nicht die Zeiten des Mittel- 
alterd, der Humaniſten und der ——— — der Reformation und 
der Revolution können ſeine Sehnſucht ſtillen. Denn was findet er? 
Dort Irrglauben, — Ungeiſt, Asleſe und Fanatismus, hier 
blöde Romantik, Knechtung der Hörigen, Aberglauben, Scholaſtik, In— 
—————— und Inquiſition — überall aber den Götzen— 
ie igenliebe und des Wahnes Und dennoch. ift er der 
* „Aufwärts, ja aufwärts geht ber Menſchheit Gang, 

56 fi ihr Pfad auch friimmt und windet, 

Ja, ob er auch jahrhundertlang 

In dunkle Abgrundtiefen ſchwindet, 

Nach oben wieder reift fie doch ihr Drang. 


Alt läßt jet die Maske fallen: er iſt ein alter Magier der, ges 
dem —— das Wahre ſuchend, alle Zeiten durchpilgert hat. Seine 
dühtere Welt- und Lebensanſchauung war nur eine — er ſelbſt 
lämpfte bisher noch mit dem Zweifel und wollte den Dichter aus 
eigener Kraft zur Erkenntniß des Wahren durchdringen lajjen. Lange 
—— Verzweiflung und Hoffnung ſchwankend, ſchwingt er ſich ſchließ— 
ich zur Verkündigung einer Zukunft auf, die alle Ideale verwirklichen 
> Palme, jo prophezeiet er, wird dereinſt den Menjchen 


„— — — — — wenn zum Siege 
Zuletzt die eigne Kraft ihn trägt. 


30 Adolf Friedrih Graf von Schack. 


Wohl langſam war fein Gang, doch als ein Tag 
Zäblt ein Jabrtaufend in der Weltgeſchichte. 

— — Das Eine balte feft Dein Herz: 

Er ſchreitet mählich ſonnenwärts, 

Und immer reiner wird der Quell 

Des Göttlichen ihm, immer klarer fließen, 

Wenn neue Himmel ſich ihm hell 

Mit den Jahrhunderten erſchließen. 


Der Dichter kehrt nach Europa heim. Hat er dieſes zur Zeit des 
Konzils ae jo wendet er IC) in den Tagen der Aufrichtung 
des deutjchen Reiches dahin zurück. Mit einer farbenprächtigen Viſion, 
— uns das Bild der Zukunft vor Augen ſtellt, und einer begeiſter— 
ten Apojtrophe an Deutſchland ſchließt die Dichtung großartig ab: 


Mein Deutihland! Schüte Du mit mächt'gem Schild 
Freibeit und Recht, und ſchwinge hoch die Fabne, 
Wenn e8 ben Kampf -mit altverjäbrtem Wabne 
ür unjre höchſten Güter gilt! 
en finftern Nachtgeift, der im Batilane 
Noch brütet feine argen Plane, 
Scheuch in fein dunfles Reich, daß frei 
Vom gift’gen Qualm die Puft für immer fei, 
Und fih im Lichte jonnen die Nationen! 
Dann lege nieder Deine Siegesfronen 
Und fliht ums Haupt des Friedens Oelzweigkranz! 
Auffteigen wird im morgenrotben Glanz 
Durch Did ein neues Weltenjahr, 
Wo an ber Liebe beiligem Altar 
Die Völler alle fih zum Bruderbund 
Die Hände reihen! — — — 


Schacks ge en liegt in den traum- und märchenhaften 
und doch von einem jo bedeutenden Gedanfengehalte erfüllten „Nächten 
des Orients“ Far zutage. Seine Mufe zeigt bier, wie der Januskopf, 
ein doppeltes Geficht: das eine blickt weltfchmerzlich in die Vergangen- 
Er da3 andere weltfreudig in die Zukunft; fie ftellt fich überdies mit 
FSntjchiedenheit auf den Standpunkt der modernen Wiſſenſchaft und 
befundet ein jpezifiich Ddeutjchnationales Pathos und eine durchaus 
freiheitliche Tendenz. 

Nicht — iſt es, einen Vergleich zu ziehen zwiſchen dem 
„Lothar“ und den „Nächten des Orients“ in Bezug auf den freiheit— 
lichen Gedanken, der in beiden lebt. Welch ein unendlicher Fortichritt 
in diefer Beziehung von jenem zu Diefem! Lothar will, um mit Ham- 
let zu jprechen, die aus den Fugen Gerathenen mit feinem elementaren 
Freiheitsenthuſiasmus gewaltiam wieder einrenfen. Die „Nächte des 
Brients“ erwwarten Dagegen die Berwirklichung der höchiten und heilig- 
iten Ideale allein von dem ruhigen, gejegmäßigen Werdegange der 
Gejchichte der Menjchheit. Dort expektorirt Nid) er Jüngling Schad 
in allgemeinen, oft willfürlichen Betrachtungen über Freiheit und Erden 
1008; hier legt der gereifte Mann fein metaphyſiſches und ethijches 
Glaubensbefenntnig in einer grandiojen Gedankenſymphonie geſchichts— 


philojophiich dar. 
(Schluß folgt.) 


— — — — 





Bon den nordwertdeutfhen Infeln, der 
Nordfeeküfte und der Schiffahrt. 










2 == aujende aus dem Innern unjeres deutſchen Baterlan- 
EEE o| des ziehen im Sommer in die zwifchen der Küſte und 
EN nl dem Meere Liegenden Seebäder der Nordjee, theild zur 
Erholung, theils zur Stärkung geſchwächter Gejundheit 
AN md verleben dort einige Wochen unter angenehmer 
* Abwechſelung der Genüſſe, die die Natur in reichem 
Maße bietet oder der menſchliche Vergnügungs- oder 
Kunſtſinn herzuſtellen vermag. Sie ſehen die Gegend zu einer 
Zeit, wo dem Meere ſein Trotz und ſeine Wildheit fehlt und ler— 
nen den Inſulaner nur als Menſchen kennen, deſſen einziges Streben 
darauf gerichtet iſt, die Bleichgeſichter zu rupfen, welche zur Sommers— 
zeit ſein Dorf bewohnen und feinen Strand ganz mit Beſchlag be— 
legen, nicht einmal jeinen Sen erlauben fte ihm auszuüben, denn 
es könnte den Strand beichmußen, wenn er jeine Nebe darauf aus- 
breiten oder für den Schönheitsjinn verlegend fein, wenn die Inſula— 
nerfrauen Hodjaufge\chürgt am Strande wühlen, die Würmer für den 
Fiſchſang auszugraben. Im jeinen Badegäften fieht der Inſulaner 
Yeute, die Lediglich vom —— leben und keine Ahnung von dem 
Kampfe ums Daſein haben, den er von Kindesbeinen an mit den un— 
ſichern Elementen zu beſtehen hat, die ſein Heim umgeben. 

Lebt doch in der Regel der Inſulaner während der Bademonate 
ruhig; zahlreiche Fahrzeuge führen die Badegäſte täglich nad) der Sec 
pazieren, denn mollig Ichaufelt jich das Fahrzeug auf den Wellen 
und wen die Fahrt beendet ift, Iernt der Fremde das fo felten ) 
vortretende Gefühl eines durch die Seeluft geiteigerten Appetits 
nen, deijen ——— durch kräftige Speiſen und Getränke zu einem 
wirklichen Genuſſe wird. Die Inſeln ſelbſt zeigen ſich im ** 
Gewande; außerhalb des Dorfes hübſche grüne Wieſenpartien, hat die 
Kunſt innerhalb deſſelben — z. B. auf Norderney — herrliche An— 
lagen mit den feinſten —— — geſchaffen, die den rg ver: 
geilen lafjen, daß er auf einem Fleckchen Erde weilt, wo ſonſt nur ein 
grau-grober Sand anjpruchlojen dürren Halmgewächjen einige Nahrung 


er⸗ 
en⸗ 


32 Bon den nordwedeutfchen Infeln, der Hordfecküfte u. f. w. 


zu bieten vermochte. In den durch die Glut der Sonnenitrahlen 
mächtig erhigten Dünen tummeln fich die Jäger, dem jchnellen Kartin- 
chen nachzuitellen oder einem Scevogel das tödtliche Blei in die Brut 
u jenden; hi merfen kaum, daß Ddiefe unfürmlichen Sandfegel und 

ügel in beitändiger Bewegung und je nach der Stärke des Windes 
jeden Gegenjtand jchnell unter fich begraben. Von den Dünen ab 
zieht jich der Strand allmählich abtiefend ins Meer, hier brechen jich 
die Wellen, ihre Thätigfeit durch ein — Plätſchern bekundend. 
Und wenn der Fremdling ſich am Abend von Konzert und Tanz 
zurückzieht und ein einſames Plätzchen ſucht, hört er von ferne das 
ed unaufhörliche Rollen der Brandung, die Drohung des Meeres 
gegen die Abendruhe der Injel, über der ſich ein friedlicher, ſtern— 
glanzender Himmel wölbt. 

Es ijt nicht meine Abjicht, auf das Badeleben näher einzugehen 
und eine weitere Schilderung unjerer modernen Seebäder zu geben, 
ich) möchte nur darauf hinweifen, daß der Beſucher elben feine 
Ahnung davon hat, wie ganz anders ſich die Natur und Menjchen an 
der Nordjee und ihren Rüftengegenden zeigen, wenn der Sommer 
entſchwunden ımd die rauhe Jahreszeit eingezogen tft, ja, der Reiſende 
aus dem Birmenlande, der um dieje Zeit gemüthlich am —57 — oder 
Biertiſche von ſeinem Seebadeleben plaudert, denkt gewiß nicht daran, 
daß jener wettergebräunte Inſulaner, den er um die Gefälligkeit bat, 
ihm die Poſt Nr zeigen, eine Mark dafür verlangte — thatjächlid) 
thut ſchon der Eleinite Junge für den Badegaft nichts umſonſt — dal; 
jener Mann jett vielleicht am Rettungsboote jteht, um unter Einjaß 
jeines Lebens, ohne jeglichen Entgelt, einen braven Seefahrer zu 
retten, den die Wellen zu verjchlingen drohen. Doch ich will . 
vorauseilen. 

Die deutſchen Nordſeeinſeln von Wangeroog bis zur En en 
Inſel Terel, welche in einem Halbbogen dre Küſte umſäumen, find die 
natürlichen Bollwerfe gegen das Meer und leiden unaufhörlich durch 
den vom Winde hervorgebrachten Wellenjchlag, indem der Strand in 
größere und Kleinere Stüde abgefpült wird. Ein völliges Verſchwin— 
den der Inſeln ijt dadurch zwar nicht zu erwarten, vielmehr findet 
im Gegentheil nur eine Verſchiebung jtatt, indem der von den Wellen 
an der Nordjeite abgerijjene Sand, durch die Meeresitrömung forte 
getragen, ker an der Süpdfeite in der Regel wieder ablagert, wodurd) 
eine Vergrößerung nach dem Feſtlande hin jtattfindet. Ein Beifpiel 
giebt in diefer Beziehung die jehr exponirt liegende Inſel Juiſt, wo 
im Laufe der legten jechzig Jahre die Kirche umd viele Wohnhäufer 
verlegt werden mußten; entgegengefeßt davon, jeigte die Injel Wan— 

eroog eine für die Eriften; des Dorfes jo bedenkliche Terrainabnahıme, 

ß die Regierung nur auf die Erhaltung des Leuchtthurmes bedacht 
nahm und die Ueberjiedelung der Injulaner nach dem Feitlande anord- 
nete; häufig kämpft auch menjchliche Kunft mit ihren Kleinen Mitteln, 
jo lange es geht wie 3. B. auf der Inſel Norderney, ziemlich erfolg- 
reic) gegen die Elemente, indem mächtige Granitbeiteinungen den 
Strand fejtigen und Anpflanzungen von Seehafer die Flüchtigfeit des 
Dünenſandes aufhalten; doch hat ſchon mehrfach eine einzige Sturm— 
flut die Frucht jahrelanger Arbeit vernichtet! 























Schnepfe im Frühling. 





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Bon den nordweftdeutfchen Infeln, der Hordfecküfte u. f.w. 33 


Die Bevölkerung der Inſeln en ziemlich jpärlich; robuſte, Fräftige 
Gejtalten, wachjen je auf in herrlicher, friicher Luft, bei vorwiegend 
nahrhafter Fiſchkoſt, unter harter Arbeit, die der Fiſchfang bedingt; 
verjchlofjen, einjilbig und mißtrauijch gegen alles Fremde, fieben fie 
nur ihre Inſel und dag Meer. Was fünnte I auch mehr anziehen; 
während der meijten Zeit im Jahre abgejchloffen von der Außenwelt 
— Die Inſel Juift hatte z. B. vor einigen Jahren während zehn 
Wochen Eijes feinen Verkehr mit dem nahen Feitlande, dazu war das 
Beleuchtungsmaterial völlig ausgegangen — bleibt der Verkehr auf 
ſich beichränft, ſieht ei uge Tag für Tag nur das endloje Meer, 
hört ihr Ohr jein Toben, wenn der Wind die Wellen peitjcht und 
am fernen Riff jich die Brandung bricht. Bei ihrer Abgejchloffenheit 
find ihre Sitten rein geblieben und werden ftreng gewahrt, auf Bow— 
fine wurde nocd Anfang der fünfziger Jahre ein gefallenes Mädchen, 
wel auf dem Feitlande in Dienjt geitanden, gefebert; eine traurige 
Ericheimung bleibt ihre Vorliebe für jtarfe Getränfe, deren mäßiger 
Genuß bei der feuchten Seeluft zwar zuträglich erjcheint, der aber 
durch Unmäßigkeit viel Elend auf den Inſeln anrichtet. Fremdes 
Eigenthum iſt ihnen heilig; eine Ausnahme davon. machen ihre Be- 
griffe über das Eigenthum an von untergegangenen Schiffen auf den 
Strand geworfenen Gütern, doc haben kräftige Maknahmen der 
Regierung die — Anſchauungen der Inſulaner ſchon be— 
deutend geändert. Bei einem Falle iſt mir noch — daß faſt 
die ganze männliche Bevölkerung einer Inſel auf die Anklagebank 
ebracht wurde und längere Strafen erkannt werden mußten. Den 

d fürchtet der Inſulaner niemals; bei Krankheiten wird ſelten ein 
Arzt zu Rathe gezogen und ſelbſt auf Norderney, wo doch während der 
Saiſon verſchiedene arg a anweſend find, mußte bei — 
nen Epidemien ärztliches Einſchreiten förmlich erzwungen werden. Sie 
ſind eben Fataliſten, jagt der langjährige hannoverſche — 
—— Aige Der Aberglaube iſt noch ziemlich entwickelt; 
eigenthümli öne am Strande ſagen den nahen —— eines 
Schiffes — alte Frauen wollen Leichenzüge über den Strand 
ſchreiten geſehen haben, wenn Angehörige beim Fiſchfange auf der See 
den Wellentod gefunden. Das Unheimliche und Gruſelige an den 
langen Abenden und Nächten, das ſelbſt den Aufgeklärteren bei einem 
Aufenthalte auf der Inſel im Herbſte überfommt, läßt den Glauben 
diefer Naturkinder an das Eingreifen des Ueberirdifchen in menjchliche 
Berhältnijje in einem milden Lichte ericheinen und noch lange werden 
daher aud) Spuk und Geiſter ihren Wohnplag am Meeresſaum be— 
ich Hinter der Infel lagert ſich das Küſtenland, früher wahr: 
heinlich damit verbunden, jet getrennt davon durch unabjehbare 
Vafjerflächen, unregelmäßig geformt und im Laufe der Zeit bejtändig 
verändert. Die ganze Nordjeeküfte ift ein dem Meere abgewonnener 
Boden, —— en A gegen das Innere des Landes auftit; auch 
heute noch behauptet der Menjch nur mühjam jeine Stelle gegen die 
andrängenden Wajjerwogen. Mächtige Deihe umjäumen die Küſte; 
eine Heine Vernachläſſigung derjelben rächt jich bitter und ganze Ort— 
ichaften wurden in früherer Zeit ins Meer gezogen, wenn Uneinigfeit 
und Uebermuth hinderten, die Deiche zu bewachen. Ein laut redendes 


Der Ealon 1887. Heft VIL Band II, 5 


34 Bon den nordwetdeutfchen Infeln, der Hordfeeküfte u. f. w. 


Zeugniß davon ijt der Dollart, ein Meerbufen bei Emden; wo jet 
Die Keiiche fic) tummeln, ftolze Schiffe die Wellen durchfurchen, war 
einst ein fruchtbarer —ã eine wahre Kornkammer, beſtanden mit 
PN: Dörfern, in denen eine wohlhabende Menjchenjchaar ein 
ehagliches Dajein führte. 

In diejem fteten Kampfe mit dem Meere hat ſich der Charakter 
der Küſtenbewohner, der er Oldenburger, Holländer ꝛc. gebildet; 
ein marfiger Menjchenichlag, Fehlt ihm die anheimelnde Zutraulichkeit 
des Südländers und ſetzt an deren Stelle, wenn auch bei biederem 
Sinne, Berjchlojjenheit und Einfilbigfeit, die den Fremden als ab- 
jtogend, unangenehm berührt. Man mühte den Fremden fragen, was 
Fi Du bei uns, bift Du doch zu ſchwach, an unjerer Seite zu 
ämpfen. 

Die — der Küſtenbewohner bildet hauptſächlich die 
—— während die ——— wohl — lange von untergeordneter 
Bedeutung bleiben muß, bis Deutſchland zu der Erkenntniß gekommen 
ſein wird, daß es allein imſtande iſt, ſich feinen Fiſchbedarf aus der 
Nordſee zu holen. Es iſt ſchwer z ergründen, wie der a 
einen 10 bejonderen Reiz haben fann, wenn man an Die 2 - 
feiten dejjelben und an die Gefahren denft, die mit ihm verknüpft 
find. Selten fommt e3 vor, daß ein Seemann fein Leben bei feiner 
Familie beichließt; als Regel fann man annehmen, daß von all den 

Hiffern kaum zehn in die Heimat zurüdfommen und ein höheres 
Alter erreichen; viele bettet die See zum ewigen en viele 
erliegen dem Klima fremder Welttheile und ruhen ın den Mafjengräbern, 
wel —— den Hafenſtädten Südamerikas und Oſtindiens errich— 
tet werden. Verfaſſer hatte ſechs Brüder, welche in einem Zeitraume 
von zwanzig er hinweggerafft wurden. Zwei erlagen ihrer eriten 
Geereije am gelben Fieber; der eine gehörte einer Bemannung von 
vierzehn Mann an, wovon nur drei in die ar zurüdfehrten. Da 
die ganze — eines Schiffes, lauter geſunde, junge Leute, in kur— 
zer get wegitarb, gehört nicht zu den Seltenheiten. 

nd doch regt Sich ſchon im Knaben ein mächtiger Trieb für jeinen 
Beruf; faum erwartet er den Tag, wo er nach zurüdgelegtem vierzehn- 
ten Lebensjahre als Schiffsjunge eintreten kann; häufig iſt der Vater 
art mehr am Leben; verjchollen mit feinem Fahrzeuge auf einer Herbit= 
reife in der Nordfee, kennt niemand fein Grab; doch jelbjt dieſes ver— 
mag die Mutter nicht zu bewegen, den Sohn von jeinem Vorhaben 
abzubringen. Der Junge fommt aufs Shift. dahin jegelt die jtolze 
Brigg in die weite Ferne; am Ufer jteht die Mutter, mit dem Tuche 
—* * ein letztes Lebewohl winkend; wer weiß, ob ſie ſich wieder— 
ehen 

Auf dem Schiffe wird mit den Jungens wenig Umſtände gemacht; 
ſtreng iſt die Disziplin und bei den Einrichtungen eines Fahrzeuges 
weiß jeder fchnell, wo er jeinen Pla Hat. Der Dienft wechjelt mit 
Schlafen und Wachen; eine willfommene Unterbrechung diejes Einerlet 
bietet dem Seemann die Ankunft und der Aufenthalt in einem frem= 
den Hafen, wo er jich durch mancherlei Zerftreuungen entjchädigt. 

treng geordnet find die jozialen Verhältniffe auf den er Ha 
teifchiffen, genau beftimmt find Rechte und Pflichten. Sobald ein 


Bon den nordmehdeutfchen Infeln, der Wordfeeküfte u. ſ. w. 35 


Schiff jeetüchtig gemacht, fertig ausgerüstet und neu bemannt worden ift, 
begiebt 5* geſammte Mann a. mit dem Kapitän unter Veglei- 
tung des Heuerbaajes — eines Maflers, dem die Anwerbung der See- 
leute obgelegen — nad) dem Rathhauje, um beim Seeamte anzu: 
munftern, d. 5. den Dienjtkontraft zu vollziehen. In demjelben — 
Wuniterrolle genannt — find die Namen der Betheiligten nach der 
Rangfolge aufgeführt, die Gagen bejtimmt, die tägliche Beköſtigung 
genau _vorgejchrieben und Feftgefteit dag die Mannjchaft jo lange auf 
dem Schiffe auszuhalten habe, bis die Rückkehr nach einem Heimats— 
hafen jtattgefunden. Jrgend welche — Vernachläſſigung des 
Dienſtes werden gewöhnlich mit Geldſtrafen geſühnt, auf die der 
Kapitän erkennen kann und welche unverweigerlich in die Armenbüchſe 
abgeführt werden. Nach der Rückkehr vom Seeamt erhält jeder ſeine 
Gage und zwar den zweimonatlichen Betrag im voraus; weitere Zah— 
lungen, mit Ausnahme eines kleinen Taſchengeldes, welches in fremden 
——* verabreicht wird, finden vor Auflöſung des Dienſtkontrak— 
tes nicht ſtatt. Doch bekommen Verheiratete oder Matroſen, welche 
Angehörige unterſtützen, eine —— den Betrag einer 
Monatsgage, welche, anhebend mit dem vierten Monate, einen um den 
andern Monat von dem Buchhalter des Schiffes honorirt wird, 
Drängt nicht eine beſonders günftige Windrichtung zur jofortigen Ab- 
fahrt, jo wird der Anmunfterungstag freigegeben und dies ind die 
legten Stunden vor der Abreije, welche der Seemann im Familien— 
oder Belanntenfreije = t. Häufig bejucht er noch erjt einen 
Bahrjager oder eine hrjagerin, welche in den Hafenplägen jtarf 
vertreten jind und wovon —— bei der Schiffsbevölkerung in hohem 
Anſehen ſtehen, denn abergläubiſch wird der Seemann wohl immer 
bleiben. Ich will dafür einen Fall erzählen, wie er mir von einem 
Jugendfreunde, einem ſonſt vorurtheilsfreien Schiffskapitän, überliefert 
iſt. Mein Freund iſt in ee und wird mit zwei Kollegen an 
einem und demjelben Tage jegelfertig, jo daß fie zu gleicher Zeit ihre 
Reife antreten wollen. In Hamburg wohnte damals ein berühmter 
Bahrjager, ein Mann, bäufg eff wegen jeines Gewerbes, deſſen 
Sehergabe zuleßt aber der Senat ſelbſt anerfennen mußte; als diejer 
Mann nämlich einmal wieder ins Gefängniß gebracht worden, hatte 
er fi) erboten, Die ers aus der Thorjperre an einem bejtimm- 
ten Sonntage genau auf Mark und Schilling vorher- jagen zu wollen, 
wenn er dadurch Die Hg ebung jeine® Gewerbes erlangen könne. 
Der Senat ſoll auf diejen Borichlag eingegangen jein und richtig, der 
Mann löfte genau jein Verſprechen, wodurd) er eine jo berühmte 
Berjönlichkeit wurde, daß man häufig nur nad) jtundenlangem Warten 
bei ihm vorgelafjen werden konnte. Dahin wandern natürlich auch unjere 
drei Freunde; in das Heiligthum des Wahrjagers eingelafjen, jehen 
fie an einem jchwarzbehangenen, mit zwei brennenden Kerzen bejtan: 
denen Tiſche, eine verichlojjene Bibel _vor ſich, einen alten, ehrwür: . 
digen Herrn, der fie fchweigend zum Sitzen nöthigt. Er jchlägt feine 
Bibel auf und lieſt mit leifer Stimme einen Pialmvers vor. Sie wollen, 
agt er, morgen Hamburg verlafjen, Ihre Schiffe jind jeeklar; Sie wer- 
den, auf dem erjten zeigend, eine jchnelle und glücliche Reife haben, 
Sie, zum zweiten, werden durch ein Hinderniß lange aufgehalten, dod) 
3* 


36 Bon dem nordweldentfchen Infeln, der Mordfeeküfte u. f. w. 


erreichen Sie Hr gie! und für Sie, zum dritten nach einer Baufe, habe 
ih — feine Offenbarung. Die Kapitäne verlaffen den Propheten, um 
darauf noch einige Stunden bei der dampfenden Bowle zu verleben; 
früh am andern Morgen find die Segel entfaltet, die Anfer gelichtet 
und ein friicher Oſtwind führt die Schiffe bald aus dem — 
der alten Wie erfüllt nun die Wahrſagung? Der 
erſte erreicht ſchnell und ohne Unfall ſeinen Beſtimmungsort; der 
— kollidirt bei Curhaven und muß mit ſeinem Suhrzenge in ſin⸗ 
endem Zuftande nach dem Ufer flüchten, wodurd die Meile biß zur 
Wiederherftellung des Schiffes unterbrochen, dann aber ungefährdet 
beendet wird; und von dem dritten hieß e8 nach einiger Zeit im See- 
berichte: von dem Schiffe „Elife“, welcyes am 2. September von Ham- 
burg abgegangen, bat man jeitdem nichts wieder gehört“, d. h. Schiff 
mit Mann und Maus hat die Nordjee verjchlungen. Nach jolcyen 
Vorkommniffen wird man den Aberglauben der Seeleute milder 
beurtheilen; dazu kommt das unbedingte Feſthalten an den Ueberliefe— 
rungen von der Eriftenz des fliegenden Holländers, des Klabauter— 
mannes xc., die in dem Borfommen jo mandyer Naturerfcheinungen auf 
—— den Glauben an etwas übernatürliches beim Menſchen 
unterjtüßen. 

Was nım die Leitung eines Seejchiffes anbetrifft, jo iſt in erjter 
Stelle der Kapitän Führer dejjelben; Die Berechtigung hierzu ya von 
der Erfüllung genau vorgejchriebener Bedingungen ab, zumächit von der 
Abfolvirung jämmtlicher Chargen, als da find, Schiffsjunge, Leicht-, 
und Vollmatroje, Steuermann. Nach einem zweijährigen Dienjt als 
Bollmatroje beginnt der Beſuch der Steuermannsſchule, nach deren 
Beendigung und nach Ablegung eines ſchweren Eramens die Qualifikation 
als Steuermann ertheilt wird und zwar entweder nur für den Dienjt 
auf Schiffen zu Reifen in der Nord- und Oſtſee (Eleine ne tt) oder 
ohne Einjchränfung (große Fahrt), Der Steuermann iſt der erite 
Offizier auf dem Schiffe; er vertritt den Kapitän, überwacht die Ein- 
und Ausladung der Güter umd führt auf See das Jourmal, das 
Sanktum eines —— es. In daſſelbe werden — mehreremal 
eingetragen: die Beobachtungen über Längen- und Breitenbeſtimmungen, 
Windrichtung und Be Safe derjelben, Die hwindigfeit des 
Schiffes, der Sultan der Bumpen, überhaupt aud) alles außergewöhn— 
liche, wovon Schiff und Mannjchaft betroffen werden. Das Journal 
bildet die Grundlage bei Unterjuchungen über Unfälle; es joll dar— 
thun, das vonjeiten der Schiffsführer alles gethan, Solche u ver— 
hiten und die Maßnahmen rechtfertigen, die im Intereſſe des Schutzes 
fi Mannſchaft und Ladung bei außergewöhnlichen Ereigniffen (Kolli— 
ionen, Orfanen) ergriffen wurden. Sobald das Shift einen Hafen 
erreicht, wird das Journal unverzüglic) der Behörde oder dem Kon- 
julat übergeben, um jede Nachtragung oder Aenderung an dem unter 
dem — ftatigehabter lebniſſe Niedergeſchriebenen, unmöglich 
u machen. 

Hat der Steuermann eine zweijährige Dienſtzeit hinter ſich, ſo beſucht 
er von neuem die Schule, um nach Ablegung einer Prüfung ſein Schiffer- 
patent zu erwerben. Er wird damit zur efbftftändigen lihrung eines 
Seeſchiffes berechtigt und von jet an kennt er nur das Streben, ent— 


Von den nordwefldeutfchen Infeln, der Hordfeeküfte n. f.w. 37 


weder aus eignen Mitteln ein Schiff zu erlangen oder in den Dienft 
einer Rhederei zu treten, welche ihm die Zeitung eines Fahrzeuges an- 
vertraut. Gelingt ihm dies, jo hat er den Höhepunft jeiner Garriere 
erreicht; er gründet ſich ein eigenes Heim, denn Kon längjt lebt das 
Bild eines holden Seemannzfindes in jeinem Herzen, das ihm Treue 
ehalten und bewahrt — Ausnahmen find: troß der mitunter langen 
bwejenheit des Gatten jelten — bis der bittere Tod fie jcheidet. 

te Stellung eines Schiffsführers iſt — Verantwortlich⸗ 
feit eine ſchwierige; ſie verlangt auf See und Land ein offenes Auge 
und Elaren Ueberblid, um die Intereſſen zu vertreten, die mit der 
jelbjtjtändigen Bewirthichaftung eined anvertrauten Gutes verbunden 
find. Er ıjt der Bertreter feiner Rhederei an den Börjen fremder 
Hafenpläge, jchließt die Frachtkontrakte 2 neue Fahrten ab, kaſſirt und 
remittirt die Frachtgelder, hat den Zuſtand und die Verproviantirung 
des Schiffes zu überwachen und über alle Einnahmen und Ausgaben 
Buch zu führen, um nad) der Rückkehr eine genaue Abrechnung vor- 
legen zu können. Gejellichaftlid) angejehen, wird die Stellung durd) 
Bezug feiter Gage und Tantieme pekuniär einträglih. Zu den Logen- 
brüdern liefern die Schiffsfapitäne ein namhaftes Kontingent. 

Große Seeſchiffe find felten Eigenthum eines einzelnen; in der 
Negel vereinigen ſich mehrere zur bung eines Schiffes, indem 
man das benöthigte Kapital in Theile (50—100) zerlegt und dieſe 
Antheilicheine veräußert; eine feſte Verzinfung findet niemals ftatt, 
vielmehr wird Gewinn und Berluft — getragen, wodurch 
dieſe Einrichtung manche Aehnlichkeit mit den Bergwerksfuren gewinnt. 
Die Ausfichten auf Rentabilität find jehr ungewiß; das Anlagefapital 
kann in wenigen Jahren ebenſowohl doppelt — ſein, wie 
andererſeits Fälle genug vorkommen, wo die — Schiffes 
fein Jahr ohne Unterbilanz abgeſchloſſen hat. Daß das Kapital an 
den Küſtengegenden vorwiegend bei on wechjelvollen Unternehmun- 

engagirt iſt, bleibt dadurch zu erflären, daß lediglich die Schiff- 
Fahrt das Leben der Länder erhält und nährt. 

Der Bau eines Schiffes wird nach beitimmten Vorfchriften auf- 
geführt und ſteht unter jtrenger, regelmäßiger Kontrolle — durch 
die Sorge um das Wohl der Menſchen und bedungen durch ie Wah- 
rung der Berficherumgsinterejfen; beide find von ** Wichtigkeit. Der 
mit Ueberwachung eines Schiffsbaues beauftragte Beamte, Expert 
genannt, prüft die zu verwendenden Materialien, ihre richtige fach— 
gemäße Verwendung und nur wenn der iffsbauer ſeinen Anord— 
nungen —— — erhält das Schiff das Atteſt 
ſeiner Seetüchtigkeit und ſeines Aſſekurranzwerthes. Zum vollen 
Werthe wird keine Verſicherung abgeſchloſſen, indem bei neuen Schiffen 
höchſtens 7/. bis */6 des Werthes gegeben wird. Nach Ablauf eini— 

Jahre wird das Schiff neu —— und nee Die Ver- 
iherungshöhe wird immer weniger, bis es zuleßt als „ohne Klaſſe“ 
bezeichnet, von den meijten Gejellichaften zur Qerjicherung abgelehnt 
wird. Bon großer arte ut iſt eine gute Verſicherungsklaſſe; bei 
Befrachtungen wird jehr darauf gejehen und von werthvolleren Ladun⸗ 
gen bleiben ältere Schiffe völlig ausgeſchloſſen. 

In den Gegenden, wo ſich alles um die Schiffahrt dreht, das 


38 Bon den nordweftdeutfchen Infeln, der Hordfecküfte u. f. w. 


Wohl und Wehe der Mehrzahl der Bevölkerung davon abhängt, it 
die Jahreszeit von großem Einfluß auf das dortige joziale Leben. 
Mit Angit und Bangen fieht man die böjen Herbitmonate kommen, 
wo die Elemente jich —— und ihre unheilvollen Wirkungen ent— 
falten. Am drohendſten kennzeichnen ſich Oktober und November, 
heftige orkanartige Stürme heulen über Stadt und Land, mit mäch— 
tiger Gewalt die aufſteigenden Sallermalten gegen die Küſte treibend; 
unfaglich jchwer wird es dem Schiffer, jein Schiff auf hoher See zu 
halten; der Orkan aus Nordweft treibt es im Verein mit der Strö- 
mung unaufhaltiam den Injeln zu. Welche Sorge um dieſe Zeit 
in den meijten Familien Herricht, läßt ich nicht in Worten ausdrüden; 
die meijten haben Angehörige auf ‚ deren Schidjal fie mit Angſt 
und Unruhe erfüllt, wenn die erhofften Botjchaften über die Zeit aus— 
bleiben; wie oft wird der Beiftand des Seelſorgers angerufen, wenn 
bereit3 eine Trauerpoft eingelaufen und er Die Familie ſchonungsvoll 
auf die Schläge des Schickſals vorbereiten muß. Nicht minder lebt die 
Geſchäftswelt in banger Beſorgniß, große Kapitalien ſtehen auf dem 
en und die Verlufte in einer einzigen Sturmnadt find oft unbe= 
rechenbar. 

In gewaltiger ehe leben zur Zeit eines Sturmes, deſſen 
Heranmahen mancherlet Anzeichen verfündeten, die Injulaner; die 
ganze Einwohnerjchaft mweilt am Strande und auf den Dünen, mit 
ngitfichen Bliden nad) dem in Noth gerathenen Fahrzeuge ſpähend; 
die Rettungsboote find weit nad) dem Strande gezogen, um mit ihren 
todtesverachtenden, gen Mannſchaften ſofort abjtoßen 
zu können. Mit bewaffnetem Auge läßt ſich deutlich das Schiff erken— 
nen, das gegen die Brandung kämpft; haushoch ſchlagen die Wogen 

egen daſſelbe und — beſpritzt der Waſſerſchaum die an den 
daſten sch ebundene Mannjchaft, welche an den Pforten des Todes, 
Rettung Hoffend, ängjtliche Blide nach der fernen Inſel richtet. Wie- 
der erheben ſich mächtige Wellen, ohnmächtig jchnellt das Sciff, der 
Lenkung des Steuerruders jpottend, gegen das Riff und mit im Heu— 
len des Sturmes verhallendem Krachen zertrümmert es wie eine Nuß- 
ihale und jinkt in die Tiefe! Auf der Inſel iſt man über diejen 
Ausgang nicht in Zweifel gewejen, längſt ift das Nettungsboot zu 
Waſſer gelajjen um möglicht der Unglüdsftelle nahe zu fommen und 
Menjchenleben zu retten; doch umſonſt, immer wieder zurüdgejchlagen 
erlahmt zuleßt die Kraft der Stärkſten. Lautlos ziehen fie ihr Boot 
wieder auf den Strand, um in ernfter Stimmung heimzutehren ing 
Dorf, doc) leuchtet aus ihren Blicken das Bemwußtjein, jtreng, wenn 
auch vergebens erfüllter Pflicht der Menjchenliebe gegen die unter- 
gegangenen Brüder. Von dem untergegangenen She und jeiner 
Ladung werden gewöhnlich einzelne Trümmer jpäter aufgeficht oder 
auf verjchiedenen Injeln an den Strand gejpült; iſt ein Namensbrett 
dabei, jo I Vermuthungen über Heimat und Nationalität des ya r⸗ 
zeuges beſeitigt. Auch mit der — ſeiner Opfer iſt das Meer 
manchmal [reigebig; werden Leichen am Strande gefunden, jo fertigt 
der Strandvogt das Signalement davon und inventarifirt die Klei— 
dungsjtüde, wonad) die trdiiche Hülle unter Theilnahme der Inſu— 
laner und Aſſiſtenz der Geijtlichen auf dem „Drinkeldooden karkhof“ 


Bon den nordwelldeutfchen Infeln, der Hordfeeküfte u. f.w. 39 


(Kirhhof der Ertrunfenen) in geweihte Erde gebettet wird. Bei der 
Ungewißheit über die Berjon des Verunglüdten erhebt ich hier nur jel- 
ten 7 Kreuz, wodurd Angehörige das Andenken ihrer Heimgegange- 
nen ehren. 

Anfang der fünfziger * wohnte ich auf der Inſel Spykeroog 
einer Strandung bei, deren Opfer ein Bremer Auswanderungs-Drei— 
maſter war; über zweihundert Perſonen waren in kurzer Zeit von der 
See verſchlungen, da eine Rettung nicht möglich war. Drei Tage nachher 
trugen die Wellen a Todte an den Strand; Kat anzu⸗ 
ſehen, lagen ſie hingeſtreckt, Menſchen aller Altersklaſſen, welche erſt 
vor wenigen Tagen die Stätte ihrer Kindheit verlaſſen hatten, um 
mit hochgehenden Hoffnungen im fernen Weſten eine neue Heimat zu 
erkämpfen. Die Züge dreier junger Württembergerinnen waren noch 
verflärt von dem Glüce, dem fie entgegenzugehen hofften. Doch hier 
am Strand der braujenden Nordjee jenkten wir fie in das dunfle 
Grab und als die irdiiche Hülle unter dem grauen Sandhügel ver- 
ihwunden war, glänzte eine Thräne in dem Auge des jungen Geijt- 
lichen, deſſen Friedensworte des EEE ED De ingreifens der Vor— 
ſehung in den Lebenslauf der Menſchenkinder gedachten. 

Erfreulicherweife verlaufen die eg nicht immer jo tra= 
giſch; Hat ein Schiff bei allem Unglüd das Glück gehabt, der Bran- 
dung fern zu bleiben, jo wird es durch die Wucht der Wellen auf den 
Strand getrieben und bleibt im Sande liegen. In diefem Falle wird 
die Rettung der Mannjchaft ohne Schwierigkeit ausgeführt und auch 
von den Schiffsutenfilien und der Ladung wird joviel ald möglich) 
geborgen, jo daß nur der Schiffsrumpf zurücbleibt. An der Bergung 
hat * Inſulaner unter Aufſicht des Strandvogts mitzuwirken, der 
ſobald als möglich den Lloydsagenten — den internationalen Ver— 
treter ſämmtlicher e — von dem Geſchehenen 
zu benachrichtigen hat. Seine Herüberkunft nach der Inſel erfolgt 
unverzüglich; er ſorgt für die Weiterbeförderung der Geretteten, inventa- 
rijirt die Interejjen der bei dem Unfalle in Frage fommenden Parteien. 

Wenn der Winter die Kommunifation mit der Inſel nicht zu jehr 
erſchwert, erfolgt der Verkauf geretteter Güter jehr bald; das iſt von 
—— Bedeutung für viele Handelsleute, da — von bedeu⸗ 
tendem Werthe zur Ausbietung kommen und die Betheiligung an die— 
ſen Auktionen bei dem damit verbundenen Riſiko etwas aufregendes 
hat. in den Injulaner find diefe Verfaufstage Freudentage, theils 
wegen der Abwechjelung in dem eintönigen Leben, theils auc) wegen 
des kommenden Gewinnes, was namentlich I die entfernt liegenden, 
ärmeren Inſeln von Bedeutung it. Die jeit alter Zeit beitchende 
gg bejtimmt nämlich, daß der Erlös der geretteten Güter 
zu !/; dem Fiskus zufällt; 1/, wird an die Aſſekuranz abgeliefert und 1/, 
unter die Infulaner nad) Maßgabe ihrer Grund» und Hausbefiter ıc. 
verteilt. Ob bei Abfaſſung des früheren SKirchengebets, worin es 
heißt: „Bert, — unſern Strand“, die ung er Strandungen 
von dem Höchiten erbeten werden jollte, laſſe ich dahingeftellt, wenn 
es auch an — dafür nicht fehlt. 

Nach Feſtſetzung einer Strandauktion fahren die Käufer gewöhn— 
lich ſchon einen Tag vorher nach der Inſel ab. Perſonen der ver— 


40 Bon den nordweftdentfchen Infeln, der Hordfeeküfte u. ſ. w. 


ſchiedenſten 0 aha ge und Nationalität, darunter Engländer, 

änen, Holländer zc., jtar — mit jüdiſchen Handelsleuten aller 
Art. Das Wirthshaus hat zur Feier des Tages die Flagge gebibt 
und jcheint fich feiner Bedeutung bewußt zu jein, da es während der 
Verkaufstage auc als Börje dienen muß. Nachdem die Fremden fich 
in den einfachen Injulanerhäujern nad) einem Quartier umgejehen haben, 
treibt fie die Neugierde bald nad) dem Strande, um die Verkaufs: 
— beſichtigen. Hier lagern, je nach der Ladung, Gegenſtände 
aller Art, größtentheils ſchon mit Sand überzogen, weitläufig am 
Strande und auf den Dünen ausgebreitet; ich fand einmal vierzig 
große Kiften englische Stahlfedern dazwijchen, aber feine einzige mehr 
brauchbar, weßhalb die ganze Partie von einem Inſulaner erjtanden 
wurde, der die Holztheile zu Brennholz verwandte. Soweit als thunlich 
machen ſich einzelne die nöthigen Aufzeichnungen, merken ſich die Zage 
der bejjern Gegenjtände und überjchlagen den Geldwerth der Auktion. 

Bei eintretender Dunkelheit findet ſich alles im Wirthshauſe ver: 
jammelt; bier bilden Nic) die Käufergruppen für den folgenden Tag; 
denn es iſt nicht Ujus, daß ein einzelner für I bietet. Gewöhnlich 
bilden ſich Gruppen von zehn bis zwanzig Perſonen, je nach dem 
Intereffe, welches man für die Waare hat. Bon dieſen bietet und 
fäuft auf der Auftion nur ein einzelner, um ein gegenjeitiges Ber: 
theuern zu, verhindern; erjt nad) dem —— — 28 hält jede 
Gruppe wieder unter m einen regelrechten Verkauf ab und beifen 
— —— wird nach Verhältniß des angelegten Geldantheils ge— 
ſchäftsmäßig verrechnet. So iſt die Auktion für diejenigen nur eine 
Spekulation, welche feine Abſicht hatten, Waaren zu erſtehen. Mit- 
unter iſt ein „Grüner“ jo unklug, ſich von dieſen Gruppen — den 
ſogenannten Kabruchen — fern zu halten und auf eigene vn zu 
operiven; er vertheuert fich und anderen die Sachen, hat dafür aber 
jpäter Schwierigteiten u befämpfen, welche ihm ein für alle Mal 
die Theilnahme an Dieken Auktionen verleiden und ihm nicht leicht 
zu verjchmerzende Berlufte zufügen können. Stein Infulaner hilft bei 
der Fortſchaffung jeiner Sachen, Feiner bewahrt ihm werthvollere 
Gegenftände auf, und kommt er jpäter mit Leuten vom Feitlande, um 
das Gekaufte fortzujchaffen jo Tiegt vieles am Strande zerjtreut oder 
iſt im Sande verſchwunden. 

Während die Fremden im Wirthshauje verhandeln, ein Spiel- 
chen ** und Bank legen, denn ſie ſind gut mit Geld geſpickt, ver— 
ſammelt ſich die rüſtigere Inſulanerwelt in einem größeren Hauſe und 
macht unter den Klängen der Handharmonika ein Tänzchen, wobei 
der dampfende Grog ſein Feuer ſpendet, oder es wird eine Terrine 
mit einem Gemiſch von Branntwein, Roſinen und Zucker herum— 
ereicht, aus der die Anweſenden der Reihe nach Männlein und Weib— 
ein, alt und jung mit einem Löffel trinken, Tanz und Trinken hin 
und wieder durch einen monotonen Geſang unterbrechend. Dieſe Luſt— 
barkeit, welche vor keiner Strandauktion fehlt und worauf man ſich 
lange vorher gefreut hat, nennt der Inſulaner feine „Klottje hochtied 
(bunte Hochzeit). 

Die Auktion dauert meiftens mehrere Tage und nimmt einen mun— 
tern Verlauf; jchlechte Wige kritifiven die Anpreifungen und Einſätze des 


« 


Bon den nordweftdentfchen Infeln, der Hordfeeküfte u. f.w. 41 


Ausrufers, jo daß jelbit der wiürdige Auktionator fich des Lachen 
ar enthalten fann; namentlich bildet ein von den Gruppen Ausge— 
ichloffener, ohne bei jeiner Unerfahrenheit eine genaue Ahnung davon 
zu haben, die Zieljcheibe des Spottes. 

„Morgen iſt — der Auktion“, verkündet der Ausrufer; „es 
fommt der Schiffsrumpf zum Aufſatz, möge ihn jeder am Strande 
noch mal bejehen!“ — „Er war zu 20,000 Thalern verfichert“, bemerkt 
tonlos der Agent dem Auftionator.“ 

Se nad) a und Lage des Schiffsförpers am Strande, 
ob er ſchon am Kiel gebrochen oder nicht, ob ein Abbringen und Flott— 
machen zu den Möglichkeiten gehört, bleibt das letzte Objekt des Ver— 
faufes das Interejjantejte. Hat man nur einigermaßen Hoffnung, das 
Schiff wieder in freies Waſſer zu bringen, jo enden ſich Schnell Gejell- 
ichaften, welche beim Ankauf fonfurriren und um den Zujchlag ftreiten. 
So jchnell es geht, werden danı Anjtalten getroffen, das Sci mit 
Hilfe anderer —— e, Tonnen und Winden flott zu machen. Zu— 
weilen glückt es, doch häufiger unterbrechen Sturm und hohe Flut die 
Abbringungsarbeiten und ın einigen Stunden haben die mächtigen 
Wellen das Wrad zertrümmert; das Mleer ijt eben rückſichtslos. 

Bei einer Auktion, der ic) bewohnte, erzielte das Wrad eines 
ra norwegischen Vollſchiffes 25 Thaler; es ſaß Hoch oben am 
Strande und fonnte bei Ebbe umgangen werden. Ein alter jovialer 
Jude hatte es für fich allein erjtanden, der bei diejer Öefegenbeit mit 
der den Juden eignen Furcht vor dem Waſſer reichlich aufgezogen 
wurde, doc) er meinte, troßdem wolle er ung am Abend durd) einen 
fleinen Spaß entjchädigen. Und richtig, am Abend verbreitete ſich vom 
Strande her ein ei euerjchein, mit gewaltiger Glut die tiefe 
Finſterniß unbejchreiblich ſchön erleuchtend; die dunkelroth aus dem 
angezündeten Wrad emporlodernden, in dem getheerten Holzwerfe reiche 
Nahrung findenden Flammen jchufen ein Feuerwerk, das bei der Er- 
habenheit der Natur einen tiefen Eindruck machte und mir unvergeßlich 
bfeiben wird. Am andern Morgen wurden bei Ebbezeit aus dem ver- 
fohlten Holze die vielen übrig gebliebenen Kupfer, Meſſing- und 
Eijentheile aufgejammelt, bei deren Anblid unjerm Moſes die Bufrie- 
denheit mit dem gemachten Kaufe aus den Augen Teuchtete, 

Das war das Ende eines jtolzen Seglers, jo ſchloß die Strand- 
auftion und jo beendige auc) ich meine Aufzeichnungen, die einer länge— 
ren Gejchäftsthätigfeit am Rande des Meeres entnommen und welche 
hoffentlich für den großen Lejerfreis im Binnenlande nicht ohne Inter: 
eije find. Möchten fie dajjelbe rege erhalten für jene unferer Brüder, 
welche vorwiegend dazu auserjehen find, unfere Stange in fremde Welt: 
theile zu tragen und Deutſchlands Macht auf allen Meeren auszu— 
breiten! 


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März. 







IR, Märzentage, wenn um Thurm und Sclote _ 
No] Mit friichem Flug der weiche Thaumwind ſchweift, 
Wenn auf dem Lindenzweig im Abendrothe 

Der erſte Staar jein Geimatlicbchen pfeift; 





ERIC, Wenn frifch mit taufend grünen Lanzenjpigen 
N FEIN Der Halme junges Heer zum Kampf ich jchidt, 
IF Und leis aus ihres grauen Mantels Riten 

J Das Lenzgeficht der Pfirfichhlüte blick. 


Wenn, wie zum Scherz, aus leichten Wolfendächern 
Ein warmer Regenjchauer niederiprüht, 

Und zwijchen —— und Märzenbechern 

Der Fulpe gol’dnes Diterfeuer glüht. 


Wenn auc) die legte morjche Eijesveite 
Im frohen Knabenfampfe niederprallt 
Und durch die winterfahlen Waldpaläite 
Der Mädchen erſte Frühlingsweile jchallt. 


D Märzentage! Selbit dem Bettlerfinde 

Legt ihr ein Lied ins Fleine Herz hinein! 
Glückauf, glüdauf zu eurem frijchen Winde, 
Zu neuem Duft und Glanz und Sonnenschein! 


Frida Schanz. 


SDARD:_. 
— 808 


x 





Kine Fäder-Ausftellung. 
— s⸗ 8 = zur 
— —— (gen vor einer Reihe von Jahren hatte ein aus den 
Ein } eijen der oberen Zehntaujend in England jtammender 
Art Einfall Veranlafjung gegeben im South Kenfington 
EL Mujeum zu London eine Sammlung von Fächern zu 
veranſtalten, welche durch das unerwartet lebhafte In— 










SAARE , terefie, das ihr von allen Seiten dargebracht wurde, 
Is NT eine ganz bejondere Vollkommenheit nach) allen Seiten er- 
SEIT "reichte, ve ſah man Fächer aus den verjchiedenjten 
*  "Xändern, welche deutlich verriethen, wie die Mode fich ver- 


änderte, und gleichzeitig den Beweis erbrachten, wie weit perjünliche 
Phantaſie fich in bejonderen Fällen geltend machen fanı. Es an 
den ſich unter diefer Sammlung nicht bloß Muftereremplare englischer 
Herkunft, jondern auc Proben von italienijcher, jpanijcher, deutjcher, 
diterreichtjcher, Holländischer und belgischer Arbeit, und neben diejen noch 
jolhe aus weitentfernten Ländern, wie aus Indien, Japan und China. 
Die Aufzählung der Merkwürdigkeiten und Kojtbarkeiten genannter 
Sammlung e dein jo interejjant, daß jie gewiß auch heute noch 
gern gelefen wird. Es wäre jehr jchwer gewejen, für die damals zu— 
jammengefommenen vierhundert Eremplare, welche die ee ig 
wie die allerfeinjten Arten repräfentirten, einen Marktpreis anzugeben, 
ihon weil manche derjelben als wirkliche Kunſtwerke galten, für welche 
Liebhaber heute Preife anlegen würden, die den früheren Kaufwerth 
unzweifelyaft weit überjchreiten dürften, während andere wieder, abge- 
iehen von der kunſtvollen und fojtbaren Arbeit, wiederum hochgeichäßt 
werden würden, weil jie gejchichtlichen oder jonjtwie hervorragenden 
Damen entiveder gehört hatten oder noch angehörten. E3 hatten näm- 
lich; nicht allein die berühmtejten franzöfiichen Fächerfabrifanten — 
wie Duvellenoy, Alerandre, Chardin und Fayet — einige ihrer gewähl- 
teiten Erzeugnifje beigejteuert, jondern auch die allerhöchiten und vor— 
nehmjten Damen freiwillig ihren Beitrag geliefert, um jene Sammlung 
jo umfangreich und vollitändig als möglich zu — Die Königin 
Viltoria Hatte fiebzehn Fächer gejendet, die Exkaiſerin Eugenie fajt 


44 Eine Fäher-Ausfellung. 


die doppelte Zahl, während die englijche Ariftofratie vertreten war 
durch die Herzogin von Northumberland, die Gräfin von Warwick, 
Lady Lindjay, Gräfin von Craven, Lady Drake, Gräfin von Gran- 
ville, Gräfin von Tanferville, Gräfin von Dudley, en von Shaf: 
tesbury und andere; die franzöjiiche durch die Vikomteſſe d’Aguardo, 
Gräfin Ducatel, Prin eſſin Metternich, die Gräfin Beauſſier; Her: 
ogin von Mouchy, Gräfin d’Armaille, Gräfin de Bardaillac, —— 
de Bourtales und andere mehr. Die Lady Wyatt hatte von allen 
am veichlichjten beigetragen, indem fie nicht weniger als dreiundfieb- 
zi vr aus verjchiedenen rasch und Ländern einjandte, welche 1 
indeß alle durch ihren künſtleriſchen — auszeichneten. elbſt 
Herren, die zwar in Europa Fächer nicht ſelbſt gebrauchen, aber doch 
ſolche gelegentlich kaufen, hatten aus ihren Vorräthen zu der höchſt 
ewählten und nicht nur unterhaltenden, ſondern — belehrenden 
mmlung beigeſteuert. Wer kann uns jagen, wann und wo der 
Fächer zuerit benugt wurde? Da fein eigentlicher Zweck doc darin 
bejteht, bei warmer Atmofphäre einen — Luftzug zu erzeugen, 
wird man ſeine Geburtsſtätte natürlich in den heißen Klimaten Tabu 
Wir wijfen, daß man in — ſchon vor drei⸗ bis viertauſend 
Jahren ng hatte, denn jolche finden fi) auf Gemälden an den 
Mauern der Gebäude von Theben dargeitell. In der That war der 
— bei den Pharaonen ein hoher Offizier, der ſich des 
Fächers im Kriege als Standarte, im Palaſte als Hilfsmittel zur 
Erzeugung eines kühlen Luftzugs bediente und mit demſelben im Tem— 
pel ſchädlche Inſekten von den geheiligten Opfern ſcheuchte. Die alten 
Griechen gebrauchten Fächer von beſonders ſchöner Form; zuweilen 
zwei nebeneinander geſtellte Flügel eines Vogels, die man an zart— 
gearbeiteten Handgriffen befeſtigte; zuweilen nur Federn von a, ie⸗ 
dener Größe, welche halbkreisförmig am Stiel angeordnet waren. Die 
vornehmen römiſchen Damen hatten meiſt ungeheure Fächer aus 
Pfauen- oder gefärbten Straußenfedern, welche von dem Diener ge- 
tragen wurden. Wir wiljen zwar, daß die vornehmen Damen in 
Europa, d. h. hier im Abendlande, im 13. Jahrhundert Fächer benuß- 
ten, dagegen iſt nicht feitzuftellen, wie weit zurück diefe Mode 4 
—— haben möge. Der zuſammenlegbare Fächer, wie wir ihn jetzt 
ennen, wurde ing in Japan erfunden, von welchem Lande er 
nach China, dann, im 15. Jahrhundert, na — von hier nach 
Spanien und Italien, und endlich im 16. Jahrhundert a Deutjch- 
land, England und Frankreich fam. Der Fächerhandel in Europa iſt 
zu feiner anderen Zeit jo bedeutend geweſen, wie etwa in der Mitte 
des verflofjenen Jahrhunderts, wo der Fächer ein geradezu unentbehr: 
liches Zoilettejtüd bildete und fait jede Dame eine wirkliche Samm- 
lung von jolchen bejaß. Er war ein jehr wichtiges Hilfsmittel andere 
zu bezaubern, zur Entwidelung beitechender Grazie, diente ge Einfäde- 
ung von XLiebeleten, de reinen Kofetterie und zu einer Art ftummen 
Sprache für allerlei Gegenſtände. Ein Dichter nannte ihn das „Scep- 
ter der Welt“. Eine * öſiſche Dame aus der hohen Ariſtokratie 
zur Zeit Ludwigs XIV. erklärte, eine Dame möchte er jo liebens⸗ 
würdig, graziös und elegant gekleidet jein, fie werde doch Immer eine 
lächerliche Rolle jpielen, wenn fie den Fächer nicht gewandt zu hand» 


Eine Fädyer-Ausftellung. 45 


haben wüßte; daß man an den Bewegungen eines Fächers eine Prin— 
zejlin von einer Gräfin, eine Gräfin von einer Marquije, eine Mar— 
quife von eimer titellojen Dame unterjcheiden könne, und daß dieſes 
jubtile Instrument durch die Art des Deffnens und Schließens, des 
* und Senkens, des Wedelns und Hin- und Herbewegens, wie der 
tung und der Richtung geeignet werde, eine Unzahl von Gedanfen 
m Ausdrud zu bringen. Schon lange Zeit vorher hatte ſich Addi- 
on im „Speetator“ jehr unterhaltend über die Süchergeichichte aus⸗ 
laſſen. Er ſtellt ſich ein in Linie aufgezogenes Regiment junger 
men vor, welche eben „Fächer-Exerzieren“ treiben und die Comman- 
do8 ausführen wie: „Ergreift den Fächer!“ — „Entfaltet den Fächer!“ 
„euer!“ — „Den Fächer beim Fuß!" — „Den Fächer auf” — 
f enkt den Fächer!“ ꝛc. Die Schilderung von drei diejer Evolu— 
tionen, betreffend das Exgreifen, Entfalten und Schwenten ift bejon- 
ders ausführlich behandelt. „Auf das Commando „ergreift den Fächer!” 
richtet jede Dame mit ſüßem Lächeln ihren Fächer mir zu, giebt dann 
der rechten Nachbarin damit einen —— auf die Schulter, drückt 
F Lippen auf das Ende der ſchönen Waffe und läßt dann die 
rme mit leichter Bewegung jinken” Das „Entfalten“ iſt beſonders 
wirfjam, weil es Gelegenheit giebt, die hübjchen auf dem Fächer an- 
gebrachten Devijen zur Schau zu jtellen. „Diejer Theil der Uebungen 
gefällt dem — unbedingt mehr als jeder andere; er entſchleiert 
um Augenblide eine zahlloje Menge von Eupidos, Guirlanden, Schmud- 
vögel, Regenbogen und — angenehme Erſcheinungen, welche ſich 
wie ſelbſtbefriedigt dem Auge bieten.“ Dann bei dem Commando 
chwenkt den Fächer!“ heit eg: „Nun entwicelt jich eine unabjeh- 
bare Mannigfaltigfeit von Bewegungen, zu denen das Schwenfen des 
Fächers bequem Beranlafjung biete. Da giebt es ein unwilliges, 
bejcheidenes, furchtſames, verlegenes, heiteres und ein verliebtes Schwen- 
fen. Mit einem Worte, es exiſtirt wohl faum eine Regung der Seele, 
welche nicht durch entjprechende Bewegung des Fächers ausgedrückt 
werden fönnte, e daß ic) Schon aus dem Anblick einer eingeübten 
Dame erfenne, ob fie lächelt, —— oder erröthet. Ich habe einen 
Fächer ſehr ärgerlich geſehen, daß es für den eben abweſenden Gelieb— 
tem gefährlich geweſen wäre, in deſſen ſcharfen Luftzug zu kommen; 
und zu anderen * wieder ſo ſchmachtend, daß ich im Intereſſe 
der e ſelbſt ſehr froh war, den Geliebten in gemeſſener Entfer— 
nung von ihr zu rl Ih brauche nicht beſonders hervorzuheben, 
daß der un je nach der Natur der Perſon, die ihn trägt, entweder 
einen bloßen Schmud oder eine Kofetterie darſtellt“ Das P. S. iſt 
auch noch intereffant, denn e3 lautet: „Ic Lehre jungen Herren die 
ganze Kunft des Liebens durch den Fächer.“ 

Mit den Fächern diejer jchönen Sammlung ijt manche hübjche 
Epijode verfnüpft, die fich theils auf die Bejigerinnen jelbjt oder auf 
die Umſtände bezieht, unter denen dag Eigenthumsrecht an jene von 
Zeit zu Zeit wechjelte Unter denen, welche Lady Wyatt geliefert 
hatte, befindet jich einer, der ihrer Großmutter an deren Hochzeitstage 
vor gerade hundert Jahren geſchenkt worden war, ein ſeidenes Schmud- 
ſtück mit gravirtem und vergoldetem Elfenbeingriff und ematillirten 
und getriebenen Seitenwänden. Ein von Vidal und Hervy gemalter 


46 Eine Fäher-Ausftellung. 


Pergamentfächer, der mit aufgelegtem und gravirtem Elfenbein geziert 
ift, wurde der Kaiſerin Eugente dargebracht, als fie nad) der Welt: 
ausstellung von 1855 die Preisvertheilung vornahm. Ein franzöſiſcher 
Fächer mit modernem Blatt hatte einen Sandgei der einjt der Mar: 
uiſe von Pompadour in den fröhlichen Tagen Ludwigs XIV. gehörte. 
Hier befand ſich auch der Fächer aus der eig re der Kaiſerin 
mit dem Datum des 30. Januar 1853. Ein alter chineftscher Fächer 
mit Goldfiligrangriff und Gmailleverzierung wurde im Jahre 1804 
bei Gelegenheit der Krönung Napoleons I. vom chinejischen Gejandten 
Den Marihall Gräfin Elanjel gewidmet, deren Enkelin Madame 
de Ville de Sardelys die jegige VBefigerin dejjelben it. Ein hiſtoriſch 
interejjanter Fächer ift derjenige, welcher der unglüclichen Königin 
Marie Antoinette gehörte; fie übergab ihn im Jahre 1789 ihrer 
Spitenbewahrerin, von der er durch die Hand der Madame la Eruyere 
an Herrn de Thiac überging; die Elfenbeinjchnigerei daran „Begeg- 
nung groiichen orus und Alerander“ iſt eine wunderjchöne Arbeit. 
Ein alter franzöfiicher Elfenbeinfächer mit Verzierung in „Vernis 
Martin“ zeigt nad) der Beichreibung der Madame de Sevigne ein 
Bild, „Die Toilette der Marquiſe de Montejpan“ darjtellend. Hier 
möge beiläufig bemerkt jein, daß der Name „Bernis Martin“ von 
einem berühmten Kutjchenmaler Martin herrührt, der zur Zeit Lud— 
wig XIV. auch viele Fächer jehr ſchön bemalte und ladirte. Der 
Fächer, den die Kaiſerin Eugenie der Gräfin de Pourtales verehrte 
und der von Alerandre in Paris heritammte, hatte in den Goldver- 
— der Seitenwände eingelegte prächtige kleine Emailarbeiten. 
Fin anderer mit Malereien von Prevoſt, die Bilder — L zu 
Schloß D’Anet, Ludwigs XIV. zu Berjailles und des Kaiſers ım Bois 
de Boulogne enthaltend, wurde von der letteren der Vikomteſſe 
d'Aguardo, einer ihrer Ehrendamen, geſchenkt, wie auch zwei andere von 
See Schönheit, welche die Fürjtin Metternich erhalten hatte. Der 

ächer der Gräfin Granville, der diefer von der ausländiichen Kom— 
miſſion der Ausſtellung von 1867 gewidmet wurde, zeichnet jich Durch 
jeine reichen Seidenmalereien von Kanon und feine Elfenbeinjchnige- 
reien von Rambert bejonders aus. Einer der Fächer war der, — 
1837 zur Trauung der —— von Orleans angefertigt worden 
war, und der jetzt ihrer Schwiegertochter, der Gräfin von Baris, ges 
hört; ebenjo der von Duvellerroy zur Hochzeit der leßtgenannten 
Prinzejlin im Jahre 1864 angefertigte * Ein etwas merkwür— 
diges Kunſtwerk iſt ein im Beſitz der Prinzeſſin von Wales befind— 
2* Fächer, der in Rußland von einem ungariſchen Künſtler präch— 
tig gemalt wurde, und eine allegoriſche Darſtellung der Heimkehr des 
Prinzen von Rußland nach der Vermälung ſeiner Schwägerin, der 
Prinzeſſin Dagmar von Dänemark, mit dem damaligen Fürſten Thron— 
folger zeigt; die Art und Weiſe, in welcher gegen zwanzig kleine Lie— 
besgötter ſich gegenſeitig ein Lebewohl zurufen, von denen einige die 
Deviſe „Sch dien“, andere den Federbuſch des Prinzen von Wales 
tragen, iſt höchſt phantafievoll. Ein Fächer, der ein der Marquiſe 
de aha gehörte, jet aber im eig der Madame Achille Jubi— 
nal ijt, ijt wunderbar aus es tier als Nachahmung von Spißenge- 
webe ausgejchnitten, und zwar jo fein, daß man faum begreift, welcherlei 


Eine Sächer-Ausfellung. | 47 


Schneidewerkzeuge bei Heritellung defjelben benugt worden fein mögen. 
Ein engliſcher Fächer aus der Zeit Karls I. aus dem Jahre 1696 
wurde von der Bringeiiin Anna, der jpäteren Slönigin von England, 
einer jungen Dame, bei deren Verheiratung mit einem Landedelmann 
geſchenkt. Won einem Fächer, der vor über neunzig Jahren Marie 

ntoinette gehört hatte, ift deren Namenszug entfernt und dafür ein 
anderer nr einer angehängten Platte angebracht worden. Ein jehr 
alter deutjcher “Fächer, aus der Gothaer Sammlung, wurde von dem 
verftorbenen Prinzgemal der Königin Biktoria verehrt, ebenjo wie ein 
Staatsfächer von moderner —————— Herkunft. Hier befand ſich 
ferner ein Fächer, der für den corbeille der Herzogin von Orleans 
angefertigt war und den der Graf von Paris der engliichen Prin- 
eh Helena bei deren Vermälung mit dem Prinzen Ehrijtian ge: 
ihenft hatte; und weiter ein jolcher, ein Geſchenk der Königin von 
Preußen an die Königin Viktoria aus dem Jahre 1852, mit Abbil- 
dungen von jieben Föniglichen Refidenzen aus beiden Ländern; dann 
wieder einen, der nach einander in den Händen von drei Königinnen 
— von Maria Antoinette, der Königin von Belgien und der Königin 
Viktoria — gewejen war, und enbfih ein italientjcher Fächer aus dem 
vorigen Jahrhundert, der erſt der Königin Charlotte und dann der 
Herzogin von Bedford gehört hatte, von der, welche Bettfammerdame 
war, er der jetigen Königin gewidmet wurde. Andere in ihrer 
Eigenthümlichkeit mehr oder weniger anziehende, der Königin von Eng- 
land gewidmete Fächer jind diejenigen vom Herzog von Coburg und 
der Herzogin von Gordon, ein dritter, welcher der Herzogin Char: 
lotte, und ein vierter, der früher der Königin Adelaide gehörte Ein 
auf Küchleinhaut in pompejanischem Stil gemalter Fächer war der ein- 
zige, den die Prinzeſſin Charlotte 1809 ıhrer Erzieherin, der Gräfin 
von Elgin‘, jchenkte Ein fait zweihundert Jahre alter holländijcher 

ächer joll bejtimmt gewejen fein, die VBermälung Wilhelms von 

ranien mit Mary von England zu verewigen; er befand ſich im 
Beſitz einer vornehmen, zu den Parteigängern der Oranier age 
holländischen Familie. Ein ſehr gejchmadvoll auf Lammleder gemal- 
ter Fächer gehörte Benjamin Weit; während ein anderer auf Küchlein- 
haut Baader Dune: Sir Joſua Reynolds angehörte, von dem er 
feiner Nichte, der Marquife von Thomand, gejchenft wurde. Auch die 
berühmteften Künftler würden gewiß gern Fächer bejigen, auf denen, 
abgejehen von jedem anderen Intereſſe jich der Dur Watteaus oder 
Gavarnis verewigt hat. Die Eventaillistes oder Fächerfabrikanten 
Frankreichs betreiben ihr Geſchäft mit wohlüberdachter Organiſation 
und nach vorzüglichem Syſtem. Zwanzig verſchiedene Operationen, 
welche von A vielen Händepaaren ausgeführt werden, find noth- 
wendig, um den billigſten, für — big = fäuflichen franzöſiſchen 
Fächer herzuftellen, und für die koſtbaren Erzeugnijje von höchſter 

Uendung tt die Arbeitätheilung natürlic) eine weit größere. Die 
jogenannten Eventaillisten jelbjt, wie Duvelleroy, Alerandre, Fayet, 
Chardin und andere, find thatjächlich nur die eigentlichen Fertigmacher 
— die Monteure der Fächer. Es giebt etwa vier verjchtedene Zweige 
des Handels, die jich mit den ————— Einzeltheilen eines Fächers 
befaſſen; und kein Fächer, weder ein gewöhnlicher noch ein ganz feiner, 


48 Eine Säher-Ausftellung. 


iſt wirklich fertig, bevor nicht alle diefe Zweige ihren Theil zuge- 
jteuert haben. Tas Material und die Herftellung von Fächern * 
genau berechnet, daß ſelbſt Duvelleroy ohne Zögern jeden Auftrag 
auf Fächer ım Preiſe von einer halben Mark das Dugend annehmen 
würde; während es auf der anderen Seite ‘Fächer giebt, deren Elfen- 
beingriff nicht weniger als 1600 einzelne Löcher enthält, die auf den 
Raum eines Quadratzolles eingebohrt jind. 

E3 jet uns gejtattet, hier nod) eine kurze Darjtellung der Fabri— 
fation zu geben. Die ann bezeichnen mit dem Namen — 
(Fuß) die —* Theile (das Geſtell) des Fächers, mit „feuille“ (Blatt) 
aber die beweglichen oder zum Sa wre eingerichteten Theile. 
Jener pied zerfällt wieder un die Unterabtheilungen der „brins“ oder 
inneren und der „panaches“ oder äußeren Rippen oder Sei: 
tenwände, Dedel. Das ganze Geftell wird aus jehr verjchiedenartigem 
Material bergeitellt, 3. B aus Ebenholz, Pflaumenbaum, Sandelholz 
oder Lindenholz, aus Knochen, Elfenbein, Schildfrot, Perkmutter ıc., 
aus gewöhnlichem oder Eojtbarem Stoffe je nach der Qualität des 

ächers. Das Material zu den Rippen wird bearbeitet durch Sägen, 

ilen, Boliren, Bohren, Graviren, Vergolden und durch andere defo- 
rative Prozeſſe; dann werden Flitterchen und feine Bolzen von Gold, 
Silber oder Stahl angebracht und die Einzelrippen unten am Hand: 
griffe beweglic) verbunden, wo öfter eine Gemme oder ein Edeljtein 
die theureren Exemplare jchmüdt. Bei der Herrichtung der Rippen 
ift veichliche Gelegenheit zur Entwidelung feinen Gejchmads gegeben, 
und vorzüglich die jtärferen und auch meijt etwas breiteren Außen— 
rippen oder Dedelplatten gewähren viel Spielraum zur Anbringung 
phantafievollen Schmuckwerkes. Das „Blatt“ fertigt man aus einer 
noch größeren Anzahl Stoffe als das Gejtell, und zwar aus Seide, 
Atlas, gefärbtem oder bemaltem ‚Papier, aus bedrudten oder gaufrir- 
tem, verfilbertem oder vergoldetem Papier, aus Pergament, Lamme 
fell, Ziegenleder, Küchleinhaut, aus Spike, Tüll, Gaze, Er&pe, aus 
Häfelarbeit, Gold- oder Silbergewebe, aus Pfauen= oder Faſa— 
nenfedern und dergleichen mehr. Eine jehr gebräuchliche Zuſammen— 
ftellung ijt die aus Papier auf der einen und Seide auf der andern 
Seite. Kiünftler jeden Grades von Gejchidlichkeit und Ruf werden 
mit dem Bemalen der Blätter bejchäftigt, und wo es auf den Preis 
der Waare nicht ankommt, da begegnet man den Namen eines Wat- 
teau und Boucher, eines Roqueplan und Gavarnis, eines Dupre, Bou— 
langer und anderen berühmten Namen; während man am entgegen- 
gejegten Ende der Skala — aljo bei Herjtellung der billigiten Sorten 
— Kinder bejchäftigt findet, welche eben nur imjtande find, ein paar 
helle TFarbenklerhen auf einem Fächer anzubringen. Mit der Hand 
folorirte Kupferdrudbilder findet man a den Blättern jehr vieler 
— ebenſo wie verſchiedene Arten von Chromo-Lithographien. 

as Blatt erhält ſeine nothwendige Faltung, bevor es am Geſtell 
ſozuſagen montirt und an der agent ua der inneren Rippen 
(durch mancherlei Klebitoffe) befejtigt wird. 

Die Herjtellung der verjchiedenen Theile eines Fächers erfolgte 
jeiteng der Arbeiter meift in deren eigener Wohnung, wo z. B. ein 
Bohrer fich die nöthigen unendlid, feinen Werkzeuge aus einem Stüd- 


Eine £äher-Ausftellung. 49 


hen Taſchenuhrfeder jelbjt anzufertigen pflegt. Die Berfertiger der 
Geſtelle und Blätter wohnen meiſtens Mi dem Lande, während die 
Graveure, Druder, —A— — Maler, Koloriſten, Illuminirer und 
Fertigmacher ihren Wohnſitz faſt alle in Paris haben. Der Fächer— 
fabrikant (Eventailliste) überwacht nur die Zuſammenſtellung, Deko— 
rirung und die Arbeiten bi8 zum Vertriebe jeiner Erzeugniffe und 
giebt den Arbeitern auf dem Lande die nöthigen Injtruftionen. Er 
bejorgt die Entwürfe, um fein Fabrikat immer in Uebereinftimmung 
mit der herrichenden Mode zu erhalten, injtruirt die Blättermacher 
bezüglich des Stils der Berzierung, wählt die — der 
Geſtelle und Blätter und entſcheidet über die letzte Ausſchmückung mit 
Troddeln und über die paſſende Scheide. Wie man aus dem Bor: 
bergehenden erjieht, geſchieht die Herjtellung fait gänzlich durch reine 
Handarbeit, und doch nicht ganz und gar, denn wenigitens in neuerer 
Zeit werden vielfach geeignete Prejjen zum Ausjchneiden und auch 
zur Re. erhabener Verzierung auf manchem Materiale ver: 
wendet. 

Was den orientalijchen Fächer betrifft, jo unterjcheidet ſich dieſer 
in mehr als einer Richtung von dem europäischen. Der indijche 
Fächer z. B. wird nur ſelten zum Zuſammenſchlagen eingerichtet, 
noch er Si jich die trägen Eigenthümer ſelbſt damit, ſich Luft zus 
zumedeln. Einzelne jener Sücer, welche an Griffen in der Mitte 
befeiti t find, werden verſchwenderiſch mit Stidereien und Edeljteinen 
ausgettattet; andere ähneln wieder einer von einer Stange herab- 
hängenden Gardine, welche von einem Diener horizontal gehalten und 
vor: und rüdmwärts —— wird; noch andere ſind von runder 
Standartenform, wobei der eigentliche Fächer an der Spitze eines 
ſil bernen Schaftes angebracht iſt, der hin und her bewegt wird durch 
einen Diener, welcher mit dem andern Ende des Schaftes in der 
Hand auf dem Fußboden ht. Einzelne eh findet man 
auch ganz eigenartig aus Kleinen Kügelchen und Perlen zuſammen— 
geiegt. Sehr funjtvolle und oft jehr jchöne Fächer werden zuweilen 
aus den getheilten Blättern von Borassus flabelliformis hergeitellt, 
welche einen fajt betäubenden Duft verbreiten; ferner aus Khus-khus— 
Gras; aus ganz dünnen Platten von Sandelholz; aus Bambus oder 
auch aus Palmenblättern. | 
Einige jolche Fächer aus der genannten Sammlung zeichnen ich, 
wie man fe t denken fann, ebenfo durch Eigenartigfeit wie durch Schön- 
heit aus. Einer oder zwei jolcher chinejischer cher zeigen Bilder 
mit jener unmöglichen — welche uns durch das beliebte 
— Tafelgeſchirr bekannt geworden iſt. Einer, ein engliſches 
Fabrikat, zeigt wieder Liebesgötter, welche luſtig beſchäftigt ſind, 
Pfeile zu ren und zu jpigen. Ein franzöjiicher Fächer bejteht 
in der Haupifache aus zweinndachtzig Aſſignaten und anderen Sorten 
Bapiergeld, welche aus der bewegten Zeit der großen Revolution her— 
rühren — eine merfwürdige Art von Fondsbörſe, die aus glatten 
bedrudten Papier und glattem Rojenholzgriff erbaut iſt. Nicht 
weniger merfwürdig erjcheint ein etwa Dderjelben Zeit entitammender 
‚Fächer, der eine gravirte Büſte Mirabeaus nebjt Scenen aus dejjen 

ben zeigt. Berühmt gewordene Ausjprüche dieſes Mannes, wie 
Der Salon 1887. Heft VIL Band II 4 


50 Eine Fäher-Ausftellung. 


„Je combattrai les facteurs de tous les parties“ und andere find 
in ſchmalen Zwilchenräumen der Zeichnung angebracht. Ciner, ein 
prächtiges Erzeugnig aus der ge des unglüdlichen Ludwig XVL, 
fann mit vollem Rechte als Zoilettefächer bezeichnet werden, denn 
das medaillonartig gemalte feidene Blatt dejjelben, das noch reich ge- 
jtift und anderweitig verziert tt, jtellt die Toilette einer Hofdame 
dar, während auf dem gravirten Elfenbeingriffe die Toilette einer 
andern vornehmen Dame wiedergegeben iſt. Ein Fächer aus dem 
jiebzehnten Jahrhundert enthält eine überaus fein ausgeführte Feder— 
eichnung, eine Sigung der Akademie der Wiſſenſchaften darjtellend. 
Sin franzöfiicher Fächer des Tegtvergangenen Jahrhunderts zeigt 
jehr gut die jonderbare Vermengung des Hoflebens mit beibnifcher 
Mythologie, welche jener Zeit bei den Malern jo bejonders beliebt 
war, nämlich die Vermälung Ludwigs XV., deren Feier auf dem 
Olymp Jupiter, Juno und Apollo beiwohnen, ein Bild, über dem 
noch Die ppenjchilder von — und von Polen angebracht 
ſind. Ein Revolutionszeit-Fächer ſtellt die Verſammlung der Gene— 
ralſtaaten im Jahre 1789 dar und enthält auf der Rücteite — eine 
ſtatiſtiſche Weberficht der Staatseinnahmen und -ausgaben von dem- 
jelben Jahre. Ein jpaniicher Fächer im Bejig der Mirs. Bayard (der 
Gattin des damaligen Gejandten in Madrid) zeigt, auf Yammleder 
gemalt, die Thierfreisbilder und einen gedrudten Almanach mit Hin- 
zufügung hiftoriicher Bemerkimgen für jeden Tag. Ein englitcher 
Fächer aus dem vorigen Jahrhundert it verjehen mit den gedruck— 
ten — Whift-Spielregeln, je daß einer Dame damit Gelegenheit ge- 
boten ift, ſich fühl zu halten und gleichzeitig ganz regelrecht ihren 
Nubber zu jpielen. 

Die Ausitellung, aus der hier einzelne hervorragende Objekte 
fpeziell aufgeführt jind, fand jo allgemeinen Beifall und man ent- 
Dede, daß das, was erjt nur ein launenhafter Einfall jchien, doch 
auch praftiichen Zwecken dienen konnte, daß ſich bald viele Intereſſen— 
ten fanden, welche fich bereit erklärten, eine wiederholte derartige 
Zuſammenſtellung mit reichlichen Meitteln zu unterjtügen. Die Klönt: 
gin von England, welche dem Unternehmen mit warmer Theilnahme 
gegenüberjtand, ging damit voran, einen ziemlich bedeutenden Geld: 
preis für den beiten Fächer zu ftiften, der — garnirt oder auf 
beide Weiſen geſchmückt ſein konnte; als Nebenbedingung war nur 
aufgeſtellt, daß De: von weiblicher Hand und zwar von einer 
Dame unter fünfundzwanzig Jahren hergejtellt jein Site Die So- 
ciety of Arts bot als zweiten reis eine goldne Medaille, während 
Lady Cornelia Gueſt und die Baronin Meyer von Rothſchild je zehn 
Prund on Mark) als dritten und vierten Preis beijteuerten. gerin. 
eſſin Alice (ſpäter Gattin des Vizekönigs von Kanada), deren künſt— 
ar Geſchmack ihrer natürlichen Liebensmwürdigfeit von jeher noch 
höheren Werth verlieh, hatte einen von eigner Hand gearbetteten Fächer 
ugejagt, und auch daS Departement fir Künſte und Wijjenjchaften 
Becifte jich, diefe Konkurrenz zu unterjftügen. Die Ausftellungsobjekte 
wurden übrigens nur zugelajjen, wenn jte ſich durch echt künſtleriſchen 
Schmuck, durch Neuheit oder Schönheit des verwendeten Materials 
auszeichneten, umd vorzüglich jollte die ganze Zujammenftellung ein 


Eine Fächer -Ausfellung. 51 


Bild des verfchiedenen herrjchenden Gejchmades und — in den Pie 
riſchen Exemplaren — der Wandelbarfeit der Mode — — Dieſe 
Andeutungen und Bedingungen wurden denn auch willig befolgt, und 
England, ſpeziell London, zog aus der Verwirklichung eines Gedankens 
der urſprünglich nur eine ——— Laune ſeiner Novelty war, den 
Vortheil, in großer Due ein Kunjtgewerbe zu ober Ent- 
widelung zu treiben, das früher und Jahrhunderte hindurch nur an 
andern Orten, vorzüglid in Paris, geblüht hatte. Mag man über 
England und jeine manchmal recht komischen altväteriichen Schrullen 
lachen und denfen, was man will — gewiß verdient es Anerkennung, 
daß auch jeine höchiten Kreife jo freudig bereit waren, während jte 
einem — ergnügen fröhnten, gleichzeitig einen praktiſchen 
Zweck ins Auge zu faſſen, was die Folge gehabt hat, daß ſeitdem 
manche geſchickte und früher müßige Hand gewinnbringende Bejchäf- 
tigung gefunden hat. - 1 





4* 





Gedichte einer Grasmücke. 
Aus dem Italienischen des G. Berga. Deutſch von Pauline Shanz. 


— 


ah einſt eine arme kleine Grasmücke, die in einem 
äfig eingeſchloſſen war. Kränkelnd, ſchüchtern, trau— 
7 An rig blickte fie mit erſchrockenem Auge um ſich, flüchtete 

19 in den äußerten Winfel ihres Käfigs, und wenn 
fr jie den Geſang der anderen Vögel vernahm, die auf 





KErAT? dem Grün der Wieſe flatterten oder ſich durch die 
Bläue der Luft fchwangen, jo folgte jie ihnen mit einem 
Blide, den man einen thränenvollen hätte nennen können. Doc) 

wagte jie nicht, ſich zu empören, fie unternahm nicht einmal den 
Verſuch, die Eifengitter ihres Kerkers zu zerbrechen, die arme Gefangene! 
Und doch meinten fie es gut mit ihr, ihre Kerfermeifter, Tiebe, gute 
Kinder, die fih an ihrem Schmerz erluftigten und ihr die Trauer 
ihrer Sehnfucht mit Brodfrümchen und zärtlihen Worten bezahlten. 
Die arme Grasmücke verjuchte es, ſich m ihr Loos zu ergeben, die 
Unglüdliche; fie war nicht vachjüchtig; fie wollte ihre Peiniger nicht 
durch ihren Gram kränken; fie gab ſich Mühe, die ie und 
die Brodfrümchen a piden, doch jie vermochte die Nahrung nicht 
mehr zu jchluden. Nach zwei Tagen ließ ſie ihr Köpfchen a ihren 
Flügel finfen und am dritten Tage lag ſie ftarr in ihrem Gefängniß. 

Sie war geitorben, die arme Grasmüde! Doc ihr ag 
chen war gefüllt. Ste war gejtorben, weil etwas in dieſem zarten 
Körper lebte, was jich nicht mit Hirje jättigen ließ, etwas, was nod) 
ein anderes Bedürfen empfand, als Hunger und Durft. 

Einft erzählte mir die Mutter bieker Kinder, der unjchuldigen 
erbarmungslojen Henker des armen Vögelchens, die Gejchichte einer 
Unglüdficen, deren Körper in die Mauern eines Kloſters eingeferkert, 
deren Geiſt durch den Aberglauben und durch die Liebe gemartert 
worden, eine jener Alltagsgeichichten, wie ſich jolche jo oft unbemerkt 
vor unjeren Augen abjpielen, die Gejchichte eines gi ſchüchter⸗ 
nen Herzens, welches geliebt, geweint und gebetet hatte, ohne zu wagen, 
ſeine Gebete andere hören und ſeine Thränen ſehen zu laſſen; eines 


Gefchichte einer Grasmũcke. 53 


Herzens, welches endlich, von feinem Schmerz überwältigt, im Tod 
gebrochen war. 

Da gedachte ich der armen Gragmücde, welche den Himmel nur 
durch die Gitterjtäbe ihres Gefängniffes gejehen, welche jo trauervoll 
ihre — gepickt, ihr Inn endlich auf ihren Flügel ge 
jenft hatte und gejtorben war. Aus diefem Grunde habe ich die fol- 
gende Erzählung „Geichichte einer Grasmücke“ genannt. 


Monte Jlice, 3. September 1854. 
Meine geliebte Marianne! 

Ich verſprach Dir zu jchreiben, und jo habe ich mein Verfprechen 
— Seit vierzehn Tagen, die ich ie bin, durch die Felder zu 
ufen, allein! ganz allein! Welch ein Glück! Vom Sonnenaufgang 
bis zum Niedergang auf dem Raſen je jigen unter dieſen dich en 
Kaſtanienbäumen und den Böglein zu laujchen, welche heiter wie ich, 
dem lieben Gott danken! So fand ich denn nicht eine Minute, um 
Dir zu jagen, daß ich Dich Bun da ich fern von Dir bin und Dich 
nicht mehr allitündlich zur Seite habe, wohl noch hundertmal mehr 
liebe, ala en Dich Liebte drunten im Kloſter. Wie F ücklich würde ich 
ſein, wenn Du hier wäreſt, mit mir Blumen zu pflücken, die Schmetter— 
linge zu Se im Schatten diefer Bäume au ſchwärmen, wenn die 
Sonne In rm in Arm —— während dieſer ſchönen Abende, 
im Mondſchein mit mir zu luſtwandeln, wo das Summen der Inſek— 
ten mir melodiſch ſcheint, weil es mir ſagt, daß ich auf dem Lande 
bin, in der freien Himmelsluft, wo der Geſang der Vögel, deren 
Namen ich nicht kenne, mir die ſeligſten Thränen ins Auge treibt. 
Wie jchön ift'S auf dem Lande, meine Marianne! Wenn Du hier bei 
mir wäreft! Wenn Du * Berge im Mondenſchein, oder bei Son— 
nenaufgang ſehen könnteſt, jehen die gewaltigen Schatten diejer Wäl- 
der, das lau diejes Himmels; das Grün bieler Weinberge, welche ins 
Thal hinabfteigen und das Häuschen umfränzen; dieſes himmelblaue, 
unendliche Meer, welches da unten aus der Ferne herüberleuchtet und 
alle diefe Dörfchen, welche an den Bergen emporflettern, jenen aa äh 
die h roß jind und doch jo Hein erjcheinen neben unſerm alten, 
majejtätijchen Meongibello! Säheſt Du, wie jchön er in der Nähe iſt, 
unſer Aetna! Vom Dad unjeres Kloſters aus erblidten wir ihn 
immer nur als einen großen, einzelitehenden Berg, deſſen Gipfel mit 
Schnee bededt iſt. Jetzt unterjcheide ich alle diefe Kleinen Dergipihen, 
die jeine Kronen bilden, erfenne jeine tiefen Schluchten, feine waldigen 
Hänge, feine prachtvolle Kuppe, deren Schnee durch die Wafferjtürze 

gefurchte, ungeheure braune Rinnen zeigt. 
Alles Hier ijt Schön: die Luft, das Licht, der ge die Bäume, 
die Berge, die Thäler, das Meer! Und wenn id) dem Herrn danke 
für all die SHerrlichkeit, jo danke ich ihm mit einem Wort, einer 
Thräne, einem Blid, allein inmitten diefer Fluren, Inieend auf dem 
Moos des Waldes oder dem Grün der Wieje. Doch ich meine, mein 
Gebet müſſe dem lieben Gott angenehmer fein, wenn id) ihm jo aus 
ttefiter Seele danke und mein Gedanke nicht unter der düſtern Wöl— 
bung des Chores eingefchloffen ist, jondern fich frei aus den majeſtä— 
tiſchen Schatten diefer Wälder und der Unermeßlichkeit diejes Himmels, 


54 Geſchichte einer Grasmücke. 


diejes Horizontes zu ihm erhebt. Man nennt uns die „Erwählten“, 
weil wir beitimmt nd, Bräute des Herrn zu werden. Aber hat denn 
der gute Gott all diefe Schönheit nicht für alle gejchaffen? Warum 
jollten denn die Bräute des Herrn die Beraubten jein ? 

Wie ich glüdlich bin! Mein Gott! Erinnert Du Dich, wie 
Roſalie uns — machen wollte, daß die Welt außerhalb unſeres 
Kloſters ſchöner ſei? Wir ließen uns nicht überzeugen und verlachten 
fi. Wenn ich nie das Kloſter verlaſſen hätte, jo würde ich nie erfah— 
ren haben, daß Rojalie recht hatte. Unjere Welt war jo bejchränft. 
Der f£leine Altar mit den armen Blumen, welche der —— Luft 
beraubt, in den Vaſen dahinwelkten, das Belvedere, von welchem man 
ein Gewirr von gr und von ferne, ferne, wie in einer Laterna 
magica, das freie Feld, das Meer und all das Schöne jah, was Gott 
erioaffen bat; unſer Gärtchen, welches nur da zu ſein jchien, um uns 
die Klojtermauern über den Baummwipfeln zu zeigen und welches man 
mit hundert Schritten durchwandert hatte; in dem man unter Auf— 
jicht der Oberin eine Stunde jpazieren ging, ohne auch nur einmal 
zu jpringen und zu hüpfen. Das war alles! 

nd dann, jieh, es that nicht gut, jo gar wenig an die Familie 
zu denken. ch bin F auch die unglüdlichjte der Penſionärinnen, da 
ich meine Mama verloren habe! Doc) jet fühle ic), daß ich meinen 
Papa doc jr als die Meutter Oberin liebe, mehr als meine Mit- 
ſchülerinnen und meinen Beichtvater; ich fühle, daß ich ihn mit mehr Ver— 
trauen, mit größerer Zärtlichkeit Tiebe, obgleich ich Jagen kann, daß ich 
noc nicht jieben Jahre zählte, Damals als meine geliebte Mama mic) 
allein gelafjen. Sie jagten mir, daß fie mir eine andere Familie, eine 
neue Mutter gäben, dab jie es gut mit mir meinten. Es ijt wahr 
— ja. * agt mir die Liebe, die ich für meinen Vater empfinde, 
Fe Liebe einer Mutter doch noch eine ganz andere geweſen jein 
witrde. 

Du glaubjt nicht, was ich in mir fühle, wenn mein lieber Bapa 
mir guten Morgen jagt und mich umarınt. Dort unten umarmte mid) 
niemand; Du weißt es, Marianne! Die Regel verbietet es. Und dod) 
dünkt mich, es könne nichts böjes fein, ſich jo geliebt zu wifjen. Meine 
Stiefmutter ift eine vortreffliche Da da 4 je nur um Giuditta 
und Gigi fümmert und mich nad) meinem Willen umberlaufen läßt. 
Mein Gott! Wenn fie mir auch das Umbherjtreifen in den Fluren 
verbieten würde, wie jie es ihren Sindern aus Furcht vor einem Fall 
oder Sonnenjtich verbietet! Ich wäre gewiß ſehr unglüdlich, nicht 
wahr? Aber vielleicht iſt ſie gütiger und nachjichtiger mit mir, da 
ſie weiß, daß ich dieſe glückliche — nicht lange genießen, daß ich 
bald zurückkehren werde, um in vier Mauern non zu werden. 
—— denken wir nicht an dieſe ſchlimmen Dinge. Jetzt bin 
ich fröhlich, glücklich und wundere ur) wie alle dieje % te — 
haben, wie ſie die Cholera verwünſchen können. Die 4 Cholera, 
die mich hier ſein läßt, auf dem Lande. Möchte ſie ein Jahr dauern. 

Nein, nein, das iſt Unrecht! Verzeih, Marianna! Wer weiß, wie 
viel arme Leute weinen, während ich lache und mich freue. Mein 
Gott! IH muß wohl jehr unglüdlich jein, daß id) nur dann froh 
jein fann, wenn andere leiden. Sage mir nicht, daß ich jchlecht bin; 


Geſchichte einer Grasmücke. 55 


ich möchte nur das 2008 der anderen theilen, nicht? mehr; nur der 
Segnungen theilhaftig jein, die der gute Gott für alle Menfchen bes 
jtimmt hat: Luft, Licht, Haag 

Sieh, wie mein Brief, ohne daß ich es wollte, jo traurig gewor- 
— Ru Jetzt werde id) Dir zum Erſatz unſer liebes Häuschen 

ildern. 

Du bift nie in Monte Jlice gewejen, Du Arme! Welch ein Ge- 
danfe war es von Deinen Eltern, ſich in Mascalucia zu begraben! 
Ein Dorf! Haus an Haus, Straßen, eine Kirche! Deren haben wir 
wohl genug gejehen! Hierher folltet She fommen in die Berge, wo 
man von einem Haus zum andern — ie Weinberge laufen, Gräben 
ü En en, Mauern überklettern muß; wo man fein Wagengerafjel, 
fein Glodengeläute a feine fremden, gleichgiltigen Gefichter fieht. 
Das heißt auf dem Lande leben! Wir bewohnen eın ſchmuckes Häus— 
chen am Abhang eines Hügels, in Weingärten, am Saum eines Kaſta— 
nienmwaldes gelegen. Ein Gäuschen, jo Klein, jo Elein; doch wie Iuftig, 
heiter, lachend! Bon allen Thüren, allen Fenjtern aus ficht man das 
freie Land, die Berge, die Bäume, den Himmel, feine Mauern, jene 
— rauch ——— Mauern! 

or dem —** iſt ein freier Platz und ſteht eine Gruppe 
Kaſtanienbäume, welche ihre Wipfel wie ein Dach von Laub und 
Zweigen ausbreiten, in welchem die Vögel den ganzen geſegneten Tag 
lang — ohne je zu ermüden. Ich bewohne ein reizendes Kämmer— 
chen, kaum groß genug für mein Bett und mit einem ſchönen Fenſter, 
welches den Ausblick nach dem Kaſtanienwäldchen hat. Neben mir, 
in einem ſchönen großen Zimmer ſchläft meine Schweſter Giuditta, 
doch tauſche ich mein Käſtchen, wie Papa ſcherzend mein Stübchen 
nennt, nicht für ihre jchöne Stube; und dann braucht fie auch für 
ihre vielen Kleider und Schachteln viel Raum, während ich nur eines 
Stuhles neben meinem Bette bedarf, auf welchem ich des Abends 
mein Kleid legen kann. 

Wenn ich beim Dunkelwerden von meinem Fenjter aus das Rau— 
fchen in all diefen Baummipfeln vernehme, aus deren — ge⸗ 
formten Schatten ſich ein Mondſtrahl wie ein weißes Geſpenſt ſtiehlt, 
wenn aus der Ferne das ſchmelzende Lied der Nachtigall an mein 
Ohr dringt, dann belebt ſich meine Phantaſie mit einer ſo ſüßer 
Träume, daß ich gern, wenn ich mich nicht fürchtete, die Nacht am 
Fenſter wachend a möchte. 

An der anderen Seite des freien Plabes liegt ein fchönes, mit 
Stroh und Binjen gededtes Ben welches der Verwalter mit jei- 
ner Familie bewohnt. Säheſt Du das Hüttchen, wie es jo winzig 
md jo ſchmuck ift! Wie alles darin jo wohlgehalten und gepflegt 
wird! Die Kinderwiege, das Strohlager, Tiſch und Stuhl! Für das 
Hüttchen, ja dafür gäbe ich wohl mein Stübchen hin. Es dünft mich, 
daß dieje fleine Familie, die in zwei engen Räumen zu ebener Erde 
beiſammen lebt, jich untereinander umjomehr lieben, um jo glüclicher 
jein müfje; daß ihre Zärtlichkeit, von diejen engen Wänden umjchlojjen, 
eine innigere, eine vollfommenere werden, daß das Herz bewegt und 
erjchüttert vom täglichen Anblid diefer großen Natur, einen mb 
einen ſüßen Troft finden müſſe, indem es jich mit feiner Liebe in jo 


56 Gefchichte einer Grasmüdke, 


Eleinen Raum, mit all dem jchlichten, trauten Geräth einjchließt, wel- 
ches gleichſam einen Theil der ee bildet. 

Was jchreibe ich Dir da, Marianne? Du wirft mich auslachen. 
Verzeih, ic) habe das Der 10 voll, daß ich, ohne es gewahr zu wer: 
den, Dir all diefe neuen Empfindungen, die auf mich eindringen, mit- 
theile. Während der eriten Tage, da ich aus dem Kloſter hierher- 
gekommen, war ich wie betäubt, verwirrt, außer mir, wie in eine neue 

elt verjegt. Alles ſetzte mich in Erjtaunen, in Schreden faſt. Stell 
Dir einen Blindgeborenen vor, der durch ein Wunder jehend wird. 
Jetzt habe ich mich mit all diefen neuen Eindrücken vertraut gemacht. 
Jetzt —*— ich mein Herz leichter, meine Seele reiner als früher. Ich 
rede mit mir, antworte mir, ſtelle die Gewiſſensprüfung an; nicht jene 
jhüchterne, furchtiame, reue- und vorwurfsvolle Prüfung jondern eine 
voller Zufriedenheit und Glüd, die mich Gott lobpreiſen läßt, Die 
mich mit einer Thräne im Auge, mit einem Blid zum Sternenhimmel 
emporhebt zu ihm. 

Mein Gott! Wenn dieje Freude Sünde wäre! Wenn Gott es 
lieber jähe, ich zöge die Stille, die Einjamfeit, die Sammlung des 
Kloſters der Freiheit, der Natur, der Familie vor. Wenn unjer alter 
Beichtvater hier wäre, würde er wohl meine Zweifel jchlichten, mir 
rathen, mich tröjten. So, wenn diefe Ungewißheit, diefe Unruhe mic) 
quält, bete ich, daß der Herr mich erlcuchte. Bete auch Du für mid), 
Marianne! 

Jetzt lobe ic) ihn, danke ihm, jegne ihn, bitte ihn, mich hier jter- 
ben zu lajjen oder mir Kraft zu verleihen, wenn es jein Wille ift, 
daß ich mic) im Kloſter einjchliegen joll. Doc) ich bin diefer Gnade 
nicht würdig — bin eine Sünderin. Und doc), wenn ich des Abends 
die Frau des Verwalters jehe, wie jie mit dem größeren Kinde auf 
dem Schoße den Roſenkranz betet, neben dem De, wo ihres Mannes 
Suppe kocht, während fie mit dem Fuße die Wiege jchaufelt, in wels 
cher ihr Eleinjtes Kind jchlummert, jo jcheint mir, das Gebet der guten 
Frau, das jo friedlich, heiter, jo voll Dank gegen Gott iſt, müſſe 
reiner zu ihm aufjteigen als das meine, in welches fich Unruhe, Angſt 
und jehnende Wünjche mijchen, die meinem Stande fremd jein jollen 
und die ich nicht verjcheuchen kann. 

Sieh den langen Brief, den ich Dir gejchrieben habe! Antworte 
mir mit einem noch längeren. Sprich) mir von Dir, Deinen Eltern, 
erzähle mir alles, wie wir es drunten im Kloſter gethan. Scheint es 
mtr doc), als hätte ich lange Hand in Hand mit Dir geplaudert und 
Du hättet mir zugehört mit Deinem heitern, nedijchen Lächeln auf 
den Lippen. Antworte mir aljo, jag, ob Du glüdlich bit, wie id) es 
bin, ob Du an Deine Marianne denkt. Sag’ mir die Farbe Deines 
Kleides, denn Du, als em — trägſt nun Modekleider. Sage 
mir, ob Blumen in Eurem Garten blühen, ob Du an der FBeinleie 
theilgenommen. Ä 

Ade, meine Marianne, meine Schweiter! Ich jende Dir Hundert 
Küffe, die Du mir zurüdgeben follit. 

Deine Maria. 


Geſchichte einer Grasmũcke. 57 


19. September. 
Meine Marianne! 

Hierher gelangen nur traurige Nachrichten, man ſieht nur er— 
Ichrodene Gefichter. In Catania ijt die — ausgebrochen. Schrecken, 
eine allgemeine Muthloſigkeit nehmen überhand. | 

Handelt es jich nicht um jo trauriges, wäre dieſe Angst nicht, wo 
gäbe es ein glüdjeligeres Leben als hier? Der Papa geht entweder 
zur Jagd oder er begleitet auf langen Spaztergängen, auf wel- 
chen ich mich ohne ihn im Walde verirren könnte. Mein Brübderchen 
Sigi jpringt, jchreit, lärmt, Elettert auf die.Bäume, wo er faft täglich 
ein Stüd jeines Anzuges hängen läßt und die Mama (0 Marianne, 
wüßteſt Du, wie jchwer e8 mir wird, meiner Stiefmutter diejen jühen 
Namen zu geben; das jcheint mir eine Entheiligung des Andenfens 
an meine todte Mutter! Und doch muß id) jie jo nennen!) und die 
Mama ſchilt, giebt ihm Zuckerwerk, Küſſe, Obrfeigen, flidt ihm die 
zerrijjenen Kleider und wiederholt dies zwanzig Mal jeden Tag. Sie 
weis nichts, als für ihre Kinder zu fliden und fie zu liebkoſen. 
Glückſelig die, denen die Liebe einer Mutter geblieben iſt! Und dann 
während ſie einen Blick in die Küche wirft oder Befehle wegen des 
Mittageſſens giebt, ſchilt ſie mich, daß ich zu nichts zu brauchen jei, 
nicht einmal zum Kochen. Ach, leider hat fie recht! Mich freut nichts, 
als das Herumiftreifen im Freien, das Blumenpflüden und der Ge— 
jang der Vögel. Und ich bin faft zwanzig Jahre alt! Bedenke! Ich 
erröthe vor mir jelbit. Doch mein Väterchen hat nicht das Herz mid) 
zu jchelten, er Liebfojt mich nur und jagt: „Arme Kleine! Lapt ihr 
doch dieje kurze ‚Freiheit ungetrübt genießen!“ Jedes Mal, wenn ich 
an mein Mütterlein denfe, welches da unten im Friedhof von Catania 
jchläft, fommen mir die Thränen ins Auge. Doch hier gejchieht mir 
dies öfter als früher, da id) ei bier als Fremde in meines Vaters 
Haufe fühle Niemand trägt die Schuld daran. Sie find nicht 
— gewöhnt, mich zu ſehen, mich um ſich zu haben. Das iſt der 

rund. 

Uebrigens iſt meine Stiefmutter ganz in ihrem Recht, wenn ſie ſagt, 
ich ſei zu nichts nütze. Sie meint es gut, und ich leiſte ihr nichts. Meine 
—22 nicht mittheilſam, ſie iſt nicht ſo närriſch wie ich. Iſt es nicht 
freundlich, daß ſie mir * Kämmerchen für mein Bett überläßt, welches 
ſie ſonſt für ihre Toilette benutzte, für ihre Kleider und all die Dinge, 
die nun ihre Stube überfüllen? Gigi iſt immer das luſtige, herzige 
Kind, welches Du kennſt. Er fällt mir des Tages zwanzigmal um 
den Hals und tröſtet mich, wenn ſeine Mama mich wegen ſeiner zer— 
riſſenen Kleider ſchilt. Doch iſt es denn meine Schuld, wenn ſie mich 
im Kloſter das Kleiderflicken nicht gelehrt haben? Es käme mir ja 
hier wirklich zu. Giuditta iſt eine Dame und ſie iſt wirklich faſt den 
ganzen Tag mit ihrem Anzug und ihrer Friſur beſchäftigt. Und ſie 
thut recht daran, denn Die jchönen Kleider, Bänder und Spitzen jtehen 
ihr jo gut, als jeien fie eigens gemacht, jie F ſchmücken. Dann iſt 
ſie ja auch reich durch das Heiratsgut ihrer Mutter. Mein Vater iſt, 
wie ſie ſagen, nur ein beſcheidener Beamter. An was ſollte ſie auch 
bei ihrem Alter denken? Geſtern Abend, als ſie ein neues Kleid an— 
verſuchte, bat ich ſie, ſie umarmen zu dürfen; ſo ſchön war ſie! Sie 


58 Gefchichte einer Grasmũcke. 


erlaubte es nicht, aus Furcht, ich könne den Stoff ihres Kleides zer- 
fnittern. Wie thöricht ıch bin, Marianne! Als ob es fich um mein 
armjeliges Klojtergewand aus Serge gehandelt hätte, welchem das 
Zerdrüdtwerden nichts J— kann. 

Ach, welch ein Glück iſt das Familienleben! Wenn Papa des 
Abends alle Thüren ſchließt, überkommt mich ein unnennbares Gefühl 
der Befriedigung, als feſteten ſich die Bande, welche mich mit den 
Mitgliedern meiner Familie vereinigen. Erinnerſt Du Dich dagegen 
jener ſchmerzlichen Empfindung, welche uns arme Eingeſchloſſene jeden 
Abend durchſchauerte, wenn wir des Pförtners Schlüflelbund Elappern 
und den Riegel Elirren hörten? Ich dachte dann an die armen Ges 
fangenen und mein Herz krampfte ſich zufammen. Ich habe dieſes 
Gerühl wohl Hundertmal gebeichtet, Habe Hundertmal Buße gethan und 
doc habe ich - nie von dieſen Gedanken befreien können. Am 
Morgen, ehe ich die Augen öffne, wedt mic) das Gezwitjcher der 
Vögel, welche ſich um die Brodfrümchen jtreiten, die ich für fie auf 
mein Fenſterſims gie habe. Mein erjter Gedanke iſt der des 
Glüdes, mich im Kreije meiner Angehörigen zu befinden, meinen Papa, 
mein Brüderchen, Giuditta mir nahe zu wilfen, die mich umarmen, mir 
guten Morgen wünjchen; der Gedanke, feine Gebete herjagen, feine 
Meditationen anjtellen, fein Schweigen beobachten zu müſſen. Ich 
öffne das Fenjter und hereinjtrömt jene Baljamluft, jenes Sonnen 
licht, jenes Braufen der Laubfronen, jener Vogelgeſang. Ich darf 
hinauseilen, wann ich will, laufen, jpringen wie mir's gefallt, ich treffe 
feine jtrengen Geſichter, feine jchwarzen Nonnenkleider, feine finjtern, 
öden Korridore. Marianne! Dir will ich's befennen, es ift wohl eine 
Sünde ſchon ald Gedanke! Wenn ic) mir ein jchönes braunes Kleid 
machte! Ohne allen Schmud, aber ein Kleid, welches nicht ſchwarz 
wäre, in welchem ich laufen und Mauern überffettern könnte, welches 
mich nicht jeden Augenblid, wie dieje häßliche Nonnentracht, daran er- 
innerte, daß dort unten in Catania, wenn die Cholera erlojchen fein 
wird, das Klojter mid) erwartet. 

Ich will nicht daran denken, vergieb, Marianne; es war ein 
Scherz. Doc) habe ich Dir nod) nicht mitgetheit, daß ich ein jchönes 
Bögelchen, einen luſtigen, muntern Sperling bejite, der mich gern 
der mir antwortet, auf meine Hand fliegt und daraus Krümchen pidt, 
meinen Finger hadt und jic) Damit belujtigt, mein * u — 
Seine Geſchichte iſt im Beginn eine etwas traurige. Mein Barer brachte 
ihn mir emjt in einem blutbefledten Taſchentuche. Aermſter! 
machte jr jeinen eriten Fliegverfuh, als ihm em Flintenſchuß den 
Flügel traf. Weld) Häpliche barbarijche Bergnügungen doc) die Män— 
ner haben! Als ich das Blut jah und dieje Klagetöne hörte — der 
Arme jammerte über den großen Schmerz, den er litt — weinte id) 
mit ihm und bätte beinahe dem lieben Hape gezürnt. Alle lachten 
über mich, ſelbſt Gig. Ich wuſch die Wunde des kleinen Flügels, 
hoffte aber nicht, daß der Vogel am Leben bleiben würde. Und fieh, 
jegt hüpft er Iujtig umher. Zuweilen flagt er wohl nod) über jeine 
Wunde und jegt ſich in memen Schoß, zirpend und jein Flüglein 
itredend, als wollte er mir jein Leid erzählen. Ich ftreichle und küſſe 
ihn, gebe ihm Körnchen und Krumen und dann jet er ſich ganz keck aufs 


Geſchichte einer Grasmücke. 59 


Fenſterbrett, flattert aber gleich wieder zwitſchernd auf mich zu mit 
geſtrecktem Halſe und aufgeſperrtem Schnäblein. 

Geſtern hat mich eine a Kate jehr — Mein Carino 
— er heißt nämlich Carino — ſaß auf dem Tiſche, wo er alles unter- 
einander warf und taujend Dummbheiten trieb, wobei er immer mit 
feinen Schelmenaugen nad) mir blidte, als plöglich die jchwarze 
Kage mit einem Sprung auf dem Tiſchchen war und die Tate nach 
ihm ausitredte. Ich jchrie auf, der arme Carino jchrie ebenfall® und 
log auf mich au. weiß nicht, wie ich ihn mit beiden Händen an 
meer Bruſt barg; wir zitterten beide jo. Das ganze Haus lief auf 
meinen Schrei zujammen. Meine Stiefmutter jchalt, daß ich je um 
ein Nichts jo erjchredt habe und Air te, daß ich über ſolche Kındereien 
hinaus jei; dat die Kate ihre B ich gethan, wenn jie Carino gefan- 
gen hätte. Giuditta lachte und Gigi, das Närrchen, die Katze 
auf mein Vöglein, welches ic noch im Schoße hielt und deſſen Herz- 
chen vor Angſt jo wild und heftig Elopfte Von diefem Morgen an 
vergaß ich nie mehr meine Kammerthüre zu jchliegen. 

Ih haſſe aber die Kate, aber deſto mehr liebe ich den Hund des 
Berwalters, einen jchönen Wachtelyund, gan chwarz und jo groß, 
dat ich mich anfangs vor ihm fürchtete, ar. er mir jeßt jchweif- 
wedelnd die Hände ledt und fich lie er anfchmiegt, indem er mir 
mit jeinen großen, Eugen Augen jagt, aß er mich lieb hat. Im der 
That ijt er mein Freund, mein Bejchüger, der mich auf meinen Spazier- 
gängen begleitet, mic) nie verläßt, vorausläuft, um den Weg zu über- 
bliden und bellend und jchweifwedelnd zu mir zurüdgeiprungen kommt. 
Wenn ich ihn rufe, jo weiß er jchon, daß die Zeit des Spazieren- 
gehens gekommen iſt — fie fommt wohl zwanzigmal des Tages — 
dann jolltejt Du jein Freudengeheul hören, jeine Sprünge und Lieb- 
a = jehen! 

erzähle ich Dir von meinem Hund, meinem Sperling, von 
der Kate und habe Dir noch nicht gejagt, daß wir Nachbarn haben, 
die uns oft bejuchen, die Abende hier zubringen, um mit meinen Eltern 
zu jpielen und in deren Gejellichaft wir bei Sonnenuntergang oft 
Ihöne Spaziergänge machen. Sie bewohnen ein Häuschen im Grunde 
des Thales, nicht weit von dem unjrigen, jo daß wir es von unfern 
Fenſtern aus jehen fönnen. Es ijt die Familie Valentini, kennſt Du 
je? Bapa und Dlama jagen, e3 jeien brave Leute. Ich und Annetta, 
ihre Tochter, die fajt in gleichem Alter mit mir ift, find ſchon Freun— 
dinnen. Doch nicht jo wie Du und ich, Get nicht eife ut, denn 
ih liebe — noch weit mehr als ſie, und ich will auch, daß Du mich 
mehr als alle Deine übrigen Freundinnen liebſt. 

Wann ſchreibſt Du mir? Wie lange ließeſt Du mich auf Deinen 
Brief warten! Läſſeſt Du mich wieder vierzehn Tage vergeblich 
— dann werde ich die neue Freundin lieben als Dich! 
Ddenke daran! 

P. 8. Ich vergaß Dir mitzutheilen, daß die Valentinis außer 
Annetta auch einen Sohn haben, einen jungen Mann, der öfters mit 
ſeiner Schweſter zu uns kommt und der Antonio heißt; doch wird er 
Nino genannt. 


60 Gefchichte einer Grasmũcke. 


27. September. 

Marianne, warum bijt Du nicht hier, um Dich mit mir zu freuen? 
Warum kann ic) Dich nicht in meine Arme fchliegen, um Dir jeden 
Augenblid zu jagen: „Sieh, wie jchön iſt dies? Wie herrlich jenes 
dort? Dir zu zeigen wie F rear Ne mein Gott, glücklich, daß 
ic) es nicht noch mehr fein Lönnte. a3 würde erjt fein, wenn Du 
hier wärejt! 

Gejtern gegen Sonnenuntergang haben wir mit den Balentinis 
einen jchönen Spaziergang im Kaſtanienwalde gemacht. Welch jchöner 
Wald! Wenn Du ihn jaheit, Marianne! Ein erquidender Schatten, 
einige Strahlen der jinfenden Sonne, welche \ durchs Laubwerf 
Stable, ein ernjtes, langgezogenes Raujchen in den höchiten Zweigen 
der Baumwipfel, VBogelgejang, der von Leit zu Zeit durch tiefites, 
— Schweigen unterbrochen wird. Mean möchte fich faſt in die— 
en ungeheuren ogengängen unter de Zaubwölbungen fürchten, 
aber dieje Furcht jelbit it entziidend. Die trodenen Blätter kniſtern 
unter unjern Füßen. Dann und wann fliegt ein aufgejchredter Vogel 
mit plöglichem Rauſchen unter den Blättern auf, die ihn faum ver- 
deden. Vigilanti, unjer ſchöner — läuft luſtig bellend den erſchrocke— 
nen Amſeln nach. Annetta, Gigi und Giuditta gehen Arm in Arm 

eſchlungen, ſingend voraus. Der Signor Nino folgt ihnen, mit der 

linte über der Schulter. Die anderen kommen langjam nach und 
rufen von ge zu Beit den Voranjchreitenden zu, langjamer zu Vet 
denn der Aufitteg des Berges iſt bejchwerlid. Signor Nino bejigt 
auch einen jchönen Hund, eine Brade mit langem Behang, Ichwarz- 
— und Ali — Giuditta und Annetta blieben jeden 
lugenblick mit ihren langen Röcken an den Dornen hängen; ich aber 
nicht, kann ich Dir verfichern! 2 lief, jprang, ohne au Straucheln, 
noch an den Heden mit meinem leide hängen zu bleiben. Signor 
Nino holte mich ein und riet) mir, mich vor dem Fallen in Acht zu 
nehmen, er jorgte fich um mid). Hätte id) mich nicht gejchämt, jo * 
ich gern den jungen Herrn zu einem Wettlauf aufgefordert. Ginditta 
flagte beitändig über Müdigkeit. Was find das Mir Mädchen, Ma- 
rianne! Nicht zehn Schritte können fie aan, ohne jich auf den Arm 
eines Mannes Bien zu müſſen und Stüden ihres Anzugs an den 
Dornen hängen zu lajjen. Da geht's mir bejjer in meiner gejegneten 
Kloſtertracht. Signor Nino bot mir wohl zwanzigmal feinen Arm 
an; als ob ich ihn nöthig gehabt hätte, ih! Es war, als ob er mich 
damit ärgern wollte. Warum bot er ihn meiner Schweiter nicht an, 
die jo über die Beſchwerde des Bergſteigens Elagt und feiner Hilfe 
bedurfte? Sie, aber ich nicht! 

Als wir den Berggipfel erreicht hatten, welch ein Fernblid! Der 
Kaftanienwald reicht nicht bis auf die Höhe und man überblidt von 
hier einen unbegrenzten Horizont. Während die Sonne auf einer 
Seite verjanf, jtieg der Mond auf der andern empor. Hier und dort 
eine andere Dämmerung. Der Schnee des Aetna jchien Feuer zu fein; 
einige Wölkchen, die im Aether jchwammen, waren durchjichtig wie 
Schneefloden. Ein kräftiges Duften entjtieg der Vegetation des Ge— 
birges; rings eine feierliche Stille; dort unten das Meer, welches im 
©ilberglanz des aufgehenden Mondes zu leuchten beginnt; jene Häuſer— 


Gefchichte einer Grasmücke. 61 


gruppe in der Ferne muß Catania fein, die große Stadt; Die weite 
ẽbene im — von einer blauen Gebirgskette umgrenzt, durch⸗ 
zieht ein ſchimmernder, geſchlängelter Silberfaden, der Simeto, und 
dann ſtufenweiſe zu uns aufſteigend, welche Menge von Gärten, Wein— 
bergen, Dörfern, die den Klang des Ave Maria zu uns emporſenden. 
Die prachtvolle Kuppe des Aetna erhebt ſich hoch über alles, ſeine 
Schluchten haben ſich ſchon ſchwarz gefärbt, ſein Schneegewand flim— 
mert im letzten Sonnenroth, ſeine Wälder brauſen, murmeln, zittern 
im Nachtwind. 

Marianne, das ſind Stunden, wo ich weine, wo ich allen, die mir 
nahe ſind, die Hand drücken möchte und ge) fein Wort hervorbringen 
fann, während taujend Gedanken meine Seele beſtürmen. Warum 
drücte ich nicht die Hand des Signor Nino, der neben mir ftand? 
Bin ich nicht thöricht ? 

Ih glaube, daß alle gleich mir in diefem Augenblid empfanden, 
denn alle jchwiegen gleich mir. Auch Signor Nino, der immer jo 
luſtig iſt, auch er ſchwieg. 

Dann ſtiegen wir laufend, Kae ger lachend bergab, machten die 
Vögel fürchten (die indejjen uns noch mehr fürchten machten, wenn 
jie jo plößlich aus dem Laube ausflogen), verjtedten uns hinter den 
Bäumen, obgleich unjere Eltern bejtändig Hinter uns herriefen, nicht 
zu laufen. Alt und Bigilante nahmen jpringend und bellend Ei an 
iejer Luft. Dann und wann tauchte aus dem ungeheuren atteıt 
über uns ein Mondenitrahl hernieder, glitt an den verfilberten Zwei— 
gen abmwärt3 auf das todte Laub, welches den Boden bededte, auf 

iien dunklem Grund er jeltiame Bilder malte. Signor Nino lief, 
nicht ernjthafter al3 wir alle, gleich uns wie ein ausgelaffenes Kind. 

weis oder dreimal überholte ih ihn und bin jehr ſtolz darauf. 
Einen Mann bejiegen! Es war dunkel unter den Bäumen, die ans 
deren und auch er waren weit hinter mir zurüdgeblieben; ich jtand 
feuchend und athemlos, aber ich fürchtete ag nicht, da ich das Hunde: 
gebell vernahm. Und dann, hatte Signor Nino nicht ferne Flinte zu 
unjerem Schuße bei ſich? 

Als wir aus dem Walde traten, war e3 ein neues Glück, Die 
erleuchteten Fenſter unſeres Häuschens zu erbliden. Weißt Du, wie 
es jo bejeligend ift, auf dem Lande, im Schweigen der Dunkelheit, 
von fern jenes gajtliche, zutrauliche, heimatliche Licht zu jehen, welches 
una winkt, una führt und einladet, uns all jene Freuden des — 
lebens, die lieben vier Wände des Vaterhaujes vor die Seele führt? 

Wie vertraut find wir jeit acht Tagen mit unjeren Nachbarn 
ihon geworden! Scheint es doch, als ob uns alle zwanzigjährige 
Freundſchaft verbände. Annetta ijt ein liebes Gejchöpf, fie ad nicht 
über meine Kloftertracht und meine feltfamen Manieren der Klofter- 
venfionärin. Wir find von früh bis abends beifammen. Wenn ich 

ir nun anvertraue, daß ich auch zu fpielen angefangen! Ums 
Himmels willen jag’ e8 feiner lebenden Seele wieder. Doch noch ver- 
ſtehe ich's nicht recht und verliere ſtets. Doch Signor Nino iſt jo 
gut, mir ftet3 zu rathen und zu helfen und entjagt jelbjt dem Spiel 
meinethalb. Wenn ic) ins Kloſter zurückkehre, verjpreche ich Dir, alle 
vierzig Karten zu vergejjen 


62 Gefchichte einer Grasmũcke. 


Das Kloſter! Mein Gott! Das ift die einzige Wolfe, die dieſen 
lachenden Horizont verdüjtert. Doch denken wir jest nicht daran, 
meine Marianne! Laß uns froh und heiter jein und mag es dann 
werden wie Gott will! 

Und indejjen wir hier der Gefahr fern, jicher und ruhig find, 
weinen jo viel Arme, leiden und jammern! So viel Elend, jo viel 
Thränen, jo viel Opfer! Die Nachrichten, die alle vier bis fünf 
Tage zu uns gelangen, find jehr traurig. Herr Gott, erbarme Did) 
der Bedrängten! 

Wie viel Argwohn und Entjegen! Du weißt, daß unſere Lands: 
leute an Vergiftungen glauben, an vergiftete Raketen, was weiß ich! 
Sie find wie ich, wenn ich mich fürchte, ſehe ich Geſpenſter. Daher 
fieht man während der Nächte in den Thälern und auf den Bergen 
die Wachtfeuer leuchten; hört man unterbrochene Flintenſchüſſe, als ob 
fie damit den Wölfen in Menjchengeitalt Angſt einflögen wollten! 
Das ijt ſchrecklich, fürchterlich. 

Da bin ich auch traurig geworden. Und vor wenigen Augen- 
bliden ga ih Dir von unjeren Freuden. Du erzählt mir auc) 
von den Deinigen. Doc) glaube mir, jie fommen den unjerigen nicht 

feih. Du ſagſt mir auch, daß Du nicht wieder ins Kloſter — 
ehrſt. Du Glückſelige! Doch wenn ich ohne Dich dahin zurückkehren 
müßte? Jetzt will ich mich freuen, Gott mag für das andere ſorgen! 
Garino ijt geheilt, iſt derer) und etwas — ggg er iſt 
jo fe, daß er es ser mit der Kate aufnehmen würde. Der arme 
Vigilante befam einen böjen Stockſchlag vom Berwalter und fam win— 
jelnd zu mir, um mir jein Leid zu Elagen. Ich liebkofte ihn umd 
habe immer einen guten Biſſen für ihn. Nun verläßt er die Schwelle 
meiner Kammer nicht mehr. 

Nun habe ich Dir wohl nicht? mehr mitzutheilen vergefjen. 
Schreibe mir bald einen langen Brief. Sage mir, daß Du ei lieb 
haft und auch meine Annetta, die Dich auch liebt. 

Addio! Addio! 


1. Oftober. 

Wenn Du wüßteſt, Marianne, wenn Du wühtejt! Welch eine 
Sünde habe ich begangen! Ich will Dir’s ins Ohr jagen: Ich habe 
getanzt! Hört Du! Getanzt! Wir waren alle beifammen; meine 
Eltern, Giuditta, Sigi, Annetta, Signor Nino. Mit ihm babe ic) 
getanzt! Höre alfo: Es war nicht meine Schuld, man zwang mic) 
dazu. Die Balentinis hatten ihr Harmonium mitgebracht. Annetta 
jpielte, dann Giuditta. Alle tanzten, Annetta, meine Schweiter und 
Sigi auch. Man hatte das Bett Giudittas entfernt, um einen fleinen 
Tanzjalon herzujtellen. Nachdem er mit Giuditta getanzt, forderte 
Signor Nino mich zum Tanze auf. Ich fühlte wie ıch erglühte und 
wünjchte mich hundert Ellen unter der Erde. Ich jtotterte, ich wei 
nicht was. Ich Ichnte e8 ab zu tanzen, ich ſchlug es ihm wohl hun— 
dertmal ab; ich ſchwöre es Dir. Alle lachten und Elatjchten in die 
Hände Papa nahm endlicd) lachend meine Hand, ftreichelte mich und 
jagte, e8 jei am Ende feine große Sünde, wenn id) tanze. ch ver- 
3 die Entgegnung, daß m ja nicht tanzen könne, dat man's mic) 


Geſchichte einer Grasmũcke. 63 


im Kloſter a gelehrt hätte. Signor Nino beitand darauf, mich's 
3 [ehren, mich zu führen und jo ließ ich mich führen, fühlte mich 
ortgezogen, ich jah nichts mehr, ein Schwindel überfam mid), meine 
Ohren füllte ein Braufen und meine Beine zitterten, ich wußte nicht, 
was mit mir geichah. Wie ich litt! Marianne, und doch, er hielt 
meine Hand, jchlang jeinen Arm um meine Taille, feine Hand jchien 
zu brennen, ſie machte das Blut in meinen Adern glühen, fie trieb 
mir eine Eiswoge in mein Herz! Doch danır jchien es mir, als über: 
riejele mich ein Trojtgefühl. Mein brechendes Herz fühlte, wie ein 
anderes Herz in jeiner Nähe Elopfte. Alle hatten mich verlacht. Lache 
aud Du. Ja, aud) ich lache jett über mich. Welch ein J nges Mäd— 
hen unjeres Alters hat wicht jchon zwanzigmal getanzt? Wer weiß, 
ob nicht jedes beim eriten Mal lg empfindet wie ich? 

Doch muß ich Dir gejtehen, daß dieje Muſik, dieje frohen Ge- 
fihter, die Worte, die er mir ins Ohr rar jeine Hand, die die 
— meine Verlegenheit beinahe beſchwichtigte, — ſoll 
ich Dir die — geſtehen, meine arme Marianne! — beinahe, 
beinahe mich ückte! 

Verzeih, Marianne! Uebrigens glaube ich), daß fie mich nun in 
aan [nflen werden; fie werden genug gelacht haben über mein Klojter- 
fleid und meine Ungejchidlichkert; auch er, auch er! Doch nein! ch 
si 2 eu Ri daß Signor * Ay = ie * a um 

tch lächerlich zu machen; er hatte den Wunſch, mich zu erfreuen. 
War er nicht gut umd (ieb mit mir, der armen lofterkhüferin. die 
ſich nicht N bewegen verjteht, bei jedem Schritte jtrauchelt, zu fallen 
meint? Und er, der jo jchön tanzt! Hätteft Du ihn mit Giuditta 
tanzen jehen! Er verjteht zu tanzen, er! Ne 

Später wurde etwas Muſik gemacht. Annetta und Giuditta jangen 
einige ſchöne Opernarien. Hierauf verlangte man auch durchaus, daß 
ich fingen ſollte. Sage, was hätte ich denn anders fingen fünnen, als 
das Salve Regina? Sie meinten, daß fie ſich auch mit dem Salve 
Regina begnügen würden. Jedenfalls wollten fie ein wenig Spaß mit 
mir treiben, bejonders mein Papa, der mich am meijten zum Singen 
antrieb. Du weißt, im Chor jangen wir ziemlich im Dunkeln, Hinter 
dem Gitter, mit verjchleiertem Geſicht und nur vor ung befannten Per— 
jonen. Aber bier zu fingen, jo offen, vor jo viel Leuten! Und dann 
vor Eignor Nino! — Dennoch mußte ich fingen. Natürlich nicht die 
Worte, nur die Muſik. Meine Stimme zitterte, der Athem verjagte 
mir; dennoch waren fie jo gütig, Nachjicht mit mir zu haben, nicht zu 
lachen, jogar zu applaudiren. Es muß alſo doch eine ſchöne Melodie 
jein, die des Salve Regina! Ich jah wie a Nıno jo gerührt 
war — mich mit jo eignen Augen anblidte Cr, der ſtets Seitere 
Uebermüthige! 

So habe ich Dir alles berichtet, was ich that, dachte; alle meine 
Freuden und Sünden, ſelbſt auf die Gefahr hin, mir einen Verweis 
von Dir zuzuziehen. vo ic) es doch jelbit nicht vor unjerem guten, 
alten Beichtvater j efennen gewagt. Doch wenn ich Dir, meiner 
Schwefter, nicht all dieſe Dinge erzählte, rg eng ich müſſe daran 
eritiden. Ich muß fie vor mir auf dem ier jehen. Es giebt 
Augenblide, wo eine Ueberfülle von wirbelnden Gedanken meinen Kopf 


* 


64 Gefchichte einer Grasmücke. 


ſchwindeln macht, mich beraujcht, mich betäubt. Bin ich nicht närriich? 
Aber ich glaube, alle dieje neuen, ungewohnten Eindrüde find zu 
heftig für mich, die ich an den Frieden und die Sammlung des ab 
terlebens gewohnt bin. Ich bin glüdlich, daß Hr wenigitens mit Dir 
jprechen, in Dein Herz einen Theil der auf mich einjtiurmenden Em- 
pfindungen ausſchütten kann. 

Schreibe mir recht bald. Tröfte, beruhige Deine arme Freundin, 
die überwältigt von jo viel Fremden, wie ein erjchredtes Vöglein 
zittert vor der Neugier, die es beobachtet, die ihm zwar nichts böſes 
zufügen will, aber e3 doch jchon durch das bloße Anjchauen thut. Sch 
möchte weinen, lachen, jingen, Iujtig jein. Ich brauche einen Brief 
von Dir; ic) muß Deine Stimme hören, verjtehit Du? Meine Ma- 
rianne! Könnte ich an Deinem Herzen mid) ausweinen, das Antlitz 
an Deiner Bruſt verbergen! 


10. Oftober. 

Donneritag war ein jchöner Tag! Des Papas Geburtstag. Ich 
brauche Dir wohl nicht erſt zu jagen, daß mit Tagesanbrud) die ganze 
Familie in Bewegung war und unfer Häuschen von Freude und Luſt 
wiederhallte. Mama hatte jchon einen Fer Ihlachten lajjen und 
überwachte die Vorbereitungen zum Mittagefjen. Giuditta —* Papa 
ein ſchönes ——— jum Geſchenk gemacht, welches fie rn 
gejtikt, um ihn zu überrafchen; ich hatte nichts anderes zu geben als 
einen Strauß Wiejenblumen, die ich jchon beim Tagesgrauen gepflüdt 
hatte und die noch feucht vom Thau der Nacht waren. Es war ein 
armes Sträufchen, das meine, und doch erfreute es meinen Vater ebenjo 
wie Giudittens jchönes Gejchenf und er umarmte uns beide mit Thränen 
in den Augen. Unjere Freunde ftellten jich auch jchon in der Frühe 
ein, nachdem jie 7 Kommen durch Freudenrufe, Flintenſchüſſe und 
Alis luſtiges Gebell angekündigt hatten. Welche Luft! Sie brachten 
Blumenjträuße mit, doch jolche von ſchönen Gartenblumen, die jie aus 
DViagrande hatten kommen laſſen. Meine armen — ſtanden 
ganz verſchämt neben dieſen prächtigen Schweſtern. Sie ſchenkten auch 
einen ſchönen, tags vorher geſchoſſenen Haſen, der Mama mehr Freude 
machte als die Blumen. Der alte Herr Valentini geht nicht mehr auf 
die Jagd, ſein Sohn hat den Haſen geſchoſſen; ich muß Dir geſtehen, 
daß ich ſeit einiger Zeit die Jäger nicht mehr ſo haſſe, das wird die 
Gewohnheit bewirken. Wie können wir De überhaupt die Ver: 
gnügungen der Männer richtig beurtheilen? Papa lud unjere Freunde 
zum Mittagefjen ein. Es war ein jo jchöner Tag! Man fang, man 
lachte, man war jo lujtig, tanzte jogar. Ich nicht, hörſt Du! 

Nad) dem Ejjen machten wir einen Spaziergang. Der Abend war 
herrlich; ee ic) war, ich weiß nicht warum, ei jo froh, jo zufrie= 
den, wie alle die andern, nicht jo, wie n e3 früher gewejen. Sch 
laujchte dem leifen Raufchen des fallenden Laubes, hörte dem Braujen 
in den Baumwipfeln zu, dem fernen Ruf der Ohreule; ich fühlte mit 
Behagen die Furcht, welche mich, wenn ich allein zurücblieb, in dem 
dunklen Gebüjch überfam und mir die Thränen ins Auge trieb. 

Welches Geheimniß lebt in unjerm Innern, Marianne? Hätte 
ich nicht froh an jenem Tage jein müſſen, als alle die anderen es 








Profeffor Alma Tadema. 


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Geſchichte einer Grasmüdke, 65 


waren? Ich verjtehe mich jelbjt nicht. Mein Gehirn mag wohl jo 
wunderlicher Art fein, daß ihm die Stille des Kloſters am beiten be- 
hagt und daß es fich außerhalb dejjelben erregt, beängjtigt, unruhvoll 
fühlt, ja jelbit ein wenig närrijch wird. 

Lebwohl! Ich jchreibe bald wieder. Diejer Brief ijt furz, ins 
terejjelos und ich bin Div einen jchönen, langen Brief jchuldig, in dem 
ich Dir nod) hundert Dinge vorplaudern muß, die mir im Sinn liegen. 
Aber verzeih, ich bin heut nicht bei Stimmung, bin müde, überwacht, 
babe den Kopf nicht vecht Har. Auf morgen denn. 





| 23. Oftober. 

Du machſt mir Vorwürfe, dat ic) Deinen letzten Brief ohne Ant- 
wort gelajien habe; habe ich mir doch jelbjt ſchon Borwürfe gemadt. 
Ich weiß nicht, was mir fehlt; die kleinſte Arbeit, die geringite Be— 
ichäftigung ermüdet.mich, ich bin eine Träumerin. Den ecben langen 
Tag möchte ic im Schatten der Kajtanien jigen, die ganze Nacht die 
Augen nad) dem gejtirnten Himmel richten. Alles was mich gefreut, 
ift mir langweilig geworden. Ich mag nicht mehr im Kajtaniemvald 
(uftwandeln, nicht — ſingen, ich lache a alles verdrießt 
mich. Deine arme Maria iſt jo traurig Weit jelbit das Warum 
nicht. Vielleicht wollte der Herr mir zeigen, wie flüchtig alle Luſt und 
alle Freude außerhalb des Kloſters ri D, mein Gott! Es giant jetzt 
Augenblicke, wo ich mich faſt vor mir ka fürchte! Denn jelbjt mein 
Gebet iſt zeritreut. Mein Gott! Bergieb mir! Tröfte mich! Mein 
Gott, ſtehe mir bei! 

Mein Carino iſt faſt wild geworden, da ich jeit vielen Tagen 
mic) nicht * mit ihm abgebe. Er flieht mich. Bin ich denn jo 
ſchlimm geworden? Vigilante fommt nicht mehr, um mir feine An- 
hänglichkeit zu zeigen, da er weiß, daß er mir läjtig iſt. 

Wenn i anf wäre, Marianne? Ic flüjtere Dir's leije zu, 
daß ich beinahe wünjche, krank zu jein, da dann all diefe Müdigkeit, 
dieje Berjtimmung der Seele doc) einen Grund hätte, der mich nicht 
erichredte. Du, die Du gelund, heiter, glücklich biſt, jchreibe mir bald. 
Liebe mich, hundert Mal mehr als bisher, denn ic) liebe auch Did) 
jo unſäglich. Das einzige klare Gefühl in mir ijt eine große Zärt— 
ee für meine Lieben, für alle die ich fenne, wie um jo mehr für 
Dich! 

2. November. 

Marianne, ic) weiß jest, daß für uns jchwache, ſchüchterne Herzen 
all dieſer Lärm der Welt, diefe mächtigen Erregungen, alle dieje Ver: 
gnügungen ein ungejundes Uebel jind. Wir jind verzärtelte, an dei 
warmen Schu des Glashaujes gewöhnte Blumen, welche die freie 
Luft tödtet. 

Weißt Du wohl, wie ich Div vor zwei Monaten jchrieb, daß ich 
heiter und glüdlich jei? Wie jede neue Empfindung ein neuer Schaß 
für mein glücsbedürftiges Herz jei? Wie ich dem lieben Gott danfte 
tür alle jene Frohgefühle, denen meine Seele ſich glüdjelig hingab? 
Es iſt wahr, aber Her ijt aud) alles, was die Nonnen uns jagten 
und was Pater Anjelmo uns von der Kanzel wiederholte: die wahren 

Der Salon 1887. Heft VIL Band IL. 5 


66 Geſchichte einer Grasmücke. 


ruhigen, heiteren, bejtändigen Freuden jind die des Ktlojterlebens. Sch 
vermag den Grund nicht zu begreifen, weiß aber jegt, daß die Freu— 
den der Welt nicht von Dauer find. Ich habe es erfahren, ich, die 
"id en jo verändert fühle. | 

Alles ermüdet, drüdt mic), macht mich verjtimmt; alles giebt mir 
Anlaß zur Unruhe, zu Beängjtigungen, zum Schreden jogar. Ich 
verjtehe dieje inneren Dorgänge nicht, die meine Stimmung aus einer 
plöglichen närriichen, fieberhaften Heiterkeit in eine Traurigfeit um— 
wandelt, die mir Schreden einflößt. Ich fühle mich unglüdlich in— 
mitten der herrlichen Gaben des Schöpfers, die ich früher pries. 

Ich möchte mich in die treuen Klojtermauern flüchten, möchte mich 
in jenem Chor auf meine Kniee werfen. Ich möchte die Füße Des 
Gefreuzigten umfajjen. Ich möchte Dich küſſen und an Deinem Herzen 
den Toten ausweinen, der mich zu eritiden droht. 

Verlache mich nicht, Marianne; beflage zu eher. Bedaure mid), 
die ich jo betrübt bin, ohne den Grund diejer Betrübniß zu verjtehen, 
die ich vielleicht jündhaft und undankbar gegen Gott bin, der mic) 
mit jo viel Segnungen überjchüttete, undankbar gegen meinen guten 
Papa, der meine Traurigfeit mit taufend Liebfojungen zu verjcheuchen 
jucht, undankbar gegen meine Angehörigen, gegen meine Freunde. 

Ih kann nicht mehr — vor Weinen. Faſt die ganze Nacht 
habe ic) am Fenſter zugebracht, meine Augen in die Dunkelheit ge- 

— die von Geiſtern belebt zu ſein ſchien, dem fernen Hundegebell 
und dem Summen der Nachtinſekten lauſchend, ohne mich zu fürchten. 
Schreibe mir bald, ich weiß Dir heute nichts mehr zu ſagen. 


10. November. 

Du biſt, geliebte Marianne, in Unruhe wegen meines Seelen— 
zuſtandes. Du richteſt eine Menge Fragen an mich, die ich nicht ver— 
ſtehe, die mich verwirren, auf die ich keine Antwort habe; Du forſcheſt 
in meinem Innern, wie ich es ſelbſt nicht zu thun vermöchte. Wäreſt 
Du hier und ich könnte, unter dem dichteſten Schatten der Kaſtanien, 
mit meinen Armen Dich umfafjend, Dir alles ins Ohr flüjtern, jo 
würdejt Du vielleicht, die Du jchon eine Weltdame biſt, nicht mehr 
ing Klojter zurüdfehrit, meine ‚ragen beantworten, meine Zweifel 
jchlichten, mic) tröften, beruhigen, das Räthſel löſen. 

Doch was fünnte ich Dir jchreiben, Deine Fragen jogar machen 
mich bejtürzt. Weßhalb fragit Du mich, warum ich in meinen legten 
Briefen, die jo ſchwermüthig find, der Familie VBalentini nicht mehr 
Erwähnung thue, während ich in meinen früheren, heiteren Briefen ſo 
viel von ıhmen jchrieb? Weßhalb haft Du bemerkt, daß in meinen 
eriten Briefen der Name des Signor Nino wohl zwanzig Mal vor- 
fommt, der in den leßteren mit einer jo auffallenden bfichtlichteit 
vermieden iſt? Wie fommjt Du darauf? Ich jelbit bin es nicht ge— 
wahr geworden. Aber Du haft vecht und ich bemerfe jegt, daß ich 
* gewiſſermaßen zwingen muß, ihn niederzuſchreiben. du wirſt 
finden, daß meine Hand beim Schreiben dieſes Namens gezittert hat. 
— Und wenn Du mein Geſicht ſäheſt! 

Marianne! Meine Marianne! heute ſchreibe ich Dir nun alles. 
Mein Herz will ich offen in Deine Hand legen. Du wirſt es, beſſer 


Geſchichte einer Grasmũcke. 67 


als ich es ſelbſt kann, fragen, reg — Du wirft mir — 
was ich thun muß, um jene Krankheit, die mich befallen, zu beſiegen 
und wieder luſtig, Br eng glüdlic) zu werden. Du öffnejt mir 
Deine Arme. 

Es muß alfo doch etwas jchlimmes fein, was ich da innen 
fühle, weil ich gezögert habe, e& Dir zu gejtehen, weil ich mir fast 
Ihuldig erſchien, von einem Hanaitgefäht, einer unbejchreiblichen Un: 
ruhe erfüllt war, als hätte ich gleichjam vor aller Augen etwas zu 
verbergen und als ob alle ihre Augen fic auf mich gerichtet hätten, 
um mein Geheimniß zu entdeden. 

Welches Geheimniß iſt es? Mein Gott! Ich jelbit weiß es — 
u nennen. Aber Du ſollſt alles wiſſen und wenn Du es entdeckſt, 
verſpreche ich Dir, es zu bekämpfen, falls es etwas böſes oder 
eine Verſuchung iſt. 

Ich Habe mich genau beobachtet, um zu erfahren, woher dieſe 
Beängjtigung entjpringen mag; habe alle meine Gefühle, Gedanken, 
Beihäftigungen, die Perjonen, mit denen ich verfehre, die Gegenitände, 
die ich jehe, einer Mufterung unterzogen. — Ich fand nichts, bis auf 
— doch Du wirft mich thöricht finden und auslachen. 

Ich habe üfters gejchrieben, daß wir mit der Familie Balentini 
eng befreundet worden find, Alnnetta ijt mir eine andere Marianne 
geworden. Doch Du hajt den Gedanken in mir erwedt, daß ihr Bruder 
einen gewijjen Eindrud auf mich gemacht hat. Das ijt richtig; ich 
möchte jagen, daß er mir fajt ur, ein t. 

Nein, nein, das war jchlecht, Marianne! Berdamme mich nid)t. 
Es ijt eine Narrheit, eine — Anſicht, die ich bekämpfen werde, 
denn jener iſt ein ganz vortrefflicher Menſch und ſogar voll Aufmerk— 
ſamkeiten für mich. Doch kann ich mir von dem Eindruck, den er auf 
* ausübt, nicht genau Rechenſchaft ablegen. Es iſt nicht Wider— 
wille, nicht Abneigung — aber ich fürchte ihn; doch ich erröthe jedes— 
mal, wenn er mir begegnet, ich erblaſſe, ich zittere, möchte entfliehen. 

Doch ſpricht er zu mir, ſo höre ich ihn an, bleibe in ſeiner Nähe 
— ich weiß nicht warum, doch ſcheint es, daß ich nicht die Kraft habe, 
mich zu entfernen, und dann fällt mir ein, was Pater Anſelmo vom 
Zauber des böſen Geiſtes uns gepredigt, und Furcht erfaßt mich. 

Mein Gott, ich ſage hiermit nicht, daß es ſo ſei, es iſt ja nur 
ein Vergleich. Ich möchte Dir nur den Eindruck klar machen, den er 
auf mich ausübt. 

Doch er iſt höflich gegen alle und auch gegen mich. Ich meine 
es ja auch nicht böſe, bin ihm ſogar dankbar für ſeine zartfühlende 
Yufmerkfamkeit 

An einem der vergangenen Tage nad) dem denkwirdigen Ball 
jagte er zu mir: „Ich danfe Ihnen, Stgnorina“. „Für was?“ „Für die 
Günſt, die Sie mir eriviejen, indem Ste mit mir tanzten. übten 
Sie, wie es mich glüclich gemacht!” — Und das jagte er in einer 
Weiſe, die mich verwirrte. Mein Gott, wie die Männer überjchweng- 
ih in ihren Komplimenten find! — Aber ich weiß nicht, warım er 
mir diefe Worte mit leijer Stimme jagte; auch wollte es mic bedünfen, 
al3 ob er dabei erröthet jei — und vielleicht eben deßhalb fühlte ich 
mich auch roth werden und fand feine Antwort. 

5* 
F 


68 Gefchichte einer Grasmücke. 


Ein anderes Mal jagte er mir: „Wie hübjch Ihnen diefe Tracht 
kleidet!“ Mir jagte er das! Mein altes, jchwarzes Kleid der Kloſter— 
enjionärin! Weßhalb wei ich nicht, aber ich empfand ein großes 
ergnügen, als er jo zu mir Shracb: ich erröthete, jtammelte etwas 
und war verlegen. 

Du wirft mich thöricht jchelten und haft recht, denn es können 
doch nicht nur jeine Schmeicheleien fein, die mich jo verwirren. 

Doc, wenn ich jeitdem feine Stimme höre, bin ich bejtürzt; wenn 
ich feinen Blid it mich gerichtet weiß, fühle ich eine Glut im Antlig 
und einen Schauer im Herzen, ge alles das? 

Höre, Marianne, ic) glaube die Urjache gefunden zu haben. Im 
Klojter machten wir uns von den Männern im allgemeinen und von 
den jungen Männern im bejonderen jo jonderbare Ideen, daß wir 
nun feinem begegnen fünnen, ohne aus der Faſſung gebracht zu wer- 
den. Daher aud) Giuditta, die jünger ijt als ich, dieſe Verlegenheit 
im Berfehr mit ihm nicht kennt. Daher fie mit ihm jcherzen, lachen, 
reden kann, ohne zu erröthen, ohne verlegen zu werden, während ich 
an ihrer Stelle jterben zu müſſen glaube. Aus diefem Grunde — 
Gott verzeihe es mir — jcheint es, als ob ich zuweilen gegen meine 
Schweiter ein Gefühl empfinde, welches dem Neide gleicht. 

O, mein Gott, rufe mich zurüd in die Stille, den Frieden des 
Kloſters! Beruhige meine Seele, erleuchte meine Gedanten! 


16. November. 

Montag traf ich ihn im Kajtanienwald. Zum Glüd war Gigi 
bei mir. Er hatte jeine Flinte umgehängt und jang, ehe er uns ge= 
wahr geworden. Du weißt nicht, welch ſüße Stimme er hat! Sch 
erfanute ihn jofort, doch es war mir, als müſſe mein Herz aus der 
Brust Springen und ich hätte fliehen mögen, jo überwältigte mich jene 
abgeichmadte VBerlegenheit wieder. Sein Hund Ali bemerkte uns aber, 
lieh uns bellend entgegen und liebkojte ung. So mußte ich denn na= 
türlich bleiben, nicht wahr? Mußte mich gleichgiltig ſtellen, obgleich 
ich über und über zitterte. Er wird meine Verwirrung bemerkt haben. 
Er fam näher und reichte mir jeine Hand; ich mußte ihm die meine 
geben, denn hier iſt es Sitte, au) den Männern die Hand zu geben, 
was mir gar nicht gefällt; jo ijt er wohl gewahr geworden, wie meine 
arme Hand zitterte. 

Um — Hauſe zu gelangen, mußte ich den dichteſten Theil des 
Wäldchens durchſchreiten und am Saum deſſelben, der ſehr felſig iſt, 
befinden ſich viel Dornen und Ranken. Er reichte mir — rm 
und jagte, als er bemerkte, wie DE ich zitterte: „Stügen Sie ſich feſt 
auf mich, Signorina, Sie ftraucheln fajt bei jedem Schritt.“ Und es 
war jo. Wir gingen ein gut Stüd des Weges jchiweigend nebenein- 
ander hin, und im Gehen machte ich gefüffentlic das welfe Laub 
unter meinen Füßen raufchen, um ihm jo das Klopfen meines armen 
} ai zu verbergen. Er mochte wohl endlich Erbarmen mit meiner 
Verlegenheit haben, denn er brach plöglich das Schweigen und jagte: 
„Welch fchöner Tag und weld, ein herrlicher Spaziergang!“ Dann 
jeufzte er. Gigi be iagte Nic) über Müdigfeit und Ö, jeßten wir ung 
auf ein Mäuerlein und er dicht an meine Seite. Ich jah nur den 


Gefchichte einer Grasmücke. 69 


Kolben jeiner Flinte, welcher auf dem Boden jeltfame Figuren zeic)- 
nete. Alt fam und legte jeinen Kopf auf meine Kniee, mich mit feinen 
ihönen Augen freundlich anblidend; ich jtreichelte ihn und fein Herr 
ſagte: „Sehen Sie, wie Ali an Ihnen hängt. Lieben Sie ihn?“ Ich 
weiß nicht, weßhalb dieje ganz harmloſe Frage mich jo furchtbar er- 
griff und es jchien mir, alg ob ich den armen Alt ganz unjäglich Lieb 
hätte. rg jtreichelte er auch feinen Hund und ** Hände be- 
rührten jich und die meine zitterte. Das Schweigen wurde mir uner- 
träglic) und ich jtammelte zerjtreut: „Wie jchön Ihr Hund ift, Sig- 
nor!“ 

Weßhalb jeufzte er? Wäre er auch unglüdlih? Seit einigen 
Tagen erichien er mir jchon trübe gejtimmt. rum? — Da überfam 
mi ein Mitleid und eine große — ein freundſchaftliches Be— 
dürfniß, der Wunſch, ein Mann, ſein Freund zu ſein, um meine Arme 
um ſeinen Hals ſchlingen zu dürfen, um zu a welches Leid ihn 
drüde, ihn zu tröften oder doch jeinen Kummer mit ihm zu theilen. 

D ja, ich bin eine große Sünderin und werde viel Buße zu thun 
haben. Denn ich habe noc) jchwereres auf dem Gewiſſen; eine ge— 
waltige Neugier zu erfahren, was ihn jo jehr betrübt. Wir Frauen 
jind ja alle neugierig. Aber Du begreifit, daß ich ihn nicht fragen darf. 

Ich jah ihn ſeitdem nicht mehr allein, nur des Abends mit den 
Eltern. Ich wage nicht mehr allein auszugehen. Aber ich lauſche, ich 
Ipähe an meinem Fenſter und wenn ich jeıne Stimme oder den Pfiff 
höre, mit welchem er feinen Hund auf und ich einen Schatten dort 
unten. aus dem Gehölz treten jehe, Elopft mein Herz, n wie es da 
geklopft, als ich allein mit ihm, Seite an Seite gejeffen und unſre 
Hände fich auf dem Kopf feines jchönen Hundes berührten. 

Wenn ich ihn jehe, verliere ich die Faſſung und deßhalb ver: 
meide ich e8, ihn zu jehen. Doch das ift nicht immer möglich. Ich 
kann nicht entfliehen, wenn er ind Zimmer tritt. Aber ich fühle dann 
die wilden Schläge meines Herzens und möchte fterben, um mein Er— 
vöthen zu verbergen. Es jcheint mir, als richteten ſich aller Augen 
auf — und frügen, weßhalb ich erröthe. Und ich — mein Gott — 
ich wüßte es nicht zu ſagen, ich weiß es ſelbſt nicht. Doch ich benutze 
den erſten Anlaß, um in mein Kämmerlein zu flüchten und, mein er— 
glühendes Geſicht in die Kiſſen verbergend, in heiße Thränen auszu— 
brechen. Warum weine ich? Es De mir, das Weinen thue mir 
gut und erleichtere mich von einer jchweren Laſt. 

Da, geitern Abend, da ich meine Thränen trodnete, jah ich einen 
Schatten am Fenſter. Er war es! — Seine Ellbogen hatte er auf 
das Fenſterſims gelehnt und hielt das Geficht auf die Hand geſtützt. 
Stelle Dir meinen Schred vor! Auch er war jehr — Er wollte 
lächeln und ſein — war ſo traurig, daß ich glaube, er weinte. 
Dann flüſterte er: „Warım Koi Cie mid, Signorina?“ Es war 
mir, als müfje ſich der Erdboden aufthun, und mic) verjchlingen. 
Zum Glück fam meine Schweiter. Mit größter Anjtrengung bemühte 
ich mich, Faſſung zu erringen oder doc) eine ruhige Miene zu heucheln 
und begab mich Dam zu den anderen, welche ſich vorm Hauſe ver- 
jammelt hatten. Giuditta jaß neben ihm, |prach, lachte, war ganz 
ruhig, zitterte nicht — jie! — 


70 Gefchichte einer Grasmũcke. 


ie das Klofter ift meine einzige wahre Zuflucht! Alles hier 
außen iſt Schreden und Leiden! 

Ad, fie werden mich für jchlecht halten und Er vor allem! Gott, 
ber in meinem Herzen liejt, weiß, daß ich e& nicht bin, daß vielmehr 
meine Schüchternheit, meine Gewohnheiten, die jo von den ihren ab— 
weicht, n jo erjcheinen lafjen. Doch wer wird mir hier Glauben 
fchenfen? ALS gejtern Abend alle ins Haus gingen, weil die Abend- 
fühle zugenommen hatte, trat ev an mid) heran, blaß, traurig, erfahte 
meine Hand, die jo bebte, daß ich nicht die Kraft bejaß, fie ihm zu 
entziehen. Und er fragte mit jeiner ſüßeſten Stimme: „Was that ıch 
Ihnen, Signorina, daß Sie mich fliehen?“ 

Mein Gott, zu jeinen Füßen hätte ich mich werfen, feine Ver— 
gebung erflehen, dm jagen mögen, daß er II täujche, daß es nicht 
meine Schuld ei. Ich weiß nicht, was ich hervorjtammelte. Annette 
trat auf uns zu, ich riß mich von jeinem Arm los und brach in 
Thränen aus. 

Marianne, juche einen Troſt für = hilf mir! Auch) Du ver- 
läſſeſt mich. Ich bin allein, un unſelig. Bitte Gott, daß er 
mich jchnell zurüdführt in jene jtille, bejcheidene Exiſtenz, in jene 
fchweigenden Kloſtergänge, in denen das wilde Geräujc des Welt: 
lebens verhallt und meine erjchrodene Seele nicht mehr jtört. 

Ich habe Dir mit thränenumjchleierten Augen gejchrieben, ich weiß 
nicht mehr was. Berzeihe mir und liebe mich! 





17. November. 

ALS ich gejtern Abend, nachdem er mir jene Worte gejagt, ins 
—— trat, wo die Meinigen und die Valentinis ſich * 
onnte ich meiner Bewegung jo wenig Herr werden, daß alle dieſelbe 
bemerften. Meine Schwejter machte einen Auftritt; warf mir vor, daß 
id) ein — Mädchen, daß ich launenhaft ſei, mich eben 
jo grundlojen fröhlichen, wie trüben Stimmungen bingebe. Mein Vater 
verjuchte e8, mich durch Unmohljein zu — 

Alle die anderen ſchwiegen. Dieſe Marter währte eine halbe 
Stunde. Dann erſt durfte id mich in mein Kämmerchen einschließen 
und den Herrn inbrünjtig bitten, mich zu ſich zu rufen. 

Ich verbrachte eine Nat Nacht, ohne ein Auge jchliegen zu 
lie Ich habe mein Herz erforicht und Schreden hat mid) er- 
griffen. 

Marianne, wenn ich nicht — mich an meinem Vater zu 
verſündigen, Giuditta, meinen Bruder, ul alle die mich Lieben zu 
betrüben, jo möchte ich an der Cholera jterben! Addio! 


20. November. 

Marianne, Marianne! Ic liebe ihn! Ich Tiebe ihn! Erbarme, 
erbarme Dich) mein! Verachte mic) nicht! Ich bin ſehr unglüdlich! 
Vergieb mir! 

Mein Gott, warum dieje harte Strafe? Weld eine Sünde! Mein 
— * habe ich geweint! Mein Gott, giebt es eine Elendere als 
ich es bin 

Ich liebe ihn! Welch furchtbares Wort! Sünde! Verbrechen! Aber 


Gefchichte einer Grasmücke. 71 


es wäre vergeblich, es mir vor mir jelbjt zu verhehlen. Die Sünde 
it ftärfer als ich. Ich habe verjucht, ihr zu entrinnen, aber jie hat 
mich gepadt, preßt ihr nie auf meine Bruft, jtößt mein Angejicht in 
den Schlamm. Mein ganzes Wejen ijt von diefem Mann erfüllt; mei 
Kopf, mein Herz, mein Blut. In diefem Augenblid, da ich Dir 
ihreibe, jteht er vor mir, in meinen Träumen, in meinem Gebet. Ich 
vermag an nichts anderes zu denken; mic) däucht, jeden Augenblid 
müßte jein Name jich auf meine Lippen drängen, jedes Wort, welches 
ich jpreche, müjje ji) in jeinen Namen verwandeln. Wenn ich ihn 
böre, bin ich Ielig, wenn er mic) anblidt, erfaßt ” ein Zittern. Ic) 
möchte in jeiner Nähe jein und entfliehe vor ihm. Ich möchte jterben 
für ihn. Alles dies, was ich für diefen Mann empfinde, ift neu, jelt- 
am, furchtbar; es iſt jtärfer als die Liebe, mit welcher ich meinen 
Vater, jtärfer als die, mit welcher ich Gott liebe. Es iſt das Gefühl, 
weiches jie in der Welt „Liebe“ nennen. Ich weiß es, ich fühle es. 
Es iſt fürchterlich, grauenhaft. Es ijt Gottes Strafe, die Verdamm— 
niß, das Verlorenjein! Marianne, ic) bin verloren; bete für mich! — 

Geitern hatte er fi, in Gejchäften für feine Familie nad) Ca— 
tania begeben. Er hätte mit dem Omnibus von Trecaitagne vor Abend 
Ir zurück jein müſſen und um neun Uhr war er noc) nicht zu 
jehen. 

Stelle Dir jeiner Angehörigen und unjer aller Sorge vor. Die 
Nachrichten, welche man vernimmt, find die traurigiten; es war feiner 
von uns, der nicht an einen Unfall dachte Die Mutter und Anette 
weinten, der Vater Valentini befand ſich in furchtbarer Aufregung 
und eritieg jeden Augenblid den Kleinen Hügel, welcher von der Söhe 
des Weinberges aus ein gutes Stüd die nad) dem Dorf führende 
Straße überbliden läßt, — welcher ſein Sohn kommen mußte, nach— 
dem er den Omnibus an der letzten Station verlaſſen. Die Dunkel— 
heit hatte völlig überhand genommen, man konnte kaum — zehn 
Schritte weit etwas erkennen. Man hatte zwei Boten abgeſendet, um 
die Urſache dieſer Verzögerung und um möglichſt ſchnell die Rückkehr 
des Erwarteten zu erfahren. Der arme Vater rief a von Zeit zu 
Zeit mit lauter Stimme, als ob er immer 20 eine Antwort aus der 
Ferne zu hören hoffte. Alle laujchten, Du kannſt Dir denfen mit 
welher Angit. Dean wartete eine Minute, fünf, zehn Minuten, die 
Stimme eritarb weithinverhallend im Thal; die Stille fehrte zurüd; 
es jhlug zehn, elf Uhr. Jeder weinte. Der Vater war jeinem Sohne 
entgegengegangen, allen, durch die Dunkelheit, halb finnlos vor Angſt, 
verſichernd, daß er nicht ohme jeinen Sohn zurücdtehren würde Mein 
Gott, feine lebende Seele wagte ich zu diefer Stunde noch auf die 
Straße, die von den ar Ran Cholerawächtern, Bauern aus der 
Umgebung, bewacht wurde. Diejes Weinen zerriß_ mein Herz; die furcht 
bare Stille machte mich jchaudern; die Finſterniß ſchien mir von fürd)- 
terlichen Erjcheinungen erfüllt zu fein. Auf meinen Knieen lie ar 
betete ich weinend in meiner Kammer zu dem Gefreuzigten, ich betete 
ur ihn. Bon Zeit zu Zeit unterbrach ich mein Gebet, trocknete meine 
Tränen, erjtictte mein Scluchzen, um zu — mit all meinen 
Smnen, meiner ganzen Seele hinauszulauſchen. Bon fern her tönten 
nur jene *intentchüffe, die mich mit Entjegen erfüllten, und das un— 


72 Gefchichte einer Grasmücke. 


heimliche Geheul der Wachthunde Ich wurde abergläubiih. J 
dachte: Wenn ich hundert Ave Maria gebetet haben werde, werde i 
jeine Stimme hören. Junßi ſprach ich in einem Athem, dann be— 
ann ich die anderen langſamer zu ſprechen, da ich fürchtete, Gott 
önne mich nicht erhören, wenn ich meine Ave jo zerſtreut gebetet. 
ALS ich zu Ende war, begann ic) von neuem, meinend, daß ich mic) 
verzählt haben könne. Die legten ſprach ich langjam und unterbrad) 
u, um zu borchen — hatte ich nicht Stimmen von fern gehört? 
Sch warte, warte, nichts! Schweigen! — Dann jagte ich mir, wenn 
die Stimme, die ich zuerjt höre, die Anmettens ift, wird er binnen 
einer Vierteljtunde fommen. Dann: Wenn ich zwanzig Mal den Wind- 
ftoß in den Bäumen gehört haben werde, wird er hier jein. 

Die Aefte raufchten und raujchten und niemand fam. Da glaubte 
ich au erjtiden, mein Kopf wollte zerjpringen, das Blut jtrömte durd) 
die Adern, daß die Kammer mir zu eng wurde, die Dede mic) zu er: 
drüden jchien, daß ich hinausflüchten mußte ins Freie. Hier vermochte 
ich den Sammer der armen Eftern, den jchauervollen Tönen aus der 
Ferne, dem heimlichen Flüftern, womit fie fich gegenfeitig Trojt ein- 
zureden verjuchten, nicht Stand zu halten, ich entfernte mich und jeßte 
mich, abgejondert von den andern, auf die niedere Weinbergsmauer, 
mit den brennenden Augen in die Nacht hinausitarrend. Mein Gott, 
wie litt ich jo jehr! Da vernahm ich aus weiter Ferne ein Heulen, 
ein Heulen, welches ich kannte. Mein Herz jchlug jo laut, jo laut 
und ich wollte doc) laujchen, lauſchen. Nichts! Saite ic) . doch 
geirrt? Doch da heulte es un näher. Seht hörten es die Andern 
auch. Ali war es, der bellte Ali rannte herbei, unfinnig vor Freude; 
er trug die frohe Botjchaft voraus, er wußte ung voll Unruhe, Angſt 
und Sorge Man vernahm ſchon die Schritte des Nahenden, alle 
famen herbei, um neben mir das Mäuerchen zu erjteigen. „Er it's! 
Er fommt!“ riefen fie. 

Alt jtürzte auf mich zu, athemlos, bellend, gerührt, da8 arme 
Thier. Ich umarmte ihn, umarmte ihn, denn ich fürchtete ohnmächtig 
vor Glück zu werden. 

Dann fam er, der arme Nino, blaß, müde, erjchöpft. Kam zu 
Sub von Catania, da er den Omnibus verfäumt und feinen anderen 

agen hatte zu jo jpäter Stunde auftreiben können. Sein Vater, 
der ihm entgegengegangen, küßte ihn; Mutter und Schwejter um— 
ichlangen ihn mit ihren Armen. Alle jubelten, alle weinten vor Glück. 
Ih aber jchlich in mein Kämmerlein, weinte, lachte, jchluchzte, jubelte 
wie fie, umarmte die Füße des Sruzifizes, die Möbel, die Wände, 

Mein Gott, giebt es ein elenderes Gejchöpf auf Erden, als ich bin! 

Seitdem ich Diele a. durchgemacht habe, kenne ich mich 
jelbjt nicht mehr. Meine Augen jchauen Elarer, mein Geijt durchdringt 
Geheimniſſe, die für mich in tiefiten Abgründen hätten verborgen 
bleiben müſſen; mein Herz lernt Gefühle fennen, die es nie geahnt 
hat, nie hätte ahnen dürfen. Und doch ijt es jelig, empfindet jich 
Gott näher gehoben; cs weint, duldet, Elagt, 2% ſich niedrig, einſam, 
verlaſſen. Es zuckt in unſagbaren Qualen durch einen Blick, eine Be— 
wegung, ein Beben ſeiner Stimme, durch einen Schritt, den er dort— 
hin ſtatt hierhin, ein Wort, welches er an dieſe ſtatt an jene Perſon 


Geſchichte einer Grasmücke. 73 


richtet. Du verſtehſt mich nicht. Es iſt ein beſtändiger Zweifel, eine 
Angſt, eine Verzagtheit — eine grenzenloſe Glückſeligkeit. Füge zu 
dem allen das Bewußtſein meiner Stellung, die Reue über meine 
Sündhaftigkeit, mein Unvermögen gegen ein Gefühl anzukämpfen, 
welches ſtärker iſt als meine lenhet, mich durchdrungen, um— 
ſchlungen, bemeiſtert hat; meine — mich als das zu wiſſen, 
was ich bin; weniger als andere Frauen ſind, nur eine arme Nonne; 
ein den zu haben, welches unempfindlich für jede andere Liebe als 
die Liebe zu Gott jein joll, einen Geijt zu bejigen, der nichts kennen 
darf, was außerhalb der Mauern des Kloſters lebt und den die Un: 
geheuerlichkeit des Horizontes, der fich plößlich vor ihm aufgethan Hat, 
mit Entjegen erfüllt. Ich frage mich, ob dieſe Liebe, dieje Sünde, 
dieſe Furchtbarkeit nicht ein Theil Gottes jei! Ich möchte jchön jein, 
wie dasjenige ijt, was ich in mir empfinde. Ich werfe einen Bli auf 
mein Aeußeres, jelbjt über dieje ungewohnte Neugier erjtaunt, und bin 
betrübt, nicht8 an mir zu finden, als eine in jchwarze Serge gehüllte 
Geſtalt, ſchmucklos na — gekämmtes Haar, unfeine Manteren, 
eine Schüchternheit, die Albernheit zu ſein ſcheint, und befinde mich 
in Geſellſchaft anderer, eleganter, reizender Mädchen, deren Lieben nicht 
Sünde iſt. Ich erröthe über 7— —** erröthe über mein Erröthen 
— und dann — noch habe ich Dir nicht alles geſagt. Noch ein an— 
deres Kreuz laſtet auf mir; es iſt die Furcht, daß mein Geheimniß 
entdeckt wird, welches ich ſo tief in meiner Bruſt verſchloſſen halte. 
Vor dem Auge erſchrecken, welches Dich beobachtet, Dich fürchten, daß 
deine Bläſſe, das Beben deiner Stimme, das DER deines Herzens 
an Dir zum Verräther werde! fürchten, daß Du a jt zu Deinem An— 
Häger werdejt, fürchten, daß jeder in Deiner Nähe dich beargwöhnt 
und vor Scham lieber fterben zu wollen als dein Geheimniß preis- 
geben. Erröthe ich doch vor dem, was ich da niedergejchrieben und 
was Du leſen wirjt, Du, die Du ein Theil meiner jelbjt bijt! Lege 
ih mir doch dieſes Bekenntniß als eine Art Bußübung auf! Bis 
zum Wahnſinn lieben und jterben vor Scham, wenn er es erführe! 
Ich möchte die Arme um ſeinen Hals ſchlingen, möchte zu ſeinen 
Füßen liegen und wage nicht um alles Gold der Welt, ihm die Hand 
zu reichen Blickt er mich an, ſchlage ich die Augen nieder und zittere 
dabei, daß mein Vater, meine Stiefmutter, daß er — in meinem 
Herzen leſen könnte. 

Lieber Gott, eher laſſe mich ſterben! Und wenn ich Dir nun ſage, 
daß dieſe meine Befürchtungen nicht grundlos ſind? Daß meine Stief— 
mutter mich geſtern zu ſich rief und mit einem Blick, der mir bis ins 
innerſte Herz drang, ſagte: „Du « jeit einiger Zeit bleich und jelt- 
Nam bewegt; was N ir?“ Ich Ichauderte, jtammelte irgend etwas, 
wußte aber feine bejtimmte Antwort zu geben. Mit jener Miene, die 
mich zittern macht, fuhr fie fort: „Sa, ich bemerfe eine große Verän- 

in Dir. Sollte e8 die Landluft jein, meine Tochter, die Dir 
übel — ſo wird Dein Vater nicht auf Dein Hierbleiben be— 
ſtehen und Dich in Dein Kloſter zurückkehren laſſen.“ Blick, Miene, 
Bewegung, welche dieſe Worte begleiteten, ſagten mir: „Ich weiß alles! 
IH kenne Dein — — ga fühlte mic) jterbend. Zum Glüd 
tab ich auf einem Seſſel, jonjt wäre ich zu Boden gejtürzt; und jie 


74 Geſchichte einer Grasmücke. 


ſah nicht, wie meine Augen ſich mit Thränen füllten, da Giuditta 
hereinkam. 

O meine eigene, arme Mutter! Wie würde ich mich, wenn ſie 
lebte, in ihre Arme werfen, ſie, in Thränen zerfließend, um Verzei— 
hung flehen! 

Lachend und luſtig rief Giuditta: „Weißt Du, Mama! Die Va— 
lentinis laden uns ein, mit ihnen nad) dem Landhaus der Bertonis, 
unjerer Nachbarn, zu gehen. Man tanzt, denfe! Sei gut, erlaube 
ee. — Laß uns gehen! Welch eine Luſt, ein Ball hier auf dem 

nde!“ 

Und unter dem ——— der lieben Giuditta ſchmolz die 
ſtrenge Miene ihrer Mutter ſchnell dahin. Sie küßte ihr Kind zärt— 
lic). und flüſterte nur das eine Wort: „Närrchen!“ 

O gejegnete, heilige Mlutterliebe, die jich in einem Worte, einer 
Liebkoſung kundgiebt! Geſegnet das Glüd, welches uns aus dem 
Glüd var Geliebten erblüht! Sie erjchienen mir beide in diejem 
Augenblid, da der Himmel dieje Segnung über ſie ausjtrömte, jo 
Far DaB ich Gott für alle diejenigen bat, die nicht beraubt find, wie 
id) es bin. 


Giuditta entfernte ſich hüpfend und lachend, um ſich anzukleiden 
und rief mich, ihr Haar zu ordnen. Sie hat prächtige fajtanienbraune 
Flechten, und jeden Morgen, wenn ich jie auflöje, um fie zu fümmen, 
denfe ich, weld,; eine Sünde es wäre, wenn jie verurtheilt würden, 
unter der Scheere zu fallen wie die meinen. Doc an jenem Tage 
war ich jo bejtürzt, daß ich nichts zuitande brachte. Ich flocht und 
löfte ihre Zöpfe wohl zwanzig Mal. Endlich verlor fie die Geduld 
und rief zornig, indem ſie ihre Friſur zerjtörte: „Mein Gott, es jcheint, 
Du — es abſichtlich Heut ſo ungeſchickt!“ „Verzeih, Schweſter“, 
bat ich, „es iſt nicht meine Schuld!" — „So verdrießt es Dich, mein 
— zu ordnen“, ſagte ſie. „Nein, ich ſchwöre Dir, ich gab mir 

tühe“, antwortete ich ihr weinend. Sie iſt imgrunde gut, meine 
Schweiter, daher zudte jie nur die Achjel und rief: „Ach, (08 nur jein, 
das iſt fein Grund zum Weinen; ich werde meine Söpfe jelbit auf— 
jteden.“ Ich wollte jie küſſen und um Verzeihung bitten, um die 
Bitterfeit, die ich in meinem Herzen fühlte, zu verjcheuchen. Wie 
thöricht ich bin! Ich dachte nicht daran, daß es jchon ſpät war und 
jie hatte ganz recht, als ſie ungeduldig rief: „Mein Gott, jo laß mich 
doch wenigitens in Ruhe mein Haar fümmen!“ Als ich aus dem 
Zimmer trat, meine Augen trodnend, fam Annette. 

„Nun“, rief fie, „kommſt Du nicht mit uns?" „Woran denken 
at fiel meine Stiefmutter ein, „eine Kloſterſchülerin! Das fehlte 
noch!“ 

Nino hatte ſeinen Blick auf mich gerichtet, ohne zu ſprechen; i 
fühlte es, troßdem ich die Augen —S BR > 

Da fam mein Vater und fragte nach der Veranlafjung diefer Vor— 
bereitungen. 

„Und Du?* fragte er mich dann. 

„Ich bleibe zu Haufe, Papa“; antwortete ich. 

„Nein, nein, hier auf dem Lande!“ 

„ueber ich bleibe gern zurüd, lieber Papa“, beruhigte ich ihn. 


Geſchichte einer Grasmücke. 75 


„Dann bleibe ich bei Dir“; ſagte er. 

(Der gute Vater! jo jehr liebt er mich!) 

„Was? Und wer begleitet uns?“ fiel meine Stiefmutter ein. 

ß „Ihr könnt ja mit unſeren Freunden gehen“, meinte er. Doc) 
ie rief: 

„Das ſchickt fic) nicht, wenn man zum eriten Mal eine noch un= 
befannte Familie bejuht. Marie kann jehr gut bier bleiben unter 
dem Schuge des Dienjtmädchens und der Verwalterin,.“ 

Es wurde noch einiges 2 und ber gejprochen, doch ſchließlich 
fügte mein Vater ji) dem Willen jeiner — denn Du weißt ja, 
bob er ihr aus Friedensliebe nicht gen widerspricht. 

Theure Freundin, ich gejtehe Dir, daß ich zum erjten Mal in 
meinem Leben ein Mißvergnügen empfand, ganz allein von einer Luft- 
barfeit ausgejchlojjen zu jein, auf Die ia alle jo jehr freuten. Und 
dann — willit Du e8 wilfen? Ich habe einen neuen Kummer fennen 
gelernt, in dem Gedanken, daß jo viele andere jchöne Mädchen 
jehen, mit ihnen tanzen würde. Ia, bei dieſer Voritellung, ich weiß 
nicht weßhalb, füllte jich mein ganzes Herz mit Thränen. 

Jetzt bin ich alleın. Ich habe fie fortgehen jehen, lachend, luſtig, 
jingend. Nur er jchien betrübt zu jein. Er jah mid) an, als wolle 
er mic, hundert Dinge fragen. Gab dann meiner Schweiter den Arm. 
Wie ſchön war Giuditta in ihrem himmelblauen Kleid, als fie jich jo 
lachend und plaudernd auf jenen Arm lehnte! 

Ich rolgte ihnen mit meinen Bliden, bis fie am Ende des Weges 
hinter der Weißdornhecke, welche das Weinbergsmäuerchen überragt, 

wanden. Dann habe ich noch eine Zeit lang ihre Stimmen, ihr 
Lachen, ihre a He vernommen, Die mir weh that. O Gott, wie 
neidiſch bin ich! ie schlecht bin ich! ch mußte jeiner gedenken, 
um nicht laut zu jchluchzen; jeines Blides, den er auf mich gerichtet, 
gedenken, um jene nicht zu beneiden. Ich bin allein geblieben. Die 
Sterne beginnen * ſcheinen, es iſt ein ſchöner Herbſtabend, lind und 
ſtill. Die Verwalterin hat das Feuer ge Abendſuppe angezündet und 
hält ihr Kind auf dem Schoße. Ihr Mann fehrt vom Weinberg heim, 
er jtellt die Flinte an die Thürpfofte und beginnt mit jeinem Töchter— 
chen, welches auf feine Kniee geflettert it, zu jchäfern. Alles athmet 
Frieden, Ruhe, Heiterfeit. Nur ich allein bin unruhvoll, traurig, un— 
glücklich. Ich jchreibe Div_alles, wie es mir durch mein Herz geht 
und dann laſſen mic) die Thränen nicht mehr erfennen, was ich ges 
jchrieben habe. Ich blide zum gejtirnten Himmel auf und jtarre in 
die ſchwarze Schattenmajje der Bäume vor meinem Fenſter. Ich denfe 
an das Feſt dort drüben, an alle die frohen ———— welche ſich be⸗ 
luſtigen, welche — in ſeiner Nähe ſind! — Nun kann ich nicht länger 
ſchreiben, ich habe keinen Gedanken mehr als ihn. Mit den Augen 
meiner Seele ſehe ich ihn vor mir, während er dort mit einer anderen 
tanzt und lacht. Und nun leb' wohl! 


Monte Ilice, 21. November. 
Marianne! Marianne! Weine mit mir! Lache mit mir! Umarme 
mich! — Er liebt mich! — Sagſt Du nichts? — Er liebt mich! — 


76 / Geſchichte einer Grasmũcke. 


Hörſt Du? Ich kann nicht mehr ſagen! Du wirſt alles, was ich Dir 
noch ſagen könnte, in dem einen Wort verſtehen: Er liebt mich! — 

Erinnerſt Du Dich an geſtern Abend? Ich ſaß, noch jenen 
traurigen Brief vor Augen, mit aufgeſtützten Armen an meinem Tiſch— 
chen. Die Thränen floſſen ſtill auf den Brief herab und machten, 
ohne dat ic) es gewahr wurde, das Gejchriebene unleſerlich. Plötzlich 
Fee ic) Geräufch von außen, das Geräuſch nahender Schritte. 
Kannſt Du mir jagen, wie e8 fam, daß ich den Fall diefer Schritte 
gleihjam mit meinem Herzen hörte? Warum alle meine Nerven 
zudten und mein Blut zu Eis erjtarrte? Ich erhob die Augen, das 
fe jtand offen und Hinter dem Fenſter jtand ein Schatten, eine 
Stimme rief mich leife. — Er! hörſt Du es? Er! — Wenn ich nicht 
aufichrie, jo geichah es, weil mir die Kraft dazu verjagte. 

„Berzeihen Sie, Signorina, verzeihen Ste mir.“ 

Ich wagte nicht, ihn anzubliden, aber jeine Worte glitten mir 
ſüß wie Honig ins Herz. Ihre Mutter ift ungerecht und lieblos 
gegen Sie“, fuhr er fort. „Alle erfreuen fi) da unten und nur ich 
gedachte Ihrer, die Sie hier allein geblieben find. That ich unrecht 
daran?“ fragte er nach einer Pauſe, während welcher id) das milde 
Schlagen meines Herzens vernahm. „DVerzeihen Sie mir?“ Da blidte 
ich auf und jah ihn, wie ich ihn Schon einmal gejehen, mit den Armen 
auf den Feuſterſims geitügt. Er hatte meiner gedacht und jeine Stimme 
zitterte. „Signore*, jtotterte ich, „Signore“, ich wußte nichts anderes 

u jagen. Hierauf jeufzte er und — „Hören Sie mich an, Maria“, 
in, jtodte er und jtrich fich) mit der Hand die Augen, er — ein 
Mann! Ich fühlte wie jener Name aus feinem Munde mir durch 
alle Poren ins Lebendige Fleisch drang. Er jagte: „Maria!“ Warum 
machte der Klang meines Namens einen jolchen Eindrud auf mich? 
— „Hören Sie mich an“, kan er fort, „Sie jind ein Opfer!“ 

„O nein, Signore.“ Er ſprach weiter: „Doch, Sie jind das Opfer 
Ihrer Berhältniffe, der Bosheit Ihrer Stiefmutter, der Schwäche Ihres 
Vaters, des Schickſals.“ 

„Rein“, flüfterte ich, „nein.“ 

„Warum denn werden Ste gezwungen Nonne zu werden?“ 

„Niemand hat mich gezwungen, Signore, e8 iſt mein freier Wille.“ 

„Ach!“ Und er jeufzte tief auf und glitt wieder mit der Hand 
über die Augen. „Die Nothwendigkeit“, jette ich Hinzu. Sch konnte 
ihn nicht deutlich jehen, er ftand im Dunfeln, im enjterrahmen und 
Thränen hatten mir die Augen verjchleiert. Er antwortete nichts; 
nad) einer längeren Pauſe fragte er, aber jeine Stimme jchien einen 
heiferen Klang zu haben: „Und werden Sie ins Kloſter zurückkehren?“ 

Ich zögerte, aber dann jagte ich: „a.“ 

Wieder jchwieg er, ich wartete, wartete lange, dab er wieder 
jprechen würde. Ic trodnete meine Augen und jab, daß er noch vor 
mir jtand, in derjelben Stellung, auf demjelben Plab, doch jein Ge: 
jiht von jeinen Händen bededt. Das machte mir Muth, ich jtand auf 
und, Du weißt, wie eng mein Kämmerchen iſt, mit einem Schritt jtand 
ich am Fenſter; er hörte mich, erhob den Kopf, jah, daß ich weinte, 
Er ergriff meine Hand, ohne ein Wort zu jagen. Ich jah nichts mehr, 
weder mit den Augen des Körpers, noch mit denen der Seele, ich 


Gefchichte einer Grasmücke. 77 


fühlte meine Hände von den jeinen umjchlungen. „Marta“, rief er, 
„warum gehen Sie ins Klojter?“ „Wert ich es denn jelbjit? Es muß 
jo fein, ich) wurde geboren, um Nonne zu werden.“ 

„Sp lajfen Ste mid) aljo?" Und er weinte wie ein Sind, ohne 
daß er, wie andere Männer, ich ſchämte, jeine Thränen jeden zu lafjen. 
Ich glaube, daß auch ich geweint habe, denn ich fühlte dann meine 
Wangen und Hände ganz von Thränen gebadet; doch mochten die 
Hände wohl von jeinen Ag benegt ſein, die ich, Tropfen auf 
Tropfen darauf finfen fühlte, und als ich jpäter allein in meiner 
Kammer war — verdamme mich, jchilt mich, wenn Du willit, aber ich 
fühte meine noch feuchten Hände. 

Lange Zeit blieben wir jo jchweigend zuſammen. Dann rief er: 
„Wie bin ich glücklich!" „Auch ich“, Jette ich hinzu, fait ohne es zu 
wiſſen. Sich‘, Marianne! Wir weinten und jagten einander, daß wir 
—— ſeien. Doch noch hatten wir ung nicht gejagt, daß wir ung 
iebten. Mein Herz war von einer jo ſüßen Scligfeit überflutet, daß 
ih an nichts weiter dachte und mich nicht jchämte, hier allein mit 
einem Mann zu jtehen, mit ihm, allein in der Nacht. Wir jpracjen 
nicht; wir jahen uns nicht an. Unſere Augen Hatten wir nad) dem 
Himmel gerichtet und es jchien mir, als redeten unjere Seelen zu 
einander durch die Berührung unjerer Hände und umarmten unjere 
Blicke ich, die jich in den Sternen begegneten. 

Marianne, diejes Gottesgejchent, Gelben er jeinen Gejchöpfen ver- 
fiehen hat, muß wohl ein jehr großes fein, da neben ihm alles gering 
ericheint, die Sünde und das Verbrechen, die Pflicht wie die geheiligt- 
iten Bande, wenn es aus einem Wort ein Paradies zu jchaffen 


vermag ! 

Fun verlajje g Did. Ich fühle das Herz zu voll, um noch 
anderes zu denken. Indem ich Dir jchrieb, lebte ich noch die jeligen 
Empfindungen durch. Jetzt muß ich allein fein, aa denfen, träumen, 
glüdlic fein. 


Monte Slice, 26. November. 

Was find wir, meine Freundin, wenn wir nicht einmal Richter 
über unfer eigenes Glüd fein dürfen! Ich habe Dir einen Brief ge- 
Ihrieben, der heute eine bittere Ironie iſt, den ich ohne Thränen nicht 
leten fan. Höre! Wir jtanden da am Fenſter, ſchweigend, jelig, bei 
einander. Plötzlich ließ ſich Geräufc vernehmen, Bigilante bellte, id) 
hörte meines Vaters umd igis Stimme. Ich trat jchnell zurüd und 
ſchloß das Fenſter, zitternd, als ob ich etwas jchredliches gethan. Papa 
fand mich im Bette, ich hatte ‘Fieber und eine jchlaflofe Nacht. Giu— 
ditta fam nicht zu mir, ich hörte fie im Nebenzimmer jprechen, fie 
ſchien —— zu ſein. Am nächſten Morgen war ich ſo blaß, 
daß mein Vater nach, dem Arzt ſchicken wollte. Später rief mich die 
Dama zu ſich und ıhr Blick ließ mic zufammenbrechen. Sie ſprach 
mir ein — und breites von ihren Pflichten und den meinigen, 
von meiner Vokation, von meiner Armuth, die mich unwiderruflich an 
dieſe Vokation binde. Sie ſprach von den Gefahren, welche ein für 
das Kloſter beftimmtes Mädchen auch im engjten Kreife finden könne 
und befahl mir ſchließlich, in Zukunft während der Anweſenheit 


78 Geſchichte einer Grasmücke. 


Fremder in unjerem Haufe, wäre e8 auch nur die Familie Valentini, 
mich in meiner Kammer en zu halten. 

Mein Gott! Wie vermochte ich nur dieje Folterqual zu ertragen? 
War es doch, als ob es jie beluftige, mic) mit Stednadelftichen zu 
verwunden, mich in Andeutungen wegen hundert Vergehen anzuflagen, 
ohne daß fie mid) auch nur das Eine klar verjtehen ließ, ob he wiſſe, 
Nino habe meinetwegen den Ball verlaſſen. 

Plötzlich fühlte ich, während fie ſprach, eine Ohnmachtanwand⸗ 
lung; doch ſie bemerkte meine Bläſſe, mein Zittern nicht, noch auch, 
daß ich mic an eine Stuhllehne anklammern mußte, um nicht zu 
fallen. Denn hätte fie meinen Zujtand bemerkt, jo würde fie pervih 
Erbarmen mit mir gehabt und diefe Marter beendet haben. Als ich 
allein in meiner Kammer war, mußte ic) mid) zu Bett legen. Das 

ieber hatte jic) wieder meiner bemächtigt; ich fühlte mich krank und 
ehnte mich zu ſterben. 

Auch jest noch fam Giuditta nicht zu mir. Sie zürnte mir. 
Was hatte ich ihr getban? Mein Gott! Ich erjchien mir wie jener 
Delinquent, den alle fliehen und dem fich feiner zu nähern wagt. 
Erröthete ich doch jogar vor der Madonna, welche mich von der Wand 
aus anblidte, erröthete vor jenem Fenſter, welches dort meinem Bett 
gegenüber vor mir wie ein unerbittlicher Ankläger ſteht. Dieſe Ab— 
—— dieſes Alleinſein that mir weh. Gegen Abend rief ich 

iuditta. Ich mußte ſie ſehen, ich bedurfte ihres Troſtes. Auch mein 
lieber Papa ſchien mir ernſter als gewöhnlich zu ſein. Giuditta kam 
endlich, doch war ſie ſehr kühl. 30 warf mich in ihre Arme und es 
wollte mich bedünken, als ob meine Thränen, die mir Erleichterung 
brachten, ſie verdroſſen. 

Nun bin ich wieder ganz allein. Ja, alle en vor mir. Ich 
felbit auch haſſe mich. Sie haben recht; ich bin jchuldig. Gott allein 
fann mir vergeben. Gott, gegen den ich Nünbigte, indem ic) eines 
jeiner Geichöpre ir als ihn bit liebe. Sch lauſche, lauſche tage: 
lang nach dem Fenſter hinüber, deſſen Gardinen dicht gejchlojjen find 
und weine über das traurige Glüd, nicht mehr von ihm gejehen zu 
werden, mich verbergen zu fünnen; und meine Augen brennen. Der 
Himmel ijt nebelverhüllt; Die — ſind öde; das Murmeln des 
Waldes macht mir Furcht; die * ſingen nicht mehr; nur zuweilen 
vernehme ich, tief da unten, das klagende Weinen der Ohreule. So 
ſtarre ich ſtundenlang, die verſchlungenen Hände im Schoße, durch 
die verhangenen Scheiben jenen dunklen Wolkenmaſſen J die weit: 
wärts ziehen und in die Baumfronen, welche, Tangjam ihre Wipfel 
bewegend, die welfen Blätter herabitreuen. Das iſt der Winter, 
Marianne, der Winter der Natur, der plöglic) fommt, wie der Winter 
der Seele plöglic) gefommen. Mein Carino ijt entflohen. Der Arme! 
Sch habe ihn jo DER. Er ijt entflohen, um anderwärts jeine 
ah und jein helles Gezwiticher wiederzufinden, denn um mich 

er herrjcht die Trauer. Bigilante nur kommt von Zeit zu Zeit zu 
mir, al3 ob er mic) um ein Lächeln, um eine Liebfojung bitten wollte; 
er kommt leife, wie zögernd naht er jich mir, fragt mich mit feinen 
Ken Augen, ob jein Kommen unbejcheiden jei, bleibt unſchlüſſig 
tehen, wedelt mit dem Schweif, leckt jeine Lippen, ganz als ob er jpräche: 


Geſchichte einer Grasmücke. 79 


„‚Vergieb, daß ich mic) zu Dir dränge.“ Dann legt er den — auf 
meine Kniee, mit dem Ausdruck: ih habe Dich ja noch lieb.“ Dann 
entfernt er jich langjam, wedelnd, bleibt auf der Schwelle ftehen und 
jagt mir traurig lebe wohl. 

Seden Tag Höre ich im Nebenzimmer die Stimmen von Ninos 
Eltern, die fie mit den meinigen unterhalten. wei oder dreimal 
vernahm ich noch eine Stimme, die mir ins — Die jeine. 

! er! Immer er! Immer diejer Stachel im Herzen, dieſe Ver: 
fuchung im Sinne, diejes Fieber im Blute! Er immer da vor meinen 
Augen, hinter dem Fenjter, mit dem Antlig von feinen Händen ver- 
büllt. Der lang diefer Stimme immer im Ohr, meine Hand immer 
feucht von feinen Thränen! Mein Gott! Mein Gott! 

Mehrmals habe ic, einen Schritt hinter meinem Fenſter vernom- 
men, bei dejjen Schall mein Herz till zu ftehen jchien. Schwindel, 
Schauder, Delirium erfaßte mih. Ich kann nicht mehr weinen, ich 
kann nicht mehr jchlafen, nicht mehr beten! D, meine Marianne! 

3 mag er von mir denken, da er mich nicht mehr ſieht? Weiß 
er, daß es mir verboten it? Verdammt er mich vielleicht? Zürnt er 
mir? Wird er mich vergefjen? se wie et ic) Schon gejunfen bin! 
Ich flehe zu Gott, mich ihn — en zu laſſen und möchte wahn— 
ſinnig bei dem Gedanken werden, daß er mich vergeſſen könnte. Zu— 
weilen in der Morgenfrühe, wenn ich ſicher bin, von niemand geſehen 
zu werden, öffne ich leiſe, leiſe das Fenſter und ſehe denn da unten 
das Haus, in welchem er wohnt, wo er vielleicht ſchlummert in ſo 
früher Stunde; Kr jein Dad), feine Fenſter, den Jasminſtock, Die 
Wernlaube, welche eine Thüre beichattet. Dann juche ich zu errathen, 
auf welche Stelle des Fenſterbrettes er jeinen Arm jtügt, wenn er 
jein Fenster öffnet, juche die Erdſcholle mit meinen Augen, welche jein 
Buß berührt, wenn er aus dem Haus tritt, juche die Bahn in der 

uft, die jein Blick durchläuft, wenn er mein Fenſter jucht. Ja, ja, 
denn mein Herz jagt mir, daß jein erjter Bli nach meinem Fenſter 
gerichtet it, daß er weiß, wie ich Hier jtehe, um ihn im Schlummer 
u belaufchen, um feiner zu gedenfen. Immer er! Im Traum, vorm 
Einfchlafen. beim achen, im Gebet! D, Marianne! Bitte für dieje 
arme Sünderin, die jchwächer iſt als ihre Sünde. Sende mir Dein 
Gebetbuch. Ich will beten, an Gott denken; die Madonna bitten, daß 
fie mich unter dem Mantel ihres Erbarmens verbirgt vor den Augen 
der Welt, vor mir jelbjt, vor meiner Schande, meiner Schuld, vor der 
Strafe Gottes! 


20. Dezember. 

Sc bin frank, jehr frank gewejen, daher jchrieb ic) Dir nicht. 
Tage habe ich durchlebt, da alle weinten und ich Gott dankte, daß er 
mir wenigſtens den Frieden der Ohnmacht gab. Ich habe alle dieje 
blaſſen Gejichter rings um mein Bett her, alle dieſe Thränen gejehen, 
die ſich unter einem noch jchmerzlicheren Lächeln zu verbergen Fchten, 
Und meine Augen jahen alles dies wie im Traum und blidten ruhig. 
Alle meine Lieben habe ich gejehen, alle, alle, nur ihn nicht! Ste 
haben ihm verboten zu mir zu fommen. Und doch, doc), ee ic) 
mit dem Scharfblid der gejteigerten Empfindjamfeit Schwerfranter, 


80 Geſchichte einer Grasmücke. 


daß er da war, dort, hinter dem Fenſter, um zu weinen und zu beten; 
und meine lebensmüden Augen richteten ſich auf jene Scheiben, durch 
welche ſich ein Winterſonnenſtrahl bis zu meinem Lager ſtahl. J 
kann Div nicht ſchildern, was ich in mir empfand; ich fühlte mich 
ruhiger, leichter, in eine ———— des Friedens, der Klarheit em— 
porgehoben. Immer gedachte ich ſeiner, doch mit einer ſo ſüßen Ruhe, 
daß ich mich unter Engeln zu befinden ſchien, deren einer Nino hieß, 
ei an der Hand fahte, mich mit meinem Namen rief und mit mir 
zu den Sternen aufblidte, wie in jener Nacht. 

Es ijt falt, es regnet; weißt Du, wie — das Geräuſch des 
an die Fenſter tropfenden Regens iſt? Die Vögel ſuchen zitternd eine 
u unter dem Dachfirſt. Der Wind pfeift im Kaſtanienwald. 
Außer diejen — Tönen iſt alles Schweigen. Heute früh 
bin ich zum erſten Mal vom Bett aufgeſtanden, taumelnd, ig 
Säheſt Du, wie ic) Dir jchreibe! Auf einen Berg von Kiffen geitügt, 
jeden Augenblid ruhend, um Athen zu jchöpfen, um die Tropfen von 
meiner Stirn zu trodnen. Und doc) friere ich! Der Kopf jchmerzt 
mid), die Hand — die Gedanken verwirren ſich, ſchwanken. Sie 
ſagten mir, daß Du gekommen ſeiſt, um mich zu ſehen. Ich entſinne 
mich Deiner Anweſenheit nicht, meine Marianne. Es wird an einem 
jener Tage geweſen ſein, als ich bewußtlos war. 

Dieſes Zimmerchen, wo ich ſo viel gelitten habe, dieſes Bett, 
dieſes Kruzifix, dieſe Möbel — mir ein Theil meines Selbſt ge— 
worden zu ſein. In all' dieſen langen, wehmuthvollen, trägen Stun⸗ 
den der Reconvalescenz, während ich in verſchwommenen Träumen lag, 
ſah ich auf dieſe Gegenſtände, die mir in die Augen fielen, mit einer 
ſo intenſiven Genauigkeit, daß ſie alle, ſelbſt die Wände des Zimmers, 
Geſtalt annahmen und ſich gleichſam in mein var eingruben. Setzt 
erflären mich die Aerzte für fait genejen, Gott jei Lob! Denn, ich 
fol und muß ja für alles danfen, was er thut, der gute Gott. Mein 
Vater, Giuditta, Gigi, Du und Annette, ihr alle werdet euch dejjen 
freuen. Und er! Aud) er. 

Wie iſt's jo ſüß zum Leben zurüdzufehren, wenn wir auf dem 
Punkte jtanden, es zu verlaffen! Nichts anderes thun, als alle dieje 
lachenden Gejichter zu jehen, all’ dieje Liebfojungen EN empfangen, fich 
— zu fühlen, zum Himmel aufzublicken, dem Wind, dem Regen, 

em Gezwitſcher der frierenden Vögel zuzuhören. Scheint doc alles 

neu und verichönt. Scheint es doc), als ob das eingefchlafene Erin- 
nern erwacht und indem der Gedanke einem theuern Gegenstand zus 
eilt, fich erfreut und erjtaunt ift, ihn noch am Leben zu Tinben. Sie 
haben mich alle lieb! Sie erlalen alle meine Hand, die blaß und 
it, fie drücken, fie füjjen meine Hand. Er nicht, nein, nur 
er nicht! 

Wanfend erhob ich mid) vom Bett und, mid) an den Möbeln 
feithaltend, öffnete ich das Fenſter. Mein Gott! Wie zauberhaft iſt 
alles, was ich ſehe, obgleich e3 falt und der Boden mit Schnee be= 
deckt ijt, die Bäume laublos jtehen und Dunkel den Himmel dedt! 
Dort unten hab’ ich jenes Häuschen Ing. jo langer Zeit wieder er- 
blickt! Iene Weinlaube, das Fenſterbrett, die Thüre! Der Jasminſtock 
iſt nicht mehr da, die Weinranken ſind welk, die Thür iſt geſchloſſen. 


Geſchichte einer Grasmũcke. 81 


alles hat einen Anflug der Trauer angenommen, und doch ſcheint es 
mir das Paradies zu ſein. Oeffnete man das Fenſter nicht? Mein 
Gott, meine Augen ſind ſo ſchwach! Sah ich nicht einen Schatten im 
Rahmen des Fenſters? Er! Er! Er iſt es! hat mich geſehen! 
Erwartete mich! O Gott, Marianne, er iſt es! 


26. Dezember. 

Endlich hat mir der Arzt erlaubt, um die Mittagsſtunde bei 
ſchönem Wetter vor die Thür zu geben. Sie jagen, es bedürfe fo 

roßer Vorjicht, da meine Sen heit eine zarte je. Auch meın 
tütterlein, die Arme, war zart und ijt jung geſtorben. Gejtern war 
Weihnachten, jenes (ea eihnachtsfeſt, uns im Kloſter eine 
Nacht voll age! Gelänge und die rührende V engl brachte, 
erinnerjt Du Did? Jeden Abend während der Novina kamen die 
Balentinis zu meinen Eltern zum Spiel. Ich hörte ihr Plaudern und 
Lachen im Speijezimmer, wo ein gutes Feuer brannte, die Läden feit 
geichlofjen waren, während draußen der Wind heulte und manchmal 
auch der Hagel aufs Dad) prafjelte. Wie glüdlich müffen fie gewejen 
jein, jo wohlgeborgen, ſo traulich beiſammen, bo warm, bei gutem 
Mahl, während es draußen fror und regnete! 

Heute haben wir das Feſt mit einem guten Mittageſſen gefeiert, 
doch ohne die Valentinis, meinetwegen; ich verjtand es wohl, io ſollte 
Ihn ee "2 Und das Feſt war ohne Luit, je des Meahles, 
welches dem Namenstag meines Vaters galt. Erinnert Du Dich? 

Am Morgen ſchien die Sonne hell. Ich ging auf kurze Zeit ins 
— hinaus; mit Mänteln und Tüchern verhüllt und von Papa ge— 
tügt. Wie alles jo licht und heiter mir entgegenlachte! Der Himmel 
vom klarſten Blau, die Sonne den Schnee vergoldend, der den Aetna 
ganz bededt, das Meer jo leuchtend, die Glodenthürme der Dörfchen 
weiß zwijchen den Bäumen Hindurchichimmernd. Das Grün der Felder 
jtach) jo jeltjam vom Wei des Schnees ab, der fie jtellenweife bededte, 
der Wald jchwieg, da fein Lufthauch jich rührte und er feine Blätter 
mehr bejaß, um Tie hinabzuftreuen. Dort der freie Plag, wo wir ge— 
tanzt und gejpielt haben, hier die Hühner im Stroh rajchelnd, das 
Strohdach, aus deſſen Schneedede der ng! aufiteigt, die Vöglein, 
welche unter dem Dachfirit zirpen, Vigilante, der jich auf der Schwelle 
des Häuschens jonnt, die Verwalterin, die ihre frijchgejpülte Wäſche 
auf die laublojen Kaftanienzweige breitet und ein luſtig Lied fingt, 
während fie einen Blick unfäglichen Mutterglüds auf ihre zwei Klei— 
nen wirft, die unter der Hausthüre jpielen. 

Gott jei gelobt! Gelobt für die Freude, das Glüd or welches 
er dem — en Vogel, dem keimenden Blatt, dem ſich ſonnenden 
Wurm, leuchtenden Sonne, der Mutter gewährt, die ihr Kind am 
— m und auch meiner armen Seele nicht verjagt, die lobſingend 
ihm dankt. 

ß Wie ſchnell doch die Winternacht hereinbricht! Wie gern hätte 
ich länger außer dem Hauſe verweilt, um meine arme, müde Bruſt an 
dieſer belebenden Luft zu erfriſchen und mich, auf meines Vaters Arm 
geſtützt, bis an den Saum des Khönen Waldes zu jchleppen, in — 
ich jo viel glückſelige Stunden verlebt habe! Auf jenes Mäuerchen, 
Der Salon 1887. Heft VII. Band II. 6 
F 


82 Geſchichte einer Grasmücke. 


welches grün von Moos bewachſen ijt, hätte ich mich jo gern noch 
einmal gejeßt. Doc es wurde falt, die Sonne jagte mir lebewohl, 
drunten im Thal ballte ſich der Nebel, die Vögel verſtummten. Wie 
wehmüthig der Sonnenuntergang im Winter it! Mein Vater wünjchte, 
daß ich ind Haus zurüdfehrte und ich lag in meinem Bett, während 
der herrlichſte Mondjchein mein Fenſter gligern ließ. Ach, ich hätte 
jo gerne wenigitens diejen jchönen Mondenjchimmer noch gejehen, doch 
er hof die Läden. Ich bin ja Frank; verjtehft Du? Es iſt Ealt. 
Daher jorgt man jo für mich! 

Des Abends erwarteten fie die Valentinis zum Eſſen. Welch’ 

höner Abend ijt der des Weihnachtsfeites! Auch hier jogar in diejer 

njamfeit hat alles einen Feſtglanz an ji. Der Bauer, der fingend 
aus der Ebene nach dem Gebirg auffteigt, um mit feiner Familie 
Weihnachten zu feiern, das Feuer, welches unter einem gutgefüllten 
Kefjel brennt, die Dorfmädchen, die beim Klang des Dudeljads tanzen. 
Ic habe in der Küche die Vorbereitungen zum Nachtmahl — 
das u unterm Roft, Lichter und Karten auf dem Spieltijch, auf 
einem Tiſchchen am Fenſter eine Schale mit Konfekt und einige 
Flaſchen Roſoglio. Es alle die heiteren Vorzeichen einer glücklich 
im Familienkreiſe zu verlebenden Weihnachtsfeier. Ich habe die Stühle 
ezählt, welche man um den Familientiſch gereiht hat, es waren acht, 
* meine war nicht mehr dabei. Doch ich habe die Stelle geſehen, 
wo ich einſt geſeſſen und den Stuhl, auf welchem er geſeſſen, als er 
in meine Karten ſah. 

An dieſe Dinge mußte ich denken, als ich ſo ganz allein in mei— 
nem Bett lag, in dem ſtillen, dunklen Raum, der 5 traurig ausfieht. 
Sc hätte einjchlafen, jene Gejpräche, jene Stimmen, jene Sröhlichteit 
neben mir nicht anhören mögen. Doc) ich habe die Nacht in furcht- 
barer Aufregung verbracht, ohne ein Auge zu — Ich glaube, 
daß ich wieder Fieber hatte. Ich bin ſo ſchwach! Die ganze Nacht 
hindurch habe ich den Athem angehalten, um ſeine Worte zu verſtehen, 
um aus dem Klang feiner Stimme zu errathen, ob er traurig oder 
fröhlich fei. Dreimal vernahm ic) fein Sprechen, das erjte Mal ſagte 
er: „danke“, ein zweites Mal „Stgnorina” und zulett „die Reihe iſt 
an mir“. Wüßteſt Du, was in diefen Worten enthalten! Könnte ich 
Dir's erklären! 

Sie jpielten die ganze Nacht hindurch. Ich hörte es genau 
Dann gingen jie zu Tifhe. Jetzt bin ich müde, mein Kopf ſchwindelte. 
Ich jchrieb an Dich, um mich wach zu halten, um — etwas zu thun. 

un wollen wir auch von Dir reden. Haft Du frohes Weih- 
nachten gehalten? Bilt Du zufrieden? Glüdlich? 

Ich möchte mich betäuben; ich wollte während diejer letzten Tage 
mir Gewalt anthun, dieje furchtbare harte Prüfung überwinden. Ich 
will, Gott mag mir helfen. Schreibe mir. Bald vielleicht ſehen wir 
uns und haben uns viel zu jagen. 

(Schluß folgt.) 


+ OH 














S —— — — * den ag de die Namen 
FE Borde, Borne, Rottwig, Nojtig, Oppeln, Prittwig er: 
| RS - mwähnt werden. Die meijten der in Großpolen natu- 
KA ralijirten deutjchen Familien jind in ihren polnischen Zwei— 
ZINN gen erlojchen, verjchollen oder jo in dem eingeborenen Adel 
Lk aufgegannen (nad) Ablegung des alten Namens und auch oft des 
Wappens), dab ſie gar nicht oder doc) nur jehr jchwer herauszufinden 
find. Anders lagen die Verhältnijfe in Wejtpreußen, wo der poloni- 
firte Adel noch jehr jtarf_ vorhanden und dem Genealogen - leichter 
erfenntlich ijt. Um die Erjcheinung zu erklären, daß hier dem ein- 
eborenen und dem polnischen Adel eine jo —* Bag aus 
utſchland ra h wurde, müſſen wir einen furzen Bli auf die 
Geſchichte Weitpreußens werfen. Der an und damit auch das 
jeweilige Vorherrſchen des deutjchen und ſlaviſchen Volkselements in 
— — und Preußen hat ſich ſeit der Zeit Karl d. Gr. in fort— 
währenden Schwankungen bewegt. Slaviſche Stämme waren um jene 
Zeit an der Oſtſeeküſte entlang bis * Pe (Wagrien) vorgedruns 
gen, während unter den al en und fränfijchen Kaiſern infolge der 
oberungszüge deutjcher Markgrafen das Feſtſetzen deuticher Kolo— 
nijten bis öſtlich der Oder — Von 1228 fing der deutſche 
Orden an, ſeine „reg e“ über die Weichjel nach dem heidnijchen 
Preußen und den ba chen Küftenländern zu unternehmen, unter 
deſſen Schuge wir bald von deutjchen Kolontjten gegründete Stüdte 
eritehen jehen, deutjches Recht und deutjche Sitte zogen in Preußen 
ein und bahnten — Kultur den Weg. Währen Ti in Livland, 
Kurland und Ejthland namentlich weftfältfhe und rheiniſche Gejchlech- 
ter eine neue Heimat gründeten, finden wir in Bommerellen und Preu— 
Gen Namen aus allen Theilen Deutjchlandse. Die deutjchen Edelleute, 
Die mit den Ordengrittern nach Preußen gefommen waren, gründeten 
6* 







— 


* 


84 dur Polonifirung des weltpreußifchen Adels. 


einen ſtarken Zandadel, der immer von neuem verjtärft wurde, da der 
deutiche Drden naturgemäß jede Zuführung deutjchen Elements be= 
günftigte "u 

m das Jahr 1400 entbrannte im Weichjel- und Pregelgebiet 
ein erbitterter Kampf — dem deutſchen Ritterorden und der 
durch die 1386 erfolgte Vereinigung Polens mit Littauen gebildeten 
Sagiellonen= Dynaftie. Die ſchwere Niederlage des deutjchen Ordens 
bei Grunewald und Tannenberg im Jahre 1410 verfegte dem deut— 
ſchen Orden, der im innern jchon lange gefranft — den Todesſtoß; 
im Frieden zu Thorn 1466 ging ſtpreußen dem Orden verloren 
und wurde ein Theil des polniſchen Reiches. 

Nachdem Polen von dem neuen Landestheile Beſitz genommen 
hatte, erkannte es ſofort den hohen Werth der Koloniſation. Um das 
deutſche Element dauernd zu unterdrücken, war die Verpflanzung rein— 
polniſcher Familien nach Weſtpreußen in der That von hoher Bedeu— 
tung. Gegen fünfhundert polniſche Familien, theils aus dem Adel, 
theils aus dem Kriegerſtande, wurden daher in Weſtpreußen angeſiedelt 
und namentlich die mit adeligen Rechten begabten Krieger zur Be— 
ſetzung der ſogenannten Militärkolonien an der Bien PR Grenze 
verwendet. Dieſe Koloniften gingen ftillfchtweigend in den Adel über 
und jtellten das aD rOn ungen zum polnischen Kleinadel in Weſt— 

reußen. In Polen nannte man fie jpöttifch „Beet-Edelleute“, weil 

br meistens nur wenige Aderbeete beſaßen. Noch vor 50 Jahren 
fand man in den Kreiſen Neuftadt und Carthaus Dörfer, die faſt nur 
aus Adeligen beitanden — dies find größtentheils Nachkommen jener 
Koloniiten. 

Der indigene Adel Weitpreußens, meijtens kaſſubiſcher Abkunft, 
war durd) das drüdende Ordengregiment, das ſich in den legten Jahr— 
ehnten vor dem Zuſammenbruche des DOrdensitaates noch verichärft 
Datte, heruntergefommen und im Kriege fait ganz verarmt; er ergriff 
daher mit Freuden die ihm von Polen gebotene Gelegenheit den ver= 
[orenen nn. wieder zu erwerben und ließ ſich in Majfen mit 
den polnischen Koloniften zuſammen in jenen Militärfolonien nach 
dem ius militare anjiedeln. Durch Sprache und Abjtammung dei 
Polen verwandt, waren die Kaſſuben im Umſehen gute polnijche Un— 
terthanen und blieben es auc) bis zur Theilung Polens. Die Eleinen 
deutſchen Koloniften, die fich meijtens aus Knappen und nichtadeligen 
Kriegern refrutirt hatten, waren, wie es jcheint, ſchon zur Zeit des 
deutichen Ordens, vermuthlich durch Verjchwägerung mit dem kaſſubi— 
ichen Adel Weitpreußens, polonifirt worden. Später vermifchen fie 
ſich fo mit den Kaſſuben, daß man fie vielfach dem faffubischen Ur— 
adel gugeaält hat. Hierzu war man de verjucht, als ihre 

eraldif erft zu polniicher Zeit entjtanden, einen durchaus polnifchen 
harakter trägt. 

Etwas anders lagen die Verhältniffe bei den deutjchen Nitter- 
geichlechtern in Wejtpreußen. Dieſe hatten meiftens noch größeren 
Srundbefit in Händen und er daher mit Bejorgnig den Einwir- 
fungen der polnischen Herrfchaft entgegen. Die zunehmende Schnutz— 
und Rechtloſigkeit und die ausfchliegliche Bejegung aller Bisthümer, 
Abteien, Verwaltungspoſten ꝛc. mit ‘Polen, veranlaßte den deutjchen 


3ur Polonifirung des mweftpreußifchen Adels, 85 


Adel einen näheren ie) luß an das polnische Regiment zu erjtreben, 
der durch verwandtjchaftliche Verbindungen in einzelnen * raſch 
herbeigeführt wurde. Es währte nicht hundert Jahre, ſo war der 
gie Theil des deutjchen Adels polonifirt und nicht zweihundert 
ahre, jo war den meilten die Erinnerung einer deutjchen Abſtam— 
mung verloren gegangen. 

Die Polontfirung des deutjchen Adels ging in verjchiedener Weije 
vor jih. Einige Familien behielten ihre alten Wappen bei, einige 
veränderten fie, um jie einem polnischen Wappen ähnlich zu machen 
und einige jchlieglich gaben ihre alten deutichen Wappen ganz auf und 
wurden ın die Gemeinschaft eines polnischen jogenannten Stammwap- 
pens, d. i. einer Wappengenofjenjchaft („fratres clenodiales“) aufge- 
nommen. In Polen gab es nämlich große Gejchlechter, die in viele 
einzelne Familien mit ganz verfchiedenen Namen —— die jedoch 
alle das gleiche Wappen führten und ſich als Schildvettern betrachten. 
Die Entjtehung diejer Inftitution wird auf die alten ſlaviſchen Gau— 
——— mit gemeinſamem Beſitz zurückgeführt. Ebenſo wie mit 

n pen wurde die Polonijirung mit den Namen —— 
theils wurden dieſelben nach einem er Poſſeſſiv⸗Beinamen (nad) 
irgend einem Gute, auf -ki oder di, d. h. „von“ endigend) vergrößert, 
theilö wurde der alte Name polonifirt und ſchließlich ganz durch den 
neuen polnijchen Poſſeſſivnamen verdrängt. 

on den Familien, die jich um jene Jeit polonifirten, mögen von 
den noch blühenden und befannteren — e genannt werden: Dohna= 
Borziskowski, Glaſenapp-Glitminski, Haugwit-Bawlowsti, Helden mit 
den Beinamen: Sarnowski, Gonfiorowsfi, Komarczewski, Prziscorowski 
und Gowarczewski (nad) den verjchiedenen Gütern), Horn mit dem 
ind Polnische überjegten Namen „Rogowski“, Kalkſtein mit den 
Namen Kobilingli, Oslowski, Stolinsfi (waren jchon theilweije um 
1400 polonifirt) Kottwitz⸗Krzycki, Krockow-⸗Krukowski, Manteuffel-Kiel- 
pingfi, a her rg Noftig mit den Namen Bonkowski, 
Jackowski. Tofarsfi (hierin gehört der Landtagsabgeordnete v. T.) 
und Drzewiedi (legtere jtammen aus Großpolen), Oppeln-Bronifowäfi, 
Rlaten-Onisfi, — — und Slinsfi, Rohr mit dem 
überjegten Namen „Treziuski“, Schleinig-Pleminsti, Schönbed, polo- 
nifirt „Szembef“, Silberſchwecht: Laszewski, Stein mit dem überjeß- 
ten Namen „Kamiensti“, Tornow mit dem polonifirten Namen „Zur: 
nowsfi“, auch „Turno“, Wedell-Tuczyüski, Zanthir-Woigki. 

Da Bolen bei dem indigenen und dem —— deutſchen 
Adel nicht nur keinen Widerſtand ſeinen Beſtrebungen entgegengeſetzt 
fand, ſondern ein Entgegenkommen, wurde Weſtpreußen mit man— 
cherlei Privilegien ausgeſtattet und dem erlag Adel bald der 
Weg zu den höchſten Ehrenftellen, jowohl im Lande, als auch in 
Polen freigegeben. Wir finden den wejtpreußifchen Adel daher bald 
im Beſitz der höchſten Aemter im Lande, einige, deren Familien noch 
blühen, mögen hier genannt jein: 

c Ein Kobilinski (Kalkitein) war 1724 Landrichter von Marien- 


urg, 
Chriſtoph Bakowski (Noftig) war Unter-flämmerer vor Pomme— 
tellen; er jtarb 1625. 


86 ur Polonifirung der wefpreußifchen Adels. 


—5 Ignatz Bakowski war 1677 Wojewode von Marienburg 
deſſen Sohn Stanislaus Ignatz 1697 Unter-Kämmerer von 
m. 


Raphael Jackowski (Nofti) war 1648 Wojewode von Pome 
merellen. 

Samjon Garczynski (Rautenberg) war Landfähnrich von Kulm; 
er ſtarb 1667. Sein ältefter Sohn Stanislaus war Kaſtellan von 
Konarn und der jüngere Damian, Landfähnrich von Pojen. Des 
legteren ältejter Sohn, Stanislaus (F 1737) Kajtellan von Inowra— 
clam und der jüngere, Stephan (F 1755) Wojewode von Poſen. 

Georg Klinski (Rautenberg) war 1598 Landrichter in Dirjchau. 

Johann Laszewski en) war um 1700 Landfähnrich 
von Mirchau und fein Sohn Michael Remig von 1730—46 Bilchof 
von Ermland. 

Hyronimus Turno (Tornow) war 1739 Abt des Cijterzienjer- 
Elofters zu Priement bei Bomit. 

Andreas Zantir (Zanthir) war um 1500 Wojewode von Pofen. 

Ernjt Weiher war gegen Ende des 16. Jahrhunderts Wojewode 
von Kulm und Staroft von Putzig und von feinen ſechs Söhnen war 
Johann General, Senator und 1622 Staroft von Pusig, Sabowit, 
Radzin und Schlochau; er ftarb 1626. ‘Ferner: Demetrius, Kaſtellan 
von Danzig, Staroit von Berent, 1618 Schagmeifter zu Marienbur 
und Senator; er jtarb 1628. Ferner war der 1643 verftorbene Mel- 
chior Senator und Starojt von Schlochau, Kowalewo und Kron, der 
1614 verftorbene Ludwig Staroft zu Schlochau und Kriegsoberft und 
er der jüngite Sohn Martin Wladislaus polnischer Kammerherr 
und Commandeur einer Abtheilung Hufaren, al3 welcher er am 
24. Juni 1610 bei der Belagerung von Carowe-Zamiescie durd) die 
Polen fein Leben einbüßte. 

Noch viele andere Mitglieder der Familie von Weiher gelangten 
in Polen zu hohen Ehrenjtellen. Kaſpar Graf von Dönhof war 
1639 Wojewode von Syrad und Starojt zu Lauenburg. Die Familie 
Dönhof hat ag jtet8 ihren deutſchen Namen beibehalten. Rein 
a — Krukowski (Krockow) war von 1640—58 Staroſt zu 

uenburg. 

Diele Beijpiele mögen genügen. 

Der weitpreußiiche Adel hatte alle Urjache mit der polnischen 
rg zufrieden zu fein. Das Heimfallrecht der Güter an den 

taat war durch die Krone Polen aufgehoben und die Güter in 
Allode verwandelt worden; gleichzeitig gewann der preußiiche Adel’ 
unter dem Negimente, der „adeligen Republik“ in der der Adel alles, 
die ſonſtigen Stände nichts ai: eine ganz andere Bedeutung, als 
er zu Seiten des deutichen Ordens de hatte. 

Als Rußland, Dejterreih und Preußen zur erjten Theilung 
Polens im Jahre 1772 fchritten und als Preußen bei diejer Gelegen= 
2 ganz Weltpreußen mit Ausnahme von Danzig und Thorn, zu— 
ammen 631 Quadratmeilen erwarb, waren über drei Jahrhunderte 
verfloffen, jeit der deutſche Adel in Weftpreußen feine deutiche Herr- 
ſchaft mit der polnischen vertaujcht Hatte. Faſt ausnahmslos fatho= 


ur Polonifirung des weftpreufifchen Adels. — Buperfiht. 87 


liſch und durchweg polonifirt, fonnte der wejtpreußifche Adel ſich vom 
— Preußen nicht viel gutes verſprechen und war weit davon 
entfernt, ſeiner Abſtammung eingedenk, den Germaniſationsbeſtrebungen 
a entgegen zu bringen. 

in nicht geringes Kontingent hat zu allen polnischen Erhebun- 
en der volonifkrte eutjche Adel geitellt und noch bis in die neueſte 
Bei finden wir die meisten jener Gejchlechter auf Seiten derer, die, 
ei es mit gejeglichen oder ungejeglichen Mitteln, für polnijche Inter 


ejjen wirfen. 
U v. Mad. 


Buverfidt. 


FEN, as ift’3 ja, was fo bitter Unheil ftiftet, 
NN o| Dak uns der Glaube an die Menfchheit fehlt, 
Der Irrwahn, der das Dafein uns vergiftet, 
Die Liebe jchmälert und die Seele quält. 


u 

Was gut am Menjchen, jollen wir erfafjen, 
Bis in den Grund der TFreundesjeele ſchau'n; 
“Viel beffer ift’s, ſich einmal täufchen lafien, 
Als angjtbeflommen feinem zu vertrau’n. 


Die feſte Zuverfiht auf Treu und Güte 
Erbaut den Himmel uns jchon erdenwärts, 
Wie iiber Troft verflärt uns im Gemüthe 
Der jel’ge Glaube an das Menjchenher;. 


Hermance Potier. 










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Die Wirkung des elektrifhen Lihts auf die 
Pflanzenentwikelung. 








ZÄUl, ührend der elektrifchen Austellung zu Paris im Auguft 
)z >| 1881 stellte Deherain im Palais d’Induftrie Unter- 
> AK uchungen darüber an, wie jich die Pflanzen in ihrem 
a N Wachsthum gegen die Einwirkung des elektriſchen Lichts 
A verhielten. Es wurde ein Gewächshaus errichtet und 
> in zwei Abtheilungen getheilt, deren eine mit geſchwärz⸗ 
4 tem, völlig undurchlichtigem Glaſe umſchloſſen wurde, 
N während die andere dem gewöhnlichen Tageslichte außgejegt war. 
"Das Dunfelzimmer wurde ohne Unterbrechung Tag und Nacht mit 
einem 2000 Kerzen-Bogenlicht, gejpeiit durch eine mittels Dttos Gas— 
majchine getriebene Gramme-Datchine, erleuchtet; das Hellzimmer er- 
hielt nur während der Nacht eleftrifches Licht. 
ae vergleichenden Beobachtung wurden fünf VBerjuchsreihen an— 
eſtellt: 
— 1) Banden die Tag und Nacht nur elektrifches Licht erhielten. 
2) Pflanzen, die bei Tage gewöhnliches und nur bei Nacht elek: 
triſches Licht hatten. 
3) Pflanzen, die während des Tags im Freien jtanden und wäh- 
rend der Nacht dem elektrijchen Lichte ausgefegt wurden. 
4) en, die bei Tage im Hellzimmer, nachts im Finſtern 
tanden. 
5) Pflanzen, die normal im Garten lebten. 
Als Bertuchäpflangen dienten Gerite, Flache, Bohnen und eine 
Anzahl Garten: und Treibhauspflanzen. 
Wirkung des nicht nbgefihli ten Lichts. Nach jieben Tagen 
eigte ſich, daß das unbehinderte elektrijche Licht die ihm ausgejegten 
ewächſe geichädigt hatte, die nur bei Nacht von ihm bejtrahlten aller- 
dings in geringerem Grade. Die Blätter waren jchwarz und welk ge- 
worden und fielen ab; doch war die Schädigung auf die Epidermis— 
ſchichten bejchränft und le von dem direkten Auffallen der Licht: 
itrahlen, nicht von der Entitehung von Stidjtofforyden, her, denn wo 





Bie Wirkung des elektrifchen Lichts auf die Pflanzenentwickelung. 89 


ein Blatt —*5* durch ein anderes gedeckt war, zeigte ſich eine 
— hiſch ſcharf ausgeprägte Linie. 

ie Ai mit der Barferpeit (Elodea canadensis), in einer Flaſche 
Waffer untergetaucht, zeigten, daß, während das gewöhnliche Tages— 
licht feine derjegum der Kohlenjäure und feine Entwidelung von 
Sauerftoff zu bewirken imjtande war, die direkten Strahlen des elek: 
triichen Lichtes er Erjcheinungen hervorriefen. Bier oder fünf Tage 
und Nächte elektrische Beleuchtung gaben ebenjo viel Sauerjtoff, wie 
etwa in einer Stunde durch hellen Sonnenschein erhalten werden fann. 
Nach fünfzehn Tagen wurden die Bogenlichter in Kugeln von durch— 
ſichtigem Glaſe een wodurd, wie auch Siemens neuere 
DVerfuche zeigten, die jchädliche Wirkung des direkten elektriichen Lichts 
wejentlich gemildert wird. 

Wirkung des abgejhügten Lichts. Eine Anzahl friſche und 
kräftige Pflanzen wurde in das Gewächshaus gebracht, außerdem Säm— 
finge von Gerjte, Hafer, Erbjen, Mais, Bohnen, die eben erjt über 
der Erde hervorragten. Alle nur dem elektrijchen Lichte ausgejegten 
Sämlinge gingen Früher oder jpäter zugrunde, und die Blätter einiger 
von ihnen waren ebenjo gejchwärzt wie von dem nicht abgejchügten 
Lichte. Die jchon ältern Pflanzen wuchjen zwar heran, aber trieben 
nicht3 weiter wie Blätter, nur eine einzige eritenpflanze hatte auch 
Blüte und Frucht. Letztere war normal und feimte beim Ausjäen. 

Erfichtlicd) ift das angewandte elektriſche Licht nicht hinreichend, 
die Aufnahme einer beträchtlichen ——— wie ſie zum Blühen 
und Fruchtanſetzen erfordert iſt, anzuregen. Direkte Verſuche ergaben 
ferner, daß es auch zur Bewirkung von Waſſerausſcheidung nicht kräf— 
tig genug iſt: ein ihm eine Stunde lang ausgejeßtes Blatt giebt etwa 
nur den Länfatgiten Theil derjenigen Waſſermenge ab, welche es unter 
ee Berhältniffen im Sonnenlichte verdunitet. Da nun aber 

ie Wajferverdunftung durch die Blätter rar die Aufnahme 

des zum Neifen der Samen nöthigen Materials bewirkt, jo erklärt 
fi, weßhalb die erwähnten Pflanzen unfähig waren, Blüten und 

en zu produziren. Es iſt befannt, daß die gelben und rothen 
Lichtitrahlen am Härkiten diefe Wafjerverdunitung fürdern, während 
das elektriſche Licht bejonders reich ijt an blauen und violetten 


——— 

herain hält das bei ſeinen Verſuchen — elektriſche 
Licht für zu ſchwach, um einen Schluß auf die Nothwendigkeit der 
nächtlichen Ruhe der Pflanzen zu ziehen. Es war jedoch erjichtlich, 
daß die eleftrifche — während der Nacht für diejenigen Ge— 
wächſe vortheilhaft war, welche den Tag in dem — ſchwachen 
Lichte des Hellzimmers zubrachten. 

In einer neuen Verſuchsreihe wurde die Stärke des elektriſchen 
Lichts dadurch geſteigert, daß man die Pflanzen ihm näherte. Die 
jungen Sämlinge, welche allein dieſe Beleuchtung erhielten, gingen 
ein, aber einige kräftiger geartete und ſchon erwachſene Pflanzen 
rg diejelbe aus, obgleich die Blätter weniger durch die zu große 

ähe des Lichts jchwarz wurden. Wiederum war die nächtliche elef- 
triſche Beitrahlung derjenigen Pflanzen entjchieden vortheilbaft, welche 
Tag über im Hellzimmer jtanden. 
* 


90 Die Wirkung des elektrilhen Lichts auf die Pflanzenentwickelung. 
‚Der Genannte jummirte fürzlich feine Beobachtungen in diejer 


e: 

1) Das elektriiche Bogenlicht entjendet Strahlen, welche der Ve— 
ig ſchädlich find. 

2) Die meijten diejer Strahlen werden durch farblojes Glas ab— 


efangen. 

3) Das ne Licht giebt Strahlen, welche ſtark genug find, 
um erwachjene Pflanzen zwei und einen halben Monat im 
Wahsthum zu erhalten. 

4) Die den Pflanzen günjtigen Strahlen bejiten nicht genug Kraft, 
am — — oder Fruchtreife bei ältern Gewächſen zu 
ewirken. 

Veranlaßt * wiederholte Berichte über das angebliche Wachs⸗ 

a. des Weizens bei eleftrifchem ne itellte Robert Croß in der 
ähe von Edinburgh folgende Verjuche in rt Richtung an: 

Gut ausgereifte Kartoffeln wurden theils jo placirt, daß fie 
während der ganzen Nacht im vollen Strahle des eleftrifchen Lichts 
waren, en ie zur Tageszeit ji) im Dunfeln befanden, theil3 jo, 
daß ſie be — im Finſtern lagen, jedoch dieſelbe Luftzirkulation 
und genau dieſelbe Temperatur hatten wie die dem elektriſchen Lichte 
— Kartoffeln. 

Nachdem die Kartoffeln etwa 12 Centimeter lange Keime ge— 
trieben hatten, wurden dieſe abgenommen und im Tageslichte geprüft. 
Die jämmtlihen Keime waren von gleicher Länge, demjelben allge- 
meinen Ausjehen und glichen ganz denjenigen, wie fie an Kartoffeln 
in dunfeln Kellern oder in Fäſſern entitehen. 

Mit größter Sorgfalt wurden die im eleftriichen Lichte gewach— 
fenen Keime auf jan geroitefi (Chlorophyll) unterfucht, aber e3 
fonnte nicht die leifeite Spur davon entdedt werden, jo daß Diele 
wichtige Subftanz, welche direkt oder indirekt alle höhern Formen der 
——— und Bäume aufbaut, nährt und entwickelt, die Früchte und 

amenſchoten reift und färbt, ganz fehlte. Mögen die Chemiker das 
elektriſche Licht mit den Strahlen der Sonne vergleichen und identifi— 
eiren, in welcher Weiſe fie immer wollen, evident iſt es, daß Sonnen 
ftrahlen etwas ganz anderes find. 

Croß behauptet, daß das eleftrijche Licht, mag es auch noch jo 
vervollfommnet werden, nicht den geringiten Einfluß auf die Ent- 
widelung jelbjt der ar ie lern haben wird. Die Ans 
jicht, nad) welcher e3 zum Bejchleunigen und Unterjtügen des Bflanzen- 
wachsthums und Nihn der Früchte wirken ſoll, iſt einfach eine Täu— 


ung! 

EM jolhen Berjuchen eignen ji) alle großen, ſchnell wachjenden 
Samen, die in Thon gepflanzt und bewäfjert werden, aber Kartoffeln 
on dazu am bequemjten, da man ſie beliebig placiren fan und be— 
ondere en Usa ei nicht nöthig ift. 

Jedoch befanden jich auf der Eleftrizität3-Ausjtellung in Wien 
1883 zwei Glaskäſten mit in denjelben zu gleicher Zeit gezogenen Pflanzen. 
Die einen hatten nur Sonnenlicht, die andern nur — — 
erhalten und befanden ſich innerhalb 24 Stunden nur zwei Stunden 
ohne Beleuchtung. Die letzteren waren im Durchſchnitt zwei bis dreimal 


Die Wirkung des elektrifchen Lichts auf die Pflanzenentwickelung. 91 


größer als die eritern, hatten Blüten und Knoſpen, während die im 
onnenlichte gezogenen noch nicht einmal Knoſpenanſätze zeigten. Der 
Ausſteller meinte, daß der reichlichere Ertrag an Blumen die Mehr: 
ausgabe für die fünjtliche Beleuchtung und für die Batterie mehr als 
eriegen kann. Vielleicht fünnen wir bald elektrische Erdbeeren zur 
Weihnachtszeit und Pflanzen in Blüte Haben, die jonjt nur alle hun- 
dert Jahre blühen! 

Die Anjichten über den Einfluß der elektriichen Beleuchtung auf 
das Pflanzenwahsthum gehen aljo noch jehr weit 


— — — — 


Flamme und Aſche. 
— 


ES P b Jahr auf Jahr hinſchwand 
1877 F ‚| In Sorgen und in — 
Doch meiner Liebe Brand 
AVerlohte nicht im Herzen. 


Wenn auch die Glut gebricht 
Und nur noch Funken ſpringen: 
Die Flamme kann ja nicht 
Mehr durch die Aſche dringen. 
D. Saul. 





J 


_ .——...„ u m m. 
— II IITITZ IT TI ZZ. 
DO . . 


ee 
Kamin. DIE 
8 





Die Sphinx. 


Bon A. Engel. 


Als man fich in einer ——— gegenſeitig Räthſel zu rathen 
aufgab, ſagte ein junger Mann, nachdem er, trotz aller Aufforderungen 
auch ſein ehrliches Theil an der Unterhaltung beizutragen, lange —* 
nend dageſeſſen: „Ich gebe euch das ſchönſte Räthſel auf, das mir in 
meinem Leben vorkam.“ 

Der junge Mann verſtand ſich ng jeine Zuhörer zu feſſeln. 

Auf jtürmifches Fragen waren feine Antwort zwei Worte: 

De Alerandra.“ 

o rege vorher die Neugierde, jo lebhaft jet der Beifall. 

Niemand konnte das Räthjel rathen. 

Am meijten gefiel die Idee der Fürſtin Alerandra jelbjt, als man 
fie ihr Sig ie lachte und war dem jungen Mann dankbar, da 
er ihr den Namen einer Sphinr verichafft. 

Das heißt von ihrer Dankbarkeit hatte er nichts, als daß fie lachte 
und ihm dabei m. eihen Zähne zeigte, an die alle Pos: Ber: 
gleiche von Perlen und Elfenbein re ar und eine Sonne 
in ihren Augen aufgehen Tieß, welche den Sterblichen einen ganzen 
Himmel öffneten. 

Selbjtverftändlich war Fürjtin Alerandra ſchön; jonjt würde man 
nicht von ihr — Was machte ſie zu ſolch' einem Räthſel, wie 
ſie war? Ihre Kälte? Nein, das konnte Verſtellung ſein. 

Kalt war ſie auch nicht. 

Es wäre beſſer geweſen, wenn ſie es war. Dann gab es wenig— 
ſtens die Heffruns daß einmal eine Sonne aufgehen könnte, vor deren 
Strahlen das Eis ſchmelzen würde. Und wer glaubt nicht gerne, eine 
ſolche Allgewalt in ſich zu tragen, der keine Eisrinde zu re nicht 
einmal die, welche ein Meenjchenherz umschließt. Fürſtin Alerandra 
war freundlich gegen jeden, und dieſe Freundlichkeit, die unter Um— 
ftänden hätte ein Waradies auf Erden hervorzaubern können, war die 
Verzweiflung ihrer Verehrer. Könnte es nur einmal einem gelingen 
fie ın Zorn zu verjegen! Das wäre ein größerer Triumph genen, 
als einer anderen ein Wort der Liebe — Aber Fürſtin 
zum hatte ein Taubenherz, das gefährlicher war, als das einer 

igerin. 

Sie war unergründlich harmlos, ſorglos. Die zartejten Töne der 
Poeſie wurden vor ihr durch alle Variationen hindurch erichöpft. Sie 
lächelte wie ein Kind. Traute ich aber einmal jemand über die Blumen: 
jprache hinaus, jo hatte fie eine jo unjchuldig ungeziwungene Art jich 
nach einem Gegenjtand umzumenden, der — ihr ganzes Intereſſe 
in Anſpruch zu nehmen wußte. Jener Kühne ſah J plötzlich ſtatt 
der Wonne jenes Armida-Lächelns der kahlen, wenn auch mit ſehr ge— 
ſchmackvollem Stuck verzierten Wand gegenüber. 


Am Kamin. 93 


Das war alles jo zufällig gekommen, fo zufällig und doch wie 
verftändlich für einen Mann von Welt! 

Fürſtin Alerandra hatte einen alten Mann. Alle jchönen Frauen 
haben alte Männer. 

Im Roman noch öfter als in Wirklichkeit. Die Schriftiteller 
haben es ja nicht zu verantworten. Wenn fie für alle unglüclichen 
und unpafjenden Ehen auffommen jollten, welche fie jtiften, 5 wiirden 
fie ji) nicht mehr ungejtraft ihres Lebens freuen können. 

ürſtin ge Hit hatte wirflic, einen alten Mann. 

3 ſchien, als hätte fie ihn nur, um gr als Medium, durd) das 
ie ihre Sphingnatur offenbaren Fonnte, zu dienen. Auch auf ihn er- 
tredte fich ihre ganze Freundlichkeit und Fi orge. Sie that zivar ihre 
Pflicht ohne das if Zeichen der Liebe; aber in * klaren Augen 
lag auch nicht ein Schatten von Unglück oder Unzufriedenheit, was ja 
wohl ſo ziemlich daſſelbe iſt. 

Man konnte nichts entdecken, ſo tief man auch hineinſehen mochte, 
und das ließ man ſich natürlich ſehr angelegen ſein. 

„Es iſt merkwürdig“, ſagte ihr einmal eins ihrer Opfer, „wie Sie, 
ein jo zartes Wejen, wie Ste, von der man fich nicht einmal denken 
fann, daß Sie es nöthig haben jollten, dereinjt eine irdijche Hülle ab- 
uftreifen, um ein feliger Engel des Himmels zu werden, wie Sie Ge- 
Fllen an einem jo graujamen Namen finden fünnen. Sie wilfen dod), 
wer das Räthjel der Sphinx nicht rathen konnte, war erbarmungslos 
einem — Tode verfallen.“ 

„Gefallen?“ Wer jagt Ihnen, daß ich Gefallen daran finde? Es 
amüſirt mich zu beobachten, was die Leute fid) alles ausdenfen, ad), 
die Leute find ja jo Flug.“ 

Indem fie das fagte, Jah fie jo Hingebend, jo aufrichtig reſpekt— 
voll aus, und dabei bligte der Schalf aus ihren Augen. 

Um fo harmlofer kann ich mic) aber amüfiren, da ich nicht jehe, 
daß die Natur einer Sphinx mit derjenigen des Engels” — der Schalt 
wetterleuchtete in all’ ihren Meienen — „ſich nicht vertrüge. Ich kann 
mid) daran freuen, daß fie alle noch Leben, jogar noc) sehn jind, jo 
efund, daß ich fie beneiden würde, wenn ich nicht jelber eben jo ge— 
* wäre.“ 

Wie reizend, wie grauſam reizend Fürſtin Alexandra war, wenn 
ſie ſpottete! 

Auf dem Schloſſe des Gemals der Fürſtin Alexandra gab es 
Einquartierung. 

Des Gemals der en Alerandra, weiter war er nichts, aber 
das war jchon viel, ad), jo beneidenswerth viel. 

Es galt fein Kriegsipiel, man ging nicht blindem Gewehrfeuer 
entgegen. Es war Ernſt. In den Gewehrläufen jtedte die Kugel, 
und ıhr Ziel war der Menſch. 

ber man tanzte dennoch. 

jpielte bis zum legten Augenblid jeine Rolle auf der Bühne 

n8 


Es mußte ein würdiges Vaterland fein, das jo jtolze Söhne ge- 
boren, die num fo muth- % begeifterungsvoll für jeine Freiheit in den 
Tod zogen. 


94 Am Kamin. 


Sie waren jchön, dieſe Söhne ihres jo heißgeliebten Vaterlandes. 

Ungehindert liegen fie die Flammen ihres brennenden Dergens 
aus den nachtichwarzen Augen ——— Es wäre eine Beleidi— 
gung für die Unfehlbarkeit von Fürſtin Alexandras Schönheit, wollte 
man hervorheben, daß ſie auch hier die — ja, welches neue Attribut ſoll 
man ihr nun wieder beilegen? — „Srone, Stern des Feſtes“, das iſt 
alles jo abgenugt — jagen wir, fie war umjchwärmt wie eine jeltene 
Blume, eine Königin der Nacht. 

Aljo ihre Schönheit war etiwas jelbitverjtändliches, daß fie das 
Wunder bewirkt hatte, jelbit den Neid zum jchweigen zu bringen. 

Die Damen hatten ji) daran gewöhnt, ihren Ehrgeiz darin zu 
jegen, nad) Fürjtin Alerandra die Gefeiertite zu jein. 

Heute Abend gab es viele „gebrochene Herzen.“ Doch verblutet 
hat jich, jo viel wir wiljen, feines. 

Dergleichen Riſſe find nicht Be: Das Herz eines 
Gavaliers kann deren jo viele ertragen, wie das Gejicht eines Corps 
ſtudenten „Schmiffe“. 

ürjtin Alerandra war harmlojer als je. 

Kur eine Feine Bemerkung machte fie, troß ihrer Harmlofigkeit, 
welche jie beunrubigte. 

In der ganzen Schaar war nämlich einer, der es ſich gar nicht 
angelegen jein ließ, diefe Sphinz zu ergründen. 

— zeigten ſeine Blicke, bar er Sie Ihön fand, aber fie jagten 
es ihr nicht. 

Gerade dieje Offenheit kann oft . fatal jein, weil man jo gar 
nicht3 dahinter ahnen und ee ann. Und doc) en jo hübjch 
etwas ahnen zu können, und die Phantaſie jtattet die Vermuthungen 
gewöhnlich mit jo jchmeichelnden, oft märchenhaften Farben aus. 

„Graf Boris, — Arm“, und dahin ſchwebte ſie, und er ent— 
führte ſie mit einer Selbſtverſtändlichkeit, die mindeſtens — war. 

Es herrſchte eine wunderbare Unruhe unter den Zurückgebliebenen. 

Sollte Fürſtin Alexandra aus ihrem Gleichgewicht fallen? Dann 
konnte man ſie erſt recht nicht mehr verſtehen, und wenn, dann war 
das Facit der Rechnung mit Fürſtin Alerandras Gemüthsbewegungen 
ein wenig ſchmeichelhaftes für alle anderen. 

Das Paar war auf die Terraſſe hinausgetreten. 

Es war träumeriſch ſchön draußen. 

Ein mildes Mondlicht fiel auf einen kleinen Weiher, auf welchem 
ein zierlicher Nachen lag. 

Der Natur war in dieſem Park mit zarter Hand nachgeholfen. 
Beleidigt und verſtümmelt war fie nirgende. 

Hin und wieder jah eine weiße Marmorfigur aus dem Gebüjch 
hervor, und jchien mit —* Arm in die lauſchigen Gänge zu 


aden. 
Die Nacht en nicht3 beraujchendes. Sie goß nur ein leiſes 
Wonnegefühl in die Seele. 

Die ganze Natur jchien fich in einen reinen, weichen Akkord auf- 
löſen zu wollen. 

Graf Boris lehnte an einer fchlanken Vaſe. Die dunklen Blätter 
der Schlingpflanze, welche aus derjelben auf die Balujtrade hernieder- 


Am Kamin, 095 


— bildete einen pittoresfen Hintergrund für die Formen ſeines 
opfes. 

‚ Die Träumerei, welche in jeinen Zügen lag, war feine Affektation. 
Sein Auge juchte die Sterne. Fürftin Alerandra verftand fich auf 
dergleichen — wenn fie wollte. 

„An wen denken Sie?“ 

„An meine Mutter.“ 

Fürſtin Alerandra hätte beinahe erftaunt ausgejehen. 

„Ste haben nichts als fie?” 

„Nichts, und das iſt jehr viel.“ 

Fürſtin Alerandra jchwieg einen Augenblid. 

„Erzählen Sie mir von Saufe“ 

„Dort ijt alles ganz anders.“ 

„Schöner?“ | 

„Das weiß ich nicht, dunkler, umd für uns auch fchöner. Hier 
herrſcht ein gewiſſes en hell, um traurig, zu dunkel, um 
uninterejjant jein zu können. enn ic) von dem Altan meines 
Schloſſes jehe, * mein Blick auf die dunklen Fluten des Meeres, 
und an mein Ohr rauſcht ihr dumpfer Schlag, wie ſie in ohnmächtiger 
Anſtrengung die nackten ſchroffen Felſen hinanſtreben. Ich lauſchte 
einem ewigen Kampfe, den Klagen eines nimmer raſtenden, ewig friede- 
Iojen Elementes, und das ijt — 

Ueber jenen Wogen lächelt das Mondlicht nie harmlos wie über 
dieſen freundlichen Wipfeln. Uebt es auch auf jene eine magiſche Ge— 
walt, ruhen ſie auch unter dem Zauber ſeines flimmernden Lichtes, 
der Eindruck der Friedloſigkeit wird noch gehoben — in der Tiefe 
ächzt und ſtöhnt es fort. — Und ganz unten zu meinen Fußen rauſchte 
noch ein Meer von dunklem Laub. Keine künſtelnde Hand wagt hinein- 

ifen, um die fnorrigen Aeſte zu bejeitigen, Damit ſie jungen, jchlanfen 
ak machen. Das ijt die Ehrfurcht vor dem Alter. Die Bäume, 
deren Krone fie jchmüden, entjtiegen vor vielen Jahren, denen wir 
nicht nachdenken, dem Boden unjerer Heimat, als unjer Volt noch) 
frei war und unjere Gejchlechter groß und mächtig" 

„Und die Menjchen?“ fragte Fürftin Alerandra. 

„Sind wie das Land.“ 

Nennen Sie nicht zuweilen Ihre Frauen Herrin, warım thun 
Sie das hier nicht?“ 

Man würde ung mißverftehen, und unjer Ausdrud würde feine 
edle Bedeutung verlieren. Wir find feine Sklaven, wir find freiwillige 
Diener der Schönheit, der Anmuth und Güte.“ 

„Das Klingt jehr ſtolz. Sie haben überhaupt feine gute Meinung 
von uns Frauen.“ 

Auch feine jchlechte. Ich habe mich daran gewöhnt, die Mittel- 
ſtraße zu ge Illuſionen, aber auch ohne Bitterfeit.“ 

„te proſaiſch.“ 

„Wählen Sie ein Wort das bejjer Elingt: natürlich. Nennen Sie 
alles, was nicht ungewöhnlich ift: proſaiſch. Ste find vielleicht ge- 
wohnt, daß man Ihnen wie auserlefene Blumen und Früchte, nur 
augerlejene Gedanken oder Worte bietet, und find gütig genug, den 
guten Willen anzuerkennen, nachjichtig genug nicht zu bemerfen, daß 


96 Am Kamin. 


diefe Blumen duftlos, dieje Früchte —— — ich meine, dieſe 
Gedanken geborgt, die Gefühle unwahr, dieſe Worte hohl, daß alles 
werthlos iſt — zu werthlos für Sie.“ 

Fürſtin Alerandra hatte vergejjen, dab fie eigentlich tanzen ſollte. 
Nichts erinnerte fie daran, als die wogenden Klänge der Mufif, doch 
die Töne kamen ihr jo entförpert vor, jo jeelifch eingewoben in die 
große Harmonie der Schönheit dieſes Abende. 

„Ste find der erfte, der jo fühn über etwas redet, das mich be— 
trifft. Kennen Sie nicht den Namen, den man mir gegeben?“ 

„Sch hörte ihn. Kennen Sie nicht das Sciejal der Sphinz, 
wenn jemand 3 Räthſel löſt?“ 

„Kennen Sie nicht das Schickſal der Sphinx, wenn jemand ihr 
Räthſel Löft!“ — Alexandra wurde um einen Schein bleicher. 

„Daß die Menſchen ſich ſo leicht mißverſtehen, beſteht nur darin, 
daß jeder zu viel an ſich —*R denkt. Man giebt ſich nicht die Mühe, 
ſcheint ſie un jelbjt bei Ihnen nicht gegeben zu haben, Be 

„Sie find entweder ein großer Barbar oder ein großer Peſſimiſt, 
und nebenbei nicht bejjer, als die anderen, welche fie ns denn 
auc Sie — ſich mit dem fraglichen Räthſel keine Mühe gegeben.“ 

„Sch ſtehe vor einem tieferen Räthſel, Fürſtin.“ 

„Das Elingt mehr intereffant als galant. 3 Räthjel wäre? — 


Der Tod. 

Fürſtin Alerandra fchauerte „Es ijt fühl, Fürftin, Sie werden 
ji) erfälten.“ 

„sa, gehen wir hinein.“ 

„Fürſtin, man jagt im Blumenduft jteigt ung Erinnerung ent- 

en. Brechen Sie für mich eine Blume Sie joll an ar 
Mi em Wachtfeuer die Erinnerung an diefen Abend vor meiner le 
heraufzaubern. — Nein, feine prunfende, wählen Sie diejen Jasmin- 
weig.“ 
; Sie brach ihn. Graf Boris beugte jich darüber und über ihre 
Hand, und fühte beide. 

„O, diejer ſüße Sasminduft!“ 

Sie jahen Ic beide an. Er führte noch einmal ihre Hand an 
jeine Lippen. Dann gingen jie zu den anderen. — — 

Des Nachts erwachte Fürjtin Alerandra oft. Dann hörte fie im 
ihlafbefangenen Geijte eine wohllautumjchleierte Stimme fragen: 

Kennen Sie nicht das Scidjal der Sphing, wenn jemand ihr 
Räthſel löſt? und fie fühlte, wie Todesſchauer durch ihr Herz 300. 

Am nächſten Morgen rüdte das Regiment unter fchmetternden 
Irompetenfanfaren aus. 

3 luſtige Reiterlied klang wehmüthiger, als hätten fie einen 
— geblaſen. 

Die Schlacht war geſchlagen. Viele von denen, welche im Schloſſe 
der Fürſtin Alexandra und ihres Gemals getanzt hatten, waren todt. 
Sie ſtarben für die Freiheit ihres Vaterlandes. Aber dieje hatte jie 
belogen; jie lächelte ıhmen nicht in ihrer Todesitunde. ie Ueber 
lebenden errichteten auf dem Schlachtfelde einen Denkitein. 

Einen Steg konnte er nicht verherrlichen, aber er trug die Namen 
der für ihr Baterland Gefallenen. Fürjtin Alerandra fuhr hinaus, 


—— ——— — — 
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— — — 
— — — 


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(Aus Hartlebens „Orient“.) 


Der Wil bei Alt-Kairo. 


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Am Kamin. 97 


Namen zu leſen. Der des Grafen Boris ftand an der 
Spitze. 

Kennen Sie das Schickſal der Sphinx, wenn jemand ihr Räthſel löſt? 

Fürſtin Alexandra hörte bald auf ein intereſſantes Räthſel zu ſein. 

Sie war vielleicht räthſelhafter als zuvor, aber ſie wollte es nicht 
mehr ſein. Das nahmen ihr die Leute übel. 

Sich aus uneigennützigem Intereſſe die Mühe nehmen, um andere 
zu ai Her dazu find die Menjchen — Graf Boris hatte recht — 
zu egoiſtiſch. 

Mber fie dachte noch oft an die Sphinz. 

. Die war doch gewiß gleich todt, als fie vom Felſen hinunter 
jtürzte. Das war enenttich jehr glüdlih. Ja, du lieber Himmel, 
das war früher! 

Der moderne Menjch trägt feinen Felſen, von dem er fich jtürzt, 
im eigenen Herzen. 5 

Das macht fein Aufjehen, und ijt vor der Welt anjtändiger, aber 
für den Menjchen jelbit iſt es viel, viel jchlimmer. 


Münchener Zörief. 

Seit meinem leßten Briefe ijt der Garneval mit all jeinem tollen 
Jubel vorübergeraufcht. An Belujtigungen der verjchiedenjten Art 
leidet das lebensluftige München niemals Mangel; aber jeit langem 
gab es nicht mehr eine jolche Fülle eigenartiger Feſte wie in dieſer 
Satfon. Es ijt, als ob das gejellichaftliche Leben, auf dem e8 unter 
der Regierung Ludwig II. wie ein Bann lajtete, plöglic) aufgewacht 
wäre, ben die rege em des Hofes allen bedeutenderen 
‚seiten höheren Glanz fichert. Die Künftlerichaft, in deren Interefje 
es natürlich in eriter Linie liegt, daß München feinen Auf als deutjche 
Kunjtmetropole, den es unter Zudwig I. und Mar Il. unangefochten 
bejaß, unter Ludwig II. aber ein wenig verblajien jab, mit neuem Glanz 
belebe, hat denn auch dem Prinzregenten, der ein eifriger Förderer 
der Künste ijt, bereits ihren Tribut gezollt, indem fie ihm einen groß: 
artigen Fackelzug darbrachte. Der Mar -Jojephsplag, der von der 
königlichen Rejidenz, dem Hoftheater, dem Hauptpojtgebäude und eini— 
en Privathäufern gebildet wird und mit dem genialen Monument 

ar Joſephs von Thorwaldjen geſchmückt iſt, war bei diefer Gelegen- 
heit prächtig illuminirt und gewährte mit den Taufenden von eln, 
die die künſtleriſch geſchmückten, allegorijche Gruppen bildenden Wagen 
pbantajtiich bele ten, einen wahrhaft feenhaften Anblid. 

Driginell, wıe alles, was unjere Künjtler bieten, war auch das 
roße japaneſiſche Maskenfeſt, das die Akademiker veranitalteten. Die 
Sarnevalsbelujtigungen diefer jungen Künſtlerſchaar zeichneten fich jtets 
durch einen eigenartigen, übermüthigen Humor aus und übten eine 
große Anziehungskraft auf das Publikum. Im Jahre 1881 aber fans 
den jie plöglich eine —— e Unterbrechung. Damals war nämlich 
ein als Eskimo gekleideter Theilnehmer einer Flamme zu nahe gekom— 
men, die Watte, in die er gehüllt geweſen, hatte Feuer gefangen, das 
ſich raſch anderen mitgetheilt, und eine große Anzahl hoffnungsvoller 
Jünglinge waren jammervoll verbrannt. Die Faſchingsluſt der ganzen 

Der Salon 1887. Heft VIL Band UI, 7 
P 


98 Am Kamin. 


Stadt war damal3 unter dem Eindrud dieſer furchtbaren Kataſtrophe 
wochenlang gelähmt und auf die Künftler jelbit machte letztere einen 
jo niederjchmetternden Eindrud, daß fie erjt heuer, nach jechsjähriger 
Pauſe, wieder den a, en, ein neues Feſt zu arrangiren. 

Auch der Bicycleflub verlieh feinem —— Ballfeſte in 
Koſtümen und Ausſtaättung einen japaneſiſchen Charakter, wie denn 
überhaupt % den „Mikado“Vorſtellungen, die die befannte englische 
DOperettengejellichaft im legten Herbit im Gärtner ur er gab, das 
oftafiatische Injelreic) in Mode gefommen it. Das Großartigite in 
diefer Richtung leijtete Dr. Georg Hirth, der befannte kulturhiſtoriſche 

riftfteller und Mitverleger der hiefigen „Neuejten Nachrichten“. 
Er veranftaltete in jeiner Privatwohnung eine volljtändige Aufführung 
der genannten Operette, wobei die jämmtlichen, mitunter jehr Kane 
rigen Rollen von Dilettanten gejpielt und gejungen wurden und auch 
die zur Premiere geladenen intimen Gäjte in japanejiichem Koſtüm 
erſchienen. Ebenjo war natürlic) auc) der ganze Raum im reinsten 
japanejischen Stil deforirt, was ſich der Feſtgeber bei feinem Reich— 
thum wohl geitatten konnte. Der eigenartige, exotiſche Eindrud, den 
Diefe ganze Beranftaltung hervorbra It, läßt fich denfen. Die Leiſtun— 
en der Darjteller waren überrajchend gut und manche derjelben hätten 
a3 Lampenlicht einer größeren Bühne nicht zu fcheuen brauchen. Eine 
zweite Aufführung, die zum Beſten des Künjtlerhaus-Baufonds jtatt- 
and, trug einen mehr öffentlichen Charakter; zahlreiche Mitglieder des 
Hofes und der höchiten Gejellichaft — ihr bei, ſo daß dem 
erwähnten Zweck gegen zweitauſend Mark zugeführt werden konnten. 

Uebrigens iſt das projektirte Künſtlerhaus, wie wir hier in Paren— 
theſe bemerken wollen, ein rechtes Schmerzenskind unſerer Künſtler— 
ſchaft. Seit vielen Jahren plant man nun ſeine Ausführung, die 
Baugelder fliegen in Menge zu — erſt kürzlich wieder hat der Prinz— 
regent fünf — Mark geſpendet — aber noch immer fehlt es an 
der Grundbedingung: an einem geeigneten Platz für das großgedachte 
Monumentalgebäude, das eine neue Zierde Münchens werden ſoll. 
Die verſchiedenartigſten Projekte ſind bereits erörtert und wieder ver— 
worfen worden, und welcher Plaß jchließlich den Sieg davon tragen 
wird, das willen die Götter. Inzwi * verlieren die Künſtler auch 
das trauliche Interimsheim, das ſie ſich auf dem Maximiliansplatz in 
einem Ueberbleibſel der alten Stadtbefeſtigung geſchaffen hatten. Der 
verſtorbene Bildhauer Gedon mit ſeinem genialen Dekorationsſinn 
hatte dieſen kleinen Raum zu einem märchenhaft originellen Aufent- 
halt umgejtaltet, in dem die Künftlergejellichaft „Allotria“ ihre vom 
prächtigiten Humor belebten ——— abhielt. Nun ſoll auch 
dieſe Zufluchtsſtätte vom Erdboden verſchwinden, da dem äſthetiſchen 
Sinn unſerer Stadtväter das unſcheinbare alte Bauwerk inmitten des 
von modernen Gebäuden umgebenen Platzes ein Gräuel iſt. 

Von unverfälſchtem Carnevalsgeiſte erfüllt war auch eine Unter— 
haltung der Geſellſchaft „Schlaraffia“, die ſich bekanntlich hauptſächlich 
aus Schauſpielern und Theaterfreunden — Sie ſtellte ein 
Koſtümfeſt in einem Seebade dar und daß es dabei an pikanten 
und ausgelaſſenen Scenen nicht fehlte, braucht kaum erwähnt 
zu werden. 


Am Kamin. 99 


Das originellite Ballfeit nicht nur — ſondern vielleicht 
der ganzen Welt iſt aber jedenfalls das der Künſtlerinnen, das nun 
ſchon ſeit einer Reihe von — regelmäßig ſtattfindet. An deni⸗ 
ſelben nehmen nämlich nur Damen, hauptſächlich Malerinnen und 
Schülerinnen der hieſigen Kunſtſchule, theil. Unter keinen ——— 
wird ein Herr augelaffen und es jind die jchärfiten Kontrollmaßregeln 
getroffen, daß ſich nicht etwa unter irgend einer Verkleidung ein 
Angehöriger des hier — verpönten Geſchlechtes einſchmuggelt. 
Der diesjährige Ball fand in den „Vier Jahreszeiten“, einem der erſten 
hiefigen Hötels, jtatt; circa fünfhundert Damen, davon viele in männ- 
iher Tracht, betheiligten fich daran und die übermüthige Quftigfeit, 
die nach dem einmüthigen Zeugniß der Theilnehmerinnen den ganzen 
Abend herrichte, widerlegte auf das Glänzendite das alte Vorurtheil, 
daß zu einem amüſanten Ball auch — gehören. Vielleicht iſt das 
ſchneidige Vorgehen der Münchener Künſtlerinnen berufen, einen Ein— 
fluß * unſere Ballſitten in der Weiſe auszuüben, daß künftig auch 
Damen miteinander un a fönnen. Unjere jungen blafirten Herrchen, 
die fich jo erhaben dünken, wenn fie einer Dame die Ehre eines Tan- 
es zutheil werden lajjen, würde dann bald genöthigt fein, andere 
E aiten aufzuziehen, und mancher Dame wäre das enttefgliche Schick⸗ 
ſal des „Sitzenbleibens“ für immer erſpart! 

Auch ſonſt zeigte fi an originellen Ideen kein Mangel. So 
erſchienen z. B. in einer Privatgeſellſchaft zwei reizende junge Damen, 
von denen die eine als Angelifa Kauffmann, nad) dem bekannten, in 
der hiefigen Pinakothek befindlichen Selbitporträt der berühmten Male: 
ri, 2 Schwejter aber nach dem ebenfalls in der Pinakothek Hängen: 
den Bildniß einer Frau in rothjammetner Kleidung von Bordone 
foftümirt war. Breite Bänder von Goldbrofat fahten fie wie die 
Rahmen der Bilder ein. Die ältere der Damen, die bereits verhei- 
ratet ift, trug eimen Zettel mit der Aufichrift: „Im — 
während die jüngere, eine glückliche Braut, als „hors concours“ be— 
eichnet war. Selbſtverſtändlich fand der reizende Gedanke nn 

nerfennung und die beiden wandelnden Gemälde waren die Löwin— 
nen des Abende. — 

Den Höhepunkt erreichte die Carnevalsluſt am Faſchingsdienſtag, 
wo einzelne Straßen und Plätze derart mit Maskenzügen und Schau— 
luſtigen angefüllt waren, daß es für die Wagenlenker ein Kunſtſtück 
wurde, ſich hindurch au winden. Die —— eiterkeit unter 
den vielen ſatiriſchen Masken erregte ein General Boulanger, der, in 
großer franzöfiicher Generalsuniform auf einem Velocipede kutſchirend, 
den ungeheuren Sübel mit — Geraſſel auf dem Pflaſter nach— 
ſchleppen ließ und natürlich überall mit ſtürmiſchen Hochrufen — 
wurde. Daneben 308 ein langer Zug paarweije Dahertrippelnder, 
ungeheuer großer Badfifchchen, die in die geichmadloje Uniform eines 
befannten hieſigen Mädcheninjtituts gekleidet waren und von einer 
brillenbewaffneten Gouvernante eskortirt wurde, die allgemeine Auf: 
merkjamfeit auf fich. Derjelbe wurde von Mitgliedern der Bürger: 
jängerzunft gebildet, die am Abend dejjelben Tages, gleihjam um für 
ihre übermüthige Satire Verzeihung zu erbitten, der Vorjteherin des 
betreffenden Inſtituts ein feierliches Ständchen darbrachten. 

7* 


100 Am Kamin. 


Nicht unerwähnt. unter den Carnevalsereignifjen darf jchliehlich 
der Armenball bleiben, der, wie alljährlic), auch heuer wieder Die 
ungeheuren Räume des Hoftheaters bis auf den legten Plag füllte. 
Diefer Ball fteht bejonders in den reicheren ee in Gunſt, 
denn bei feiner anderen Gelegenheit kommt der Hof in jo intime Be— 
rührung mit dem Volk wie hier. Die königlichen Prinzen. plaudern 
da ie hin mit jchlichten Bürgersfrauen, und deren Gatten wider: 
Dr die jeltene Ehre, die Prinzeffimmen zum Tanze führen zu dürfen. 

atürlic) wird diefe Auszeichnung von vielen nicht gering angejchlagen 
und mancher reiche Mebgermeiiter thut jeinen Beutel weit auf, um 
durd) feine TFreigebigkeit die Aufmerkſamkeit des Comités zu erregen 
und dajjelbe zu verführen, ihn zu einer „allerhöchiten“ Tour vorzus 
ichlagen. Da dieje Freigebigkeit in legter Linie doch den Armen zugute 
fommt, wenn fie auch weniger dem Wohlthätigkeitsfinn als der lieben 
Eitelfeit entipringt, kann man fie ſich immerhin gefallen laſſen. Daß 
die reichen Bürgersfrauen bei Diejer Gelegenheit in lururiöfen, wenn 
er immer gejchmadvollen Toiletten wetteifern, iſt jelbitver- 
tändlich! 

Das Bruttoerträgniß dieſes Balles betrug heuer nicht weniger als 
16,000 Mark — ein Nejultat, das nicht nur im Hinblid auf die 
Armen, jondern auch auf die Reputation des Hoftheaters dringend 
wünjchenswerth) war, denn eine im Laufe des Winters ftattgehabte 
Wohlthätigkeitsvorſtellung hatte demjelben wenig Ehre eingebradt. 
Eine fürzlich veröffentlichte Zujammenftellung der Summen, die der 
— von verſchiedenen Theatern und Vergnügungsetabliſſements 
aus Wo En RL NER NEN zugeführt worden waren, fonjtatirte 
die unglaubliche Thatjache, daß das königliche Hof- und National- 
theater in diefer Beziehung den legten Rang einnimmt. Während das 
im Privatbetrieb — Gärtnerplatztheater 1000 Mark, verſchie— 
dene Komiker- und Varietégeſellſchaften 250 bis 500 Mark und Bin— 
ders Volkstheater — eine gan, Eleine, in einem objfuren Balljaal 
etablirte Vorjtadtbühne — 270 Mark jpenden fonnten, ergab die erjte 
Bühne Bayerns — 249 Marf! 

Freilich ift das Schaufpielperjonal diejer „erjten“ Bühne jo Lüden- 
haft und das Repertoire jo monoton, daß man es dem Bublifum 
nicht verdenfen fann, wenn es die großen Räume leer läßt. Ein 
Anlauf zum bejjeren wurde in leiter Zeit gemacht, indem die Inten= 
danz mit ungewohnter Raſchheit drei Novitäten, „Ein Großftädter” von 
Edmont Gondinet, „Alexandra“ von Richard Voß und „Galeotto* 
nad) dem Spanifchen von Paul Lindau, brachte, die ſämmtlich gute 
Erfolge erzielten; beſonders „Alerandra“ hat bereits eine anjehnliche 
Neihe von Aufführungen hinter ſich. Ob aber dieje jeltene Rührigfeit 
von einiger Nachhaltigkeit jein wird, bleibt abzuwarten. Als ein er— 
freuliches Ereignig für das Publikum darf man es auch betrachten, 
daß eine der in unferem vorigen Brief charakterifirten „Bearbeitungen 
des Herrn Buchholz, die jchon wieder als langeweile-ſchwangeres Ge— 
witter über unſern Häuptern hing, glücklich vorübergezogen iſt, ohne 
ſich entladen zu haben. Es handelte ſich diesmal um eine Bearbeitung 
des Dramas „Dante“ von dem dänischen Dramatifer Molbech. Das 
Stüd jollte mit Mar Grube (früher in Leipzig und Dresden, jet bei 


Am Kamin, 101 


den „Meiningern“) als Gajt in Scene gehen, wurde aber plößlich von 
allerhöchiter. Stelle wegen „religiöjer Rückſichten“ verboten. Es iſt 
dies nun innerhalb kurzer Zeit der A all, daß „religiöje Rüde 
fichten“ das Verbot eines Schaujpiels herbeigeführt haben (der erite 
= betraf K. Heigels „Hohenjchwangau“, wie wir in unjerem legten 
Briefe erzählten) und an und für ſich gehören wir ger nicht zu 
denen, die einer ängjtlichen Cenſur dichteriicher Produktionen vom 
fonfejjionellen Standpunft aus das Wort reden; allein in dieſem 
jpeziellen Fall müſſen wir es im äjfthetiichen Interejfe mit Genug— 
thuung begrüßen, daß durch das Verbot der Ueberflutung mit der- 
artigen unfruchtbaren Bearbeitungen, die für unjere Theater nachgerade 
eine Zandplage zu werden begannen, ein Damm gejeßt wurde. 

Auch von der re des Trauerjpiels Heroding® von Mar: 
tin 2— das bereits einmal auf dem Wochenrepertoire ſtand, iſt es 
wieder jtill geworden. Das Drama gehörte zu den ſogenannten „Sepa— 
ratjtüden“ König Ludwigs und war. — wie alle dieje. Stüde -— mit 
großem Prunk ausgejtattet. Aber die Intendanz hat bisher mit der 
öffentlichen Aufführung diefer Werke — günſtige Erfahrungen ge— 
macht; ſie ſind alle nach kurzem Scheinleben wieder verſchwunden, 
ſelbſt das Ballet „Sardanapal“ hat es vor der. feenhaften Ausjtattung 
nur zu wenigen Borjtellungen gebracht. Vielleicht hat man nun maß- 
gebenden Orts noch rechtzeitig erkannt, daß man jich nur ein weiteres 
Fiasko erjparte, wenn man „Herodias” noch vor der Aufführung — 
zu den übrigen legte! | 

Auch jonjt schwebt über dieſen Vermächtnijjen des Königs ein 
eigenthümlicher Unjtern. Bei der eriten ne der „Iheodora“ 
ereignete e3 ſich, daß beim legten Bild, als der Henker mit.der Schnur 
ſich Theodora nähert, um fie zu erdrofjeln, der Vorhang nicht recht- 
zeitig herab ging, jo daß der Henfer genöthigt war, die Kaiſerin vor 
den Augen des Publikums zu erdroffeln. ie graſſe Scene erregte 
lauten Proteſt, da man im Publikum den unjchuldigen Dichter und 
die Darjteller, nicht aber den widerjpenjtigen Vorhang für den Ber: 
anlafjer hielt. Erſt jpäter Elärte jic) der Sachverhalt zum allgemeinen 
Ergögen auf. Ein folgejchwererer Vorgang aber jpielte ſich bei der 
legten „Sardanapal“-Vorjtellung ab. Eine der Tänzerinnen, Fräulein 
Engelhart, ein reizend ſchönes Mädchen, fiel durch eine. jchlecht: 
geichlofjene Verſenkung und verlegte jih an Rückgrat und Armen 
derart, daß jie lange seit ſchwer darniederlag. Eine in der Nähe be- 
findliche Kollegin fiel beim Anblick diejes Vorfall in O — und 
ach als man jie wieder zur Beſinnung gebracht, die Sprache ver: 
oren! 

Ein anderes tragiſches Ereigniß aus der Theaterwelt erregte vor 
einigen Wochen die Gemüther in ungewöhnlichem Grade. Frau B,, 
eine ausgezeichnete Sängerin der Hofoper, ee eine Öejellichafterin, 
die ihrer Dame mit jo leidenjchaftlicher Liebe zugethan war, daß fie 
mit wahnfinniger Eiferjucht jede Gunjt, die dieſelbe anderen erwies, 
verfolgte. Eines Tages jpeijte bei Frau B. ein intimer Freund, mit 
dem jie ſich demnächit verloben wollte (die Vermälung des Paares 
hat inzwijchen jtattgefunden); da erſchien plößlich die Geſellſchafterin 
mit einem Revolver, feuerte auf den Nivalen einen Schuß ab, der 


102 Am Kamin. 


glüdlicherweije fehl ging, und tödtete jic im nächiten Moment ſelbſt 
durch einen zweiten Schuß, ehe die entſetzten Anweſenden es hindern 
konnten. Man jieht, das Leben dichtet noch immer jeine Trauerjpiele: 
Hoffentlich kann ich Ihnen in meinem nächiten Brief wieder umjomehr 
erfreuliches mittheilen, denn auch an Luſtſpielen iſt, Gott jet Dank, in 
unferer lebensfrohen Stadt felten Mangel! 

München, Anfang März. 8. 


Wiener Brief. 
Wien, 5. März. 


Wir reden nur vom Frühling, einjtweilen denkt er nicht daran 
— ins Land zu ziehen, noch ſchwingt der Winter recht bemerkbar 
ſein Scepter, daher geſtatten Sie mir auch noch einen kleinen Rück— 
blick auf die Freuden des Carnevals bevor ich Ihnen erzähle, womit 
man die Faſtenzeit begeht. — Das Frühlingsahnen bleibt einſtweilen 
nur Ahnung und ob dieſe ſich realiſirt, werde ich Ihnen mittheilen, 
wenn das Sproſſen und Blühen in der Natur zur Thätſache geworden 
und nicht mehr riss pre it. Ad vocem Zukunftsmuſik fällt 
mir ein, daß K hen von einem Feſte erzählen muß, welches ung 
unfere alte Saijerjtadt im Jahre 1987 vor die Augen geführt hat. 

reilih — wir alle werden’s nicht erleben, werden ung nidyt mehr 
überzeugen können, ob die Künftlerlaune von heute — die Zukunft 
ea rs ei or hat. — Aber im Moment hat der jchnur- 
rige Einfall viel Spaß bereitet und der gegemwärtige Augenblit hat 
ja wer jein Recht. Die Künftlergenofjenihaft hat heuer wie all- 
jährlich in den legten Fajchingstagen ein „Gſchnasfeſt“ veranjtaltet, 
bei dem man ich weidlid) amüfırte, weidlich herumgejtoßen ward, wenig 
tanzte, viel jah und die Luſt des Moments genoß. Ich weiß nicht, 
ob ich Ihnen den Begriff des „Gjchnas“ verdeutjchen muß und eigent- 
(ic) läßt er jich auch jchiwer anders wiedergeben, man müßte ihn denn 
umjchreiben. „Gſchnas“ find Dinge, welche an ſich geringen oder feinen 
Werth Haben und aus denen dod) für das Auge anfcheinend viel ge= 
macht it. In dem Gejammtbilde, welches ic Ihnen entiwerfe, werden 
Sie am klarſten erjehen, was Gſchnas ijt. Die Errungenfchaft diejer 
Hefte ift noch Feine jehr alte; im Vorjahre war der „Gſchnasball“ ein 
niederländijches Feſt, heuer „Eine Weltausstellung in hundert Jahren“ 
und das Gehirn von 1887 kann kaum all’ die Abjonderlichkeiten fajfen, 
welche ung da als Zukunftsmuſik geboten worden. Im großen Dit- 
jaal des Künjtlerhaujes jahen wir an den Wänden das Wien von 
1987 mit dem alten noch immer bejtehenden ehrwürdigen Stefans- 
thurme, ein Wien, das big zum Bijamberg hinanreicht, ein Wien mit 
Stadtbahn und Hochbahn, mit Omnibuffen der „erjten Wiener Luft- 
ausbeutungs-Schnellichiffahrt3-Aktien-Compagnie.“ Auch die Poſt wird 
durch Luftballons befördert, man fieht da 3. B. die Linie Wien-Sera- 
jewo; eben fliegt von dem Einjteigeplaß der — Trans⸗ 
portmittel“ ein ganz behaglich ausgeſtatteter Ballon in die Höhe, in 
welcdyem man ſich's auch gefallen laſſen könnte, einen Eleinen — oftecher 


Am Kamin, 103 


ins Jenſeit zu machen, pourvu, daß wir der Rüdfehr auf feiten Erd- 
boden ſicher ſeien. 

Außerordentlich komiſch und mit — Humor find die Theater— 
verhältnifje der Zukunft dargeitellt, und damit die Gegenwart wohl 
auc) ein wenig perjiflirt. So jahen wir 5. B. eine deutjche, ungarifche 
und böhmiſche Bühne aufeinander gejtellt, lefen die Ankündigung von 
Darjtellungen eines Banoptifum als da find: „Die letzte Patroneſſe“, 
Das letzte Ballet“, „Der letzte Hausmeiſter“, „Das letzte Sperſechſerl“, 
„Der legte Agioteur“ u. ſ. w. Alle dieſe Geſtalten werden uns in hoch— 
amüſanter Perſiflage —— Das Volapük, die Weltſprache, von 
welcher der gute Pfarrer aus dem Badiſchen träumt, hat ſich zur Neige 
des zweiten Jahrtauſends auch ſchon ſo ziemlich Bahn gebrochen — 
wenn es auch heißt, „Weltſprach wird ſie erſt dann, wenn kein Menſch 
mehr böhmiſch kann.“ Der „ſynteniſch-dramatiſche Kinder-Männerge— 
ſangverein Udelia“ iſt ſogar ſoweit gegangen, die Loxeley in Volapük 
zu überſetzen. Obwohl die Geſchichte ho übel nicht Elingt, machen wir 
uns doc) nichts daraus, dat wir Volapük als Weltjprache nicht mehr 
erleben. Hübjch zu fchauen ijt das Boudoir einer Dame aus dem 
zwanzigiten Jahrhundert, welche eben den Bejuch einer aus dem Luft: 
ballon jteigenden Freundin befommt. Der Schreibtijch ift durch eine 
— * erſetzt; neben derſelben ſehen wir einen pneumatiſchen 
Apparat, —— mit den beſten Konditoreien und Reſtaurants ver— 
bunden iſt. Man telephonirt per Belieben um Eis oder Straßburger 
Bajtete und alsbald werden dieſe Gerichte durch ein ——— 
Rohr auf die Marmorplatte gehoben. Aus einem Geheimfach des 
Bibliothekſchrankes jtrömt der Schönen Kiefernadelduft, aus einem 
anderen mit Meerjalz gejchwängerte Seeluft je nad) Wunſch und Bedarf 
in den Raum. Geradezu in Erjtaunen verjegt uns die Majchinen- 
halle, welche man, wenn die Apparate in Gang jind, jic beinahe ver- 
jucht fühlen würde, ernjt zu nehmen. Da ijt eine „Aqua-Rellijten- 
Brutanftalt“; dort jehen wir einen Quftgreisler- Apparat, der mit 
heißen Würjteln, Kieler Sprotten, Waſcheln, Zwiebeln und anderen 
nothwendigen Nährerfordernijjen der Haushaltung durch die Lüfte 
fährt. Umweit davon befindet jich die Gedichtmajchine, mittels welcher 
ein jeder imjtande ijt, binnen drei Sekunden ein Gedicht zu fabriziren. 
Das P. T. Bublitum wird erjucht, das Gefühl anzugeben, damit die 
richtige Walze eingelegt werden fünne Wir nennen nod) den „Applaus- 
Apparat, unentbehrlich für jeden Sänger oder Schaufpieler“, dann die 
Bılderverkleinerungsmafcine, den Armee-Wuritapparat u. ſ. w. Von 
der Mafchinenhalle begeben wir ung in die Kolleftiv-Ausjtellung, in 
welcher wir die Moden in hundert Jahren, jowie Geräthe und Ge- 
ichmeide des Kunſtgewerbe-Gſchnas-Vereins“ finden. Da giebt es 
den a len ut, den Vegetarianer-Hut mit Zwiebel und 
Baprifa, den Raxkraxler-Hut mit Leiter, Nothjeil und Wettermanderl; 
den Gothaer Urnenhut für die Ajche der Schwiegermutter. Unter der 
Stockolleftion jchen wir welche, mit Küchenmejjer, Hausglode, Sar- 
dinenschachtel und allem möglichen Unſinn geziert, die ſich doch ganz 
originell — Das mobile Miniſterportefeuille iſt eine etwas 
gewagte Anſpielung auf die politiſchen Zuſtände der Gegenwart. Bei 
den Geſchmeiden ſehen wir Türkiſe und Saphire aus vegetabilem Stoff. 


104 Am Kamin. 


Bon geradezu überrajchender Wirkung waren die Glasflajchen und 
Pokale, dann die Arbeiten aus getriebenem Metall, darunter ein „Ber: 
— erſten Ranges“, ein Vogel, ſcheinbar aus maſſivem Gold ge— 
arbeitet. In der Kunſtausſtellung des Jahres 1987 nimmt Profeſſor 
Blaas' „Parforcejagd auf einen Froſch“, unſtreitig eine der erſten 
Stellen ein. Auch —— Sarah, die Blaublütige“, welche jo vor: 
nehm ift, daß das blaue Blut durch die Haut jchimmert, iſt eine höchſt 
amüjante Perfiflage. Das Klavier mit dreikig Oftaven, vor dem flim: 
pernd die ganze, ſieben Stüd hohe Familie fit, läßt auf eine höchjt 
bedenkliche Steigerung der gegenwärtig herrſchenden Klavierwuth jchlte: 
hen. Kroll bringt auf einer großen Fläche die Scene aus Zolas 
„Assomoir“, in welcher der Verbrecher durch den Anbli einer todten 
Kate zum Geſtändniß feiner Schuld getrieben wird. Cs ijt leider 
nicht möglich, alles zu jchildern, was des Sehens werth gewejen. Die 
Räume des Künjtlerhaujes, in denen mit Humor und Gejchmad dies 
und noch viel mehr zu jchauen war, find auch nad) dem Feſte etwa 
acht Tage lang in den Abenditunden dem Publitum geöffnet worden; 
und man jah bei diefer Gelegenheit vielleicht mehr noch als während 
des mwogenden Treibens der Ballnacht, ob zwar in diejer, natürlic) 
durch die reiche Menge der Koſtüme, der Glanz noch erhöht ward. Da 
bemerfte man gejchmadvolle Gruppen wie 3. B. jene des „weiblichen 
Landiturmes“, geführt von den Mealerinnen — und Wieſinger; 
den — der chineſiſchen( — erhöhten die prächtigen Koſtüme 
der Damen Störk; auch als Telegraphiſtinnen der vierten Dimenſion 
machten ſich mehrere ——— junge Damen erfreulich bemerkbar. 
Kurzum, das Wogen und Treiben, Staunen und Bewundern, Lachen 
und Scherzen nahm kein Ende und nur widerſtrebend trennte man ſich 
beim heranbrechenden Tag. 

Die letzte Opernredoute, mit der man am Faſchingdienſtag den 
Garneval zu Grabe trägt, war veich bejucht, troß des Balles bei Hof, 
der auf denjelben Tag fiel. Im den Faſten thut man Buße und 
wendet ich jtilleren Vergnügungen zu, jo dem Theater, da iſt es 
denn in der Burg ganz außerordentlich Iehrveich, ſich Victorien Sar— 
dou's neuejte Novität „Georgette” anzujehen, eine Pariſer Sitten- 
fomödie par excellence. Bei der Aufführung von „Denije“ bejchäftigte 
man ſich voriges Jahr mit der Frage, ob man ein gefallenes Mäd- 
chen heiraten könne, in „Öeorgette“, varıirt man die Frage, indem man 
Bedenken trägt, die Tochter einer gefallenen Mutter zu freien. Man 
jieht, e8 geht vecht gemüthlich zu auf unjeren Bühnen und mit den 
Begriffen der höheren Töchterſchule wollen dieje Darjtellungen nicht 
mehr jo recht — in Hand gehen. Sollte es übrigens in Wien 
irgend einen rabenſchwarzen Sünder gegeben haben, der es gewagt 
haben würde zu fragen, ob die Geſtirne Wolter und RER wirf: 
li) unerreicdht und — daſtehen am europäiſchen Bühnen— 
himmel, jetzt müßte er wohl zur Ueberzeugung gelangt ſein, daß es 
diefen beiden niemand zuvor thut. 

Franz von Suppes Operette „Bellmann“, eine Berhimmelung des 
ſchwediſchen Improvijators Carl Michael Bellmann, iſt am Theater an 
der Wien beifällig aufgenommen worden. Das Libretto will uns nicht 
bejonders zujagen, aber die Mufif veiht jich den früheren Leistungen 


Am Kamin. 105 


des berühmten Meifter8 würdig an. Im Sarltheater währt noch immer 
das Gaſtſpiel unjerer unvergleichlichen Geiftinger, und daß man die 
Künftlerin jelbjt in einem „dummen“ Stüd gerne fieht, bekundet ihr 
bedeutendes Talent. Der franzöſiſche Schwanf „Unter Kuratel“ kann 
bet aller nur denkbaren Toleranz nicht anders als „Dumm“ genannt 
werden und es ijt jedenfalls nur den Anjtrengungen der Bühnenkräfte 
zu danken, daß er ſich doch einige Zeit auf dem Repertoir zu halten 
vermochte. - Auch in „der jchönen Helena“ ward uns zu wiederholten 
Malen Gelegenheit, Frau Geijtingers Meifterichaft zu bewundern. Die 
beite ihrer bisherigen Leiſtungen ıjt aber die zu Gunjten der Poliklinik 
zuerjt aufgeführte Scene „Unter vier Augen“, dann das Singſpiel in 
wei Akten „Die Urwienerin“ in welcher — Geiſtinger eine „Wiener 
——— zu geben hat. Oskar Blumenthal hat im 

ereine der Literaturfreunde eine literariſche Faſtenpredigt gehalten, 
welche von der ‚Geſchichte der Kritik“ ſprach, und eine intereffante Be— 
reicherung derjelben bildet jein epigrammatiicher Namenruf. „Was ein 
Künſtler Rechtes jchuf, dauert und bejteht, wenn des — Fehde⸗ 
ruf längſt im Wind verweht.“ Die Damen unſerer Hofbühne Ga— 
billon und Hohenfels bürgern ſich — Jahr immer mehr am Vor— 
leſetiſch ein. Wenn ſie biefen Brief publiziren, lieſt Fräulein Hohenfels 
zu Gunften des Vereins der Schriftitellerinnen und Künstlerinnen. 
Ob die Blauftrümpfe ein entjprechendes Refultat erzielen und was 
ſich jonjt noch Nennenswerthes ereignet bis zum Wonnemonat, das 
erzähle ich Ihnen im nächjten Brief. 

Mar v. Weißenthurn, 


Aippfaden. 
Ein Brief Beethovens an Bettina. *) 
Wien, den 11. Auguft 1810, 
Theuerfte Bettina] 

Kein fhönerer Frühling als der beurige, das ſage ich und fühle e8 auch, weil 
ih Ihre Belannticaft gemacht babe. Sie haben wohl felbft gefeben, daß ich in ber 
Gejellihaft bin mie ein Frojh auf dem Sand, ber wälzt fih und wälzt ſich und 
tann nicht fort, bis eine wohlmollende Galathee ihn wieder ins gewaltige Meer hin— 
einſchafft. Ja, ih war redt auf dem Trockenen, liebfte Bettina, ih warb von 
Ihnen überraiht in einem Augenblid, wo der Mißmuth ganz meiner Meifter war; 
aber wahrlich, er verſchwand mit Ihrem Anblid, ich hab's gleich weg gebabt, daß Sie 
aus einer anderen Welt find, als aus biefer abfurden, der man mit dem beften 
Willen die Obren nicht aufthun kann. Ich bin ein elender Menjch und beflage mid 
über die anderen!! — Das verzeihen Sie mir wohl mit Ihrem guten Herzen, das 
aus Ihren Augen fiebt, und Ihrem Verftand, der in Ihren Obren liegt; — zum 
menigften verfteben Ihre Ohren zu ſchmeicheln, wenn fie zuhören. Meine Obren 
find leider eine Scheivewand, durch die ich Feine freundliche Kommunikation mit 
Menſchen leicht haben kann. Sonft! — Bielleiht — hätt! ich mehr Zutrauen zu 
Ihnen gefaßt. So könnte ih nur den großen, gejcheiten Blick Ihrer Augen ver: 
fteben, und der hat mir zugejeßt, daß ich's nimmermehr vergeflen werde. — Liebe 
Bettina, liebftes Mädchen! — Die Kunſt! — Wer verftebt die, mit wenn kann man 
fi bereben über biefe große Göttin! — Wie Tieb find mir die wenigen Tage, wo 


*) Aus: „Beethoven in Paris’. Nebſt anderen, ben unfterbliden Tonbichter betreffenden Mit» 
tbeilungen und einem facfimile von Beethovens Handſchrift. Ein Nachtrag zur Biographie Beet» 


horens von A. Schindler, Muſildirektor, Srofeher ter Tonkunſt ıc. Munſter, 1842. 


106 Am Kamin. 


wir zuſammen ſchwätzten ober vielmehr forrefponbirten! Ich habe bie Heinen Zettel 
alle aufbewahrt, auf denen Ihre geiftreichen, lieben, liebften Antworten fteben. So 
bab’ ich meinen ſchlechten Ohren doch zu verbanfen, daß ber befte Theil dieſer flüch- 
tigen Geſpräche aufgejchrieben ift. Seit Sie weg find, hab’ ich verbrießlihe Stun- 
ben gehabt, Schattenftunden, in denen man nichts thun kann; ich bin wohl an brei 
Stunden in ber Schönbrunner Allee herumgelaufen, al® Sie weg waren, und auf 
der Baftei: aber fein Engel ift mir da begegnet, der mich gebannt hätte, wie Du 
Engel. Berzeiben Sie, liebfte Bettina, dieſe Abweihung von ber Tonart; folde 
Intervalle muß ich haben, um meinem Herzen Luft zu machen. Unb an Goetbe 
baben Sie von mir geichrieben, nicht wahr? — Daß ih meinen Kopf möchte in 
einen Sad fteden, wo ich nichts höre und nichts fehe von allem, was in ber Welt 
vorgeht, weil Du, fiebfter Engel, mir doc nicht darin begegnen wirft. Aber einen 
Brief werde ih do von Ihnen erhalten? Die Hoffnung nährt mich, fie nährt ja 
die halbe Welt, und ich hab’ fie mein Lebtag zur Nachbarin gehabt, was wäre jonft 
mit mir geworden? — Ich jchide hier mit eigner Hand gejchrieben: „Kennft Du 
das Land“, als eine Erinnerung an bie Stunde, wo ih Sie kennen lernte; ich 
hide auch das andere, was ich fomponirt habe, feit ich Abfchied von Dir genommen 
babe, liebes, liebftes Herz! 


„Herz, mein Herz, was joll das geben, 
Was bebränget Dich fo jehr? 

Welch' ein fremdes, neues Leben! 

Ich erkenne Dich nicht mehr!“ 


Ja, liebfte Bettina, antworten Sie mir hierauf, fchreiben Sie mir, was es geben 
ſoll mit mir, feit mein Herz ein ſolcher Rebelle geworben if. Schreiben Sie Ihrem 
treueften Freund Beethoven. 

Mozart in Paris. Mozart befand ſich in Paris, als er fich mit feiner 
Oper „Don Juan‘ beichäftigte. Eines Tages, nachdem er mehrere Stunden in jei- 
nem Zimmer gearbeitet hatte, blidte er auf feine Uhr. „Schon fünf Uhr!" Zu 
dieſer Stunde pflegte ber Maeftro gewöhnlich fein Mittagsmahl einzunehmen. Er 
Heidete fih alfo in aller Eile an, und begab fi zu einem Reftaurateur im Palais 
Royal; unterwegs keimte aber eine neue Idee, entwidelte fih und wuchs in jeinem 
Hirne, beichäftigte ihn ausfchließlih und fo ganz, daß er nur mafcinenartig, aus 
Gewohnheit die ES peifelarte üiberblidte, die man ibm reichte und dann fagte: „Nudel— 
fuppe!" Die Suppe wurde aufgetragen, aber der Maeftro rührte fie nit an. Es 
vergingen zehn Minuten, eine Biertelftunde und, während feine Phantafie in ben 
hohen Spbären des Idealen und ber Poeſie jchwebte, bemerkte er nicht, daß feine 
Suppe falt wurde. Nach einem balbftündigen Grübeln entſchloß er fich endlich, 
das Schweigen nochmals zu unterbrechen. „Einen gebratenen Hecht! rief er dem 
Kellner zu. Die Suppe wurde meggenommen und durch den verlangten, trefflid) 
gebratenen Fiſch erfett, der inbeß auch weder jeine Aufmerkjamkeit erregen, noch den 
Appetit des finnenden Komponiften reizen fonnte. Sechs Gerichte wurden fo nad): 
einander verlangt, aufgetragen, und von dem Maeftro mit gleicher Gleichgiltigkeit 
behandelt. Der Kellner ift über das feltiame Benehmen feines Tifchgaftes ganz ver- 
fteinert; er meint aber, es würde ganz vergeblich fein, denſelben anzureden, denn er 
jet doch offenbar nicht bei Sinmen. Zwei Stunden waren fo feit der Ankunft des 
Komponiften bei dem Reftaurateur vergangen, den Kopf auf feine Hände geſtützt, 
war er nicht einmal aus feinem Zuftande des Nachdentens und des Sinnens beraus- 
gefommen; mit einem Male aber richtete er die Stirn ftolz empor, feine Wangen 
rötheten fi, aus den Augen ſchoß ein Blid ber Zufriedenheit und des Glüdes, und 
nachdem er den Inhalt ſeiner Börje dem Kellner in die Hand geſchüttet hatte, jprang 
er auf, verläßt den Saal und ruft: „Endlich gefunden! endlich gefunden!“ Mozart 
hatte das Finale zum letzten Alte des „Don Juan“ gefunden. 

Der Zimmet beißt malaiiſch kaschu-mani, füßes Holz. In alter Zeit wurbe 
der Zimmer auch Chineſenholz, Chinefenrinde oder Holz der Sini genannt, weil 
hineftiche Kaufleute dieſes Gewürz nad den großen Stapelplägen führten. Doch 
dürfte es ſich ſchwer ermitteln laffen, ob die finiihen Schiffer daflelbe aus dem 
Orient zum Occident brachten; ob fie diefe wichtige Waare von den Singhaleſen in 
Ceylon welche ſelbſt feine Schiffahrt hatten, einbandelten und fie von da meiter nad 


Am Kamin. 107 


Malabar zu Perfern und Arabern brachten, oder ob fie vielleicht gar nicht dem echten 
Zimmet, fondern die Rinde einer anderen zimmetgebenden Laurusart, welche in 
Hinterindien und im füblihen China wild wächſt, aus ihrer Heimat nad den Welt- 
märften bradten. Da ältere Sansfritwörterkücher feinen Namen für ben echten 
Zimmet von Eeylon haben, fondern nur für bie Caffia des Fefllandes, fo ift es 
nicht ganz unwahrſcheinlich, daß biefe letere das Cinnamomum der Alten war, daß 
der Zımmet von Ceylon erft durch die Ehinejen in den Welthandel fam und ſeitdem 
den Gebraudy der malabariſchen Caſſia verbrängte. BR. 

General Changarnier in Verlegenheit. Es war in einer feierlichen 
Situng der Acad@mie frangaise; irgend ein neuer Unfterblicher wurde eben mit einer 
längern pomphaften Anſprache begrüßt, da fühlte fi ber tapfere Greis Changarnier 
von einer peinlichen innerlichen Erſchütterung ergriffen. Er, der vor dem mörberifchen 
Feuer der Araber mit feiner Wimper gezudt, bebte vor dem Gedanken zurüd, dieſen 
Kreis von ibn umgebenden eleganten Damen und Herren mit einem jener plötzlichen 
Rüdzüge zu durchbrechen, die eine jo charakteriftifhe Eigentbiimlichkeit von Molieres 
„eingebildetem Kranken“ find. Eine Zeit lang kämpfte ber General mit feinem innern 
Web; es nahm zu; e8 wurde gebieterifcher; da fiel ihm eine glückliche Kriegslift ein. 
Mit einem Seufzer ſank er in feinen Seſſel zurüd: feine Nachbarn fprangen auf, 
alle riefen durcheinander: „Der General!” ... „o, ber arme General!“ ... „ein 
Schlaganfall!” ... „Luft, vafch, Luft!“ Unter lebhaften Beileidsbezeugungen wurbe 
der jo ſchwer Erfranfte binausgeführt, faum hatte fih bie Thüre hinter ihm ge- 
ſchloſſen, jo neigte er fih zum Chr des Freundes, der ihn hinaus begleitet: „Den 
Schlüffel, fhaffen Sie mir fchnell den Schlüffel! Als der General nach einiger Zeit 
frifh und gefund im Saale wieder erichien, ba grüßte ihn ein ftürmifch froher Yubel- 
ruf wie einen Mann, ber eben einer großen Gefahr entgangen! BR. 

Nigaer Theaterfritif über eine Aufführung des „Troubadour“. 
„Dorgeftern Abend, 9 Uhr 28 Minuten, verſchied nad) heftigen feeltichen Leiden Lee— 
nore Gräfin von Sergaſto auf der Bühne angeſichts des entſetzten Publikums. Das 
Verhalten der Unglücklichen, welche während ihrer letzten Lebensſtunden beſtändig när— 
riſche Melodien herausſtieß, ließ darauf ſchließen, daß ſie ihrer geiſtigen Kräfte nicht 
mehr recht Herrin ſei. Im dieſem beffagenswerthben Zuſtande bat die Aermſte ſelbſt 
Hand an ſich gelegt, indem ſie ihrem Leben durch Gift ein Ziel ſetzte. Kaum eine 
Biertelminute ſpäter deutete ein intenſiv blutigrother Schein ein ausgebrochenes 
Feuer an. In dem gräflich Lunaſchen Burgbofe war ein Holzſtoß in Brand gerathen, 
welcher, bevor unjere brave Theater-Feuerwehr die Stätte erreichen konnte, vollftändig 
ein Raub der Flammen wurde. Der angerichtete materielle Schaden foll nicht jehr 
bedeutend fein, doch bat bie Kataftropbe leider ein den Troubadour Manrico gehöri— 
ges Menſchenleben zum Opfer gefordert. Die Umftände laſſen barauf ſchließen, daß 
Graf Luna ben erwähnten Holzſtoß in böswilliger Abſicht bat in Brand fteden laſſen 
und bei dem Unglüde des Manrico feine Hand im Spiele gehabt hat. Die Be- 
ftattung der beiden Feihen zur ewigen Rube wird wohl fobald noch nicht ftattfinden. 
An demſelben Abende war im Theater von verffeibeten Bühnenmitgliedern in bald 
mehr, bald meniger gelungener Weife verfchiedenes gefungen worden. Natürlich 
machte der doppelte Unglüdsfall diefem beiteren Treiben fofort ein Ende!“ 

Der KHautfchuf. Der große Bedarf an biefem wichtigen Artikel bat in den 
fetten Iahren Forfchungen angeregt, neue Bezugsquellen beffelben zu ermitteln, deren 
etliche recht vwielveriprechend zu fein fcheinen. Es ift noch gar nicht lange ber, daß 
das Gummi elafticum, der Kautſchuk des Handels, nur von einer einzigen Pflanze ge 
wennen wurde, bie frühere Siphonia elastica, jetzt Hevea brasiliensis genannt, ben 
Para⸗Kautſchuk liefert, der bis jetst noch bie erfte Stelle unter ben verſchiedenen 
Kautichuls behauptet. 

Es ift intereffant, auf melde Weife diefe Subftanz ihren Weg in den Hanbel 
fand und allmählich zu einem ber michtigften Artifel beffelben wurde. In einent 
etwa 1770 erſchienenen englifhen Werfe „über die Perſpeltive“ fpricht ber Verfaſſer 
als etwas jeltenes über einen Gegenftand, ter fi heutzutage in jedem Echreibzeuge 
als nützlicher Peftandtheil findet. „Mit größtem Imtereffe ſah ich eine Subftanz, 
die ſich prädtig zum Entfernen von Bleiftifteftrihen auf Papier eignet. Sie mu 
folglich für Zeichner von hoher Febeutung fein.” Kautſchuk war damals in Fonbon 


108 Am Kamin. 


nur in einem einzigen Paben zu haben und ein Stüdchen von etwa 1'/, Kubifcenti- 
meter —— nach heutigem Gelde 3 Mark, konnte allerdings auch jahrelang vorbalten. 

Schon bie Geftalt, in welcher der Para-Kautſchuk zuerft in Europa auftauchte, 
erregte bie höchſte Neugierde, wober er eigentlich ftammen möge. Es waren ungebener- 
lich grotesfe Geftalten von Vögeln und Vierfühlern, bie auf Naturtreue faum einen 
Anſpruch erheben konnten. Jahre hindurch zerbrad man ſich den Kopf darüber, mas 
dies wohl für eine Subftanz fei, und fonnte doch nichts weiter erfahren, als daß ſie 
von einer Pflanze ſtamme. Die erſten genauen Nachrichten gab eine franzöſiſche 
geographiſche Erpedition, die ſich nicht auf dieſen ihren ſpeziellen Zweck beſchränkte, 
fondern auch manche bis dahin dunkle naturgeſchichtliche Punkte aufhellte. Sie be— 
richtete die Entdeckung zahlreicher Bäume, die von den Eingeborenen Heve“ genannt 
wurden und eine Menge elaſtiſche Gummifubftanz ergeben, die mit dem in bem letz 
ten Jahren in Europa eingeführten Kautſchuk identifch fei. 


Mancherlei ganz verſchiedenartige Pflanzen liefern den Kautſchuk des Handels, 
und obgleich die neueſte Zeit viel gethan hat, um unter dieſem Namenwirrjal aufzu- 
räumen, ift doch vieles in biefer Beziehung noch nicht aufgeflärt. Der in folden 
Maſſen gelieferte Para-Kautſchuk, daß er in den letten Jahren in feinem Stamm- 
Tande fnapp geworben ift, wird hauptſächlich von Hevea brasiliensis gewonnen, wenn 
auch mande andere, verwandte Pflanzenarten, 3. B. Hevea spruceana, mehr oder 
weniger Kautſchul ergeben. Wallace berichtet, daß der Hauptlautfchufbezirt zwischen 
ben Fluſſen Para und Xingui liegt, wo dieſe Bäume zu den Waldrieſen zählen. 
Sie find im Durchſchnitt etwa 30 Meter hoch, mit bis 1 Meter Durchmefjer, tragen 
Früchte von ber Größe einer großen Walnuf, die in brei einfamigen Lappen jährlich 
zur Zeit ber Reife auffpringt. Die Samen find buntgefledt, mit glänzender Aufßen- 
jeite und im Geftalt und Ausjeben benen bes Ricinus ähnlich, aber viel größer. 
Roh follen fie giftig, gelocht unſchädlich fein, jedoch verzehren die Macams fie in 
Menge rob, ohne einen Nadıtheil zu verjpiren. Beim Anzapfen des Baumes wird 
oben begonnen, um ben Saft hinunter zu ziehen, dann werben tiefer unten Ein— 
ſchnitte gemacht, bis der Boden erreicht und ber Baum erſchöpft ift. 


Die nächſt wichtigfte amerikanische Kautſchulquelle ift vielleicht Castilloa elastica, 
eine dem Brodfruchtbaum nahe verwandte Pflanze, die in Gentralamerifa als Guate- 
mala-Kautjhufbaum befannt if. Dann folgt ber Pernambuco-Kautjhuf von Han- 
cornia speciosa, ber Ordnung ber Apocpneen angehörig, bie nicht nur von Borneo 
einen Kautſchuk Tiefert, fondern aud im Orient und an ber Oft- und Weftfüfte 
Afrilas Kautſchul gebenbe Familienmitglieder bat, wie in neuefter Zeit ermittelt 
wurbe. 

Um ben in Amerifa drohenden Mangel an biefer wichtigen Waare auszugleichen, 
ift in den legten Jahren von ben rührigen Engländern der Kautjhufbaum in feinen 
beften Arten nad Oſtindien verpflanzt worden und bietet erfreuliche Ausſichten für 
dieſe Kultur, ebenſo wie es vor etwa 25 Jahren durch Bemühung des Deutſchen 
Hoßkarl mit den Chinarindenbäumen geſchah, die bei barbariſcher Verwüſtung in 
Südamerika dem Untergange entgegengehen. BR. 

Sjägerlatein. Nah ber legten Hühnerhund-Prüfungsfuche fanden ſich einige 
Jäger und Hunbebefiger in ihrer Stammfneipe zufammen. Das Thema an der 
Tafelrunde bewegte ſich jelbftverftändlih um das Reſultat der Prüfungsjuhe, dann 
überhaupt um bie Vorzüge ber treuen Vierfüßler. Im ber Geſellſchaft gab es auch 
einige Prämiirte, und diefe wußten nach Jägerart nicht genug erftaunliches von ber 
Klugheit und dem Spürfinn ihrer Hunde zu erzählen. Beſonders ber Herr ber 
„Diana“ fuchte feine Jagdgenoffen mit ber Erzählung der nachftebenden großartigen 
Geſchichte zu übertrumpfen. Bei einer früheren Jagd war „Dianas“, Nafe von 
einem neidiſchen bejpöttelt worden, fo daß ihr Herr jenem eine Wette proponirte. 
Er bielt „Diana‘ einen Thaler vor bie Nafe und warf denjelben aus dem raſch 
fahrenden Wagen auf die Strafe. Nach einer Stunde fendete er feinen Hund den 
vorher paffirten Weg zurüd, aber „Diana“ fam nicht wieder. Dan ſaß längft, von 
der Jagd beimgefehrt, beim Abendſchoppen und Herr X. hörte fo manden ſchlechten 
Wit über feinen „brillanten“ Hund, als es urplögli an ber Thür laut wurde. 
Man öffnete und biutend apportirte Diana“ eine Hofe, in deren Taſche fich der 
— gezeichnete Thaler befand. Was war's? Ein Arbeiter hatte den Thaler gefunden 
und in ſeine Taſche geſteckt; darauf hin war ihm Diana gefolgt, hatte ſich mit in 


Am Kamin. 109 


feine Wohnung geſchlichen und als der Mann zu Bett gegangen war, batte fie plötz⸗ 
lich die Hofe gefaßt und war mit berfelben durch das geichloffene Fenfter gefprungen, 
um das Geldftüd ihrem Herrn wieberzubringen. — „Das ift nicht fo arg“, meinte 
gelaſſen ein anderer Hundebefiger. „Mein „Treff“ bat fich bei einer ähnlichen Ge— 
legenbeit noch wunderbarer benommen. Da hatte der Kerl, welcher den Thaler auf- 
bob, letzteren mechjeln Iaffen, um eine Wurft zu faufen. „Treff“ ſchnappt ihm nicht 
allein die Wurft, fondern auch das Ktleingeld aus der Hand und bringt mir alles 
zurüd. So wahr ich Iebe: e8 waren 2 Mark 85 Pfennige und eine Knadwurft — 
ur dem Wertbe nach richtig ein Thaler... .“ An biefem Abend log dann feiner 
mehr. 
Ä Der berühmte Violinvirtuofe VBieurtemps befand fich einmal während 
eines Feittages in Frankfurt a. M., wo in einer der zahlreichen Schaubuden fich auch 
ein „indifcher Rieſe“ zeigte. Vieuxtemps trat ein und hörte einige Zeit dem furcht- 
baren Kreiſchen des Rieſen zu. Schließlich aber bemerkte der Kiünftler, daf ihm die 
Sprache des Giganten nicht ganz unbelannt fei; fein Zweifel: er ſprach Walloniſch 
— die Mutterjpradhe Bieurtemps’ — dieſer inbifche Rieſe war aljo ein Belgier. 
Bienrtemps redet ihn an, das Publitum lauft, und in feiner Verzweiflung ruft 
der Rieſe: „Um Gottes willen verrathen Sie mich nicht! jagen Sie nicht, ich fei 
fein Indier!“ „Berubigen Sie fi‘, erwiderte der Muſiker und erflärte dem Publi— 
fum, daß er felbft Tange im Lande der Brahminen gelebt babe. Der dankbare „Rieſe“ 
ladet Vieuxtemps für die nädhften Tage zum Frübftüde ein. Während des Plauderns 
fragt der berühmte Geiger den Rieſen aus ber Bretterbube: „Wohin wollen Sie 
von bier aus geben?” „Nach Florenz”, erwidert jener. „Obo, mein armer Freund“, 
belebrt ihn Bieurtemps, „ändern Sie Ihr Borhaben! Ich komme foeben von 
Florenz. Dort ift für Kiünftler der elendefte Boden, ven Sie nur finden er 
BR. 


Salon-Büdertifd. 

Aus den Sommertagen. Bon Emil Rittershaus. Oldenburg, Schul- 
zeihe Hofbuchhandlung. Dem „Buch der Leidenichaft”, in dem er den Sturm und 
Drang feiner Jugend herrlich und Mangvoll an uns vorbeitofen läßt, jendet Nitters- 
haus in kurzer Zeit eine zweite Gebichtfammlung nah. Im diefen „Sommertagen“, 
welche die Zeit von 1871 bis heute umfaffen, bat fich die Peidenfchaft des Dichters 
in ruhiger, jehöner Klarheit geläutert, gefammelt, gereift. Wir jehen den Sänger 
auf der Höhe feiner Kraft und feines Strebens, wir wandeln mit ibm durch fein 

üdliches Haus und durch die große Zeit, deren Pulsſchlag in einigen kraftvollen 
iebern wieberballt. Die jhönften Klänge entnimmt Rittershaus feinem Zufammen- 
(eben mit ber Natur. Die Gedichte „Am Spätfommertage*, „Herbſtnacht“, bie 
Tannenmeiſe“, „Am Meeresſtrande“, ſowie einige der „Monatsbilder” werben jedem 
poetiichen Feinihmeder Genuß gewähren. Die künſtleriſche Ausftattung des Bandes, 
den ein bortreffliches Porträt des lieben Dichters ſchmückt, ift dem jchönen Inhalt 
angemeflen. — Isx. 

Augen der Seele. Novelle von W. Jenſen. Berlin, Paetels Verlag. 
Die Freunde von Jenſens Mufe können in diefem Büchlein wieder in allen Bor- 
zügen ihres Lieblings ſchwelgen: nie fchilderte er eine Meine weltabgeſchiedene Stadt 
beimlicher, nie malte er verführerijcher mit dem Gold- und Silberglanz von Sonnen» 
und Mondftrahlen, mie legte er zartere Empfindungen bloß. Und doch befriedigt 
das Buch, den, ber ſich nicht ganz von Jenſens poetifcher Eigenart umftriden Täßt, 
nur tbeilmeife. Die Schilderung des unfhönen Mädchens, die der blinde Held mit 
den „Augen ber Seele" von boldjeligem Reiz umfloffen, vor ſich fieht, wirft pei- 
nigend, und geradezu unmöglich erjcheint es, wie der blinde Schwärmer von feiner 
Eiferfucht geheilt wird, indem er erfährt, fein Weib, die er immer noch für ſchön 
bält, fei jo abftoßend, daß ein anderer gejchaubert habe, fie zu küffen! Und er, ber 
Blinde, mit feiner itberfeinen Schönheitsempfindung, jollte fie num weiter mit ben 
Augen der Seele reizenb vor fi jehen und ihre eingebildete Schönheit lieben?! 

In demfelben Verlag erfchien ein zweiter Miniaturband: „Häte Grumbfow‘, 


110 Am Kamin. 


Novelle von Dora Dumfer. Es ift die Geſchichte eines jungen, von Poefie und 
Schönheit träumenden Kindes, das wir nach einer harten und freudlojen Jugend als 
bie Braut eines bedeutenden und geiftoollen Künftlers am Ziel ibrer fühnften Wünſche 
feben. Die Heine Geſchichte ift mit eigener Anmutb und einer liebenswürdigen Art 
von Realismus geichrieben, der ben Lejer ficher zu feſſeln vermag. 

Beide Bände eignen fih durch ihre zierlihe Ausftattung vorzüglich zu Feft- 
geichenfen. Isx. 


Die fhönfte und veichfte Gedichtantologie ber Tetten Jabre hat Marimilian 
Bern mit feinem beutihen Hausbuh: „Am eignen Herd‘, (Leipzig, Adolf 
Titze) berausgegeben. Man darf getroft jagen, daß nie eine Sammlung feinfinnt- 
ger und geiftvoller zufammengeftellt worden ift, als biefe, nie eine zweite mit größe- 
rem Fleiß und genauerer Piteraturfenntniß zufammengetragen! In circa 600 Gebidh- 
ten läßt der Herausgeber alle nur denkbaren Saiten eines beglüdten, Tiebegeträntten 
Familienlebens anklingen und zwar fo, daß alle biefe Lieder wunderbar, gleich ben 
Sängen einer herrlichen Liebesromanze, ineinander greifen, daß fie gleihjam ein 
Liebespaar von dem Erwachen ibrer Herzen bis in bie fühle Gruft begleiten und 
diefe noch mit Roſen und Rofenduft überſchütten! Erſchütternd ſchluchzt inmitten 
ber Pieder bes Glücks der durch Liebe gehobene Schmerz, bie durch Liebe getröftete 
MWehmutb auf. Die ganze Nation follte dem Herausgeber die Arbeit diefer Samm- 
lung danken, in feinem Haufe follte diefe „Hausbibel“ fehlen, wie Marimilian Bern 
fein Buch felbft jo treffend nennt! Daffelbe ift übrigens von dem funftfinnigen 
Berleger mit feltenem Geſchmack ausgeftattet. F. S. 


Anfer Bildertifd. 


Der Fleine Held. (Mit Iluftration.) Mit guter Laune und ohne Welt- 
fhmerz nimmt Pluto, der in Ehren ergraute Humbeveteran, das Geſchick des Alt- 
werbens bin. Allen voran fetste er früber bei den großen Jagden feines Herrn über . 
Gräben und Heden. Jetzt find die gefchmeidigen Glieder fteif, und ber flüchtige 
Renner wurde zum zabmen Keitpferd file Kurtchen, ben jüngften und letzten ber 
Familienfproffen, die er der Reihe nach aufmachen gefehen. Kurtchen fommt fi in 
feiner Reiterpofitur ſehr großartig vor. Er ift in bem glüdlichen Alter, wo ein 
Helm aus Goldpapier und ein Spitzenhemdchen „ber Schidlichkeit bereits Genüge 
thun.“ Der ftolggefhmwungene Säbel vervollftändigt die Ausriftung. Schaarenmweije 
liegen bereit bie ftarrgeftvedten Leichen edler Krieger — no im Tode „Gewehr — 
über” — um ben jungen Helden ber. Und noch immer ſchwingt er bie Waffe zu 
neuen Heldenthaten. „Willft Du denn alle Franzofen ausrotten, Junge‘ lacht der 
Bater aus dem Nebenzimmer. Kurtchen ſcheint nicht übel Luft zu haben. Aber bie 
Mutter, die Mutter, fie füllt mit der berbften Profa in ben begeifterten Aufſchwung: 
„Jetzt flink, Junge, wir wollen erft einmal das Kuttchen anzieben und das Schürz- 
ben vorbinden. Dann ift mein Schab fein Milchmüßchen, und dann — Tann 
meinetwegen die Schlacht weiter geben!" 


Schnepfen im Frühling. (Mit Iluftration.) Ein Frühlingsvogel ift die 
Schnepfe zu nennen, dieſer Lieblingsvogel ber Feinſchmecker unter den Eſſern und 
Jägern. Denn da das fcheue, flüchtige Thier in feiner braunen Farbe ſchwer vom 
Erdboden zu unterjcheiden ift, jo erfordert bie Schnepfenjagb einen geübten Schüßen. 
Die Schnepfe, von deren Gattung die Waldſchnepfe in Dentfchland am beliebteften 
ift, ift ein Früblingsvogel, der im April feinen „Strich“ macht, feuchte, moosreiche 
MWaldungen und Sümpfe liebt und mit dem drei Zoll langen Schnabel feine Wür— 
merbeute aus ber Erbe zieht. Diefe verbauten Wirmer find e8, melde den Gedär— 
men ber Schnepfen, dem fogenannten — wir bitten um Entjhuldigung für das 
harte Wort — Schnepfendred für Feinjchmeder einen fo großen Reiz giebt. Die 
„Streiche“ der Schnepfe läßt fich jeder Jäger gern gefallen und ſchmunzelnd mieder- 
bolt er im Frühlingsanfang die alten, fih auf die Sonntage vor Oftern beziehenden 


Am Kamin. 111 


Sägerknittelverfe: Dculi — da kommen fie, Lätare — das ift das Wahre, Judica 
find fie auch noch da, Palmarım — Tralarım. Dann aber nah Dftern bat die 
Schnepfe Ruhe vor des Jägers Bücchſe, 

Denn Quafimodogeniti 

Heißt's: „Jäger halt, jetst brüten fiel‘ 


Profefior Alma: Tadema. (Mit Porträt.) Der niederländiſche Genremaler 
Alma-Tadema, deſſen Bildniß wir unſeren Leſern heute vorführen, hat fich durch feine 
eigenartigen, meift Scenen bes Alterthbums behandelnden Gemälde in ben legten Jahr— 
zebnten einen bedeutenden Ruf geichaffen. Vorzüglich ift es das Meer und bie Luft bes 
Südens in ihren feinften und zarteften Farbenftimmungen, bie fein Pinfel meifter- 
baft und mit technifcher Bollendung wiederzugeben weiß. Tadema wurde geboren 
im Jahre 1836 zu Domrijp in ber niederländifchen Provinz Friesland. Er bejuchte 
das Gymnafium zu Leeuwarden, dann die Afabemie zu Antwerpen, we er Leys’ 
Schüler war. Seit dem Jahre 1870, in dem er fich (im zweiter Ehe) mit einer 
Englänberin vermälte, wohnt er in London, wo er zu ben erften Kiünftlern zählt. 
Bon feinen Gemälden wurden befonbers befannt: „Wie man fi vor 3000 Jahren 
in Aegypten amiftrte”, „Eingang zu einem römifchen Theater“, das „Weinfeit 
zu Rom“, „Antifer Kunftjalon”, „Zum Glüd“, „Sappho“, „Eine VBorlefung aus 
Homer“ und viele andere. Ginen bejonderen Werth erhalten bieje Schöpfungen burd 
die in Tademas archäologiſchen Kenntniffen begründete hiſtoriſche Treue und Ge- 
nauigfeit. 

Der Nil bei Alt-Kairo. (Mit Illuftration.) Mit uraltem Reiz lodt die 
Bhantafie der farbenpräctige Orient, das wundervolle Morgenland, in welchem bie 
Wiege der Kulturvöller ftand. Im dieſes von der Natur und Gedichte verjchwen- 
deriſch begabte Land führt uns ein modernes Werk, deſſen elegante Ausftattung, 
intereffanter Inhalt und billiger Preis es beftens empfehlen. „Der Orient‘ beikt 
das ftattlihe Werk, das der rühmlich befannte Tourift und Kulturhiftorifer Amand 
von Schweiger-?erhenfeld höchſt feſſelnd verfaßt und das mit einer Menge trefflich 
ausgeführter Illuftrationen gefhmüdt im Berlage von A. Hartleben (Wien, Belt, 
— — iſt. 

r heute in Aegypten reiſt, iſt nicht mehr auf Pferd und Kameel, oder Nil- 
barle allein angewieſen. Das Deltaland durchſchneiden nach allen Richtungen 
Schienenwege und den Nil hinauf ſteuern die Paſſagierdampfer bis zum erſten 
Katarakt, die Strede bis Siut von dem erſten vierhundert Kilometer langen Strange 
der „nubifchen Bahn“ begleitet. So begreift man, baf eine Fahrt von NAlerandria 
nah Kairo jetst kaum etwas anderes ift, als ein angenehmer Morgenausflug von 
vier und eine balbe bis fünf Stunden. 

Die eigentlihen Delta - Landichaften lernt ber Reifende übrigens erft nad 
dem erften Drittel der Fahrt kennen, wenn er bei Kaffr-ez -Gayat den Strom- 
arm von Roſette mit dem Bahnzuge auf hochziehender eiferner Brücke über- 
fest und bie erfte Deltaftabt Tanta binter fi bat. Ehe noch ber zweite Delta- 
arım, jener von Damiette, gequert wird, treten bie älteften Wahrzeichen von Aegyp— 
ten, die Pyramiden, ben Neifenden vor Augen. Fern im Süben, in blauen Duft- 
nebel verjhwimmend, durch welche die Morgenjonne ihre goldenen Nete flicht, ftarren 
die Riefenzaden über bie irrifirende Farbenfliche bes Deltalandes auf. in größe- 
rer Kontraft, wie ber, aus bequemem Eiſenbahncoupé das fechstbalbtanfend Jahre 
alte Wüftenwunder zu ſchauen, ift wohl faum bentbar. Ihr Anblid ift uns ber 
erfte Gruß aus einer von Mythennebel ummallten Zeit, bie bart an der Schwelle 
der Menſchengeſchichte liege. Was darüber binausragt, ift leere Bermutbung, Kom- 
bination, fagengefhichtlihe Spekulation! Die älteften Heroen, welde die Geſchichte 
tennt, jchweben berab, und bie Phantafte taucht mit ihnen zurüd, da ein Menes vier 
Jahrtauſende vor Chrifto bie äguptiiche Monarchie und feine ältefte Hauptftabt Memphis 
gründete, Kaleu bie-erften Geſetze erlieh, und Hefepti die Gebeimniffe der Wiſſen— 
ſchaft erſchloß. 

Nur wenige Stunden im Weſten des Stromes und der Kalifenſtadt gerade 
gegenüber liegen jene Denkmäler, die die ſprechendſten Symbole des ägyptiſchen 
Weſens find. Sie find es in mehrfahem Sinne: erftlih, weil dieſe Riejenbauten 





112 Am Kamin. 


an fi eine Kraftprobe von jenem merkwitrdigen Bolfe abgeben, das mit den geringe 
ften technifchen Hilfsmitteln Werke vollbracht bat, die alle Zeiten überbauert haben; 
zweitens weil biefelben Werke der greifbare Beweis von der Madıt und dem Unter— 
nehmungsgeift jener Gebieter find, die im Nillande geboten und ihr Volt mit despo- 
tiſcher Gewalt nieberbielten; drittens endlich find uns jene Riejenbauten auch ihres 
Zwedes halber, und gerade dieſes Zmwedes halber nod am ebeften, Symbole alt- 
ägpptifchen Weſens. 

Die Pyramiden find nämlich, wie bie Forfhung zur Evidenz erwiefen bat, feine 
Werte der Götterverebrung, feine Obfervatorten oder monumentalen Nutbanten (man 
batte fie eine Zeit hindurch für Getreidefpeicher ꝛc. gehalten), fein Produkt tyranni-= 
cher Yaune, oder, wie man gleichfalls vermutbete, eine Art von Notbftandsbauten, 
welche die Pharaonen, errichten hätten laffen, um das Voll niederzubalten oder ibm 
dauernde Beihäftigung zu geben: das alles find die Pyramiden nicht. Sie find 
einfach Königsgräber. Daß fie uns das ägyptiſche Weſen fymbolifiren, liegt darin, 
weil die Riejenhaftigkeit diefer Bauten eng mit einem Glauben verknüpft ift, der die 
uralte Kultur des Nilthales durchträukt bat: Der Glaube an die Unfterblichkeit! 
Die alten Aegypter huldigten der Anſchauung, daß die Seele eines jeden Menjchen 
nach deſſen Ableben in die Unterwelt eingebe, dort von dem Todtenrichter „gewogen“, 
und dann entweber als erhöht, oder verdammt, ober feines von beiden befunden, 
das heißt in letzterem Falle zum Wieberantritt einer längeren Erbeneriftenz aus- 
erlefen wurbe. Diefes neue Leben konnte verjchiedene Formen (in Thierlörpern) 
annehmen und ſchließlich (allerdings erft nad Jahrtauſenden) in den urjprünglicen 
feit langem der Mutter Erbe anvertrauten Menſchenkörper zurüdtehren. Es lag 
fonah im Anterefie bes Berftorbenen, daß bie irdifche Hille bis zur eventuellen 
Wiederkehr ber Seele im vollftändig erhaltenen Zuftande verblieb, und dazu bedurfte 
e8 ber Mumifizirung; der mumifizirte Körper follte aber auch möglichſt von mecha— 
nifhen (äußeren) Zerftörungen bewahrt werden, mas nur dann möglich war, wenn 
man bie Mumien entjprechend ficher beftattete. Was fonnte nun ficherer fein, als ein 
Riefenbau, deffen gigantifher Mauerkern eine verbhältnigmäßig Heine Gruft um— 
fchloß, deren Inneres man nachträglich zumauerte. 

Nicht minder intereffant, als die Schilderungen Aegyptens im „Orient“ ift bie 
Peichreibung des heiligen Landes, von ber wir im nächſten Salonheft eine Probe 
bringen werben. 





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Menefte Moden. 


Nr. 1. Kleid für Mäddien von 4 bis 6 Jahren. 

Diefes aus rofa Faille angefertigte Kleid hat ſowohl auf ben Vordertheilen ber 
Taille ald auh am Rod einen breiten Streifen Mein gelegter Falten. Der Falten- 
rod bat am jeder Seite zwei, aus übereinander gelegter Spite beftehende Theile. 
Ron den Achſeln herab nad ber Mitte des Gürtels find zwei breite Spitentbeile 


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Nr. 1. Kleid für Madchen von 4 bis 6 Jahren. 


alatt aufgefett, welche nach der Achſel übergejchlagen und bort mit einem roſa 
Scleifenbüfchel befeftigt find. Die Aermel find halblang und oben fowie unten 
faltig. Den untern Rand begrenzt eine breite, glatt angefehte Spite, welche ben 
Aermel verlängert. Der Heine Stehlragen ift glatt mit Spite belegt. Ein Gürtel 
aus rofa Failleband umgiebt die Taille und bildet am Rückenſchluß eine große Schleife 


mit Enden. 
Ar. 2, But für Damen. 
Derjelbe ift aus granatfarbenem Tuch angefertigt und bildet ur vorn ge- 
Der Ealon 1867. Heft VI. Band II. 


114 Heuchte Moden. 


zogene Puffen. Hochftebende Schlupfen aus altgoldfarbenem Sammetband und eine 
zweifarbige Aigrette werben durch elfenbeinfarbene Spigen untermifcht und begrenzt; 
ber glatt anliegende Raud des Hutes ift vorn zu einer Heinen Schnebbe zufanmen- 
gebogen. Bänder von Sammet. 


Ar. 3. Hut für Mäddhen von 13 bis 15 Jahren. 


Der otterfarbige Hut bat einen kurzen Rand und born einen breiten aufge- 
ſchlagenen Schirm, welcher bochftehend das Gefiht umgiebt und innen mit otter- 
farbenem Sammet bededt ift. Born auf, hinter dem aufgebogenen Schirm ift ein 





Nr. 2. Hut für Damen. 


weiß» und otterfarbener Federbüſchel nebft weißen breiten Banbjchlupfen und 
Windungen aus Faille angebracht. 


Nr, 4 Promenaden -Anzug. 


Das Kleid aus glatter Faille hat vorn einen glatten und hinten in Falten 
genommenen Rod. Die darüber fallende Schürze ift an ben Seiten, unterhalb ber 
Hüften, unter dem hinten befindlichen Puff in Falten genommen. Die Mantelvifite, 
aus ſchwarzem Seidendamaft angefertigt, geht vorn jehr lang berab und bat zwi— 
ſchen den glatten Vordertheilen ein eingefetstes Theil, weldyes unten eine breite a. 
bildet und nach oben, fpit zulaufend, dem einen Vordertheil angeheftet ift. em 
entſprechend ftebt auch das untere Rückentheil offen; daſſelbe kann nad Belieben 
mit einem ähnlichen Fächer oder durch den Puff des Mleides ausgefüllt werben. Die 


Neueſte Moden. 115 


Aermel, welche zugleih den Schooß bilden, find der Rückennaht angefügt und 

baben vorn einen breiten Beſatz von ſchwarzem Sammet. Der Heine Kragen ift 

ebenfalls von Sammet. Die vorderen Ränder der Mantille, ſowie die Aermel und 

ber Schooß find mit einer Duaftenfranfe umgeben. Die Heine Capote von Sammet 

—* an = Ze einen Schleifenbitichel aus Atlasband mit Sammettupfen nebft einem 
nen Bogel. 


Ar. 5. Anzug für Mädchen von 6 Jahren. 


Der erfte Rod bes Kleides beſteht aus Wollenftoff und hat am untern Saum 
eine geftidte Kante. Derjelbe ift gleihmäßig rundum in Doppelfalten gelegt. Das 





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Mr. 3. Hut für Mädchen von 13 bie 15 Jahren. 


Ueberlleid aus. Faille ift mit einer Watteeinlage und Geidenfutter verfeben. Die 
glatten Borbertbeile geben Jang berab und bilden unten eine Spite. Unterhalb 
der Riüdentbeile ift En Heiner Puff aus Faille angebradht. Die Ridentbeile find 
etwas fürzer und mit Falten aus Wollenftoff belegt, welche durch glatt aufgenähte 
Sammetbänder feftgebalten werben. Auch ber Faltenlag ift aus Wollenftoff, ſowie 
ber große Matrofenfragen, welcher mit Stiderei bededt if. Die glatten Aermel 
haben Sammetaufjchläge. Der runde Hut bat einen beftidten Rand, welder an ber 
Seite emporgejchlagen ift und vorn das Geficht frei läßt. Der Kopf beflelben ift 
vorn mit einer Feder und nach binten zu mit Bandwinbungen v t. Weiße 
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Ar. 6. Promenaden -Anzug. 
Das Ueberleid aus Dttomanftoff ift vorn ausgejchnitten und läßt ein Meines 


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118 Neueſte Moden. 


Schürzentheil frei, unter welchem ein Faltentbeil aus ſchwarzen Spiten fich befinbet. 
Die beiden, neben biefen Falten herabfallenden Theile des Ueberkleides find dort mit 
Stiderei ober Berlenpaflementen, welde bis an den Saum des Rockes berabgeben, 


























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Nr. 7. Hausfleid für junge Frauen. 





Heuefle Moden. 119 


verfeben. Auch an beiden Seiten bes zu einem Buff erhobenen binteren Rodtheiles 
find zwei bis zum untern Nand reichende Streifen, aus fpiralförmig aufgefeßter, 
breiter Spige gebildet, angebracht. Die Taille ift anliegendb und vorn offen. Die 


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Nr. 8. Hauskleid für eh J 


120 Heuefle Moden. 


Nänder der Borbertbeile find mit gleiher Stiderei wie am Rod verziert. Der 
Faltenlatz, ſowie das umter der Taille berborjehende Schürzentbeil beftebt aus 
Faille.e Der Stehfragen und bie langen glatten Aermel find von Ottoman; Teßtere 
unten mit einer Heinen Verzierung aus Faille bejetst. Kleiner Muff. Der bobe 
Hut bat eine binten fehlende, vorn gerabftebende, innen mit Sammet belegte 
Krempe. Born auf dem Hut befinden fich zwei dide Federbüſchel; den Kopf bes- 
felben umgiebt ein gewundenes Failleband. 


Nr. 7. Hauskleid für junge Frauen. 


Der erfte Rod diefes Kleides aus farrirtem Wollenftoff ift vorn völlig glatt. 
Die Polonaiſe aus glattem mauerfarbigem Stoff iſt vorn über -einer farrirten Wefte, 
welche unten in zwei Spiten ausgeht, offen und an ben Hüften weit zurlidigenommen. 
Die hinteren Falten fallen glatt berab. Die kurzen Aermel jchließen mit einer 
Sammeteinfaffung, welche in einer Schleife endigt, ab. Ein vorn angeſetztes Puffen- 
theil verlängert die Aermel. Die Borbertheile haben einen breiten Sammetbejat, 
auch bie Wefte ift bamit eingefaßt. 








Nr. 9. Korbbett fir Neugeborene. 


Ar. 8. Haushleid für junge Damen. 


Ueber einem Rod aus leichter Seide befindet fich ein zweiter Rod aus beige 
farbigem Caſchmir. Diefer Rod bildet auf dem Borbertheil eine breite Doppelfalte, 
ift an den Seiten Teicht eingereiht und binten in tiefere Falten genommen. Auf 
einer glatten Umntertaille befindet ſich ein Faltenhemdchen aus Caſchmir, welches in 
der Taille durch ein Mieder aus beigefarbiger Faille, das im Rücken gefchloffen ift, 
zufammengebalten wird. Ueber biefem Mieder befindet fich ein breiter, herzförmiger 
Sammetlaß, deſſen Spite in ber Taille auf dem Mieder durch eine große filberne 
Scnalle befeftigt if. Zwei Sammetbänder halten biefen Lat durch Schleifen auf 
den Schultern feft. Die Aermel find ziemlih kurz am Ellbogen und an ber Schulter 
eingereibt und unten mit einem breiten Sammetbündchen verfehen. Der Stebtragen 
bat am Hals einen Sammetrand, An Material ift zu biefem Anzug verwendet: 
4 Mtr. 25 Centm. leichte Seide zu dem untern Rod. 5 Mir. 50 Centm. Caſch⸗ 
mir von 1 Mtr. 20 Centm. Breite. 1 Mir. Faille. 60 Centm. Sammet. 3 Mtr. 
75 Centm. Sammetband von 5 Centm. Breite. 


Ar. 9. Korb-Beit für Neugeborene, 

Die Außenwände des Korbes erhalten einen glatten, blauen oder roſa Atlas- 
bezug, über welchen Heine Puffen aus weißem Duffelin befeftigt werden. Den 
Rand des Korbes, als auch das Kopfende umgiebt eine ſchöne reichgeftidte Spiten- 
falbel, welche mit Bandrüſchen feftgehalten wird. Die beiden Griffe bes Korbes 
find ebenfall® mit Band ummunden, das in einer Schleife endigt. Vorn am Ende, 
ſowie über dem Kopftbeile befinden fich ebenjolhe Schleifen. Im Innern ift ein 
weiches, farbiges oder weißes Wattfutter angebracht. 


Rebaction, Berlag und Drud von A. H. Payne in Reupnig bei Leipzig 


aanaaatuoct aſpſrujoct 





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Der Liebe Anfang und Ende. 
Ein Abenteuer aus dem Leben Karl3 XII. von Schweden. 
Bon DO. Reyher. 


„Man hatte ihn im Verdacht gehabt, eine Leiben- 
schaft fir eine ber Hofdamen zu begen; ob das nun auf 
Wahrheit beruht oder nicht, jedenfall entfagte er ben 
Frauen fir immer, nicht allein aus Beforgniß, fih von 
diefen beherricht zu feben, fondern auch um feinen Sol» 
daten ein Beifpiel vor Augen zu halten... Er ent- 
ſchloß fih auch, zeitlebens dem Wein zu entfagen. Bon 
mander Seite wurde biefer Vorſatz dahin erflärt, er 
habe bie Natur nad jeder Richtung hin in Feſſeln ſchla 
gen wollen... . . Die meiſten ſtimmen aber darin 
überein, daß er ſich bamit nur für einen gelegentlich be- 
gangenen Erzeß und für eine, bei Tafel einem Weibe 
zugefügte Beleidigung beftrafen wollte.‘ 

Voltaire, Geſchichte Karla XII, Buch II. 


I. 

In einem Salon des Palajtes Hedwig Eleonoras von Holftein 
En ein Mann — nad) der Pracht (len Kleidung und den vielen 
rauf gli = Dekorationen zu urtheilen, einer der höchſten Wür- 
denträger des Reichs — ängftlic bejorgt auf und ab und blieb, nur 
einige mverftänbliche Worte murmelnd, dann und wann ftehen. Diefe 
Perjönlichkeit war niemand geringeres als Graf Arel Sparre, einer 
der Minijter der Wittwe Karls AI Von Zeit zu ge unterbrad) er 
auch jeine Wanderungen, um die ungeduldigen Schritte nad) einem 
Fenster mit Ausjicht über einen freien ap davor zu richten, auf dem 
einige Regimenter vor den Augen des jungen Prinzen Karl, des Erben 
der Tcwehifchen Krone, mandvrirten. Die Erregung des Grafen rührte 
jedoch keineswegs von dieſem Schauſpiel her, das bei ſeiner Häufig— 
eit keine beſondere Beachtung ſeitens des hohen en fand. Das 
unmvillfürliche Zucken der Gejichtsmusfeln, das Bligen und en 
feiner Blide, die abwechjelnd einen fühnen Entſchluß und dann wieder 
verzagende Verzweiflung verriethen, Liegen fich nur durch die Erwar— 
tung eines wichtigen Ereignifjes erklären, deſſen entjcheidender Moment 

ihm IR langjam heranjchleichen — 
s er ſich eben * anſchickte, den Fußboden des Salons zu 
mejjen, öffnete ſich deſſen Thür und es trat nod) eine andere Berjon 

Der Salon 1897. Heft VIII. Band II, 


122 Der Liebe Anfang und Ende, 


ein. Als dieſe ſich, mit einem erleichternden Seufzer, gegen den Grafen 
wendete, der dem Neuangefommenen einige Schritte entgegenging, wich 
aus feinen Sügen jofort der Charakter des fanften, immer lächelnden, 
nie aus dem Öleichgewicht kommenden Hofmannes und diefe nahmen 
dafür den unverfennbaren Ausdrud eines gewaltjam unterdrücdten, 
aber heftigen Unmuths an. Der Eintretende war der Gejandte Frie— 
drichs IV., Königs von Dänemark. 

Einen Augenblid lang ftanden beide Männer einander ſchweigend 

egenüber; doch bevor der —* Seit fand, eine auf feinen Lippen 
J—— Frage in Worte zu kleiden, war der andere ihm ſchon zu— 
vorgefommen und jagte: 

„Wir haben das Spiel verloren, Graf, eben verließ ich die Köni— 
gin, welche ihre Zuftimmung unbedingt verweigert.“ 

„Ic weiß es, Em. Ercellenz; die abjchlägige Antwort wurde Iette 
Nacht in der Staatsrathsſitzung beſchloſſen.“ 

„Waren wir aber nicht übereingefommen, daß Sie die Ansprüche 
meines Königlichen Herm auf das Herzogthum Holjtein unterjtügen 
follten? Haben Sie auch der Regentin die einzige Alternative bei der 
Nichtanerkennung diefer Anſprüche, einen furchtbaren Krieg mit dejjen 
traurigen Folgen, vor Augen geitellt?“ 

"Gent that id) das, Ew. Eccellenz, und mit einer Wärme, die 
Sie ſelbſt nicht übertroffen — Meine Bemühungen waren aber 
nicht imſtande, die Sympathie, welche ſie natürlich für den Herzog 
von Holſtein als ihren Verwandten empfindet, zu beſiegen. „Es wäre 
eine Feigheit, nein, noch mehr, eine Verächtlichkeit“, „ji fie, „ihn 

erade da im Stich zu lafjen, wo er fi) mir in die Arme wirft, um. 

Hilfe zu erbitten. Uebrigens jteht — mächtig genug da, um 
feinen, ſonſtwoher drohenden Krieg fürchten zu müſſen, und der — 
Karls XI. iſt ein mir anvertrautes Vermächtniß, das ich ohne Makel 
u bewahren wiſſen werde, bis ich es den Händen Karls XII. über: 
biefere.“ So lautete ihre Antwort.“ 

„Schöne Gefühle und edel ausgedrückt“, erwiderte der Geſandte 

öhniſch, „aber berechneten Sie, lieber Graf, auch, was fie ung koſten? 

ir — das wohl um — Preis hören können, denn für 
Sie ſteht damit die Grafſchaft Delmenhorſt und für mich die von 
Pinnenberg auf dem Spiele.“ 

„Bitte, feine Uebereilung! Wir werden unſere Grafſchaften ſchon 
erhalten, wenn der König, Ihr Gebieter, ſeinem Worte treu bleibt, 
denn das unſerige werden wir nicht brechen. Wir haben verſprochen, 
nn das Herzogthum Holjtein zu überliefern und das joll-und wird 

eſchehen.“ 
„Zroß des Widerſpruchs der Wünſche Ihrer Majeſtät?“ 

„Durch den freien Entſchluß Seiner Majeſtät des Königs.“ 

„Sch veritehe Sie nicht, Herr Graf.“ 

„Hätte Karl XI. in offenbarer Verlegung des ſchwediſchen Reichs— 

ejeges, welches die Majorennität der Könige mit deren vollendetem 

66 ehnten Lebensjahre anerkennt, nicht durch beſondere Beſtimmung 
die * Sohnes bis zu deſſen achtzehnten Jahre zurückverlegt, wären 
wir dann * genöthigt, uns den Launen einer Frau devoteſt zu 
unterwerfen?“ 


Der fiebe Anfang und Ende. 123 


Ein faum verhülltes Lächeln verächtlichen Mitleids ſpielte auf 
en — Lippen angeſichts der geiſtigen Kurzſichtigkeit ſeines 

enübers. 

„Ein junger Mann mit jo ſtrenger Erziehung, wie fie Karl XIL 
genojjen“, fuhr er fort, „hat allemal, wenn er feine bisherigen Feſſeln 
gejprengt fühlt, Augen und Ohren faum für etwas anderes, als für 
epöbliche Vergnügungen, und wir werden ihm dieje in jo verlodendem 
Glanze erjcheinen und ihn jo laut zu rufen lajjen wilfen, daß lange 
Zeit vergehen wird, ehe ihm ein Gedanke an ernjtere Angelegenheiten 
beifommt. Darauf fünnen Sie ich verlafjen.“ 

„AH, id) fange an Sie zu verjtehen“, jagte der Gejandte; „Für 
ihn den Namen des Königthums, für Sie diejes in der That und 

Sahrheit. Indeß“, fügte er zweifelnd hinzu, „iit das alles nicht eine 
bloße Vermuthung, ein Wechjel auf unbeitimmte Zukunft?“ 

„D, fünnen Ew. Erxcellenz denn gar nicht errathen, worauf ic) 
hier warte?“ fragte der Graf. 

„offen gejtanden, nein“, Tautete die Antwort. 

„sch warte nur auf die Verwirklichung jener Vermuthung.“ 

Mit diefen Worten erhob fi Sat Sparre von dem Sopha, auf 
en ns während diejes Geſprächs gejejjen, und ging gemächlich nach 

em Fenſter. 

it der letzten Bierteljtunde hatte das Bild der Vorgänge auf 
dem Plage ſich wejentlich verändert. Wo Furze Zeit vorher noch alles 
Schweigen und Ordnung gewejen war, da herrichte geht Verwirrung 
und Geräuſch. Die Soldaten jtanden nicht mehr in Reih' und Glied; 
die Offiziere bildeten verjchiedene Einzelgruppen, um welche ſich Bür- 
ger der Hauptjtadt neugierig — — hier und da ſprachen 
heftig geſtikulirende Redner auf die Volksmenge. Plötzlich, als gehorch— 
ten He einem erwarteten Zeichen, erjchütterten Taufende von Stimmen 
auf einmal die Luft, und der dreimal wiederholte Ruf: „Lang lebe 
der König!” drang auch zu den Ohren der zwei Edelleute. Der Graf, 
deſſen Gejicht jeßt vor Freude glänzte, ſtreckte dem Gejandten dabei 
die Hand entgegen. 

„Der Steg ift unſer, Exeellenz! Der junge Löwe ijt erwacht; 
num erübrigt e3 nur, ihn wieder in Schlaf zu lullen.“ 

Um den Leſer über die — der eben geſchilderten Vor— 
gänge — müſſen wir einen Augenblick ein wenig zurück— 
ee Durch geheime Einwirkung auf die Gefühle der Bevölkerung . 
und der Armee hatte Graf Sparre jchon jeit Monaten den oben be= 
fchriebenen Ausbruch vorbereitet; um mit demjelben den gewünjchten 
Erfolg zu — bedurfte es freilich noch der eigenen —— 
des Thronfolgers. Der Junge — hatte, beherrſcht von der Ehr— 
furcht, der wir alle den Wünjchen Verſtorbener — uns nicht 
entſchlagen können, noch gezögert, dieſe geben. Die Ueberzeugun 
aber, daß der junge —2 er Karla XI, wenn es zu einem wirk— 
lichen Aufitand fam mit dem Ziele, jeine Thronbejteigung noch vor der 
durch feinen Vater, bejtimmten Zeit herbeizuführen, doch nicht zurüde 
an würde, dieſem allgemeinen Rufe zu entjprechen, hatte den 
Miinifter veranlaft, das Signal dazu an dem Tage zu geben, mit 
dem unfere Erzählung beginnt. Wie ergriffen von dem geheimniß- 

9% 


124 Der Liebe Anfang und Ende. 


vollen Vorgefühle dejjen, was fich hier vollziehen follte, hatte der 
Bin —— inmitten ſeines Stabes geſtanden und ſchien in tiefes 
Nachdenken verſunken. Sein Vormund, Staatsrath Piper, bemerkte 
dieſes ungewöhnliche Verhalten und näherte ſich ihm mit den Worten: 

„Darf ich mir die Freiheit nehmen, Ew. Majeſtät zu fragen, 
worüber die ernſtlich aaa —* 

„Sch ſtellte mir eben vor, daß ich doch ſelbſt würdig und kraft— 
voll genug wäre, “ ehrenwerthen Kriegsleute zu befehligen, und 
wünfchte wohl, daß fie und ich felbjt nicht mehr länger den Anord- 
nungen einer Frau unterworfen wären.“ 

Dieje im Tone unverhohlenen Unmuthes und jo laut gefproche- 
nen Worte, daß jie von den Stabsoffizieren faum überhört werden 
konnten, verfehlten ihre Wirkung nicht. Einige Offiziere trennten ſich 
von der Gruppe, ein x weiter Prague Wort fand jchnell 
Weg durch die langen Reihen und der von den bürgerlichen Zu— 
ſchauern enthuſiaſtiſ — u „Lang Iebe der König!” 
braufte betäubend wg) ie Luft und drang auch bis ing Kabinett 
der Regentin als die Anzeige, daß ihre eigene Macht — der Ber- 
een angehöre. 

Bei diejer plöglichen Kundgebung war aber doc) eine abweichende 
Stimme zu hören. Sie fam von einem jungen Soldaten namens 
Nozen, einem Milchbruder des neuen Königs; diejer rief, als das Lär- 
men einigermaßen verhallte: „Achtung vor dem Willen Karla XL! 
Lang lebe die Regentin!“ 

In einem Moment war die fein Echo wedende Stimme zum 
Schweigen gebracht, Rozen ergriffen und zum Gefängniß abgeführt, 
ohne daß der junge Herricher von dem Eleinen Zwiſchenfalle das ges 
ringjte bemerkt Hatte. 


Il. 


Am folgenden Morgen zu früher Stunde erjchien ein Liebreizen- 
bes, noch jehr —— ädchen am Thore des Königspalaſtes. Ihre 
außergewöhnliche Schönheit wurde durch maleriſche Tracht nur noch 
mehr gehoben, obgleich letztere in ihr auf den erſten Blick das einfache 
Dorfmädchen erkennen ließ. Vier- oder fünfmal ſchon hatte fie ver- 
fucht, die Herzen der ftarrfinnigen Wachtpoften zu erweichen, welche, 

ehorſam erhaltenem Befehle, ihr etldiehen en Eintritt in die 

— verweigerten. Mit geſenktem Kopfe, die ſanften Ge— 
ichtslinien gefaltet zu Furchen für ihre hervorquellenden Thränen, 
ann ſie eben über eine neue Anrede, den nächſten Soldaten-Cerberus 
ihrem Wunſche — u ſtimmen, nach, als der Laut über den 
knirſchenden Sandboden rollender Räder ſie aufblicken ließ. Es war 
Graf Sparre, der in —— Wagen ankam. Ergriffen von Bewun— 
derung über das reizende Geſicht, ſtand er ſtill, das Kind aufmerk— 
ſamer zu betrachten, wobei in ihm die Erinnerung aufdämmerte, daß 
dieſe liebreizenden Züge ihm nicht ganz unbekannt ſein müßten. 

„er 8 Sie, liebes Kind“, fragte der Edelmann freundlich, und 
was führt Sie hierher?“ 

„Sch heiße Chrijtine und wünjche den König zu jprechen.“ 


Der Kebe Anfang und Ende, 125 


„Shriftine! AH, ich entjinne mich; find Sie nicht die Tochter 
oder Nichte des alten Rozen, eines der Gärtner in Jakobdal?“ 

„Sch bin jeine Nichte, guädiger Herr.“ 

„And Sie wünjchen den König zu jehen?“ 

„Womöglich jogleich, gnädiger Herr, wenn e3 irgend jein fann.“ 

Ich zweifle nicht im mindeiten, Chrijtine, daß er Ste gern will- 
fommen heißen wird. Seine Majeftät hat mir oft erzählt, wie viel 
Vergnügen es ihm gewährt habe, bei Sagdausflügen ein Stündchen 
in Ihrem Haufe zu verweilen, und“, fügte er laut lachend hinzu, „er 
ritt jehr, jehr oft zur Jagd, wobei jeine rg den Herren jeis 
nes Gefolges immer recht lange erfchtenen, da dieje das Glüd, Sie zu 
ſehen, nicht theilen konnten.“ 

„ver König erinnert ſich meiner!“ rief das junge Mädchen ur 
erfreut. „O, wie dank ich Ihnen, gnädiger Herr, für dieſe gute a 
riht! Site haben mir Muth und Hoffnung wiedergegeben! 

Der erfahrene Staatsmann warf einen Blick der en re 

= das liebenswürdige Gejchöpf, wie = Mephiftopheles vielleicht 
auf Gretchen, al3 er dieje zum erjten Male jah, geworfen haben 
mochte, und betrog fich et in der Annahme, bab Gott in einer 
Anwandelung von Bergeklichkeit ihm ein himmliſches — in die 
Hand gebe, um mit deſſen Unterſtützung ſeine teufliſchen Anſchläge 
—— 
m Mädchen den Arm bietend, führte er fie durch die erſtaun— 
ten Wachpojten und in ein an das Kabinett des Königs ftoßendes 
Wartezimmer. Schon eine Minute jpäter fam er, auf dem Geficht den 
Ausdrud der Zufriedenheit, aus dem Kabinett zurüd, und ihm auf 
dem Due folgte ein Zafei mit der Meldung an Chrijtine, daß Seine 
Majeſtät fie ge jehen wolle. 

Karl war allein. Ueber einen Tiſch mit aufgejchlagenem Atlas 

gebeugt, hingen jeine Augen eben wie gebannt an der Karte von 

änemark. Bon Zeit zu Zeit furchte jich, wie aus Unmuth, feine hobe, 
reine Stirn. Seine Gefichtszüge zeigten jchon damals den melancho= 
fiichen und tieferniten Ausdrud, der jo merfwürdig von der Jugend» 
lichfeit der —— abſtach. Als er un anſichtig 
wurde, glätteten hr jogleich a — und — er Stirn; ſeine 
Lippen fanden auch zutrauliche Worte und ein freundliches Lächeln, 
das junge Mädchen zu ermuthigen, die, nachdem fie erft mit verzwei— 
feltem Entjchluß einige Schritte vorgetreten war, jeßt plößlich zitternd 
und ſtumm jtehen blıeb. 

E3 mag nur ein, wenn auch ſchwacher rue aus finjteren 
Wolfen auch auf den jtrengiten, asketiſchſten, düſterſten Menjchen herab— 
jcheinen, immer wird er ſich ummwillfürlich zu jonnen juchen. 

„Warum jo jchüchtern, Chrijtine? Das jieht ja aus, als fürd)- 
teten Sie ji) mir zu nähern.“ 


„Site... 

„Summer etwas mehr von unjerm alten Vertrauen! Ich entfinne 
mich ja recht gut, daß Sie, wenn ich bei meinen Jagdausflügen in 
Ihrem Häuschen vorjprad), ohne Scheu zu mir famen und mit weit 
weniger Geremonie auf mich |prachen.“ 

Ich weiß nicht, wie mir iſt, Sire. Auf dem Wege hierher hatt’ 


126 Ber ficbe Anfang und Ende. 


ich jo vieles, was ich Ihnen jagen wollte und nun ich hier bin, ver- 
mag ich fein Wort zu finden.“ 

„Sehen Sie mid an, Kind! Seh ich denn gar jo jchlimm aus, 
da id) regiere — denn ich — jetzt, Chriſtine.“ 

Ich weiß es recht wohl, Sire, und das iſt eben mit die Urſache, 
warum ich — aufzuſuchen wagte.“ 

„Wirklich: 

„Sewiß“, verjicherte das Mädchen, die jich jet von ihrer eriten 
Beitürzung etwas zu erholen jchien, „und warum Ku ih zu Ihnen 
nicht Aa wie — Sie ſind doch kein anderer geworden, 
nicht wahr? — ieſes Blickes, aus dem vielleicht manche einen 
ne an Gefühl herauslejen fünnten, iſt Ihr Herz doc) immer gut 

eblieben!“ 
i „Meinen Sie?“ 

„O, ich weiß es bejtimmt.“ 

„Run, jo lajjen Sie's auf den Verſuch ankommen.“ 

„Da Sie jo gütig find, mich ſelbſt aufzufordern, Sire, möcht' id) 
um Gnade bitten F einen, der freilich ſchuldig iſt, für den Sohn 
eines Ihrer alten Diener — für meinen armen Wetter Rozen.“ 

„Was jagen Sie? Rozeén, mein Milchbruder?“ 

„Er befindet fich im Gefängniß, Sire.“ 

„Sn Gefängnig? Was hat er gethan?“ 

„Er vertrat die Meinung, daß ein König vor allen Dingen dem 
Willen eines Vaters Gehorjam jchuldig jei, und er vermaß ſich geftern 
bei der Parade, als Ste eben zum König ausgerufen worden waren, 
etwas zu laut zu äußern, was er darüber dachte.“ 

„Birklih? Nun hören Sie, —— mir ſcheint, nach ſeinem 
Benehmen zu urtheilen, daß der Herr Rozen etwas Hitzkopf iſt.“ 

Freilich, Sire, aber er hat auch ein ebenſo heißes Herz! Glau— 
ben Ste, Sire, was er gethan, ge 2 aus Liebe zu Ihnen. Wie 
oft habe ich) ihn jagen hören, — r Ruhm ihm theurer ſei als fein 
Leben; daß, wenn Sie imjtande wären, ein Unrecht zu begehen, er 
wünjchen würde, e3 mit jeinem Blute für Sie büßen zu dürfen. Glau— 
ben Sie mir, Sie werden nie einen treuer ergebenen Diener als ihn 
haben fünnen.“ 

„Da Sie für ihn bitten — und übrigens iſt er doch mein Mild)- 
bruder — mögen ihm einige Thorheiten verziehen fein.“ 

Bapier jegte der König jich nieder und warf jchnell einige Zeilen 
auf Papier. 

„Diefen Befehl an den Gouverneur des ee Er 
Io er zu dem Diener, der auf einen Glodenruf in der Thür 


ien. 

„ech, wie gut Sie jind, Sire!“ rief das Mädchen, als der Lafei 
verjchwunden war. „Ste find noc immer derjelbe, wie ich Sie in den 
Tagen Fannte, wo Sie zu uns famen, einen Imbiß verlangten und 
darauf beitanden, daß ich, als die Nichte Ihrer Nährmutter, Sie 
„Better Karl“ nennen jollte!“ 

„Und das jollit Du fürder thun, meine Eleine hübjche Cou— 
jine“, erwiderte der König, der jet das förmliche „Sie“ gegen das 
vertraute „Du“ aus der Zeit der Kindheit vertaujchte. Dann jegte er 


Ber fiebe Anfang und Ende, 127 


—— hinzu; „Wie lange wird's nun dauern, bis ich wiederkomme, 
Dich um Milch und Backwerk zu bitten!“ | 

Die Jluftrationen in alten Büchern zeigen Könige und Königin— 
nen immer mit der Krone auf dem Haupte und dem Szepter in der 
Hand, auch wenn fie I in den Privatgemächern befinden; nein, noch 
mehr, jie ftellen diejelben jogar im Staatsgewande jchlafend dar. 
Wir lachen über ſolche Dinge, die wir als Unmwahrbeiten fennen; doc) 
fönnten jene Illuſtratoren mit ihren Darjtellungen nicht einen, ung 
ir entgehenden, tieferen Sinn verbunden a Wenn Monarchen 
auch nicht immer ihre Kronregalien tragen, jollte deren Gewicht nicht 
dennoch ebenjo auf ihre Stirn drüden? 

Diejes eine Mal ließ fich indeß Karl nicht von der ſonſt mäch— 
tigen Hand der Etikette die Erinnerung an frühere Freuden und Tage 
rauben, da ihn und die Spielgenojjin noch feine Lebensjorge bedrüdte. 
Beide überliegen ſich einer der langen Plaudereien, die fie von frühes 
ren Jahren her gewöhnt waren. Aber die Zeit, die harte, erbar- 
mungsloje Zeit — ſich doch zwiſchen ſie. Von der Schloßuhr 
ertönte die elfte Stunde. 

Mit dem legten Schlage hatte Karls Geſicht wieder den ernſten 
Ausdrud angenommen. 

„Wir müfjen ung trennen, Chriftine.“ 

„Schon jegt?“ 

„sch muß nad) dem Thronjaale gehen, um die Glückwünſche der 
Grogen des Reichs entgegenzunehmen.“ 

„D, das muß ein prächtiger Anblic fein!“ rief das Mädchen, „ach, 
dürfte ih...“ Tiefes Roth flog über ihre Wangen; fie ſprach nichts 
m 


ehr. 

Der König lächelte, flingelte nochmals nad) dem Lafei und befahl 
diefem, Chrijtine einen jolchen Pla anzuweiſen, daß ihr nichts von 
der Geremonie ir 

Seit dem Ableben Karl3 XI. hatte ſich feine jo glänzende Ver— 
fammlung von großen Herren, — und Offizieren im 
Thronſaale ar weg ber wie heute. Auf jeder Lippe jchwebte 
eine Lobpreiſung des Staatsjtreichg vom Vortage, und jeder Verehrer 
der jegt aufiteigenden Sonne bejtrebt ji), in der Hoffnung, den be— 

chtenden der königlichen Gunſt auf ſich ſelbſt zu lenken, dem 
ügge werdenden en einen mit den eigenen Wünſchen mög: 
lich}t übereinjtimmenden Charakter beizulegen. 

„Er iſt tapfer!“ jagten die, welche Epaulettes trugen. „Wir wers 
den nicht lange mehr in ernicdrigen r Thatlofigkeit en: das 
Avancement vollzieht jich jchneller, wenn einer mit der Schneide des 
Schwertes — ringt.“ 

„Bet ſeinem Alter“, meinten die jungen Edelleute, „wird er ſicher 
aud) Vergnügungen lieben. Dem Himmel Dan, wir werden nun nicht 
mehr das jtrenge Bußgewand zu tragen brauchen, das jo ſchwer auf 
unfern Schultern lajtete!“ 

„Er hat einen ernten, gedanfenvollen Ausdrud“, erklärten die alten 
— „er wird unſerm Rathe und unſerer Erfahrung Werth 
beilegen.“ 

Coriftine, die jegt mitten unter dieſe Uniformen und von Stides 


128 Ber fiebe Anfang und Ende. 


reien ftrogenden Staatsgewänder eingeführt wurde, bemerkte erröthend, 
daß jie in der glänzenden Verſammlung die einzige ihres Geſchlechts 
war. Shre VBerlegenheit nahm nur noch zu, als jie jah, daß ihre 
Anweſenheit die Aufmerkjamfeit — an dem ſie vorüberkam, erregte. 
Sie gewahrte das Lächeln und Geflüſter, deſſen Gegenſtand ſie ſelbſt 
zu ſein wohl errieth, und in ihrer Angſt eilte ſie —— der großen 

ardine eines Fenſters Zuflucht zu juchen, wo ſie ſich jo Hein als 
möglid) machte, um ſich Ars jeder Beobachtung zu entziehen. 
Graf Sparre wünjchte das aber nicht. Als ein Edelmann ihm jeine 
Berwunderung darüber zu erfennen gegeben, daß eine junge Bauern- 
dirne an diejer Stelle und bei jo —— Gelegenheit anweſend ſein 
ſolle, erwiderte er etwas verweiſen 

„Nehmen Sie ſich in Acht, Herr Graf, die Bauerndirne, über 
welche Sie heute lachen, könnte morgen ſchon die hohe Dame ſein, vor 
der Sie gern erbötig wären, das Kniee zu beugen.“ 

Gleich einem Lauffeuer verbreiteten ſich dieſe Worte durch den 
weiten Saal, und Chriſtine, die der ſelbſtgewählte Zufluchtsort kaum 
verbarg, bemerkte, daß ſie noch einmal die allgemeine Aufmerkſamkeit 
auf ſich lenkte; die Lakeien wetteiferten diesmal aber miteinander, wem 
von ihnen es gelingen würde, ihr den ausgeſuchteſten Reſpekt, die 
tiefſte Bewunderung zu beweiſen. 


III. 


Endlich erſchien Karl ſelbſt. Bekleidet mit einfacher, anſpruchs— 
loſer Uniform ging er ſichern Schrittes — die ge von 
Prachtgewändern, die he öffnete, um ihm den Durchgang zu gejtatten, 
und jtieg leicht die Stufen zum Throne empor. 

„Es ift gut meine Herren. Ich danke Ihnen für Ihr pünktliches, 
Erjcheinen.“ So begann er mit dem fejten klaren Tone, der fait 
immer für das Vermögen zu erh len bezeichnend iſt. „Diejer Tag 
joll der Zeuge der eriten öffent * Handlung in der Regierung 
meines Landes ſein. Ich hätte dabei freilich kaum dieſen Aufwand 
von Pomp und kleinlicher Etikette gewünſcht, die nur für ſchwache 
und ſchwankende Dynaſtien paßt. Sie haben meinen Händen die 
Ehre und den Ruhm Schwedens anvertraut; mit des Allmächtigen 
Bar hoffe ich diejes Vertrauen zu rechtfertigen. Erheiſchen die Um— 
tände Worte des Friedens, jo werde ic) fie zu finden wiffen, meine 
A aber das wird nur geſchehen im Rocke des Soldaten und die 

and an der Koppel meines Schwertes; daſſelbe ſoll umgeben ſein 
von braven und muthigen Männern, nicht von Höflingen im andern 
Sinne; jedermann wiſſe, daß ich Kraft und Muth in mir ſelbſt fühle 
und J ich mich bei Ihnen deſſelben verſehe. Wehe dem, der an 
meinen Worten zu zweifeln wagt!“ 

Dieſe von hochenergiſcher Geſtikulation begleitete Anrede hatte auf 
die ganze ge. nicht einunddiejelbe Wirkung, Die Höflinge 
blidten zur Erde und konnten ihr Mißvergnügen kaum verbergen; die 
Gefichter der Soldaten dagegen jtrahlten vor Freude. Graf Sparre 
jelbjt laufchte, ohne mit einem Muskel zu zuden und als widerjtrebe 
e3 ihm, einen Streit beginnen zu jehen, dejjen Ausgang ihm kaum zwei- 


Der fiebe Anfang und Ende. 129 


ra jchien; er beeilte jich aljo, den Gejandten Dänemarks vorzu— 
tellen. 

Der lettere, nachdem er den König in hochtrabenden Redensarten 
beglüdwünjcht, fuhr dann auf ein ermuthigendes, nur ihm und dem 
Grafen Sparre verjtändliches Zeichen Hin, fort: 

„Site, der Rn, Den hoher Gebteter, hegt, unterrichtet von den 
Anfprüchen, die an Ew. Majejtät gejtellt werden betreff3 eines Staa- 
tes, der niemals hätte aufhören jollen, ein integrivender Beitandtheil 
jeiner Machtiphäre zu Den nichtsdeſtoweniger den aufrichtigen Wunſch, 

aß diejer ne nicht eine Urjache der Lockerung des freund: 
ſchaftlichen Berhältnifjeg werden möge, das Dänemark und Schweden 
verbindet. Sein Wunjch get dahin, daß durch eine Konferenz alle 
Meinungsverjchiedenheiten bezüglich des Herzogthums Holjtein gejchlich- 
tet wilden, und bei dieſer Gelegenheit bin ih beauftragt, Ew. Maje- 
ftät ein dauerndes Defenfiv- und Offenfivbündnig vorzufchlagen, wel- 
ches, wenn möglich, das Band noch feſtigen jolle zwijchen zwei 
Nationen, die doc) einander zu achten und zu lieben bejtimmt jcheinen.“ 

„Dein Herr Geſandter“, lautete des Königs Antwort, „wir füh— 
len uns gejchmeichelt .. den Eifer, den Sie für unjern Vetter, den 
König von Dänemark, an den Tag legen; Ehre und Gleichberechtigung 
aber legen ung die Pflicht auf, erjt ernit und unparteiiſch die An— 
jprüche unjeres Schwagers, des ai von Holjtein, zu prüfen; und 
obgleich wir, was uns perjönlid) betrifft, gewiß aufrichtig die Fort— 
Dauer des guten Einvernehmen zwijchen Dänemark und Schweden 
wiünjchen, jo fünnen wir doch erit nach jener Prüfung entjcheiden, 
KG eg die Annahme der von Ihnen angebotenen Allianz mög— 
ich ijt.“ 

„Sie werden diejelbe ablehnen, Sire“, rief da —— eine Stimme, 
„ſo daß Schweden Ihre Gerechtigkeit ebenſo anerkennen könne, wie wir 
jetzt Ihren Muth preiſen.“ 

Jeder wandte u nach dem Sprecher um, der Fühn genug ge 
wejen war, mit Diejer Waprung die Antwort des Königs zu unter- 
brechen. Eine dunkle Wolfe lagerte für einen Augenblid auf der 
Stirn Karls, wich aber auch gleich wieder vor einem freundlichen, doc) 
ernjten Lächeln. 

Ew. Excellenz Staatsrat Piper“, erwiderte der Monarch, „wenn 
das frühere Mindel König geworden iſt, hört die Rolle des Lehrers 
von ſelbſt auf. Bitte, erinnern Sie ſich De in der Zukunft.“ 

ach) einigen weiteren, ebenjo langen als nichtsjagenden Anreden, 
auf welche er in der knappen Nedeweile eines Mannes antwortete, der 
mehr Gewicht auf Thaten als auf Worte legt, jtieg Karl vom Throne 
herab, und da er gleichzeitig Chrijtine bemerkte, welche allen Vorgängen 
mit athemlofer Spannung gefolgt war und jeßt regungslos vor Be: 
wunderung den Kopf vorjtredte, blieb er gerade vor ihr jtehen. 

„Ach, Sire, wie edel und groß Sie Si zeigten!“ rief das junge 
Mädchen, die fich faum erholt hatte von dem eleftriichen Schlage, den 
alles, was fie gejehen und — auf ſie ausübte. 

Alle Hofbeamte, mit Ausnahme des Grafen Sparre, traten dis— 
fret zur Ceite. Er allein blieb zurüd. _ 

„Wirklich, Chriſtine“, fragte Karl in jcherzendem Tone, „warjt Du 


130 Ber Siebe Anfang und Ende. 


hg Entſprach das Schauspiel der Vorſtellung, die Du Dir 
vorher davon gemacht hattejt?“ 

„sc, habe mir dabei rast, Sire, dat Sie doch jehr gut jind, 
da Sie troß Sat hohen Stellung und der wichtigen Angelegenheiten, 
die Ihren Geiſt in Anfpruch nehmen, noch fähig * ind. ein 
armes Mädchen wie mich mit einem Blide zu bejchenfen und ſich 
ihrer Ju erinnern.“ 

M ährend fie fprach, hatte ein junger Soldat ſich der Gruppe 
enähert. 
i „Sie haben mich hierher befohlen, Sire“, begann diejer, nachdem 
er militärijch gegrüßt 2 

„Ah, Ihr ſeid's, Meifter Rozen; ich jchien gejtern das Unglüd zu 
haben, Euer Mißfallen zu erregen.“ 

„Geſtern, Sire, glaubt’ id) mich in meinem Rechte; heute aber, 
wo fic das Volk ganz einjtimmig für Ew. Majejtät erklärt — — 

„Sehr gut. Ihr gehört offenbar zu Denen, für die Volksſtimme 
Gottesjtimme ift.“ 

„Das ijt mein Glauben, Sire.“ 

„olglic dürfte ich nun auf Eure treue Ergebenheit rechnen?“ 

„Bon dem Augenblif an, wo das mit meinem Gewiſſen über: 
— wird meine perſönliche Anhänglichkeit für das Uebrige 
ürgen.“ 

„Rozen, ich ernenne Euch hiermit zum Unteroffizier in meiner 
Garde. Seid Ihr zufrieden?“ 

„Kaum nod, Sire. Meine Befriedigung wird gi dann voll 
Ich wenn ich Gelegenheit habe, mein Leben für Ew. Majejtät ein- 
zuſetzen.“ 

Ein ſtrahlender Enthuſiasmus leuchtete aus dem Geſicht des 
jungen Königs. 

„Zwanzigtauſend Mann wie dieſer“, wendete er ſich an den Gra— 
fen Sparre, „und ich würde es unternehmen, binnen zwei Jahren der 
Beherricher aller nordiichen Reiche zu jein.“ 

Als er fich wieder ag Ehrijtine umdrehte, jah er, wie dieje jtill 
die Thränen trodnete, die jich ihr in die Augen drängten. 

„Bas weinjt Du denn, Ehriftine?“ 

„Es geisieht aus Freude, Sire; wie kann ic) Ihnen je die Gnade 
vergelten, die Ste ung eriwiejen haben?“ 

„Das werd’ ich Ihnen jagen, meine Dame“, fiel Graf Sparte 
heiter ein, „wenigjtens wenn Seine Majejtät mir das geitatten wollen.“ 

„Laſſen Sie hören, Graf; jprechen Sie.“ 

„Unjere * morgen angeſagte Jagdpartie dürfte wohl den We 
nach Jakobdal wählen, und Fräulein Chriſtine könnte da ein Mah 
herrichten, wie ſich Eure Majeſtät deren ſo gern erinnert.“ 

„Gut erdacht, Graf, laſſen wir's gelten. Chriſtine, ich verlaſſe 
mich auf Sie.“ 

Mit dieſen Worten begab ſich der Monarch nach ſeinem Kabinett 
zurück, wo ſich heute mehr als einmal das Bild der Jugendgeſpielin 
mit den ernſten Obliegenheiten, die er zu erfüllen hatte, vermiſchte. 

Freudigen Gejichts verließ Sparte, ſich Er die Hände rei- 
bend, den königlichen Palaft. Er jah jein Spiel ſchon für gewonnen an. 


Ber Siebe Anfang und Ende, 131 


Auch Chriftine, die fich zärtlich an Rozens Arm hing, fam wieder 
heiter aus der ae ann. die jie heute früh mit jo ängftlicher 
le betreten hatte. 

uf dem Heimwege nad) Jakobdal drängte es fie immer die Worte 
u wiederholen: „Unteroffizier in der Garde! Komm, laß uns eilen, 
Deinem Vater die frohe Kunde zu bringen.“ 

„Und da er einmal verjprochen hat“, jegte Rozen dann Hinzu, 
„unferer Verheiratung an dem Tage — an dem ich die erſte 
Charge im Heere erworben hätte, wird er hoffentlich num feinen Vor— 
wand mehr haben, jene noch länger aufzufchieben.“ 


IV. 


Bielleicht niemals vorher * die Straße nach dem Parke von 
Jakobdal einen ſo heiteren Anblick geboten, als an dem für die könig— 
liche Jagd beſtimmten Tage. Sn) Sparre hatte die jüngjten und 
übermütbigiten hehe ausgewählt, das — des Königs zu bil- 
den. Jeder Etifettenzwang war aufgehoben; alle bewegten fi nad) 
eigenem Belieben. Das Ganze erſchien imgrunde weit weniger eine 
Sagdpartie, als ein Haufen lärmender, jchäfernder Schulfnaben, welche 
einen freien Tag nad) Herzensluft ausnußten und, da ihnen die 
beengende Anwejenheit des Lehrers fehlte, die tolliten Streiche trieben. 
Karl hatte den gewöhnlichen ernten Ausdrud des Gejichts heute ab- 
gelegt. Mit vollem Jugendfeuer betheiligte er jich an den Scherzen 
und dem lujtigen Treiben jeiner fröhlichen — Dieſe plauder— 
ten und lachten nach Herzensluſt, vor allem aber machten ſie Bemer— 
fungen über die legten, jo wichtigen —— und gaben ihren 
Beifall zu erkennen über die glückliche et evolution, welche 
einen jungen liebenswürdigen König an die Stelle einer alten, jtrengen 
Regentin fette; fie beglüdwünjchten einander, dem traurigen Ennui 
eines Hofes entronnen zu jein, wo alles jo jteif und fürmlic) war 
wie die, welche demjelben vorjtand, und da endlich die jchöne Zeit 

efommen jei, wo Luſt und Freude wieder ungejtört herrichen könnten. 
Bei diefem Thema angelangt, wandte ſich das Geſpräch ganz unwill- 
fürlich dem jungen Mädchen zu, die jo auffallender Beite dem feier- 
lichen Huldigungsafte des gejtrigen Tages beigewohnt hatte; jeder pries 
die Schönhett und Anmuth Ehriitinens mit den wärmſten Ausdrüden, 
ihre Stimm war jo rein, ihr Lächeln jo bezaubernd und ihre Blicke jo 
fanft und ſüß, daß es niemand hätte überrajchen können, fie ein ge- 
wiſſes anderes jchweres Szepter in ein ſolches von Rojen verwandeln 
zu jehen. Derlei Anjpielungen wiederholten ſich, immer unverhüllter 
werdend, jo häufig, daß Karl, der jie ja nicht mißveritehen fonnte, in 
der eriten edlen Aufwallung des Herzens den Verjuch machte, einen 
Irrthum zu zerjtreuen, der den guten Ruf jeiner protegee leicht 
— onnte. Sie wollten ihm jedoch nicht glauben; ſein Wider— 
pruch wurde nur auf gut geheuchelte Beſcheidenheit zurücdgeführt. 
Zur Ermuthigung erzählten fie ihm Liebesabenteuer von allen gefrön- 
ten Häuptern Europas; ſie gingen jogar jo weit, jeine Aufmerftamfeit 
dem — freilich etwas verjährten — Beifpiele feines Vetters, des 
Königs von Frankreich, zuzulenfen; kurz, jie brachten es dahin, daß 
Karl, deſſen Phantafie allmählich erregt wurde, auf weitere Abwehr 


132 Ber £fiebe Anfang und Ende. 


ähnlicher Andeutungen, vielleicht ebenjo geleitet von dem Verlangen, 
— verwirklicht zu ſehen, wie aus befriedigter Eigenliebe, ver— 
zichtete. 

Bei der Wahrnehmung, daß von dieſer Seite ſich alles ſeinen 
Wünſchen anpaßte, verlangſamte Sparre unbeobachtet den Schritt ſei— 
nes Pferdes und ſprengte, als die Geſellſchaft hinter der Windung 
eines Parkwegs verſchwunden war, ſeitwärts durch eine, kürzer zum 
Sue führende Allee. 

hrijtine legte an die für den König bereitete Tafel eben die 
letzte Hand an, als der Graf eintrat. Hart und ungeziert ging fie 
ihm entgegen. 

„ch, gnädiger Herr, wie freut es mich, Sie zu jehen! Sie Tießen 
mir gejtern nicht einmal Zeit, Ihnen zu danken; gejtatten Sie, daß ich 
wenigſtens heute nachhole, was ...“ 

„Sprechen Sie 22 von dem gerin rügigen Dienfte, den ich 
Ihnen aus reinem Zufall zu leijten vermochte, denn u handelt es 
fi) um eine weit sg a Angelegenheit, in der die Rollen geradezu 
umgetaujcht erjcheinen; denn ich würde der Schüßling fein, Sie aber 
die Beichüßerin, wenigjtens wenn Sie jo freundlicd) ein wollen, mir 
diefe Gunst zu erweijen.“ 

„Ob ich jo freundlich fein will! Sie jcherzen ja nur, gnädiger 
Herr! Welche Macht bejähe ein armes Mädchen, wie ich, um einem 
großen Herrn wie Ihnen nüßlich jein zu können?“ 

ae Macht wird feine anderen Grenzen haben als die, welche 
Sie derjelben freiwillig ziehen wollen.“ 

„Ste treiben Spott mit meiner Einfalt, gnädiger Herr! Wahr: 
Haftig, das ift nicht recht von Ihnen!“ 

„Berhüt' e8 der Himmel, daß mir ein jolcher Gedanke käme! — 
bitte, Chriſtine, blicken Sie ein wenig in die Vergangenheit zurück. 
Wenn Karl, ehe er die Zügel der Regierung ſelbſt in die Hand nahm, 
nach Jakobdal kam, um ſich zu erholen, meinen Sie, es wäre immer 
nur die Luſt am Waidwerk gen, die ihn nad) diefer Stelle z0g? 
Sollte dabei nicht auch das Verlangen, mit der Spielgenojjin aus den 
Tagen der Kindheit zufammen zu treffen, mitgewirkt haben?“ 

„Run, ich kann freilich nicht leugnen, daß er etwas ähnliches 
wiederholt geäußert hat.“ 

— ren Sie nicht zuweilen die Vertraute ſeines Kummers, ſeiner 
agen?“ 

Das iſt wohl wahr.“ 

„Und als Ste gejtern morgen von ihm empfangen wurden, be— 
ne Sie da, daß er fich in feinem Benehmen gegen Sie verändert 
hätte?“ 

„Nein, gewiß nicht; mich machte zwar der Gedanke, vor der Ber: 
fon des Königs zu stehen, an allen Gliedern ittern; er aber empfing 
mich ſo —8 und — daß ich ſehr bald ebenſo zwang- 
los wie jonjt jprechen fonnte. Er ſagte aud), es werde iöm ein 
großes Vergnügen gewähren, feine Bejuche in Jakobdal wieder auf- 
— und wenn er dahin käme, wollten wir wie alte Freunde 
plaudern.“ 

„Sie jehen aljo, daß ich nicht jcherzte. Karl erklärte, daß er Sie 


Ber Kebe Anfang und Ende. 133 
al3 Freundin betrachte, und eine Freundin des Königs, ift diefe nicht 
allmachtig ?“ 


„Allmächtig ijt ein Wort, das gar zu viel bedeutet, gnädiger 
Herr; und doch, wenn ich mir's überlege, es koſtete mic) nur ein Wort, 
um Rozens Freilaſſung zu erlangen.“ 

‚ „Ste würden * leicht jede Gunſt erlangen, um die zu bitten 
Sie — entſchlöſſen.“ 

WMeinen Ste wirklich? O, wenn dag der Fall wäre, wie glück— 
lich wollt’ ich mich ſchätzen. Es gäbe ja jo manches, wofür eine Bitte 
am Plage wäre. Doch nein, was Sie da fagen, iſt doch unmöglich!“ 
. . „Würden Sie eine Probe wagen? — Sie heute einen Ver— 
ſuch mit Ihrer Macht; Sie würden gleichzeitig mir einen Dienſt 
— — einen Dienſt, für den ich Ihnen ewig zu Dank verpflichtet 

iebe.“ 

„Wenn e3 jo iſt, wie Sie jagen, gnädiger Herr, bin ich zu allem 
bereit. Um was handelt es fich?“ NR : 

Sparre zog ein Schriftitüd aus der Tajche. 

„Dieſes Dokument“, jagte er zu Chriftine, „würde, wenn es die 
Unterjchrift des Königs trüge, alle meine Träume von irdiſchem Glüd 
verwirklichen.“ 

„Und Sie glauben, meine Bitte werde hinreichen, den König zur 
MER RG ejjelben zu vermögen ?“ 

„Das weiß ich bejtimmt.“ 

Doch hier Liegen die Umftände anders als gejtern bei meiner 
Ungelegenbeit es bedarf dazu einer günjtigen Oele ig 

„Eine jolche wird ſich unfehlbar bieten, wenn Sie bei Tafel neben 
dem Könige figen“, unterbrach fe der Staatsmann. 

„Bei Tafel? Ich?“ rief das junge Mädchen. 

„Der König wünjcht, daß Sie beim Ejjen die Honneurs machen.” 

„So geben Sie her“, antwortete —— die das Pergament 
nahm und hinter ihrem Bruſtlatze barg. „Weit entfernt zu glauben, 
daß id) jo viel Ein u haben fönnte, wie Sie mir zujchreiben, haben 
Sie doc) zu großen Anſpruch auf meine Dankbarkeit, als daß ich mit 
dem Berjuche zögern könnte.” 

Eine laute * im er a verfündigte das Eintreffen des 
Souveräns und ſeines Gefolges. Chriftine, von den neuartigen Vor: 
jtellungen, die das Gejpräcd mit Sparre in ihr erwedt hatte, ganz 
eigenthümlich berührt, fühlte ihr Der heftiger Elopfen; ſie glaubte 
faum Kraft genug zu befigen, um Karl zu begrüßen; und als jie ihn, 
umgeben von den Hofherren, ſich ihr nähern jah, da war fie nahe 
daran, das Bewußtſein zu verlieren. 

Des Königs Auftreten jchien aber auch gar nicht jo jicher wie 
jonjt. Die Anjpielungen jeiner Begleiter hatten mancherlei Gedanken 
in ihm wachgerufen; da jolche aber zum erjten Male auf ihn ein- 
drangen und er bei jeiner jtrengen Erziehung im Gebiete leichter 
Galanterie gänzlich Neuling war, jo erzeugten fie in ihm eine faum 
überwindliche Furchtiamkeit, die ihm ein, an das Komijche jtreifendes 
Anjehen von Unbeholfenheit verlieh. Erfahrener als er, wenn auch 
faum älter, ſahen die jungen Edelleute, die ihn umjtanden, einander 
an und fonnten ein äceln fast nicht unterdrüden. - Das entging 


Ber Kebe Anfang und Ende. 


134 
en Karl nicht, und fofort fam ihm die natürliche Eigenliebe da zu 
Hilfe, wo Mangel an Lebenserfahrung ihn im Stiche ließ. Leicht 
und entjchloffen auf Chriſtine augebend, bot er diejer die Hand und 
Kite fie mit triumphirendem Blide und ftolz erhobenem Kopfe zur 
afel, wo er fie an feiner Seite plagnehmen ließ. Jeder hat im 
Leben einmal einen Rubikon zu überfihreiten Karl überjchritt in die— 
* Minute den ſeinigen. Immerhin möchte, wenn das Mahl jo wie 
onjt nur aus Sahne und Backwerk beitanden hätte, der Sieg unjeres 
a hiermit geendet haben; —* wurde das Zuckergebäck aber mit 
öſtlichem Ungarwein — pült, der auch den Blödeſten zu einer 
gewiſſen Kühnheit begeiſtern konnte. Abwechſelnd aufkeimende Liebe 
aus den Augen der ſchönen Nachbarin und Kühnheit aus dem Glaſe 
trinkend — das ſtets gefüllt zu halten, Sparre ſich beſonders ange- 
legen jein ließ — kam der junge Herrjcher in eine ebenjo übermüthige 
Stimmung, wie die übrigen Tiichgenoffen. Die erjt nur halblaut ge: 
führte Unterhaltung wurde belebter,- jpäter laut und endete mit un- 
unterbrochenem Salvenfeuer von — denen ein herzliches Ge— 
lächter folgte — Scherze, welche die ngen einer Hofdame wohl 
hätten erröthen lafjen, über die aber das einfache, unjchuldige Land: 
mädchen mit lachte, ohne fi) um deren mehr veritedten Sinn zu 
fümmern. Es ging jo weit, daß Karl unter der Wirkung der doppel- 
ten Erregung, die ihm Herz und Hirn beherrichte, ausrief: 
„Rein, ich * nimmer geglaubt, daß dem Menſchen ſo glück— 
liche Stunden beſchieden ſein könnten, und Sie, Chriſtine, find es, der 
id es verdanfe, eine jolche gene zu haben. Was Fünnte er — 
dafür bieten? Sprechen Sie, verlangen Sie etwas, was Sie ſich 
wünschen.“ 

Sparre gab Ehrijtine ein Zeichen, das nur dieſe verjtand. 

Die letztere zog das Pergament aus feinem Verſteck und legte es 
vor Karl Hin. 

„Unterzeichnen Sie das, Sire; es it die einzige Gunſt, um bie 
ih Ew. Majeſtät bitte.“ 

„Was bedeutet das?“ fragte der König. „Gott verzeih's mir, 
mein Schatz, aber ich glaube, Sie mengen ſich gar im die Politif. 
Sehen Ste hier, meine — es iſt nicht mehr und nicht weniger, 
als ein fertiger Friedensvertrag mit Dänemark!“ 

„Ein Friedensvertrag!“ riefen die Gäſte, deren geſunder Verſtand 
ebenſo wie der des Königs etwas ins Wanken gerathen war; „das iſt 
ein Wink des Himmels! Unterzeichnen Sie, Sire!“ 

„Ohne Frieden feine Bergnügungen!“ 

„Ohne Vergnügungen feine Liebesabenteuer!“ 

Frieden iſt die beſte Himmelsgabe! Laßt uns auf den Frieden 
trinken!“ 

„Ja, ja, trinken wir auf den Frieden!“ jubelten alle. 

„Und ich will mit Euch trinken, meine Herren“, ſagte Karl, das 
Glas erhebend. „Kommen Sie, Chriſtine, hinunter mit dem Wein; wir 
trinken auf den Bund zwiſchen Schweden und Dänemark.“ 

Nach diefen Worten fette ſich Karl, der ein wenig unficher auf 
den Füßen fchien, wieder nieder; feine Hand begegnete der des Grafen 


Ber Liebe Anfang und Ende. 135 


Sparre, der ihm jchon eine Feder anbot. Er unterzeichnete das 
Schriftſtück und hielt es Chriftine hin. 

Im nächſten Augenblid ſchon jtedte Sparre den Vertrag in fein 
Bortefeuille. Im Belihe diejes vielbegehrten Schaßes, beeilte er fich, 
das Zimmer zu verlafjen, als fürchte er, der König könne es ihm in 
einem Haren Augenblick wieder rauben. Seinem Beiſpiele folgten auch 
die andern Herren, und Karl blieb num mit Chrijtine allein. 


V. 
Der Graf richtete ſeine Schritte an einer Vorhalle voller 
Borreiter, Grooms, Jäger, Diener und Gardijten. Ein bejahrter 
Edelmann, der eben vom Pferde geitiegen war, betrat diejelbe in. der 
nämlichen Minute und fragte fait —— wo der König ſich befinde. 
Es war der Staatsrath Piper; derſelbe, deſſen Unterbrechung am vor- 
hergehenden Tage, trotz des lauteren Patriotismus, von dem ſie ein— 
gegeben war, doch jo wenig augenblidlicyen Erfolg gehabt hatte. Karls 
ewwejener Vormund trug auf dem Gejicht die Zeichen außergewöhn- 
icher Erregung, welche dad Bujammentreffen mit Arel Sparre nur 
zu fteigern jchten. Nach einigen Minuten unoläfligen Bögerns, als 
müſſe er erſt ein peinliches Gefühl von Widerwillen niederfämpfen, 
trat er auf den Minijter zu und jeßte in einem Tone, den er vergeb- 
lich mähig zu halten juchte: 

„Bielleicht ift es ein glückliches Ungefähr, Herr Graf, das uns 
noch —— ehe ich weiter gehe.“ 

„Berzeihen, Ew. Excellenz, aber ic) er große Eile. 

ch habe nur.wenige Worte an Sie zu richten; dieſe dürften 
aber von ausreichender Bedeutung für Sie jein, mir wenigſtens kur— 
zes Gehör zu jchenfen.“ 

„Da jcheint aljo viel davon abzuhängen, wie?“ 

„Shre — Herr Graf, nichts geringeres.“ 

„Deine Ehre!“ 

„Entichuldigen Sie, wenn ich in meiner Offenheit gerade auf den 
entjcheidenden Hunt losgehe. Sie unterhalten geheime Verbindungen 
mit Dänemarf.“ 

rr Staatsrath!” 

„sch weiß es; und Sie juchen den König dahin zu beeinfluffen, 
daß er den Frieden erhält.“ 

„sch kann Ihnen darauf nur, ohne jede Reue, antworten, daß, 
wenn ich zur Erreichung diejes Zieles thätig war, es nur aus per- 
jönlicher Ueberzeugung gejchah und — — Sie — daß ich mich 
nicht für * tet halte, irgend jemand über meine innerſten An— 
ſchauungen Rechenſchaft abzulegen.“ 

„‚Ueberlegen Sie, Herr Graf, noch iſt's ai Zum legten Male 
ichlage ich Ihnen vor, mir die augenblidlichen er e unjeres 
Landes offen darzulegen. Weijen Sie mich nicht ohne Weberlegung 
ab. Bergejjen Sie nicht, daß es oft nur eines Tages — nein, einer 
einzigen Minute bedarf, um die jorgjamjt vorbereiteten Berechnungen, 
die ſcheinbar umerjchütterlichite Stellung, die beträchtlichiten Ver— 
mögen zu jtürzen und zu vernichten.“ 

Sparre winkte einen Diener heran. Den Vertrag aus dem Pors 


136 Der Siebe Anfang und Ende. 


eg hielt er denjelben entfaltet einen Nugenblid vor 
Siper Hin. 

„Hier meine Antwort, Herr Staatsrat Qunden“, wendete er fich 
dann an den Neitfnecht, „gleich aufs Pferd und bejorge dieſe Depe- 
ihen vor Ablauf einer Stunde in die Hände des — Geſandten.“ 

Mit tiefer — und ſardoniſchem Lächeln verließ er den 
wie verſteinert daſtehenden Piper, deſſen namenloſe Beſtürzung ſich 
nur durch ſein Schweigen der Betäubung verrieth. 

Verachtung und Wuth machten dem Nachdenken des Staats— 
rathes jedoch ein jähes Ende. Er blickte nach der Thür, durch welche 
der Miniſter verſchwunden war und rief dieſem mit in der ganzen 
Vorhalle vernehmbarer Stimme nach: 

„Seh, elender Verräther — geh und trage Schwedens Schande 
zu feinen Feinden! Aber ic ſchwör' es Dir, Du jollit feine Früchte 
dafür einernten!“ 

Diejer Aufruf rüttelte einen jungen Gardijten auf, der — zurüd- 
asaogen in eine Ede des Raumes, um ſich, nach) dem Ausdrude feines 

eſichts zu urtheilen, ziemlich melancholiſchen ge ru hinzu⸗ 
— * von dem oben wiedergegebenen Geſpräch fein Wort ver— 

ren hatte. 

Piper bemerkte weder jeine Erregung, noch die Eile, mit der der 
Soldat nad) jeinen Waffen se und In aus der Vorhalle entfernte. 
Sein Geift war jeßt viel zu jehr bejchäftigt, um darauf zu achten, 
was jonjt um ihn vorging, und er jchlug eiligit den Weg nad) dem 
Salon ein, wo er, wie man ihm gejagt, den König finden ſollte. 

Als die Edelleute aus des letzteren Gefolge ſich erhoben, um fi 
zurüdzuziehen, hatte auch EChrijtine dafjelbe gethan; unklar aber, o 
die Etikette ihr vorjchrieb, zu gehen oder zu bleiben, war fie noch une 
ihlüffig, was fie thun jollte, als Karl fie an der Hand fahte und 
mit fanfter Gewalt wieder auf den, vorhin neben ihm eingenommenen 
Sitz — 

„‚Willſt Du mich denn num ganz allein laſſen, me? Du 
fürchteit Dich doch nicht, mit mir unter vier Augen zu fein?“ 

„D nein, Sire, das wäre ja nicht das erite Mal. Da fällt mir 
auch noch etwas ein. Erit en jagten Sie, daß wir bei Ihrer 
— ſo freundſchaftlich wie ſonſt plaudern wollten. In der 

eſellſchaft aller jener Herren war das ja gang unmöglich.“ 

„Du haſt Recht; doc) nun, da fie fort find, find wir um fo uns 
geitörter.“ 

„Wir können viel ungezwungener jprechen.“ 

Ich kann Dir mein ganzes Herz öffnen.“ 

„Und wenn Sie einen Kummer haben, kann meine Freundichaft 
Sie hoffentlich tröjten.“ 

„zreundichaft! Immer nur Freundichaft! Das Wort ift jo matt 
und unbezeichnend, Chriftine“, jagte Karl aufjtehend und einen feiner 
brennenden Blide auf fie heftend. 

„Um Gottes willen, was ijt Ihnen, Sire? Was begehren Sie? 
Sie erichreden mich!“ 

„Slaubit Du, ich fünne mich immer mit diefem falten Gefühl von 
Freundichaft begnügen? Wohnt in Deinem Herzen denn nichts als 


r 


Der fiebe Anfang und Ende. 137 


Jolche Indifferenz? In dem meinen wohnt die Liebe, Chriftine, die 
Liebe zu Dir, und Liebe ijt es, die ich dafür erflehe.“ 

Jedes während der Tafel gefallene Wort trat jet plöglic) wie- 
der vor Chriſtinens Gedächtniß. Erſt jebt veritand fie den Sinn 
jener Reden. Erröthend vor Scham und Unwillen, verfuchte jie zu 
entfliehen. FIRE . 

„Laſſen Sie mich, laſſen Sie mich!” rief fie, bejtrebt fich feiner 
Umarmung zu entwinden. „Sie haben mic graufam getäujcht. Ich) 
flehe Sie an, Site, laſſen Sie mid) gehen!“ 

„Rein, Du jolljt nicht gehen!“ 
sirf Wenn Sie ſich mir noch einen Schritt nähern, Sire, ruf' ich um 

ilfe!“ 

„O, es wäre niemand da, der Deinem Rufe folgen würde.“ 

Noch einmal ergriff er Chrijtineng Hand. Eh’ er aber Zeit fand, 
dieje an jeine Lippen zu führen, hatte jie ihm diejelbe entzogen, jie 
rajch erhoben und ein ziemlich heftiger Schlag fiel auf die königliche 
Wange nieder. 

n demjelben Augenblide öffnete ich die Thür und Staatsrath 

Piper erjchien. 

Karl war bei dem jo energischen Widerjtande Chriſtinens bleich 

— zuerſt wollte der Zorn ihn übermannen; der unerwartete 

nblid des Mannes aber, vor dem er mehr als vor jedem andern 
erröthen zu jollen fürchtete, unterdrüdte jchnell in ihm die Wirkungen 
des aujchenden Weines. Sofort hielt er verlegen ein und jenfte 
wie beichämt den Kopf. 

„sch bitte um Verzeihung“, —— Piper ſehr kalt, „ich dachte den 
ana Sek Schweden hier zu finden.“ 

mit drehte er um und wollte wieder gehen. 

„Bleiben Sie, Herr Staatsrath“, — da Karl, „Ihr Schüler 

hat Ihren Unterricht noch nicht ganz vergeſſen; er dankt Ihnen vor— 
züglich für eine gewiſſe Lektion, die Sie ihm ertheilt. Doch nun, 
was wünſchen Sie? Sprechen Sie, es iſt der König, der Ihnen 
uhört.“ 
Piper entfaltete einen entſiegelten Brief, den er dem Könige, 
ohne ein Wort zu ſprechen, vorhielt. Derſelbe trug die Adreſſe des 
dänischen Miniſters des Auswärtigen zu Kopenhagen, mit der Bemer— 
fung „Brivatim; vertrauliche Mittheilung.“ 

„Das iſt Die — des Geſandten. Wie kommt dies Doku— 
ment in Ihren Beſitz?“ fragte Karl verwundert. 

„In mir war ſchon längſt Verdacht aufgeſtiegen“, erklärte Piper, 
„und es iſt doch nicht ſchwerer, einen Kurier zu beſtechen, als einen 
Miniſter. Leſen Sie nur, Sire.“ 

Karl las wie folgt: 

„Ew. Excellenz — unſere Angelegenheiten nehmen allmählich eine 
günſtigere Wendung. Alles beſtärkt mich in dem Glauben, daß es 
elingen werde, den jungen ſchwediſchen Löwen einzuſchläfern. Dem 
rofen Sparre, dem danach verlangt, jich die zugejagte Grafichaft 
Delmenhorst zu verdienen, iſt es jchon gelungen, den König in eine 
verlodende Liebesaffaire zu verjpinnen, und, Dank dieſer höchſt wirf- 
jamen Hilfe, hoffe ich Ihnen jchon binnen kurzem die offizielle Nach— 


Der Ealon 1887. Heft VII. Band IL 10 


138 Der Liebe Anfang und Ende. 


richt über den Abjchluß des re überjenden zu Fünnen, 
der, während Schweden dadurd) in Schach gehalten wird, gleichzeitig 
den Ruhm und die Größe Dänemarks gewährleiitet ...“ 

Karl vermochte nicht weiter zu leſen; ſein Geficht wurde blaß, 
aus jeinen % en ſprach die Leidenjchaftlichfeit des Charakters und 
mit der Hand knitterte er frampfhaft das Schreiben zujammen. Aber 
wie gelähmt von diejer verblüffenden Enthüllung, ſank er bald ver: 
zweifelt auf jeinen Stuhl nieder. 

„Zu jpät! Zu jpät! Ich habe den unjeligen Vertrag jchon 
unterzeichnet!” war das Einzige, was er in den nächſten Minuten her- 
vorbringen konnte. 

„Das iſt wohl wahr, Sire“, fiel da plößlich ein Gardift ein, der 
mit in Unordnung gerathener Uniform und jchweißbededter Stirn in 
der Thiröffnung erichien und in der Hand ein Portefeuille empor- 
hielt, aber es jteht noch in Ihrer Macht, die Unterfchrift zurückzu— 
ziehen. Hier iſt der Vertrag.“ 

Der Gardijt war Rozén. 

„Zritt näher”, jagte dfiper ruhig. 

„Könnte es wahr fein?“ rief der König, der begierig nach dem 
Vortefeuille faßte. „Sa“, fuhr er tiefbewegten Tones fort, „hier ijt er, 
der verrätherijche, jchändliche Vertrag DO, wenn ich mir denfe, daß 
mein eigener Name unter diefem bübiſchen Schriftitüd fteht! Ach, 
welch’ harte, harte Lehre!“ 

„Wie fommt dies Papier in Deinen Beſitz?“ fragte der Staats- 
rath den jungen Krieger. 

„Höchſt einfach, Em. Excellenz. Ich hörte gegen meinen Willen 
das I zwißchen Ihnen und Graf Sparre mit an. Nun war 
e3 Doch Feine jo jchiwierige Sache, des Grafen Boten einzuholen, und 
ei bier“ — er Elopfte dabei auf. jein Schwert — „hat das übrige 
gethan.“ 

Bei diefer Bewegung bemerkte Chriftine, daß feine Hand mit 
einem Taſchentuch verbunden war. Mit einem Sprunge jtand fie an 
feiner Seite. 

„Du bijt verwundet, Nozen!“ rief jie. 

NRozen wendete den Kopt ab, ohne ihr zu antworten. 

„Rozen“, begann da der König, „Ihr habt ein edles Werk voll 
bracht; ie wünſchte Euch dafür in_gleich edler Weije zu belohnen.“ 

„Das iſt nicht nöthig, Sire; Ste ſchulden mir nichts.“ 

Karl jah den jungen Mann voll Erjtaunen an. 

„Ich habe nur meine Pflicht gegen Neich und Heimatland erfüllt“, 
fuhr der Gardiſt fort, „für den — ſelbſt hab' ich ja nichts gethan.“ 

„Wer Schweden einen Dienſt leiſtet, leiſtet ihn auch mir. Ich 
möchte die Belohnung wiſſen, die Ihr Euch wünſcht.“ 

„Nur einen Wunjch hätt’ ich, Sire; geruhen Ste, mic) aus Ihrem 
Dienſte zu entlajjen.“ 

„Sit das Euer Ernjt?“ 

„Mein voller Ernſt, Em. Majejtät. Zwei Gründe veranlaften 
rich Früher, Soldat zu werden, meine Liebe zu dem Könige und Die 
Hoffnung, meiner Verlobten einjt ein fledenlojes Schwert als Mitgift 


Der Liebe Anfang und Ende, 139 


heimzubringen. Ich habe feine Verlobte mehr, denn“ — feine Stimme 
ſank auffallend herab — „dieje hat mir der — König geraubt.“ 
Die legten Worte waren faum hörbar gewejen; helle Thränen, 
die jich bei der Bemühung, fie zurüdzuhalten, nur vergrößerten, glänz- 
ten in jeinen Mugen. 

„Die Euch das gejagt, haben pelogen, Nozen“, ſagte da Piper 
Ichr ernjt. „Chriſtine hat feinen Augenblick ——— Eurer werth 
zu ſein.“ 

„Ach, wenn das wahr wäre! Doc) nein, ich habe zu viel gehört. 
Kammerdiener, Reitknechte, Gardiſten, Edelleute, alle ſtimmten überein; 
und ihre graufamen Spötteleien lajten bier auf meinem Herzen, wie 
ein Sawict, das mich niederzieht, das mich noch tödten wird.“ 

„Willit Du auch meinem Worte nicht glauben!“ fragte Chriſtine. 

„Deinem Worte! Bis heute hätt’ ich es für Gottesläſterung ge— 
halten, daran nicht zu glauben. Dein Wort, Chrijtine! Sieh nur 
den König an, fieh auf jeine Röthe, jeine niedergejchlagenen Augen, 
und dann jage mir, ob ich noch daran glauben fann.“ 

Karl trat einen Schritt auf Rozen zu. 

„Sa, Bruder, Du mußt. Sch ſchwör' es bei meiner Ehre. Hier 
giebt es nur einen Schuldigen — der bin id. In einem Augenblide, 
wo ich mich, vom Wein vergiftet, jelbjt vergaß, brachte ich die Wohl- 
fahrt meines Landes in Gefahr, beleidigte ich die Tugend und betrog 
ich die Freundſchaft. Sch will aber Schuch mit jo hellem Ruhmes— 
franze ſchmücken und Chriftine mit jolcher Achtung umgeben und be- 
handeln, daß ich beide zu zwingen wijjen werde, mir einen flüchtigen 
Irrthum zu verzeihen. Was Dich betrifft, Rozen“, fuhr er, die Hand 
gegen dieſen ausjtredend fort, „Eönnteit Du...“ 

„Sprechen Sie nicht weiter, Sire“, rief Rozen, auf ein Knie nie 
derfinfend, „und Du, Ehrijtine, kannſt Du mir den Verdacht eines 
Augenblides vergeben ?" u 


Eine Stunde nach diefem Auftritte und an der nämlichen Stelle, 
wo et ſich abgeipielt, ſprach Karl XII, umgeben von jeinem ganzen 
Gefolge mit Ausnahme des Grafen Sparte, unter allgemeiner tiefer 
Stille folgende Worte: 

„Liebe Getreue und jchwediiche Männer! Wir kehren unverzüg- 
lich nah Stodholm zurüd, von wo aus wir in Fürzejter Zeit zu un— 
Bir ersten Feldzuge aufbrechen werden. Ich hoffe, daß alle Fi 

nad) trachten, ſich auszuzeichnen, und mit Gottes Hilfe denke ich 
dabei mit gutem Beiſpiele voranzugehen. Bevor ich aber dieſe neue 
Laufbahn bei reite und in der Abjicht, fie würdig zu eröffnen, ſei 
hiermit feierlich erflärt, daß ich dem ſchönen Gejchlecht für immer 
entjage, weil es uns zu leicht beherricht, und ebenjo dem Weine, weil 
er uns der Vernunft beraubt. Hinfüro fei der Ruhm nur meine 
— und kein anderer Dunſt ſoll mich mehr umnebeln, als der 

auch der Kanone!“ 


+ 0 


10* 


A — — — A) 





N ie — EN AA 


Adolf Friedrid Graf von Shad. 


Ein Dichterporträt von Ernſt Biel. 
Schluß.) 


ZEN eigte ſich ung die — Kunſt Schacks in ſeinen 
bisher gewürdigten Dichtungen im weſentlichen von 
der ſubjektiven Seite, brachte fie es in ihnen nirgends 
zu wirklichen epiſchen Gebilden, ſo beſitzen wir in den 
reꝰ eg eine S öpfung von rein objeftivem 
Joa und entjchieden e sie epräge. Streng genommen, 
begegnen wir bei Scha 
"S Form und B Den Stils. 
h Das Griechenland der Perjerkriege wird uns hier al — 
mit der ganze el jüdlicher ig zur Anjchauung gebracht. 
Groß un ehe wogen in gewaltiger Bewegung die Maſſen; plaftiich 
und jcharf umriffen treten die einzelnen Gejtalten aus dem Rahmen 
der in ſchwungvollen fünffübigen —— einherſchreitenden Dichtung 
hervor, und mitten aus dem lebensvollen ee heraus, von 
dejjen Hintergrund ji) die Schlacht bei —— —— ſchön ab⸗ 
hebt, grüßt uns das zartuntermalte Bild der Lie eldenjüng: 
(ings Rallias zu der i Önen Arete. Die „Plejaden“ zeigen uns den 
Dichter auf der Höhe jeiner Kunſt. Zujammen mit den „Nächten des 
Orients“ und dem jpäter zu beleuchtenden „Heliodor“ bilden jie den 
Gipfel jeines künſtleriſchen Leiſtens. Mit welcher vollendeten Kraft 
der Schilderung tritt uns Sitte und Leben des alten Perſiens in den 
lejaden“ entgegen, jenes Perſiens, das eine Hauptpflanzjtätte ajiati- 
A her Kultur war! Hier zeigt ſich in unjerm Schad der tiefgelehrte 
Kenner orientaliicher Sitten und Völfergejchichte von feiner glängend- 
jten Seite. Und wie fein verjteht der Dichter die Charaktere zu zeich— 
nen und zu gruppiven: allen voran leuchten der edle Jüngling Kallias 
und feine anmuthige Geliebte Arete, mit welch letzterer die üppige 
Drientalin Roxane aufs glüclichite fontraftirt. Sodann Phanor, die— 
jer Typus antiker Bürgertreue, Themiſtokles, der große Feldherr, 
Aeſchylos, der geniale Tragddiendichter, Dymas, der engherzige var⸗ 
tikulariſt, Narbazanes, der genußfüchtige —— — wahrlich eine 
Reihe realiſtiſch gezeichneter und doch in eine ideale Sphäre geho —— 
Charaktere, die der Dichtung zum höchſten Schmucke gereicht! Ein be— 
ſonderer Reiz der ‚Plejaden“, der Freilic mit der äjthetijchen Werth- 
mejjung nichts zu thun hat, Liegt für den deutjchpatriotiichen Leſer 
endlich in der unabweisbar jich aufdrängenden Parallele zwiſchen den 






nur Diejem einzigen Epos reiner 


Adolf Friedrid) Graf von Schack. 141 


bier jo eindrudsvoll geichilderten PBerjerkriegen und dem deutjch-fran- 
zoſiſchen Kriege von 1870 und 1871. Bietet das antike Griechenland 
in Waffen, jene vielleicht großartigſte aller nationalen Erhebungen 
egen Senechtfchaft und Barbarismus, von welcher die Gejchichte über: 
aupt berichtet, Schon an jich eine Re von Vergleichspunkten mit 
unjern . eigenen Thaten im großen Jahre der Schtlderhebung gegen 
ranfreich, jo tritt dies in der glanzvollen Behandlung, welche der 
toff in der Schadjchen Dichtung gefunden, in jo marfanter Weife 
Ball daß die Vermuthung nicht fern liegt, unjer Dichter habe De 
arallele beabjichtigt und wolle uns in den „PBlejaden“ ein Bild 
unjerer eigenen ruhmvollen Waffenthaten vor Augen jtellen. Aber jet 
dem, wie ihm wolle, wir bejigen in den „Plejaden“ eine Dichtung von 
en Werthe, die viel mehr gefannt jein jollte, als dies 
er nt. 
n jüngjter Zeit hat unſer Dichter den bisher bejprochenen älte— 
ren chen orbringungen zwei neue Publikationen diejes Genres 
inzugefügt, die Sammlung Eleinerer Dichtungen „Tag- und Nachtitücte“ 
1885) und „DMemnon“ (1886). 

Was zunächit die „zug und Nachtſtücke“ betrifft, jo tritt der 
romantische Effektizismus Schads, von dem ich in der Einleitung 
ſprach, in den hier zujammengejtellten dreiundzwanzig Eleineren eptjch- 
lyriſchen Dichtungen bejonders augenfällig hervor, und zwar jowohl 
nach der ftofflichen wie nad) der formalen Seite hin; fie tragen nad) 
Kom und Inhalt einen geradezu univerjellen Charakter, wobei die 

orliebe unjeres Poeten für den breiteren Wurf des Zeit: und Situa— 
tionsbildes und für das a —— durchleuchtete Natur: 
und Landichaftsgemälde, der wir bet Schad jchon — begeg⸗ 
neten, ſich überall bekundet, wenngleich dieſe Vorliebe hier, der knappe— 
ren Faſſung und dem engeren Rahmen dieſer Bilder entſprechend, auf 
j —— Raume zum Ausdrucke gelangt als beiſpielsweiſe in den 
„Epijoden“, 

In alle Zeiten und Erdjtriche, wie jene Dichtungen auch, führen 
uns dieje eigenartig reizvollen Poeſien, in Gejchichte und ar in das 
wirkliche Menschenleben und in das Reich der Phantafie. Alt-Hellas 
und Alt-Rom werden uns in klaſſiſch durchathmeten Gedichten vorge— 
führt: in „Sarpedon“ jtimmt Kronion ein — ertönendes 
Klagelied um den Tod des geliebten Sohnes an; in „Achilles“ wird 
uns das tragiſche Loos des vor Troja dem Schickſale erliegenden Helden 
geſchildert; in „Lykambes“ ig der Dichter Die geiſtige Uebermacht 
des Genius über Erdengröße und Erdenmacht, und während uns in 
„Kaſſandra“ eine tieffinnige Deutung der Gejtalt der helleniſchen 
Seherin vorgetragen wird, bejchenft ung Schad in „Aurelia und 
Alciphron“ mit einer rührenden Liebeselegie. Neben dem klaſſiſchen 
Alterthum aber ijt es das dumfle Gebiet der armenijch-alanijchen 
Sagenwelt, ift e8 der Orient und das Land der Pharaonen, iſt es 
Stalien, Spanien und Portugal, tt es die Schweiz und Holland, das 
Paris der Hugenotten und das Deutjchland des jiebzehnten Jahrhun— 
dert? wie der Gegenwart, wohin der Dichter uns führt 

Und wie die Stoff- jo tft auch die Formenwelt der „Tag- und 
Nachtſtücke“ eine ungemein reiche. Die Skala der Schadjchen Vor: 


142 Adolf Sriedrid Graf von Schack. 


tragsweife befundet ſich hier als eine jelten umfangreiche: der Sänger 
jteigt von der leichten, graziöjen Sprache der modernen verfifizirten 
Novelle hinauf bis zum Pathos des Gejchichtsbildes und der geſchichts— 
philoſophiſchen eng „Drei Mädchen“ und „Elsbeth und Rein- 
hold“ bezeichnen hier die Baſis, „Die Viſion Karls IX.* und „König 
Cheops“ den höchiten Punkt der auffteigenden Linien. Andererſeits 
aber erhebt m Schad in diefen „Tag- und Nachtitüden“ von legen- 
dariichen und — Dichtungen epiſchen Stils hinauf bis zum 
lyriſchen Schwunge der Ode und dem getragenen Tone der Elegie — 
eine Diſtanz, die etwa an dem Abſtande bemeſſen werden kann, der 
zwiſchen Gedichten wie „Andreas und Leila“ und der bereits erwähn- 
ten „Kaffandra” befteht. Und dazwiichen fallen Poeſien von tief ethi— 
chem Kerngehalte hinein, wie „Swammerdam“, „Gamoens in Cintra“, 
„Der Gefangene von Valladolid“, „Berenice“ und der bereitö ange- 
ogene „Xyfambes“ oder Heldengedichte wie „Satinig“ und moderne 
Seichichtstableaug wie „Antonio“. 

F t ſich in dieſer Univerſalität der Stoffe deutlich der Eklektizis— 
mus Hads, jo bekundet er jich nicht weniger in der Anlehnung un- 
jeres Poeten an bekannte große Vorbilder: Byron Elingt vielfach in 
den erzählenden, Schiller in den pathetiichen Gedichten der „Tag: und 
Se dur), um nur dieje beiden Beiſpiele hier dnsuflihven, 
Will man diefe epiſch-lyriſchen Dichtungen mit früheren Werfen 
Schads vergleichen, jo Liegt die Parallele zwijchen ihnen und den 
„Epifoden“ wohl am nächjten. Aber die hier zulammengefaßten neuen 
Dichtungen find — — in ihren Gegenſtänden, ner und 
Dr der eben erwähnten Anlehnung doch vielfad) auch eigenartiger im 
Kolorit als jene —— 

Es iſt, wie bereits angedeutet, vorzugsweiſe eine elegiſche Klang— 
farbe, welche die Dichtungen der „Tag- und Nachtſtücke“ beherrſcht. 
Der dunkle Charalter, die Nacht, wiegt in ihnen vor, und als eigent— 
liches und wirkliches „Tagſtück“ kann wohl nur die muntere, friſche 
Novelle in Verſen „Elsbeth und Reinhold“ bezeichnet werden. Die 
Farben des Humors, die auf der dichteriichen Palette Schads fonit 
durchaus nicht Fehlen — „Durch alle Wetter” und „Ebenbürtig“ be- 
weijen es — fommen in den „Lage und Nachtſtücken“ nur in diejer 
Heinen Gejchichte zur Berwendung; denn wo in den übrigen Ab- 
jchnitten der Sammlung belleres Licht aufbligt, da iſt es ſtets ge- 
mäßigt durch den ernjteren Grundton, der hier fajt überall vorherricht 
und der im nicht wenigen Stüden jogar die düſtere Färbung eines 
Gott, die Welt und den Menjchen anflagenden Peſſimismus annimmt. 
Gute und große Thaten laufen oft genug in Unheil und Unſegen aus; 
aus ſcheinbar Edlem und Schönem erwächſt nicht ſelten Elend und 
bitteres Leid, das iſt vielfach das Thema der En niedergelegten Schack— 
ihen Poejien: im Kerker zu Valladolid kämpft Columbus einen jchwe- 
ren Gewiſſenskampf, indem er die Selbitbeichulbigun gegen ſich erhebt, 
in den tiefen Frieden der neuen Welt, die er der Kultur erfchloß, alles 
Weh und alle Laſter Europas getragen zu_haben; in der Einjamfeit 
von Cintra aber flagt Camoens, day die Summe feines idealiftifchen 
Strebens nichts iſt als Enttäufhung und Entjagung, Verfennung und 
ruhmloſes Dajein. 


Adolf Friedrich Graf von Schack. 143 


Im Öegenjage zu jolchen pejjimijtiichen Stimmungen erhebt fich 
die neuejte — — Veröffentlichung Schacks, ſein „Mem— 
non“, aus düſteren Anſchauungen zu lichteren; ſie ringt ſich aus nega— 
tiven Anfängen zu einem optimiſtiſchen Schlußakkorde empor und 
wiederholt ſomit im kleinen die Grundidee der geſammten Schackſchen 
Dichtung, weßhalb ihr hier eine eingehendere Betrachtung zukommt. 

Der Mythus von „Memnon“ ijt befannt. Es iſt bewunderungs- 
würdig, was unjer Dichter aus dem durch die Sage nur fragmen- 
toriſch überlieferten Stoffe — hat. Was alte Schriftſteller dar— 
über berichten, iſt nicht viel mehr als eine — unter⸗ 
brochener Linien und unzuſammenhängender Konturen, die das Bild 
eines Torſos bieten, der dem Verſtande nichts fertiges, wohl aber der 
Phantaſie ein unerſchöpfliches Arbeitsmaterial liefert. Die ug 
rijche er u berichtet von einem Herrſcher über Aethiopien, Mem— 
non mit Namen, einem Sohne des Tithonos und der Eos, der nad) 
einem abenteuerlichen Zuge . Aegypten und Perſien unter Trojas 
Mauern zu dem Heere * heims Priamos ſtieß und gegen die 
Hellenen kämpfte, um ſchließlich im Zweikampfe dem Achilles zu er— 
liegen. Man ſchreibt ihm die Erbauung des großen Tempels in Aby— 
dos und die Aufrichtung der Burg von Suſa zu, wie auch der weit 
liche Theil von Theben, von den Griechen Memnoneia genannt, als 
jeine Schöpfung bezeichnet wird. Vor allem aber blieb * Name 
an die bekannten Memnonsſäulen geknüpft, jenes gigantiſche Monument 
bei Theben, das, längſt Ruine, ſeit den erſten — der chriſt⸗ 
lichen Zeitrechnung im Rufe ſteht, beim Sonnenaufgange harfenartige 
Töne erklingen zu laſſen. — ſchon bemächtigte ſich die dichtende 
Phantaſie der Völker des Morgen- und Abendlandes dieſer Ueber— 
lieferung, um daran die ſinnvolle Sage zu knüpfen: dieſes zauber— 
volle Klingen beim Anbruche des Tages ſei ein Gruß, den der in der 
Blüte ſeines Lebens hingegangene Memnon in jeder Morgenfrühe 
ſeiner Mutter, der „rojenfingerigen Eos“ zuſinge. 

Was fann ein moderner Dichter aus diejen fra ya Ueber- 
lieferungen anders formen, als höchſtens ein lyriſches Gedicht, einen 
antif gefärbten Gejang, vielleicht mit modernen allegoriihen Zuthaten 
oder didaktiichen Elementen verquidt? Das tft, jo jcheint es, das ein- 
zig Mögliche! Ja, für einen Durchſchnittspoeten! Unſer Dichter aber 
ergriff den Stoff, jo dürftig er iſt, erfüllte ihn mit einer philojophijch- 
menjchheitlichen Idee, bauete das jagenhafte Fundament mit jchöpfert- 
icher Phantajie epiſch aus und führte darauf den Prachtbau jeiner 
Dichtung in freier Breite und jtolzer Höhe auf. Die PIE AIR 
Grundidee ift hier das Heimweh Memnons nad) der Mutter Sonne, 
die Sehnsucht nach dem Born des Lichts, der jeit Urzeiten dem Men: 
jchen zugleid) als der Quell des Glüd3 und der Freude am Dafein 
— iſt, ein Verlangen, das man ſo gut ein hiſtoriſches wie ein 
pſychologiſches, ein menſchheitliches wie ein menſchliches nennen kann; 
denn nach dem Oſten ging von jeher das Sehnen der Menſchheit, 
nicht nur in den ziehenden Völkern des Alterthums, auch in den Pil— 
gern und Seefahrern des Mittelalters, und die Dichtungen aller Zeiten 
und aller Kulturvölker haben dieſem Heimweh nach dem geheimniß— 
vollen Sonnenlande dauernde Gejtalt geliehen. Wie aber die Menjd)- 


144 Adolf Friedrid) Graf von Schack. 


heit nad) dem Sonnenlande, jo trachtet von je auch der einzelne 
Menſch in philofophiichem Ringen, wie in religiöjem Sehnen, in den 
Allegorien der Dichtkunſt wie der bildenden —* nach dem Lichte 
der Erkenntniß, gewiſſermaßen nach einem Oſten des Geiſtes. Es iſt 
un wie dort das ewige Trachten nach der Löſung der höchſten 
!ebensräthfel, nach) dem Anfchauen der legten Wahrheit. Es iſt aljo 
ein Trachten nad) dem Ideal. Der Jdealismus der Völker gab ſich 
aus in jenen weltgejchichtlichen Zügen gen Morgen; der Idealismus 
des Einzelnen thut jich Fund in dem Durjte nad) geiitigem Schauen, 
und iſt die Sehnjucht nad) dem 33* auch die Sehnſucht nach dem 
Ideal, jo darf man in dem ägyptiſchen Mythus vom Memnon, wel: 
chem in dem griechiichen Ikarus eine verwandte Allegorie gegenüber: 
jteht, wohl eine Berförperung idealijtiichen Strebens überhaupt er: 
bliden. 

Scad it der allerınodernite Sänger diefes Heimmwehs nach dem 
deal, wie es in der Sage vom Memnon Gejtalt gewinnt, und darum 
hat er, von der erhabenen Kulturhöhe unjerer Seit aus, auch jeine 
Aufgabe tiefer gefaßt, als vielleicht irgend einer vor ihm. Er hat die 
Sehnfucht jeines Helden nach dem Strahlenantlig der Mutter ethiich 
vertieft: ein Fluch der Götter, jo dichtet er, lajtet auf Memnon, ein 
lud), der Schon das Haupt jeines Vaters gebeugt; es iſt in ihm ein 
heiliger Drang, ſich von diejem Fluche zu befreien, die Scele zu er: 
heben aus dem Staube des Sinnlichen und über die Welt der Er- 
jcheinung hinaus zur Wahrheit fortzufchreiten. Die Sonne iſt dem 
Didter nur das an der Erkenntniß. Aber wo ijt fie jelbit, 
dieje Erfenntnig? Nur ein einziges Thor führt zu ihr: der Tod. 
Auf Erden aber iſt ein Abglanz dieſer Erfenntnig allein in — 
Buſen. Drafel verfünden dies dem nad) Wahrheit lechzenden Mem— 
non, und fein eigenes Gemüth bejtätigt den Ausjpruch der Götter: 


„Durchſchweifteſt Du auch alle Himmelsipbären, 
Der Erde Zonen all’, e8 wär umfonft: 
Kur aus Dir felbft kann fib das Licht gebären.‘ 


Dieje drei Berszeilen jprechen die ethiiche Grundidee des Gedicht? 
prägnant aus. 

Das epische Gewand, welches der Dichter um den Stern feines My— 
thus gejchlagen, hat einen prächtigen, breiten Faltenwurf: Dem Son 
nenlande mit heißem Seelendrange zuftrebend, durchwandert Memnon 
als Oberfeldherr des großen Seſoſtriden Ramſes II. an der Spiße 
eines gewaltigen Heeres unerjchroden Land um Land; das Tragtiche 
in jeinem Scidjal tritt an aus dem durchjichtigen Gefüge der 
Dichtung hervor: es ijt die unfelige Verfennung, daß eh außen 
erringen will, was nur innen wohnt; das Sonnenland, das er jucht, 
liegt nicht im fernen Oſten; es Liegt in feiner eigenen Bruft. Dieſe 
tragische Schuld des — wird ſein und der Seinigen Verhäng— 
niß: auf dem Marſche ſtirbt ihm ein Getreuer nach dem andern. 
Einſam und fern der Heimat, wo er Weib und Kinder lieblos zurück— 
gelajjen, fühlt er fich in die Liebe zu einer jchönen Fürſtin verſtrickt, 
und mit ihrer Hand erringt er Thron und Macht, Reichthum und 
Slanz. In der Verblendung jeines Liebesraujches verfinft alles hin- 


Adolf Friedridy Graf von Schack. 145 


ter ihm. Sogar jein Wanderziel vergiät er und den Zug der Sonne 
zu. Aber die Nemefis bricht über den Schuldigen herein: jein unver- 
dientes, angemaßtes Glück fällt zufammen; er ſieht ſich ſchmachvoll 
ins Nichts geſtürzt. Er, der die Heimat des Lichtes mit Inbrunſt 
ſucht, wird des Augenlichtes beraubt, auf daß der Ausſpruch des 
Orakels ſich erfülle: 


„Nur aus Dir ſelbſt kann ſich das Licht gebären.“ 


Blind und ſiech, ſich der Augen eines mitleidigen Knaben bedienend, 
der den Hilfloſen führt, erreicht er nach langer angſtvoller Wander— 
ſchaft die Heimat. Aber die Hand des Schickſals laſtet ſchwer auf 
ihm: er findet ſeine Kinder verwaiſt und in tiefer Trauer um die vor 
Gram um den verlorenen Gatten hingegangene Mutter. Und nun, 
in der Nacht, die ihn umgiebt, in der pöuftichen Nacht des Blinden 
und der moralijchen des Schuldbeladenen, tagt dem Neuigen die Sonne 
der Erfenntniß: Mutter Eos, die er jo lange vergejjen fonnte, wird 
der —— ſeiner heißen Sehnſucht; blinden Auges ſucht er die 
Unſterbliche mit Heimweh und Andacht, und allmorgendlich fühlt er 
ihre Nähe im Odem der aufgehenden Sonne. Das innere Schauen 
geht dem Blinden auf; er ſieht die ſtrahlende Mutter von Angeſicht; 
er fühlt ſich zu ihr hinaufgehoben in die Regionen des Lichtes und 
läßt im Tode den Fluch hinter ſich, der auf ſeinem Leben laſtete. 

Das die Grundlinien der a Es geht aus ihnen hervor, 
mit wie diffizilem fünftleriichem Takt Schad die Elemente der mythi- 
jchen Ueberlieferung dichterijch verwandt, wie feinfühlig er poetiſch 
Unafjimilirbares ausgejchieden, wie jinnig und großartig er neues hin- 
zugethan, mit wie fundiger Hand er aber das Ganze jeiner ethijchen 
Idee dienjtbar gemacht und auf Grund der epifchen Technik organisch 
gegliedert und öpferifch belebt hat. 

In eigenthümlicher Weiſe verjchmilzt die merkwürdige Dichtung, 
die als ein reines Epos abjolut nicht betrachtet werden kann, phan— 
taſtiſches mit realem, märchenhaftes mit didaktiichem. Dicht neben 
dem Vifionären, in dem oft ein wahrhaft Dantejcher Geiſt athmet, 
fiegt hier die malerische Anjchaulichkeit des ftrengen Epifers, dem die 
Schule Homers nicht fremd, dicht neben dem Symboliſchen, das ſich 
aber niemals in umdichteriiche Abjtraktion verliert, die formenfreudige 
Plaſtik, die das Geftalten aus Lujt am Geftalten betreibt — eine 
Mannigfaltigkeit des dichterifchen Vortrages, die den doftrinären Aeſthe— 
tiker vielleicht befremden und ihm die Frage nahe legen könnte: wo 
ift hier der Stil? Aber gerade dieje Univerjalität des Stiles iſt eg, 
die dem „Memnon“ ihren eigenthümlichen Stempel aufgeprägt; die 
Dichtung ijt einheitlich in ihrer großen Mannigfaltigkeit, einheitlich 
nach der Seite der Handlung hin, wie in ihrem äußerlichen Gefüge, 
das jic ung im Kleide einer vollendeten Sprache — unechte Terzinen 
ig ungereimte Zeile zwijchen * gereimten) — darbietet, einheit— 
ich vor allem in dem philoſophiſchen Grundgedanken, der nirgends 
mit nackten Gliedern vorlaut hervorblickt, wohl aber das Gerüſt bil— 
det, an dem die Dichtung ſich emporrankt und das ſie überall mit dem 
lebendigen Grün ihrer Blätter zudeckt, wie ja die echte Kunſt alles 


146 Adolf Sriedrich Graf von Schack. 


andere, was fie etwa außer der Schönheit noch bezwedt, unvermerft 
einkleiden ſoll — eben in Schönheit. 

Ich habe bei der Betrachtung des „Memnon“ jo lange, vielleicht 
überlange, verweilt, weil faum in einer andern — Schöpfung 
Schacks der Grundgedanke ſeines geſammten Dichtens ſo in die Augen 
ſpringend und zugleich ſo erſchöpfend ausgeſprochen liegt, wie eben 

ier. Wenn ih in der vorliegenden Studie den Gedanfen an die 
Spige gejtellt habe: Schad ſei unter den heutigen Zeit: und Zus 
funftzfündigern einer der allerberufenjten, jo konnte ich diefe Behaup- 
tung faum befjer erhärten, als durch eine Darlegung der Idee Feines 
„Memnon“, der in der Weihe — poetiſchen enger eine der 
allererjten Stellen einnimmt. Er geht — um es zu wiederholen — 
wie die Schadiche — ihrem Weſen nach überhaupt, vom Welt— 
chmerz aus, aber gipfelt in einem freudigen Optimismus: „Memnon“ 
iſt Blut vom Blute unſerer Zeit, aber er weiſt über unſere Tage 
hinaus in eine ideale Zukunft, wo die weltſchmerzliche Wanderung 
nach der Heimat des a. im Sinne unfjerer Dichtung ihre End» 
ſchaft — —— wird. 

it dieſer Betrachtung des „Memnon“ haben wir die Reihe der 
epiſchen Hervorbringungen unſeres Poeten durchlaufen. 

Ragt, wie wir geſehen, unter den SONDER und indijch- 
perſiſchen Studien und Ueberſetzungen Schads die geniale Nachdid)- 
tung des Firdufi dominivend hervor, marfiren in jeiner Lyrik die 
„Weihegefänge“ am entichtedenjten die Eigenart feines Weſens und 
Iprechen unter den Epen die „Nächte des Orients“ und „Memnon“ 
unferes Dichters Welt: und Lebensanjchauung am — aus, 
ſo iſt es in der Rubrik der Dramen, zu deren Würdigung ich mich 
etzt wende, vor allem der impoſante „Heliodor“, in welchem Schack 
IE Tiefites niedergelegt. 

EDEN von dieſer gedankenvollen Schöpfung, kann ich mid) 
über die Dramen, deren Werth als Material zur inneren Beleuchtung 
des Dichters fein hervorragender it, im allgemeinen kurz fajjen. 

Wenn die erzählenden Dichtungen Schads zum Theil an den 
behaglichen, breiten Plauderton der Byronjchen ottave rime und der 
heiteren italienischen Epif des fünfzehnten und jechzehnten Jahrhunderts, 
um Theil aber an andere Vorbilder des Occidents und Orients an: 
Klingen, jo verleugnen auch jeine Dramen feineswegs diejen — en 
Z indem ſie ſich augenfällig an die Muſter theils der ſpaniſchen 
Dramatiker, theils des Ariſtophanes anlehnen. 

Wir beſitzen im ganzen acht dramatiſche Dichtungen Schacks, die 
uns eine bunte Welt der Stoffe und der Tonarten erſchließen. Ver— 
ſetzen uns „Der Kaiſerbote“ (1873) und ‚Cancan“ (1873), zwei ariſto— 
phaniſche Luſtſpiele von politiſcher Tendenz, das erſtgenannte in die 
tolle Gährung des Revolutionsjahres 1848, das letzterwähnte in die 
Tage des deutſch-franzöſiſchen Krieges von 1870 und 1871 und der 
Aufrichtung des deutſchen Kaiſerreichs, theilen fie beide wuchtige 
Geißelhiebe der Satire aus, jenes gegen den wilden Herenjabbath der 
deutschen Volkserhebung, dieſe gegen die jittliche Verſchlammung des 
zweiten franzöfiichen Kaiſerreichs, To führen uns die „Bijaner“ (1872), 
ohne Frage eines der hervorragenditen Dramen Schade, nad) Piſa in 


Adolf Friedrid Graf von Schack. 147 


die Kämpfe der Welfen und Ghibellinen und jchildern ung die Vor- 
— jener gräßlichen england welcher Ugolino Graf von 

herardesca und jeine Söhne zum Opfer fielen und die Dante zu 
der berühmten Epijode jeiner „Divina commedia“, Gerjtenberg zu 
jeinem befannten Trauerjpiel (1768) begeijterte. Eigentlich) dramati- 
Ihen Zug haben unter diejen, drei Dramen nur die „Pijaner“; ihnen 
jehr nahe in diefer Beziehung jteht „Timandra“ (1880), eine Tragödie 
voll Kraft und Größe, in welcher unſer Dichter die erjchütternde Ge- 
Ihichte des Spartanerfönigs Pauſanias eindrudsvoll wiedergiebt und 
den großartigen Konflikt zwijchen Weutterliebe und Vaterlandgliebe, 
mit einer — hiſtoriſcher Anſchauung behandelt, die er in den 
beiden neueren ge hichtlichen Trauerjpielen „Kaiſer Balduin“ (1883) 
und „Sajton“ (1883) nicht ganz erreicht, obwohl es feiner Darftellung 
der tragijchen egolgung, welche die Waldenjer gegen Ende des 16, 
— in Savoyen zu erdulden hatten und die den Gegenſtand 
der letzterwähnten Tragödie bildet, an echtem Pathos der Ueber— 
zeugung nicht gebricht — Vorzüge, die man dem zur Zeit der eriten 
Ber chen Revolution jpielenden Drama „Atlantıs“ (1880), welches 
jich nach jeder Richtung Hin als ein unfertiges Jugendiverf dofumen- 
tirt, freilich nicht nachrühmen kann; der Held des Stüdes, welcher 
halb Schwärmer, halb Schurke, in Kalifornien einen alle Menjchheits- 
ideale verwirklichenden Meufterjtaat gründen will, vermag fich die 
Sympathien der Bernünftigen er: zu erringen; überdies iſt der 
Aufbau des theil3 ernten, teils komiſchen Stüdes loder und Teichtfer- 
tig, die Sprache vielfach gejchraubt und überjpannt, was um fo ver- 
wunderlicher, da die Schadichen Dramen, mit diejer einzigen Aus— 
nahme, ji) durch die jtrenge — ge der Kompojition und 
das Maßvolle eines Vortrages auszeichnen, der gleich fern bleibt von 
überfchwenglicher Kraftdramatif wie von jchönrednerischer Sambendeflas 
mation, diejen zwei Ertremen, welche die deutjche Bühnendichtung nur 
allzu leicht zu verfallen pflegt. 

Und nun zum Schluß der „Heliodor“ (1878)! Mit großen Zügen 
entwirft ung in ihm der Dichter ein ergreifendes Bild von dem futcht- 
baren Zujammenprall dreier die Welt bewegenden Geichichtägewalten; 
er führt uns in einen verhängnigvollen hiſtoriſchen Wendepunkt, in 
das Hellas des ausgehenden vierten Jahrhunderts, in die Zeit des 
wanfenden römijchen Reiche. Die beiden Kulturmächte des abjterben- 
den HellenentHums und des jugendli — nen us 
begegnen jich im entjcheidenden Kampfe auf dem klaſſiſchen Boden 
Griechenlands — aber aus den Schluchten und über die Päfje des 

ämos bricht, alles vor ſich niederwerfend, Alarich herein, der entjeg- 
liche Verheerer — Kultur, der dritte Fakltor in dem impo— 
janten weltgefchichtlichen Entjcheidungstampfe, den „Heliodor“ uns vor 
rührt. Prachtvoll geichildert ijt der Kontrajt des jinnenfreudigen und 
lebensfrohen griechiichen Götterfultus und des jtarren und a 
— der Römer, der Kampf zwiſchen Weltfreude und 
ltflucht. liodor, ein helleniſcher Jüngling, für die Wiederauf— 
richtung des Vaterlandes erglüht, verjagt die Römer aus Athen. Anfäng- 
lich beobachtet er den Ehriften gegenüber eine maßvolle Haltung. Aber 
der nazareniſche Glaube iſt entartet; er jteigert jich zu einem blinden 


148 Adolf Sriedrih Graf von Schack. 


anatismus, der die Anhänger anderer Bekenntniſſe nicht mehr neben 
ich duldet, und als Mafrina, die Gattin Heltodors, unter dem Dolche 
Gregors, ihres fanatijirten Bruders, verblutet, wandelt ſich unſer 
eld aus einem milden und duldjamen Charakter in einen unnach- 
ichtlichen Widerjacher der Chriſten. Die Charaktere find ficher ent- 
worfen, fonjequent durchgeführt, und ſowohl ſich jelbjt gegenüber wie 
in ihrem Verhältniß zu einander und zur Handlung der Tragödie mit 
vollendeter Kunst entwidelt. Unter den Griechen iſt es Heliodor jelbit, 
der, allen voran, unſer höchites Intereſſe in Anſpruch nimmt, eine 
ag von idealem Gepräge, feuerig, edel, tapfer. In wirkungs- 
voller Ergänzung neben ihm jteht * Gattin Makrina, ganz An— 
muth und Weiblichkeit, aber ein ſtarker Geiſt, wie er jelbit. Ein ge— 
jchlofjener Ring flug gruppirter Gejtalten umgiebt den Helden: 
zunächſt auf der Seite des Griechen Hilarion, im geheimen ein Ans 
hänger der Lehre des Lucrez, dem Scheine nach ein Verfechter der 
olympiichen Götter, mit Herz und Hand aber ein Hafjer und Ver— 
ächter der Chriſten, jodann Medon, dem griechiichen Religionskultus 
naiv ergeben, und Stajjander, der Vaterlandsfreund und Lebemann, 
außerdem auf der Seite der Chrijten Mafrinas Mutter, die hochherzige 
Euſebia und neben ihr Gregor, ihr fanatischer Sohn, der in Aegypten 
in der Schule der Anachoreten, einen unverjöhnlichen Haß gegen alle 
Andersgläubigen eingejogen. Schredlich bricht über fie alle das Schid- 
al herein in der gewaltigen Gejtalt Alarichs. Von hellentjchen 
— verrätheriſch über das Gebirge und hinab in die lachenden 
ran Griechenlands geführt, erjcheint er verderbenbringend auf dem 
chauplaße. 
„— — — Hin burd bie Engen wogt 
Das wilde Heer, auf Griechenland berab, 
Sich wie die Sturmflut wälzend. Blutroth flanımt 
Der Himmel; über Leihen von Erſchlag'nen, 
Geht der Verbeerungszug der Wüthenden, 
Albin wie des Kometen Ylammenrutbe 
Zerftörung breitend.‘ 


Die Belenner Ehrijti wie die Anhänger des alten Götterglaubeng, 
alle finden fie ihren Tod unter den mörderiichen Waffen der Gothen 
— jo auch Heliodor. Er jtirbt mit dem jchmerzlichen Bewußtjein, 
einer Idee gedient zu haben, die ihre Miſſion längſt erfüllt, um höhe— 
ren Menjchheitsaufgaben zu weichen; denn bevor er in dem Kampfe 
gegen Alarich das Leben opferte, hatte er jich in die eleuſiſchen Myſte— 
rien einweihen lafjen. Hier, in dem einem feterlichen Gotteskultus 
gewidmeten Heiligthume, war ihm die Offenbarung geworden, daß die 
geläuterte Lehre des Nazareners, weil jte das Evangelium der Liebe 
und Humanität predigt, die Religion der Zukunft ſein werde; dermal 
einft, in einem entlegenen Beitalter der Aufklärung, werde fie die 
Menſchheit beherrichen und beglüden. Die eleufischen Myſterien bil- 
den in großartiger Ddichteriicher Darftellung den Stern des ganzen 
Dramas; te find von einer hinreigenden und ganz unvergleichlichen Schoͤn— 
heit und Tiefe, und ich ſtehe nicht an, fie den Glanzpunft der Schad- 
hen Dichtung überhaupt zu nennen. Die Priejter preijen in jopho- 
kleiſch ertünenden Chorgefängen den einen und einzigen, großen 


Adolf Friedrich Graf von Schack. 149 


namenlojen Gott, der von Anfang an da war und immer fein wird, 
den Gott der umendlichen Liebe. Unter ihren Gejängen ziehen — 
ganz ähnlich, wie in den „Nächten des Orients’! — die wichtigiten 
Beitnlter welche im Buche der Menjchheit verzeichnet jtehen, an Helio- 
dor vorüber. Er fieht die Zeit des Heidenthums mit ihren Gräueln 
vor jich emporjteigen; er ſieht die glanzvolle Größe jeines eigenen 
Volkes heraufdämmern und ſieht Örieenland, das herrliche, fallen; er 
jieht vorahnend die Religion Jeſu ihren Triumphzug über die Welt hal- 
ten, jieht jie in Wahn und Myſtik, in Haß und Hader jich verwirren und 
neben ihr den Halbmond jeine blutigen Schlachten jchlagen; er fieht 
das klaſſiſche Alterthum — im Zeitalter der Humaniſten 
und endlich die Verſöhnung von Glauben und Wiſſen anbrechen in 
einer Religion der Duldung und der Menſchenliebe, welche dereinſt 
alle Völker der Erde in ſich vereinen wird. 

Mit dieſem Blick auf „Heliodor“, deſſen Ideenverwandtſchaft mit 
den „Nächten des Orients“ auf der Hand liegt und dem ein mehr 
epiicher und fontemplativer als dramatijcher zuß innewohnt, bin ich 
am Schluſſe meiner Darlegungen über den Inhalt und Gedankengang 
der einzelnen Schackſchen Dichtungen — 

Unſer Poet, der, nachdem er aus dem Dienſte des Großherzogs 
von Mecdlenburg-Schwerin ausgejchieden, 1855 jeinen dauernden Wohn— 
jig. in München genommen und 1876 vom deutſchen Kaiſer in den 
Grafenſtand erhoben worden, hat, wie wenige neben ihm, die Rech— 
nung mit dem Glück auf die edelite Weiſe quitt gemacht. Gab ihm 
dDiefes eine vornehme Geburt, Reichtum und äußere Ehren in Fülle, 
jo zahlte er die empfangene Gunſt mit zum Theil unvergänglichen 

ichterijchen Leijtungen und einem Leben zurüd, das ſich ganz in den 

Dienſt der Kunft ftellte. Geſtützt auf jeine großen Geldmittel, machte 
er in München, wo er mit Emanuel Geibel, Friedrich Bodenjtedt, 
selig Sum Paul Heyje und anderen die befannte Dichtergejellichaft 
„Die Krofodile“ bildete, fich die Proteftion der Malerei zur bejon- 
dern LZebensaufgabe, eine Thätigfeit, die in feiner berühmten Münchener 
Gemäldegalerie ihren konkreten Ausdrud findet. Als Dichter wie als 
Menſch gebührt ihm einer der vornehmiten Kränze, Die das heutige 
Deutjchland zu vergeben hat. 

Der bichterif e Werdegang des Grafen Adolf Dr von 
Schad seine nicht die ruhige Schönheitslinie einer jtätig aufwärts 
jteigenden Entwidelung, wie jie klaſſiſch gearteten Naturen eigen — 
es iſt vielmehr die ſchwankende Figur eines Bidzads, aljo 
die Signatur des unbefriedigten Suchens und Taſtens, die rechte und 
echte Stempelung der Romantik, welche ihr aufgeprägt iſt. Ein reicher 
geistiger Inhalt jucht überall in der Schackſchen Dichtung nach dem 
ihm entiprechenden Gefäße; feines thut ihm Genüge, und daraus er- 
giebt 9— ein unſtätes Springen herüber und hinüber, ein Experimen— 
tiren un — in den verſchiedenſten Arten und Gattungen. 
Das Reſultat dieſes Experimentirens iſt begreiflicherweiſe oft genug 
eines der beiden Extreme: entweder ein mangelndes Sichausleben des 
Inhaltes in der Form oder ein Sprengen dieſer letzteren eben durch 
den Inhalt. Die Schackſche Lyrik iſt nur ſelten eigentliche Lyrik — 
der übermächtige Gedanke erdrückt die Empfindung, und nur einzelne 


150 Adolf Friedrich Graf von Schack. 


unter den Fleineren Gedichten treffen den janglichen Ton. Die 
Schackſche Epik ijt nur ausnahmsweije wirkliche Epik — le 
metaphyjijche oder andere Elemente überwuchern das Erzähleriſche, 
und die „Blejaden“ re bier einzig die Gattung in ihrer 
Reinheit. Die Sd adice ramatif endlich iſt nur in wenigen Fällen 
volle und ganze Dramatif — tendenziöje und allegoriiche Momente 
legen vielfach die Aktion lahm, und nur „Die Pijaner“ und „Timan— 
dra“ haben a Leben und dramatijchen Nerv. Aber Goethe 
war auch nur — Goethe: Iyriich in jeinen Dramen, Schiller nur — 
Schiller: philojophiich in feiner Lyrif. Sei uns alfo Schaf aud) 
nur — Schack: zwar fein Syitematifer in der jtrengen Ausprägung 
der Dichtgattungen, aber ein Dichter von echten Fajtaliichen Gnaden. 
Er iſt ein romantischer Idealiſt im Dienfte der —— Schönheit. 
Immer ſucht er das ewige Band zwiſchen der Idee und den Dingen; 
immer trachtet er danach, griechiſche Schönheit mit germaniſcher Kraft 
und nordiſchem Gedankengehalte zu verbinden; immer treten in ihm 
die perſönlichen Seelenſtimmungen hinter dem allgemein menſchlichen 
Bewußtſein zurück. In ſeinen Dichtungen ſind nicht, wie bei den 
Vertretern des Realismus, die Geſtalten und Charaktere das Urjprüng- 
lihe und Erite; der Prozeß des Schaffens hat es bei ihm nicht ın 
eriter Linie zu thun mit der Einwirkung der Welt 9 den Dichter — 
— er beſteht vorwiegend in der, wenn ich ſo ſagen darf: Aus— 
wirkung des Dichters auf die Welt; denn bei aller Objektivität der 
epijchen oder dramatijchen Handlungen jind es bei Schad doch weder 
dieje Handlungen noch die ſich in ihnen entfaltenden Charaktere, welche 
die Ausgangs- und Zielpunkte feines Dichtens ausmachen; er findet — 
das fühlt man jeinen Schilderungen und run an — in Leben 
und Gejchichte nicht etwa fertige Vorgänge und konkrete ap gr 
bilder, die ihn zur dichteriſchen Nachgeitaltung anregen; als echter 
Idealiſt geht er vielmehr von Ideen und Anjchauungen jeiner Sub: 
jeftivität aus und jucht für — in Vergangenheit und Gegenwart 
die ihm objektiv überlieferten nn um jie nachjchaffend zu 
ergreifen und zu Gefäßen jeines perjönlichen geiftigen Inhaltes umzu— 
prägen. Er eh die Welt in der Stra Ar jeiner Indivi- 
dualität, und demgemäß ijt Die Methode jeines Geſtaltens mehr * 
timental als naiv, inſofern wir dieſe Begriffe im Sinne der Schiller— 
ſchen Terminologie faſſen. 
Sinnendes Verſunkenſein in die Räthſel des Daſeins, freudige 
Humanität und die gläubige Zuverſicht auf eine ideale Zukunft des 
tenjchengejchlechtes ım allgemeinen und unſeres Volkes im befondern 
— das find die inneren Merkmale der Schadjchen Dichtung; die großen 
weltbewegenden Kriſen der Menjchheitsgeichichte aber find die Gegen- 
—— welche der Genius unſeres Sängers mit Vorliebe ergreift. 
Auf den Beifall der Menge dürfen ſeine poetiſchen Gebilde ſich keine 
Rechnung machen; den Olymp der Leihbibliotheken werden ſie ſich 
niemals erobern; ſie wenden ſich vielmehr, wie alle gedankenvolle 
Poeſie, in der Vornehmheit — dichteriſchen Eigenart an das exklu— 
ſive Publikum der deutſchen Geſchmacks- und Geiſtesariſtokratie. 
Den lauten Markt mag Momus unterhalten, 
Ein edler Sinn liebt edlere Geſtalten. 








> 








— Auf Capri. 


REN er Capris Felſen, über'm blauen Meer, 

38 )} Bertrümmert ragt die Billa des Tiber. 

Um Säulenjtümpfe, brödelndes Gejtein, 

Il Schlingt fi der Epheu, ranft fich dichter Wein; 
SI Wo einjt getobt das wüjte Bacchanal, 

Sonnt die Lacerte ſich am Abendjtrahl; 

N © Das helle Zirpen der Cicade tönt, 

NY Mo Sklaven auf der Folter einjt getöbnt, 

Und der Eicade in an heit'rem Sinn, 

Lehnt am Portal die jchlanfe Winzerin, 

Den Korb mit dunklen Trauben auf dem Haupt, 

Von Rebgerank die feine Stirn umlaubt. 

Scharf lugt fie auf den weiten Golf hinaus, 

Db wohl der Liebite fehre bald nad) Haus, 

Der heut’ zum Markt gejegelt nach Sorrent, 

Der braune Checco, den ein jeder kennt. — 

Ein Leuchten durch ihr ſchwarzes Auge geht, 

Als fie jein jchimmernd Segel fern erjpaht, 

Und glüdlich Tächelnd, eilt ın leichtem Gang 
——7 ſie den ſteilen —— 
ie gönnt nicht einen Blick der todten Pracht, 

Die Kunde giebt von der Cäſaren Macht, 

Vom Schickſalsſturm, der ſeit zweitauſend Jahren 
Ob ihrer Heimatinſel hingefahren. — 
Verſchwunden iſt ſie; — einſam, wüſt und leer, 
Im Spätroth ragt die Billa des Tiber ... 


Reinhold Fuchs. 










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Die Sage von el Dorado. 
Bon en. Boye. Deutſch von smil Donas. 









ZU, 8 tft eine bekannte Sache, dat; die Hand der Europäer 

N 3 o| jhwer auf die civilijirten Staaten fiel, welche zu An- 
N fang des jechzehnten Jahrhunderts im Mittel, und 
= Südamerika blühten. Die Miſſethaten, welche im Namen 
MR des Chrijtenthums gegen die unglüdlichen Indianer 
ausgeübt wurden, werden zu allen ie als Schand⸗ 








GAB” mal in der Weltgeichichte verzeichnet jtehen. In der Kegel 
waren es nur niedrige Beweggründe, welche die „Conquista- 
doren“ (Eroberer) veranlaßten, aus der Heimat zu ziehen, um Die 
bisher unbelannten Reiche mit ihrer jtaunenswerthen und eigenthüm= 
lichen Kultur zu entdeden und zu erobern. Abenteurer, welche auf 
feine andere Weije jich einen Weg zu bahnen vermochten, ernteten vers 
— TOR 0 Zorbeeren durch Bezwingung von Leuten, welche 
weder das Eijen, no I das Pferd, crhmeige das Pulver kannten. 
Während ich einzelne Conquijtadoren den Ehrgeiz leiten ließen, 
war niedrigjte Geldgier die einzige Triebfe er des weit überwiegenden 
— der Schaaren von Abenteurern, die die zur der Atzteken, 
Peruaner, der Mayaen und Muiscaen heimfuchten. er Woh itand, 
den dieje Völkerſchaften beſaßen, die ganze Ordnung der verjchiedenen 
Lebensverhältniſſe, die, ſo —— wie ſie waren, mußten in 
einem Nu vor der vücfichts ojen Art und Weije der Spanier ver⸗ 
ſchwinden, und ein härteres Urtheil kann die Geſchichte kaum über 
das Auftreten der Europäer füllen, als daß Mättel- und zn 
wie es vor der Eroberung war, weit höher jtand, als es jeßt der 
iſt. Am — wurde Südamerika heimgejucht, namentli 
reiche und In üdliche Peru, wo jich fein Armer befand, wo die * 
in mancher Richtung viel weiter vorgeſchritten war, als in europäiſchen 
Staaten jener Dei, wo im Laufe von einigen wenigen Jahren von 
rohen und brutalen Anführern, wie Francisco und Gonzalo Pizarro und 
ihren würdigen Gefährten. Man begnügte fich nicht damit, den Incaen 
und den eriten Männern des Landes koloſſale Summen in edlen 
Metallen auszupreſſen; die heiligen Tempel und die Häufer der 





Ludwig Uhland. 


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Die Sage von el Dorado. 153 


Reichen wurden geplündert, und als man jeinen Golddurjt bei den 
Lebenden nicht — befriedigen fonnte, ſchändete man die Gräber der 
Todten und beraubte fie der Reichthümer, die dort aus Pietät nieder- 
gelegt worden waren. 

Diejer für die „Conquiſtadoren“ charakteriitiiche Golddurit befam 
reiche ea. in der berühmten Sage von el Dorado, welche Tau— 
fenden von Menſchen das Leben gefojtet hat. Es ijt ein allgemeiner 
— wenn man unter dem Worte el Dorado ein goldreiches Land, 
ein Schlaraffenland verſteht, wo man in ewiger Br und Genuß 
lebe. EI Dorado, d. h. das Goldne, das Vergoldete, bezeichnet ur— 
jprünglich einen Mann (hombre) oder König (rey), aljo den goldenen 
oder vergoldeten Mann oder König, den man anfangs in dem jehigen 
Golumbien (Nuera Granada) und im — Theil der Cordilleren 
wohnend wähnte. Hier fanden die Eroberer ein merkwürdiges Reich 
vor, nämlich Cundinamarca oder Cundirumarca, das wohl von den 
Incaen unabhängig war, aber doch die Sonne verehrte, Jungfrauen— 
klöſter beſaß und andere nähere Berührungspunkte mit Perus Kultur 
darbot. Die Regierungsform war höchſt eigenthümlich, indem es zwei 
Fürſten gab: ein geiſtliches Oberhaupt, Zippa, das in Iraca (soga- 
moso) wohnte, wo ein berühmter Tempel, der der Sonne geweiht war, 
und ein weltliche Oberhaupt, Zaque, das feine NRefidenz in Sur 
(Tunja) hatte. Dieje zweigetheilte Regierung hat nod) heute ein Seiten: 
jtüd in Tibet, früher war ja auch etwas ur in Japan der Fall. 
Bon diefem Lande jtammt die Sage von el Dorado; fie hat vor allen 
anderen Sagen den Vorzug, daß man ein beſtimmtes Jahr für ihren 
Urfprung nachweiſen kann. 

Im Jahre 1535 wurde ein Indianer von Cundinamarca abge— 
ſandt, um den Inca Atahualpa um Hilfe gegen die Feinde des Lan— 
des anzurufen; in Quinto traf er mit Luis Daga zujfammen und 
theilte diefem den Zweck jeiner Reife mit; aber der Indianer gab ihm 
gleichzeitig einen weitläufigen Bericht über. die großen Reichthimer, 
welche ich in jeiner Heimat befänden, und fügte hinzu, daß öſtlich 
von Eundinamarca ein Fürſt oder vornehmer — wohne, der ſeinen 
Körper mit Goldſtaub beſtreue und ſich in einem heiligen See, der 
mitten in den Bergen liege, bade. Dieſer Bericht bildet den erſten 
Urſprung zu der ſchickſalsſchwangeren Sage von el Dorado. 

Man wird ſofort einſehen, daß die Angabe der Stelle ziemlich 
ſchwebend war; daß große Uneinigkeit darüber herrſchte, wo man den 
heiligen See zu finden habe. Alexander von Humboldt vermeint, es 
ſei der heilige See Guatavita, der öſtlich von den Steinſalzgruben bei 
Zepaquira und nordöſtlich von Bogata gelegen iſt. Im dem Felſen 
befindet ſich eine Treppe ausgehauen, die zum See —— wo die 
Opferwaſchungen früher vorgenommen wurden, und unter den India— 
nern lebt noch die Sage, daß von den gläubigen Heiden Goldſtaub 
und verarbeitete Goldſachen in den See als Opfergaben an die Götter 
geworfen wurden. In Berückſichtigung dieſer Sage haben die Spanier 
es verſucht den See zu entwäſſern, indem ſie einen Ablaufkanal in 
den Felſen hauten; aber es iſt ihnen nur gelungen, den Spiegel 
des Sees einige Fuß zu ſenken. 

Daß etwas wahres dieſer Sage zugrunde liege, iſt ſehr wahr— 

Der Salon 1887. Heft VIII. Band IL 11 


154 Die Sage von el Dorado. 


icheinlih. Humboldt nimmt an, daß fie möglicherweile auf gewiſſen 
Geremonien berube, bei der myſtiſche Gejeßgeber und Religionsitifter 
der Mutscaen, Bochica, in Cundinamarca eingeführt hatte. Er be— 
merkt, dab die Sage von einem nadten, mit Goldjtaub bededten Manne 
aus einem warmen Lande und nicht von Cundinamarcas Falten Hod)- 
ebenen jtammen müfje, wo die Temperatur gewöhnlich ſehr niedrig it; 
aber der berühmte Forſcher hebt andererjeit3 mit Recht hervor, daß 
man gewöhnlich religiöfe Geremonien beibehält, welche aus einem an— 
dern Himmelsftrich ſtammen, und infolge der alten Sage war Bodica 
von den Ebenen öſtlich vor den Cordilleren gekommen. 

Diefe Sage fand jofort Glauben bei den begehrlichen „Conquiſta— 
doren“ und rief eine Reihe —— er Erpeditionen hervor. 
Aber g: wir länger bei einer dieſer Expeditionen verweilen, wird es 
richtig jein, auf eine interejjante Abhandlung, welche aus der Heimat 
der berühmten Sage ftammt, etwas näher einzugehen. 

Der gelehrte Brofeffor Liborio Zerda in Bogota hat in „Papel 
periodico illustrado“ eine in vielfacher Hinficht interejjante, mit Abbil- 
dungen verjehene Abhandlung über diejes Thema veröffentlicht. Durch 
wohlwollendes Entgegentommen des — B. Koppel, derzeitigem 
Charge d’Affaires für die Vereinigten Staaten Columbiens in Kopen— 
hagen, ijt es mir gelungen, in den Beſitz des wichtigjten Theils der 
Jewafen Abhandlung zu gelangen, und ich will hier einen Fleinen 
luszug aus derjelben geben. 

Der Berfajjer bemerkt, daß die alten Bewohner des Andesgebir- 
ges in Columbien und bejonders die Chibchaen große Tempel für 
ihre Götzen hatten, darunter Jracas reicher Tempel in Sagomofo, wo 
die „Eonquiftadoren“ den vergoldeten Mann anzutreffen erwarteten. Bei 
dem Tempel war ein Stab von Priejtern angejtellt. Die Indianer 
brachten ihren Göttern reiche Opfer dar, die wejentlich aus Gold und 
theil3 maſſiven Platten, theilg aus kleinen Figuren bejtanden, die 
Männer, Frauen, Thiere 2c. darjtellten und in gebrannten Thongefäßen 
von verjchiedenen Formen niedergelegt wurden. Aber die jpantichen 
Eroberer brannten die meijten diejer Tempelgebäude nieder, nachdem 
fie ſie geplündert a Die Indianer in Cundinamarca hatten einen 
bejonderen religiöjen Gebrauch), indem fie Eojtbare Gegenjtände in 
heilige Seen warfen, die hoch oben zwiſchen den Bergen gelegen find 
und woher, wie jie glaubten, ihre Stammwväter gekommen waren. 

Unter den merkwürdigſten diefer Seen find die bei Guatavita 
und Siecha zu erwähnen, namentlich des erjteren, an welchem der 
a ar Ts der Ehibchaen gelegen war. 

Die Stadt Öuatavıta wor Kurt befeitigt, aber wurde doch jchnell 
von Queſada eingenommen, dejjen Soldaten hier reiche Beute machten, 
denn die Einwohner waren tüchtige Goldjchmiede, die allerlei kojtbare 
Schmudjachen und die verichiebenften Gegenitände, welche beim Gottes: 
dienjt angewandt wurden, verfertigten. Der See Guatavita Liegt nicht 
fern von der Stadt; die Spanier verjuchten die Goldjachen, welche in 
denjelben geworfen waren, aufzufiichen und machten verjchiedene Ver— 
juche, das Wafjer abzuleiten. Dies gelang ihnen freilich r Dagegen 
waren fie mehrfach jo glüdlich, reiche Funde von Goldjachen zu 
machen, die natürlicherwerfe möglichit jchnell eingejchmolzen wurden. 


Die Sage von el Dorado. 155 


Nach dem Gejchichtichreiber Pater Zamora, der im jiebzehnten Jahr: 
hundert lebte‘, hatten die Priejter, welche an dem Guatavita-Tempel 
angejtellt waren, dem Chibchaen eingebildet, daß ein Cacique (indiani- 
jcher Fürſt oder — ſeine Frau wegen Untreue angeklagt hatte, 
weßhalb ſie, um ſeinen Verfolgungen zu entgehen, mit ihrer Tochter 
nach dem ſchönen See entflohen ſei und * mit dem Kinde in den— 
ſelben geſtürzt hätte; ſeit der Zeit wohnte ſie auf dem Grunde des 
Sees in einem prächtigen Schloß und ihr brachte das Volk die koſt 
barjten Opfergaben. 

„Dieje Fabel“, erzählt Zamora weiter, „verbreiteten fie unter das 
— und ebenſo unter die Fremden, die entzückt über die— 
ſes Wunder herbeieilten und ihre Opfergaben brachten. Sie fuhren 
auf einigen Flöſſen, die aus Rohr Derfertigt waren, auf den See 
hinaus und warfen ihre Opfer in denjelben unter lächerlichen und 
thörichten Ceremonien. Das gemeine Bolt begab fich hinab an die 
Ufer des Sees, wo fie mit abgewandtem Geſicht ihre Opfer darbrach— 
ten, denn fie hielten es gegen die Anjtändigkeit verjtoßend, daß der- 
jenige, welcher nicht vornehm oder dazu berechtigt war, jene Gewäffer 
betrachtete. Es eriitirt —— eine ſehr alte Sage, daß die Leute 
all ihr Gold und ihre Edelſteine in den See warfen, ſobald ſie in 
Erfahrung brachten, daß die Spanier nur nach ſolchen Sachen Er 
ten. Bon dieſem See jtammte das von jo vielen erwähnte Gerücht 
über den — (el Dorado) Mann, in welchem der Cacique in 


Guatavita ſich mit Darz einrieb und eine große Menge Gold darauf 
jtreute und in dieſer goldenen und jtrahlenden Tracht das Opfer ver- 
richtete.“ 


Andere Gejchichtjchreiber zur Beit der Eroberung befräftigen 
Pater Zamoras Bericht. Südöſtlich von Guatavita und nordöft m 
von Bogota liegt der —— der en einen großen Ru 
wegen jeiner Heiligkeit genoß, weßhalb dieſer auch) viele und. reiche 
DOpfergaben unter denjelben Geremonien empfing, wie die, welche man 
am Öuatavita gebrauchte. Der Siechafee liegt an einer abjeit3 gelegenen 
Stelle und war daher profanen Blicken entzogen. Mehrere Forſcher 
nehmen nun an, daß e3 hier war, wo el Dorado feine Opfer — Auch 
dieſen See hat man mehrfach verſucht, zu entleeren, um in den Beſitz der 
Schätze zu kommen, welche vermeintlic an dejjen Grund Liegen follen, 
aber vergebens. Indeſſen gelang es im Jahre 1856 den le piegel 
ungefähr neun Fuß zu ſenken, und bei diejer Gelegenheit fand man 
ers she Soldjachen und Edeliteine. Unter den Goldjachen befindet 
fich ein höchſt merkwirdiges Stüd, von dem Herr Koppel nad) großen 
Schwierigkeiten eine ausgezeichnete Kopie erlangt hat, das auf dem 
jungt in Kopenhagen abgehaltenen amerikaniſchen Kongreß vorgezeigt 
worden iſt. Das Original wird in Bogota aufbewahrt und iſt in 

rofeſſor Zerdas Abhandlung abgebildet worden, wie er auch eine 
ehr eingehende — — giebt. Es beſteht aus einer 
runden gegoſſenen Scheibe, die ſiebzehn Centimeter breit iſt und wie 
ein oh aus Rohr (Golddrähte), gebildet ijt, die aneinander in einen 
Kreis gelegt find, während didere Röhren quer über die anderen dün— 
neren gelegt find. Auf der Scheibe jtehen zehn Feine menjchliche 
Figuren, die Imitteljte Ddiejer ift größer als die anderen und ſieben 

11* 


156 Die Sage von el Dorado. 


Gentimeter Hoch; auf dem Kopfe trägt er einen ern oder eine Mütze, 
jo wie fie von den Gaciquen getragen wurde, und in der linfen Hand 
hält er einen Szepter oder einen Dreizad. Rund um ihn jtehen die 
anderen neun Figuren, vier auf der einen und vier auf der andern 
Seite in einem Halbfreije; dieje jind 31/, Gentimeter Hoch. Die zehnte 
und Eleinjte Figur ijt nur 3 Gentimeter hoc) und jteht vor der mittel- 
iten; fie trägt einen Korb auf der Schulter und eine Forke in der 

and. Das ganze Goldjtüd wiegt ungefähr 18'/, Loth oder 268 
Sramm und enthält 800 pro mille feines Gold, dejjen Werth in 
deutichem Gelde ungefähr 600 Mark beträgt. Profejjor Zerda hält 
e3 für wahrieheinfich, daß wir hier eine Darſtellung der Ceremonie 
jehen, die Bo bejchrieben hat. Die Cacique jteht, umgeben von 
den indianiichen Priejtern auf dem aus Rohr gebildeten Son, das ſie 
auf den See hinausbringt, wo das Opfer gebracht werden joll. Die 
kleinste Figur, die vor dem Cacique jteht, jtellt wahrjcheinlich einen 
Dignitar oder ein Mitglied der füniglichen Familie vor, das in einem 
Korb die Gegenjtände trägt, welche als Opfergaben in den See ge= 
worfen werden jollen. Hat Jerhn Recht mit diefer Deutung, jo Bat 
man auch jelbitfolglich die Stelle gefunden, wovon die Sage von 
cl Dorado ausgegangen iſt. 

Wie bereits mitgetheilt, gewann die Erzählung des Indianers von 
dem goldenen Fürjten jofort unbedingten Glauben unter den Spaniern 
die alle Mittheilungen für zuverläftig hielten, wenn jie ji um die 
Keichthümer der Indianer drehten. 

Kaum war die Nachricht über den goldenen Mann zu dem Gou— 
verneur oder dem Adelantado in Quito, dem energiſchen Sebaftian de 
Benalcazar, zu Ohren gekommen, als er auch ſofort beichloß, das 
Thal des Vergoldeten (el valle del Dorado) auffuchen zu laſſen. Er 
jandte infolge. dejjen zwei jeiner Hauptleute Anjasca und Ampubdia, 
aus, um die Gegend zwijchen Pajto und Popayan im Andesgebirge 
und nördlic) vor Duito zu unterfuchen. Aber es zeigte ſich bald, 
dag man über die Lage des Sees feine zuverläſſige Nachricht — 
hatte, denn man erreichte nichts anderes mit Dieker mühſamen Erpe- 
dition, als daß die Eingeborenen erzählten, öftlid vor Cayambe und 
Bopayan in den Andesbergen befänden fich Ebenen, die an an 
Edelmetallen jeien und deren Bewohner Nüftungen aus maſſivem 
Gold trügen. Ungeduldig über die tehlgelchlagenen Hoffnungen brad) 
Sebajtian de Benalcazar jelbit gegen Norden auf, 309 von Quito über 
Popayan und gelangte nach einem. anjtrengenden Marjc nad) Bogota. 
Hier traf er ganz zufälliger Weile mit Nicolaus Federmann zujams 
men, der von Venezuela über die Ebenen bei Meta, einem der Neben 
flüffe des Orinocos, hierher gelangt war, und den berühmten Adelan- 
tado Gonzalo Zimenes de Queſada. 

Dieje Begegnung zwifchen diefen drei „Conquiftadoren“ auf Cun— 
dinamarcas Hocebnen * im Jahre 1538 ſtatt. Die drei Männer ver— 
glichen den Bericht, den Luis Daça über den goldenen König erhalten 
Hatte, mit den dunfeln Gerüchten, welche unter den Indianern am 
Metaflufje courjirten, daß im Andesgebirge ein civilifirtes Volk Leben. 
jolle, das auf Yamas ritt und von einem einäugigen König beherrfcht 
werde, der unermeßliche Neichthümer beißen jolle E38 wurden nun 


Die Sage von el Dorado. 157 


Tofort Erpeditionen ausgejandt, um el Dorados Reich zu finden; überall 
erzählten die Indianer den Spaniern, daß das ——— Land nur 
einige Tagesmärſche entfernt liege. Der Golddurſt machte die über— 
müthigen Spanier in einem jo lächerlichen Grade Teichtgläubig, daß 
fie nicht einmal ahnten, die unglücdlichen Indianer feiern weit entfernt, 
fie auf den Weg zu leiten, jondern daß jie ihre Berichte erdichteten, 
um ihre unbarmherzigen Plagegeijter [os zu werden. Auf diefe Weiſe 
begann die Sage gegen Djten zu wanderır. 

E3 würde zu weitgreifend jein, bei allen mißlungenen Erpeditio- 
nen, die man unternahm, um den reichen Fürſten zu Finden und jeine 
Schatze zu plündern, zu verweilen. Es dürfte ausreichen, einige der 
ei are u bejprechen. 

nter denjenigen, welche bejonder8 darauf verjejfen waren, das 

gel zu erreichen, war Franziako Pizarros Bruder Gonzalo Pizarro. 
r beichloß im Jahre 1540 einen Fürjten zu bejuchen, von dem man 
ſich viel erzählte, „weil er das Ausjehen eine3 goldenen Gejchöpfes 
bat, da3 von einem ausgezeichnet tüchtigen Goldjchmied verfertigt iſt. 
olditaub wird an jeinem Körper feitgeflebt mittels einer Art wohl— 
riechenden Harzes. Aber da dieſe Tracht dem Fürſten allzu unbequem 
fein würde, wenn er jchläft, wäjcht er jeden Abend den Goldjtaub ab; 
und dies beweilt, daß el Dorados Weich in einem ungewöhnlichen 
Grade reich an Goldbergwerfen jein muß.“ Hier war alto etwas zu 
aewinnen für den rohen, begehrlichen Abenteurer und mit großen 
Koiten wurde ein vorzügliches Heer ausgerüjte. Es beitand aus 
350 vorzüglich ausgerüjteten Spaniern, von welchen 150 Reiter waren, 
wa3 für den Spanter einen großen Vortheil hatte, denn zu jener Zeit 
nährten die Indianer einen abergläubiichen Schreden vor Pferden. 
Außerdem zwang man 4000 Indianer, jich dem pige anzujchliegen. 
Man ſorgte mit großer Umficht für Lebensmittel und eine Menge 
lebende Schweine führte man mit jih. Man vergaß natürlicheriveite 
auch nicht, eine anjehnliche Zahl Bluthunde mit jich zu nehmen, um 
fie zur Jagd auf die Indianer, welche man auf feinem Wege begegnen 
würde, zu gebrauchen. In der frohen Erwartung eine unermeßliche 
Beute zu machen, brad) ol Pizarro von Quito auf. Aber jtatt 
wie feine Vorgänger gegen. Nordojten zu gehen, wandte er jich gegen 
Siüdojten. Anfangs ging alles gut; aber als das Heer in die hoc): 
gelegenen Engpäſſe gelangte, wurde es von der ſcharfen Kälte und auch) 
von Erdbeben heimgejucht; viele der Indianer, die nicht Hinlänglich 
warm gekleidet waren, unterlagen ihren Leiden. Schließlich) gelang es 
der Erpedition, über die Berge zu gelangen; aber während des Mar— 
ſches an den Felſenabhängen hinab nahm nad) und nach die Hitze Fr 
entjegliche Unwetter und fürchterliche Roltenbrüche vermehrten die Lei⸗ 
den, wozu noch fam, daß ein Theil der Nahrungsmittel verdarb. Die 
— heimgeſuchten Soldaten mußten Icht roße und peſtſchwangere 
oräſte durchwaten, und erſt nach Verlauf von zwei Monaten er— 
reichte das Heer die Landſtrecken, wo der Caneelbaum wächſt und der 
daher bei dieſer Gelegenheit von den Europäern entdeckt wurde. Doch 
die wetterharten Veteranen fühlten ſich nunmehr ſo überangeſtrengt und 
waren von Krankheiten aller Art heimgeſucht, daß ſie laut die Rück— 
lehr forderten. Der unbeugſame Pizzarro wußte fie doch zur Aus— 


158 Die Sage von el Borado. 


dauer zu bewegen, indem er ihmen verficherte, jie jeien nahe an 
dem Ziel ihrer Wünjche. Nomadifirende Indianerftämme hatten ja 
erzählt, daß nur zehn Tagesmärjche fern ein fruchtbares Land gelegen, 
das Dichtbevölfert jei und, was das wicdhtigite war, Gold im Ueberiuß 
hätte. Bon den offenen Ebenen gelangte nunmehr das Heer in die 
Urmwälder, die e8 nie zuvor gejehen hatte. Die riefigen Bäume, die 
außerordentlich üppige Vegetation, die tiefe Stille, welche nur hin und 
wieder von dem Geheul des Jaguars unterbrochen wurde und die un— 
heimliche Dunkelheit, welche im Walde —— erfüllten die Soldaten 
mit Schrecken. Und zu allem dieſem kam nun der Hunger; die mit— 
eführten Vorräthe waren entweder verzehrt oder verdorben und die 
€ weine verſchwanden nad) und nad) im Didicht des Waldes, Man 
mußte die Bluthunde ala ten, ja jelbjt einige der ſonſt umentbehr- 
lichen Pferde opfern. anfheiten überfielen die Reihen. 

Scliehlic gelangte das Heer nach Rio Napo, einem der Arme 
des Amazonen Lues; aber hier jtieß man an einen großen Wafjerfall, 
den man nicht überjchreiten konnte. Verzagt, wie fie waren, wurden 
die Soldaten ganz verzweifelt; aber der Faltblütige Pizarro ermun— 
terte fie und ließ eine Brüde erbauen, die unterhalb des Wafferfalles 
gelegt wurde. Das Heer gelangte aladann auf die andere Geite des 

(uffes mit den wenigen — die es noch übrig ea 

Vorwärts ging es nun wieder, wenn auch langjam. Aber Fein 
el Dorado fand man! Je weiter fie in den Urwald gelangten, dejto 
— wurde der Marſch; als die letzten Pferde geſchlachtet waren, 
mußte die ganze Schaar A| damit begnügen, Schlangen und andere 
friechende Thiere, ſowie Wurzeln zu verzehren. Dazu famen, daß die 
Unglüdlichen faum einen Augenblid der Ruhe erreichten. Immer 
unbeugjam, führte Pizarro jeine Schaar, deren Reihen mit jedem Tage 
lichter wurden, vorwärts, bis er ſchließlich Halt zu machen gezwungen 
wurde. Er ließ dann eine Brigantine zimmern. Die Hufen der ver— 
Sei ferde wurden zu Nägeln umgebildet, Gummi wurde ftatt des 

heers benußt und 4. Ver au von zwei Monaten flog das Schiff 
auf dem Fluffe. Das Commando wurde an Francesco de DOrellana 
übergeben, der längs den Ufern fuhr und nach und nad) diejenigen 
aufnahm, die nicht mehr zu gehen vermochten. 

Außerdem mußte Pizarro noch einmal Halt machen; er ließ 
Orellana weiterjegeln, um Nahrungsmittel herbeizujchaffen, und mit 
50 Mann an Bord jteuerte die Brigantine nun mitten auf den Fluß 
hinaus und verſchwand bald. Es verging sg eine lange Zeit, 
ohne dab das Echiff ſich wieder zeigte; Pizarro brach aufs neue auf, 
und unter den fürchterlichiten Leiden erreichte das Be den Ama— 
— nach Verlauf von zwei Monaten. Hier traf er Sanchez de 
Vargas, der an Bord des Schiffes geweſen war, und dieſer theilte 
Pizarro die vernichtende Botſchaft mit, daß Orellana beſchloſſen hatte, 
den Fluß gan hinabzujegeln, und jich — Spanien zu wenden, um 
ſich die —* er Entdeckung des großen Fluſſes und der weit ausge— 
dehnten Uferländer beizulegen. Vargas war der einzige, welcher 3 
dieſem verrätheriichen Plan widerjett hatte, wehhalb er auch ohne 
Barmherzigkeit ans Land gejegt wurde und hilflos in dem wenn 
Urwald umberirrte, bis er wieder zu Pizarro ſtieß. Diejer fette ſei— 


Die Sage von el Dorado. 159 


nen Marſch noch ein paar Tage fort, denn die Indianer hatten ihm 
verjichert, daß das verheigene Yand der Reichthümer nur einige Tages— 
märjche weiter gen Oſten gelegen ſei. Aber jchlieglich mußte er zur 
Einficht gelangen, dal es unmöglich jei, das jo begehrlich erjehnte 
Biel zu a und tief befiimmert fehrte er um, doch auf einem 
etwas nördlicheren Wege; er erreichte Quito 1542, Nur 80 Spanier 
und 2000 Indianer waren ihm geblieben. 

Drellana hatte bei den Indianern, welche zwijchen Yapuras und 
Rio Negros Nebenflüffen wohnten, Feine Gößenbilder oder Amulette 
von imaffivem Golde gefunden; man nahm daher nun an, daß man 
hier el Dorados Reich und große Schäße finden würde, Viele Expe— 
ditionen wurden dorthin unternommen, dod) ohne Glück. 

Indeſſen wanderte die Sage fortwährend weiter gen ren und 
Süden, indem el Dorado wie ein Schatten immer weiter vor den vor— 
drängenden Europäern — Südlich vor Rio Negro, bei Juxu— 
bech, ſollten bald die Manoen, bald die Omaguaen, bald die Guaypen 
ihre mächtigen Reiche haben; man verlegte einen „Goldſee“ (laguna 
de oro) hierher, an welchem eine Stadt liegen ſollte, die von einem 
goldenen König beherrſcht würde, der, je nach dem Stamme, verſchie— 
dene Namen bekam: Der große Patiti, der große Moxo, der große 
Paru oder Enim. Aber je weiter die Spanier vordrangen, deſto wei— 
ter rückte el Dorados Land auch gen Oſten zurück, ſo daß es ſchließ— 
lich nach Guyana verlegt wurde. Im Jahre 1590 Hatte Queſadas 
EN Antonio de Berro, einen Heerzug unternommen; er 
zog über die Cordilleren aus der Gegend weſtlich vor Tunja, fegelte 
den Nebenfluß des Meta, den Rio Caſuare, hinab, gelangte dann in 
den Metaflug und auf dem Orinoco nach der Inſel Trinidad. Er 
traf hier einen Spanier, der ihm erzählte, er jet von Indianern ge= 
fangen gehalten worden, die ihn von Ort zu Ort gejchleppt hätten, 
bis er hliehlich nad) el Dorados Hauptitadt gefommen jet, die von 
Reichthum ſtrotzte. Die Stadt läge zwijchen den Flüſſen Caroni, 
Ejjequibo und Branco, in einem Lande, das Parime heiße, das Tpäter 
für ein unermeßliches Binnenmeer gehalten wurde. Diejes Waffer 
finfe zum Theil während des Sommers und man fünnte dann an den 
Ufern große Goldflumpen aufjammeln. Das Land würde auch Mas 
noa3 - Land, die Stadt Manva und der Sce der große Manoaſee 
(laguna de la gran Manoa) genannt. 

Auf Grund diefer Nachrichten und mit der eigenthümlichen Leicht- 
gläubigfeit der ſpaniſchen Abenteurer, wenn es galt Gold zu finden, 
rüjtete Antonio de Berro im Jahr 1596 eine Erpedition aus, die 
unter Domingo de Bera jich diejes Neiches bemächtigen jollte. Es 
fand ſich eine Majje freiwillige Theilnehmer, die alles verkaufte, 
was jte bejaß, um Theil an der erwarteten Beute nehmen zu fün- 
nen. Aber diejer Erpedition ging es nicht bejjer al3 den anderen und 
nur 30 Mann fehrten zurüd. 

Im Jahre 1590 griff der berühmte Walter Raleigh Venezuelas 
Küften an und nahm bet diejer Gelegenheit Berro gefangen. Diefer 
theilte Raleigh mit, was er von Manoa wußte; der 5 Admiral 
hatte ähnliches gehört, als er das erſte Mal auf dem Orinoco hinauf— 


160 Die Sage von el Dorado. 


fuhr. Später hatte jein Kapitän, Laurence Keymis, den übrigen 
Theil des Fluſſes bejegelt und von den dort — Indianern, 
welche ſtets die Europäer zum beſten hielten, nähere Nachrichten über 
el Dorados Neid) erhalten. Infolge ihrer Angaben ſei der fleine See 
Amufu und das Land zwijchen den Flüſſen Rupunuvini, welche in 
den erg fallen, und dem Rio Parime, einem Arm des Rio 
Branco, das große Binnenmeer. Dieje Angabe beruht wahrjcheinlich 
auf dem Umijtande, dat die dortigen Landitreden zu gewijjen Zeiten 
des Jahres überſchwemmt werden und dann wie eine a Mieeres- 
fläche ausjehen. Was nun wejentlic) dazu beitrug, day Walter Ra— 
leigh Vertrauen zu den Berichten über die Lage des mächtigen Neiches 
faßte, war, daß ein Indianer, der König von Morequito, im Jahre 
1594 fid) in Cumana an der nordöjtlichen Küſte Venezuelas eingefun- 
den und eine Menge Eleiner maſſiver Gößenbilder mitgebracht hatte, 
die er gegen eijerne Werkzeuge und andere europäische Produkte ver- 
taujchen wollte. Außerdem beſaßen die Eingeborenen an derjelben 
Küſte ähnliche Gögenbilder, die vermeintlicd) aus jenem Reiche in der 
Nähe des niederen Orinocos jtammten. Raleigh ließ infolge deſſen 
eine Karte anfertigen, worauf der Laguna del Dorado und die kaiſer— 
ide Stadt Manoa abgejegt waren, und jandte dieſe nebit einem lan— 
gen Bericht darüber an die Königin Elifabeth. Einer der Incas, hieß es 
in demjelben, jet nach Atahualpas Tod den Berfolgunge.i der Spanier 
entronnen und hätte bei ice ein Reich gegründet, das eine jehr 
Joe Kultur und große Reichthümer befie. Er fügte hinzu, daß man 
et Perus Eroberung und bei der Vernichtung der Macht der Incas 
eine alte Prophezeiung gefunden hätte, infolge welcher es den Eng— 
ländern vorbehalten jet, das Reich der Incas wieder aufzurichten. 
Diejer Schritt hatte jedoch) feine Folgen und von nun an ſchwand 
der Glaube an das VBorhandenfein eines el Dorado immer mehr, ob- 
gleich; einzelne Privatleute noch im 18. Jahrhundert Erpeditionen 
unternahmen, um jein Reich zu finden. In Cuenza in Equador jprad) 
Alerander von Humboldt mit Leuten, die der Biichof Marphil in der 
legten Hälfte des vorigen Jahrhunderts ausgejandt hatte, um die 
Ruinen einer Stadt Logronjo aufzujuchen, die in einem goldreichen 
Lande auf Macas Ebenen öſtlich von den Gordilleren gelegen jein 
jollte — man war — zum Theil zu dem Glauben zürückgekehrt, 
daß el Dorados Reich dort Liegen müſſe, wohin man es zu — 
verlegt hatte. Doch ſandte man noch im Jahre 1740 eine Expedition 
auf dem Eſſequibo hinauf, und der Ctatthalter in Santo Thomo 
d’Angojtura machte große Anjtrengungen, um den Binnenfee Manoa 
zu finden. Dieje Erpeditionen gründeten fich noch immer auf die fort- 
währenden Berichte der Indianer über el Dorados VBorhandenfein. 
Ein Indianer, Arimuikaipi, jegelte den Caronifluß hinab und erzählte 
den ſpaniſchen Kolonijten, day er ein reiches Land entdedt hätte, in— 
dem er ihnen am Himmel den Widerjchein filberreicher Feljen, welche 
jich über dem Wajjerjpiegel des Sees Parime erhoben, zeigte. Die 
leichtgläubigen Spanier, die nicht ahnten, daß der vermeintliche Silber- 
jhein nur die magellanjchen Wolfen waren, wurden dadurch verlocdt 
mehrere Erpeditionen zu unternehmen, welche große Verlufte an Men: 
jchenleben im Gefolge hatten und bedeutende Geldopfer erforderten. 


Die Sage von el Dorado. 161 


Ja, jelbjt noch in den Jahren 1775 und 1773 unternahm man Züge, 
um el Dorados Berg zu gewinnen. 

Solcher Geſtalt iſt diefe Sage im hohen Grade Ichidjalsichwanger 
für die Europäer gewejen und hat vielen Menjchen das Leben gefoftet, 
außer den großen materiellen Verluſten, welche denen gugefügt wur⸗ 
den, die an dieſe Sage glaubten. Etwas wahres muß dennoch dieſer 

um Grunde gelegen haben, wie es oben nachgewieſen worden iſt. 
Ieſe darf man nicht außer Betracht laſſen, daß die Beſtrebungen, 
el Dorados Reid) zu finden, dennoch bedeutende Ausbeute gebracht 
hat, injoweit Gegenden, die ſonſt faum von Europäern bejucht wor: 
den wären, jchon jehr früh unterjucht wurden, wie man ja aud) ver- 
Ichiedene Entdedungen machte, die große praftiiche Bedeutung haben. 
So entdedte ja, wie wir jahen, Gonzalo Pizarro auf feinem unglüd- 
lichen Zuge den Ganeelbaum. Viele Streden wurden nad) und nach 
von Kolonijten bejegt und dadurd) der Civilifation zugänglich gemacht. 
Man hat auch alle Urſache, die außerordentliche Energie zu bewun— 
dern, womit die Spanier ihre Expeditionen nad) öden und ungajtlichen 
Gegenden ausführten, wenn auch das Motiv dazu wefentlich in der 
eigenthümlichen Begierde der „Conquiſtadoren“ nad) Reichthum zu 
Juchen it, während fie jich nicht darum kümmerten, weiter auf Die 
Kultur zu bauen, die jie bei der Entdefung des amerikanischen Feſt— 
Landes vorfanden. 








Geſchichte einer Grasmücke. 


Aus dem Italieniſchen des G. Verga. Deutſch von Pauline 5—chanz. 
Echluß.) 


30. Dezember. 

Marianne! O meine Marianne! Wie habe ich ge— 
weint, wie habe ich gelitten! Die Valentinis reiſen 
morgen ab! Du? Die Cholera iſt vorüber! 
— — * Br Al ;“ * 
NEN Sch werde ihn nicht mehr jehen! Und das habe 
RT ich nur durch Zufall erfahren und nur erjt vor wenigen 
) BEL Minuten. Nicht jo viel Barmherzigkeit hatten fie, es mir 

I 6° zu Jagen. 

Es ſchien mir, als müſſe ich fterben. Ich habe Gott gegrollt, 
daß er — hat geneſen lajjen. Ich habe jo ſehr geweint. Meine 
Bruft jchmerzt davon. Ich habe jo laut geſchluchzt, daß Giuditta es 
hat hören müſſen. 

Wie jchamlos ic) doc bin! Ohne Zurüdhaltung und Scheu; 
denn ich habe nur noch einen einzigen Gedanken. Wie eine Tolle bin 
ich zur Berwalterin gejtürzt, um von ihr Nachricht zu erlangen. Alſo 
Morgen! Er tft gelommen, meiner Familie zn! zu 5 und 
ſie haben ihn * auch nicht nur dies eine letzte Mal ſehen laſſen! 
Und nun ſehe ich ihn nie mehr! Und das erfuhr ich des Abends im 
Dunkeln, da ich dem lieben Häuschen, darinnen er die letzte Nacht 
ſchlummert, nicht einmal mehr einen letzten Gruß ſenden konnte! 

Welche Menſchen ſind dies! Menſchen ohne Herz, ohne Erbar— 
men und ohne Thränen! 

Welche Nacht! Welche grauenvolle Nacht! Wie J dieſe Kam— 
mer iſt, wie düſter, unheimlich! Der Regen ſchlägt an die Scheiben, 
der Sturm rüttelt an den Fenſterrahmen, der Donner ſcheint das 
Dach des Hauſes zu entführen und die Blitze dringen bis zu mir mit 
ihrem blendenden, zuckenden Licht. Ich fürchte mich und wage nicht, 
mich zu bekreuzigen — — denn ich bin eine Verdammte, eine Aus— 
geſtoßene, denn auch jetzt in dieſem Augenblicke denke ich nur an ihn. 
md ich bete zu Gott, ich hoffe und wünſche, daß dieſes Unwetier 
nicht enden möge, damit er nicht abreifen kann, in meiner Nähe bfei- 
ben muß, immer, immer. Nur dies! Ich will ihn nicht jehen, nicht 





’ 1 
En) 
* 


Geſchichte einer Grasmücke. 163 


fprechen, nur wiſſen, daß er da jei, dort unten, im Grunde jenes 
Thales, unter jenem Dad, Hinter jenem Fenſter, damit ich ihm einen 
Gruß des Morgens jenden, mit meinen Augen diefe Schwelle, dieje 
Erde, diefe Luft küſſen kann. Iſt denn dies zu viel begehrt? Mein 
Gott! nn ich mich damit begnüge! 

Aber hat er denn gar nicht daran gedacht, daß ich jeinetwegen 
iterbe? Daß ic) jo elend, jo frank bin? Hat er denn nicht auch ge- 
litten? Warum ijt er denn nicht einen, einen einzigen armen Augen— 
blid iu mir gefommen, um mir Lebewohl zu jagen 

arum hat er mich nicht wenigſtens — timme hören laſſen? 
Warum iſt er nicht durch den Wald gegangen? Warum hat er nicht 
in die Luft geſchoſſen? Warum nicht ſeinen Hund bellen laſſen, der 
mich fragte, ob ich ihm gut ſei und auf deſſen Kopf er ſeine Hand 
neben die meine gelegt hatte? Ich ſchreibe Dir im Bette, auf einem 
großen Buche, welches auf meinen Knieen liegt. Manchmal überläuft 
mich ein Froſtſchauer, dann faßt mich ein Schwindel, aber wenn ich 
Dir nicht ſchrieb, ſo könnte ich hier eingeſchloſſen nicht bleiben, ohne 
fürchten zu — wahnſinnig zu werden. Ich habe keine Thränen 
mehr und die Angſt zerreißt mic, wie ein wüthender — Ohn⸗ 
macht, Fieber, Delirium umnebeln mein Bewußtſein. Dieſer Regen, 
der herniederrauſcht, dieſer — Wind, dieſe Donnerſchläge, dieſe 
Blitze ſind unerträglich. Dieſes Dach zermalmt mich, die Wände 
erſticken mich. Ich möchte das Fenſter öffnen, die eiſigen Regentropfen 
auf meiner Stirne zu fühlen, dieſen kalten Wind einzutrinken; an die— 
ſen flatternden Blitzen, dieſem heulenden Unwetter mich zu laben, 
möchte mich ſtürzen in dieſem Aufruhr der Natur, die jammert, ſich 
winDdet, leidet wie ich. Wer mir gejagt hätte, daß “ jo leiden müſſe! 
Warum zerrten fie mich hervor aus dem Klojter, dieje Menjchen ohne 
Gnade? Warum liegen fie mich nicht fterben, dort allein, ohne Hilfe, 
an der Cholera, an der Verlaſſenheit? — — — — Ah! — Hord), 
Marianne! ft Du nichts gehört? Es däuchte mir, da, hinter dem 
Bl durch Regen, Sturm und Unwetter — ein Schritt! Ja, er 
iſt's! Er iſt's! Mein Ders zerreißt! Ich prejie meinen Kopf zwiſchen 
meine beiden Hände, denn ich meine, daß irgend etwas in meinem 
Kopf zerjpringt. Er iſt's! Was thut er? Was will er? Er Elopfte 
ans Fenſter. — Gott, mein Gott! Laß mic) jterben! Laß mich jter- 
ben! Er jagt mir Lebewohl! Er! Er! — Und ih? Was joll ic) 
beginnen? — Ein Hujtenanfall erjchüttert mich. Er wird es gehört 
. en. Es ijt mein Abjchied. Ich jehe nichts mehr. Ich fühle den 
od. Wenn fie mich todt fänden mit diefem Briefe. Welche Schande! 
Mein Gott! 


31. Dezember. 
Gott hat Erbarmen mit mir gehabt. Ich habe die Augen wieder 
geöffnet und fand den Brief noch in meinen Händen. Niemand hat 
ihn gefunden. Die Thüre iſt noch geichlofjen. Die Sonne leuchtet 
ihon in mein Gemach, fie jtrömt mit Macht durch ar der 


geichlofjenen Läden. Ich höre die Vögel zirpen. Die Sonne! — 
* furchtbar iſt! — Tobte das Unwetter nicht? — — — War 
nicht — — — 


a 


164 Gefhichte einer Grasmũcke. 


Ich jpringe aus dem Bette; faum vermag ich mich auf den Füßen 
zu — 8* habe den Muth nicht, das Fenſter zu öffnen. 

er — — — 

Mein Gott, Dein Wille geſchehe! 

So iſt alles vorbei, zu Ende. Ich habe jenes kleine Haus, jenes 

eſchloſſene Fenjter gejehen. Eine Luft des Schweigens, des Verlaſſen— 
Feine, die grauenhafte Dede weht mich an und macht mein Herz 
eritarren! 

Ich habe jenen Himmel, der ſich über ihn gewölbt, jene Bäume, 
die ihm zu Häupten geraujcht haben, jene Berge, die vor Eurzem ihm 
noch nahe waren und die nun einjam, traurig, verlafjen find, ich habe 
jie alle nad) ihm gefragt. Er iſt fort! Er iſt gegangen! 

Unter meinem Fenſter habe ich im regendurchweichten und von 
Schnee bededten Boden jeine Fußſpuren — jeine legten Fußſpuren 

ejehen. Sein Fuß iſt hier gejchritten, feine Hand hat diejes Fenſter— 

md berührt. Er ijt hier gewejen. Hier! Hter! Dieje Luft hat ihn 
umgeben, alles das, was id) jehe, hat aud) er erblidt! Und nun, jeßt, 
ijt er nicht mehr da. Nichts, nichts mehr! 

Auf dem Fenſterſims fand ic) eine trodene Roſe, eine arme Roſe, 
die er mir einſt fait geraubt hatte und die ich ihn hatte rauben laſſen. 
Der Regen hat jie verwajchen. Es ijt eine Neliquie Sie liegt hier 
auf meiner Brut und wenn die Scheere mein Haar abgetrennt haben 
* werden ſie die arme Roſe dazulegen und es Dir, meiner Schweſter, 
enden. 





| 7. Januar 1855. 

Heute iſt der letzte Tag, welchen wir hier in Monte Jlice ver- 
leben „ Morgen früh werden wir nad) Catania abreijen. Wenn wir 
Mascalucia berühren jollten, jehe ich Dich wieder. 

Säheſt Du, wie alles hier traurig ijt! Der Himmel bewölft, die 
Luft kalt, die Thäler mit Nebel erfüllt, die Berge jchneebededt, die 
Bäume ohne Laub, die Vögel ohne Lieder, die Sonne ohne Glanz, 
ein Flug jchwarzer Raben dort jtreicht frächzend durch die Lüfte, Die 
Zandleute drängen fich frierend um den Feuerherd. ‚Die Meinigen 
können nicht länger hier bleiben, allein während der rauhen Jahreszeit, 
und nun, da die Furcht vor der Cholera gejchwunden, kann mein 
Vater faum die Zeit der Abreije erwarten. | 

Sc ſtehe Itundenlang und denfe, denfe, weiß jelbit nicht was, aufs 

eöffnete ?Feniter gelehnt, wenn die Sonne jcheint, oder traurig den 
Simmel durch die geſchloſſenen Scheiben betrachten. 

Mein Gott, das iit der Tod! Der Tod der Natur, der Tod des 
Herzens, wie der der armen Roſe. 

Und zu denfen, wie dieje Stätten jo jchön gewejen find! Wie 
ich hier jo glüclich gewejen bin! 

Sc Habe mich mit Gott und meiner Vokation ausgeſöhnt. Habe 
einjehen gelernt, daß der Frieden, die Ruhe, die innere Zufriedenheit 
nirgend anders zu bp find, als dort unten, im jener Zelle, zu 
Fhen des Kreuzes; daß alle Freuden des Lebens einen bitteren Nach— 
geſchmack zurücklaſſen, alle! 

Und will es mich bedünken, als ließe ich ein Stück meines 


Gefchichte einer Grasmüce. 165 


Herzens — an der Stätte, wo ich ſo viel traurige Stunden und 
jo viel glückſelige Tage verlebt habe. Bei jedem Gegenſtand, den ich 
heute vor Augen gehabt, habe ich gedacht: Morgen jehe ich jie nicht 
— Dieſen Abend machte ich einen letzten Gang durch den Wald, 
habe ein letztes Mal auf jenem Mäuerchen geruht, das Hüttchen, 
welches — Hauſe gegenüber ſteht, betrachtet und von meinem 
Fenſter aus habe ich mit einem Gefühl unſäglicher Rührung die 
Bäume, die Berge, die Schluchten, den Himmel, durch welchen ſich 
ein Sonnenſtrahl des anbrechenden Tages ſtahl, zum legten Mal ge— 
grüßt, jelbjt den moosbededten Stein am Haufe, jelbit den Dachfirſt 
über meinem Haupte grüßte ich zum Abjchied. Alle diefe Dinge haben 
den ganz bejonderen melandpoliichen Ausdrud angenommen, welcher 
Lebewohl jagt. Und mein Lebewohl hier wird ein ewiges fein! 

Wenn ım kommenden Jahre die jeßt in Trauer und Schmerzen 
gehüllten Berge, von frohen Tönen umklungen, vom Licht und Duft 
umwoben jein werden, wenn die Landmädchen in den Weingärten und 
die Lerchen im Himmelsblau fingen, wenn meine Eltern hierher zurüd- 
fehren werden — ja, fie werden dieſe entzücdende Stätte wiederjehen, 
ich nicht. Ich werde fern von hier, im Kloſter eingejchlofjen jein — 
und für immer! 

Jenes fleine Haus habe ich wiedergejehen. Es jchien fich zu 
fürchten, jo allein, jo falt, jo öde, verloren im Grunde des Thales. 
Zum legten Male ſchließe ich mein Fenſter, ich jehe die Däm- 
merung erjterben. ‚hinter .den Scheiben und die Sterne auftauchen, 
einen nad) dem anderen, am Firmament. Wie — ſich die 
Wände des Gemaches im Lichtſchein des letzten Abends ausnehmen, 
dieſes ſchmale Bett, das Kruzifix, die Möbel, all die kleinen Gegen— 
ſtände ſind ſo beredt, ſo wehmüthig beim Abſchiednehmen geworden. 
her ich bin gerührt. Ic habe geweint und fühle mein Herz er: 
eichtert. 


Catania, 9. Januar. 

Meine theure Marianne, Du haſt mich vergeblich erwartet. Wir 
nahmen unſern ng. nicht über Mascalucia, da e3 ein großer Umweg 

eweſen wäre und das Wetter jehr jchlecht war. Aber wie jehr hatte 
ih gewünjcht, Dich —— — Jetzt ſind wir ſeit geſtern hier 
und morgen kehre ich ins Kloſter zurück. 

Wir — gegen zehn Uhr von Monte Ilice ab, obgleich das 
Wetter mit Regen drohte. Meine Mama hatte alles für die Reiſe 
vorbereitet und wollte die Koffer nicht wieder auspaden um alles 
Gold der Welt. Alfo fort! Was jollten wir auch länger dort 
draußen? Der — ſelbſt ſchien uns zu verjagen. Doch als ich 
über die Schwelle des Hauſes ſchritt, preßte es mir das Herz zu— 
ſammen. Alles überblidte ic) noch einmal, ich küßte alle Gegenſtände 
in meinem Stübchen, ic) öffnete en einen Fenſterflügel und die fich 
bewegende Angel gab einen weinenden Ton von ji; ich umſchritt 
das Haus und jah mein Fenſter von außen, wie er es gefehen, ich 
juchte den led, auf dem jein Fuß geitanden hat. ' 

Alle waren frohgelaunt, Gtuditta, Gigt, jelbit Papa und Mama. 
Vigilante machte Quftiprünge, der Arme, als ob er nicht wüßte, daß wir 


166 Geſchichte einer Grasmüce. 


ihn verließen. Die Verwalterin nahm mit all ihren Kinderchen, Die 
ji) an ihren Rod geflammert hatten, Abjchied. Ein vor Froſt zittern: 
des Vögelchen ſetzte auf einen laubloſen Kaſtanienzweig und zwit— 
ſcherte uns Lebewohl. 

Wir gingen zu Fuß fort, im Grunde des Thales erwarteten uns die 
Eſel, die uns bis Trecaſtagne bringen ſollten, denn Du weißt, daß 
man hier in den Bergen nur zu Pferd oder auf Eſeln reiſen kann. 
Von Zeit zu Zeit wandten wir uns um, die Stätte zu ſehen, die wir 
verließen. Bei der Biegung der Straße, im Grunde des Thales, kamen 
wir an jenem Häuschen vorüber. Mein Ders vermochte jeinen Anblid 
faum zu ertragen und doch iſt e3 mir bis auf die kleinſten Einzel- 
heiten in der Erinnerung eingegraben geblieben. Sein Fenſter hat 
einen grüngejtrichenen Rahmen und eine Scheibe —— iſt zer— 
brochen; ee dem Fenſterbrett iſt ein feuchter Fleck auf der Stelle zu 
jehen, wo der Jasminſtock gejtanden hat; der Wind hat die Ranfen 
der Weinlaube herabgerijjen und vor der Thüre liegen Glasjcherben 
und Bapierfegen, welche der Wind umberwirbelt; eine zerbrochene 
Pfeife liegt noch auf dem Fenſterſims. Und alles ruft mir zu: „Er 
ift nicht mehr hier, hat uns verlafjen, wir jind allein!“ 

Das ijt die Straße, auf welcher er jchritt, wenn er von ung kam. 
Wie oft ift er fie gewandelt! Won hier aus fonnte er unfer Häus- 
chen durch die YBipfel der Kajtanien laufchen jehen. Wie oft wırd er 
nach) ihm ausgejchaut Haben! Und wie oft wird fein Bli auf diefem 
moosbedeckten Steine geruht, wie oft mag er, mit jeinem jchönen Hunde 
zu ——— geſeſſen haben! 

Ach, Marianne, mein Herz vermag die Laſt dieſer Erinnerungen 
nicht zu tragen! Wir ritten bis Trecaſtagne, wo uns der Wagen 
erwartete. Der arme Vigilante verſuchte al feine Liebfojungen, um 
uns zu bewegen, ihn mitzunehmen. Was konnte ich thun? ” fonnte 
ihn nur ftreicheln und hatte faſt Thränen im Auge, als ich Jah, wie 
er, gewaltjam vom Verwalter an der Schnur fortgezogen, ſich langſam 
entfernte. Noch einmal blidte id) mich nach meinem geliebte Monte 
Slice um, aber = jah weder das Haus, noch die Hütte, noch den 
Weinberg mehr. Nur eine braune Maſſe zeigte die Stelle des Kaſta— 
nienmwäldchens, und das Uebrige war ein unbejtimmtes Gemijch von 
weißlichem Nebel und Schnee. 

Wir Stiegen in den Wagen und fuhren fort. Als wir in die 
Stadt einfuhren, fühlte ich mein Herz leichter werden. Ich fchaute 
aus dem Wagenjchlag und e3 jchten mir, ich müſſe ihn in jedem 
Vorübergehenden erbliden. Sie müſſen mich wohl für närrijch aehal- 
ten haben. Sobald ich einen Trupp Menjchen erblidte, war g, ficher, 
daß er jich darunter befinden müſſe. — der Wagen fuhr ſo raſch 
vorüber und mein Herz krampfte ſich zuſammen bei dem Gedanken, 
daß man mir nicht Zeit gelaſſen, ihn zu finden. Wenn ich wüßte, wo 
ſeine Eltern wohnen! Zwanzigmal kam mir der Gedanke in den Sinn, 
doc ich wagte nicht danach zu fragen. Catania iſt eine jo große 
Stadt! Es iſt hier nicht jo wie in unjern lieben Bergen. Dort wußte 
man wohl, wo man jemanden zu fuchen hatte. Wie düſter — 
mir dieſe langen Straßen! Wie traurig ſahen die Leute alle aus! 
Endlich erreichten wir unſer Haus, das Haus meiner Stiefmutter, wo 


Geſchichte einer Grasmürke. 167 


ic) mir wie eine Fremde erjchien in Mitte meiner Angehörigen, die 
ſich fo — daheim fühlten. 

Ob die Valentinis wiſſen, daß wir angekommen ſind? Ob ſie 
wohl zu uns kommen werden? Ob ich ihn wohl werde durch die 
Straße gehen ſehen? Mein Gott! Unſere Straße iſt ſo einſam! 
Man ſieht faſt niemand hier vorübergehen. Aber doch — er könnte 
— — vielleicht in dieſem Augenblick vorüberkommen. Und mid) am 
zer jehen! Meine Stiefmutter jagte mir, daß ich morgen ins 

loſter zurüdfehren ſolle. Sie meinte wohl, mir etwas recht tröjt- 
liches zu jagen und weiß nicht, daß bei dieſer Nachricht mein Herz zu 
Eis eritarrte. 

Sch will nicht mehr an eines denken. Ich muß mich jammeln. 
Dort ift ja meine Heimat. Gott wird mir verzeihen und Balfam in 
* arme Herz träufeln, welches ſich nie hätte von ihm entfernen 
dürfen. 

Ich werde meine Zelle, mein er ‚ meine Blumen, die Kirche, 
meine $Kloftergefährtinnen, nur Dich nicht — wiederjehen. Du kehrſt 
nicht wieder ins Klojter zurüd. Mag der Wille des Herrn gejchehen! 
Zuweilen wohl wirft Du fommen, um Deine arme Freundin zu jehen, 
die jo unglüdlich it. Wer weis, ob ich Dir dann noch) jchreiben und 
mich zu Dir flüchten kann! Addio! Addio! 


Ich Schreibe Dir noch eine Zeile, wahrſcheinlich — 
reibe Dir noch eine Zeile, wahrſcheinlich die letzte. er 
Wagen wartet ſchon. Papa, — Stiefmutter, Giuditta und Gigi 
haben ſich feſtlich geſchmückt, um mich zu begleiten. 
ch habe — Ich trockne meine Augen und athme zum letz— 
ten Mal dieſe Luft der Freiheit. 

Die Eltern Valentini ſind gekommen, mir Lebewohl zu ſagen. Er 
mr Sie haben mich) umarmt. Auch Annetta fam mit, und wie 
haben wir beide geweint! 

Ic Steige nun die Treppe hinab, fteige in den Wagen und in 
zwanzig Minuten werde ich von allem, allem gejchieden Kein! Auch 
von Dir. Addio! Mein Herz zerbricht! 


Aus dem Klofter, 30. Januar. 

Ih wollte den Monat nicht zu Ende gehen laſſen, ohne Dir zu 
fchreiben. Du hättejt glauben können, g| jet traurig, unglüdlic), wäh— 
rend ich hier zu Füßen der Altäre, in der Ausübung unjerer ernjten 
Neligionsgebräuche, wenn auch nicht den Frieden, jo Doc) die Ruhe 
des Derens gefunden habe. . 

53 ijt wahr. Eine unbejiegbare gegen Asa überfiel mich, 
als ich Hier eintretend, die Thüre hinter mir zujchlagen hörte, al3 mir 
plöglid Luft und Licht entſchwanden, als mich die Grabesjtille diefer 
weiten Hallen umfing und der monotone Klang der Gebete an mein 
Ohr ſchlug. Alles hier ift geeignet, das Herz zur Trauer und zur 

ccht zu ftimmen; dieſe ſchwarzen Schattengeftaiten, welche man im 
alben Lichte vor dem zifire knieen fieht, welche aneinander vor: 
Pr 


168 Geſchichte einer Grasmükke. 


— ohne zu reden, welche lautlos wandeln wie Geſpenſter; 
die Blumen, welche im Garten trauern, der Sommenjchein, welcher ſich 
vergeblich müht, die dicken Glasjcheiben der ab zu durchdringen; 
die Eijenjtäbe, welche jene vergittern; die Vorhänge von brauner 
Serge. Man vernimmt das Geräuſch des Weltlebens von ER 
und fein Hall erjtirbt an diefen Mauern wie ein Seufzer. Alles 
was von außerhalb Hineinklingt, iſt verblaßt und Elanglos geworden. 
Ich bin allein inmitten Hundert anderer Berlafjenen. 

Auch den Trojt der Familienzufammengehörigfeit habe ich ver- 
loren. Ich kann die Meinen nicht anders mehr jehen als in Gegen: 
wart vieler anderer, in einem großen, düjteren Saale und hinter einem 
doppelten Gitter. Unfere Hände fünnen ſich nicht mehr im Drud 
umjchliegen. Die milienvertraulichkeit . verjchwindet hier. Nur 
Schatten bleiben zurüd, die jich durch Gitterjtäbe anbliden; und ich 
frage mic) immer wieder auf3 neue, ob dies mein Water ijt, mein 
Bater, der mir zulächelte und mich füßte, ob diejes Mädchen diejelbe 
Giuditta ift, die mit mir umbergejprungen und ob jenes Kind, der 
neckiſche, luſtige Gigt jein kann. ſind ſie alle ernſt, melancholiſch, 
blicken mich von außerhalb des Gitters an, wie Lebendige, die ſich um 
ein Grab verſammeln, um Geſtorbene zu ſehen, welche ſprechen und 
ſich bewegen. 

Und eben alle dieſe Beraubungen, alle dieſe harten Uebungen 
tragen dazu bei, das Herz von der irdiſchen Vergänglichkeit loszulöſen, 
es gu tjoliren, e8 an fich ſelbſt denken au lafjen, ihm jene jtumme 
Ruhe zu verleihen, welche von Gott und der Ueberzeugung fommt, 
daß fie jo unjere Erdenpilgerjchaft abfürzt. Ich habe alles bekannt, 
alles! Der gute Pater hat Erbarmen mit mir und meinem armen 
Herzen gehabt. Er hat mich getröjtet, mir er hat mir geholfen, 
den Dämon aus meiner Bruft zu vertreiben. Ich fühle mich freier, 
ruhiger, wiürdiger der Gnade Gottes. 

Morgen trete ich mein Noviziat. an. Man wollte mic) noch einige 
Tage jchonen, da meine Gejundheit nicht feſt iſt. Ich habe mich noch 
nicht ganz von der Krankheit erholt, an der id) dort auf Monte Jlice 
gelitten. Von drei zu. drei Tagen habe ich Fieberanfälle und huſte 
die Nächte hindurch. Doch Gott wird mir Kraft verleihen, die Probe 
des Noviziates zu — Von jetzt an werden wir uns nur ſehr 
ſelten ſehen und ich werde Dir nicht ſchreiben können, da ich die alte 
Filomena, jene gute Laienſchweſter, welche meine Briefe an Dich be— 
förderte, nicht mehr damit beauftragen kann. Selbſt meinen armen 
Papa darf ich nicht mehr ſehen! Der Wille des Herrn geſchehe! 

Marianne, befiel mich der Gnade Gottes, damit ich mit Ergebung 
mich dieſer ſchweren Prüfung unterwerfe. 


8. Februar 1856. 
Ich habe das Noviziat überſtanden. Man hat mir in Anbetracht 
meiner Geſundheit, die äußerſt ſchlecht iſt, eine Dispens — Ich 
habe oft Fieber, huſte und bin jo ſchwach, daß die geringſte Anjtren- 
gung mid) ermüdet. Doch mein Herz iſt jtille geworden und dies iſt 
Die größte Gnade, die Gott mir gewähren konnte. Zuweilen bäumt 


Gedichte einer Grasmũcke. 169 


fih wohl die Schwachheit, die ag die Anfechtung. noch in 
mir auf. Dann werfe ich mich an die Stufen der Altäre, verbringe 
die Nähte auf dem falten Stein fnieend, fafteie meinen Leib mit 
Falten und Bußübungen, bis die Materie bezwungen, bis die a 
erjchöpft, die Verjuchung gewichen ift und die Ruhe in meine Seele 
zurüdfehrt. 

Diejes Probejahr ijt_jehr hart gemwejen. Doc) der gute Gott 
hat mid) fiegen lajjen. Im vergangenen Sommer habe ih alle die 
Meinen, melde die Cholera fürchteten, abreijen jehen. Auch den Ber: 
luſt meiner Lieben habe ich ertragen. Ich jtand auf dem Belvedere 
des Klojterdaches und richtete meine Blide hinaus ey jenen jchönen 
Stätten, wo aud) i einit mit ihnen war. Ach, jene ſchönen Zeiten! 
Ich mußte an jo vieles denken! Ich weinte, ja, ich bin ja noch ſchwach 
zuweilen, aber endlich triumphire ich doc). 

Alles, was die Seele auf fich jelbjt bejchränft, fie einengt, jie 
ſtumm, blind, taub für alles außer Gott macht, vereinigt ic bier. 
Und doc) auch jelbit zu Füßen des Kreuzes fallen mich die Anfech- 
tungen an und dann denfe ich an unjer Häuschen, an die freien 
Fluren, jenes Hüttchen, das ‘Feuer, an welchem die Berwalterin die 
Abendjuppe. fochte und ich frage mich, ob jene arme Bäuerin, wenn 
jie ihr Kind auf den Knien wiegt, ohne meine Verſuchungen, ohne 
meine Zweifel, ohne meine — zu kennen, Gott nicht näher ſei 
rn id), die ich durch taufendfache Martern meinen rebellischen Geiſt 
abtödte. 

Wie oft zogen jene Berge, Wälder, jener lachende Himmel an 
meinen inneren Augen vorüber! Wie oft ſagte ich mir nicht: Jetzt 
ſitzen ſie beiſammen unter dem Kaſtanienſchatten, jetzt wandeln ſie auf 
dem Fußpfad das Thal entlang; jetzt bellt Vigilante, die Vögel zwit— 
ſchern auf dem Dache. Und wenn ich mich aus dieſen Träumen 
emporraffte, war mein Antlitz in Thränen gebadet. 

Und dann noch ein anderer Gedanke, ein anderes Traumgeſicht 
— er — immer er — fteht da vor meinen Augen. Am Fuße des 
Kreuzes, inmitten der Menge, welche in der Kirche die Mejje hört, am 
Kopfende meines Bettes, hinter jenem Vorhang, überall lauert fie — 
die Verſuchung, die mic) an den Haaren reißt, die mir das Gebet 
unterbricht, mich weinen, mich rajen macht. 

Manchmal glaubte ich wahnfinnig zu werden und dankte Gott 
dafür, denn die Wahnfinnigen find nicht jtrafbar. Des Sonntags 
meinte ich ihm wieder unter den Leuten im an zu a — 
ich bekreuzte mid) und ſtürzte weinend, entſetzt zu Füßen meines Beicht— 
vaters nieder. Der gute Alte ſuchte mich zu tröſten und legte mir 
jene Bußübungen auf, welche den Schandfleck aus meinem Herzen 
tilgen jollen, doc, bei mir wirkungslos bleiben, weil ich eine allzu 
große Sünderin bin. 

Aber er hätte doc) wenigjtens einmal in die Kirche fommen kön— 
nen, um die Mejje zu hören — ohne auch nur die Augen zum Chore 
emporzuheben — nur damit ich ihn ſähe — er weiß ja, daß ich hier 
bin — und hat nie gejucht mich zu jehen. 

Mein Gott! Mein Gott! Bergieb, Marianne! Sieh, wie jündig 
id) bin! Wie elend ich bin! Der Dämon erfaßt mich, wenn id) es 


Der Salen 1887. Heft VIIL Band II. 12 


170 Gefchichte einer Grasmũcke. 


am wenigjten erwarte. Wie oft, während ich den Herrn anflehte, die— 
ſes Kreuz von mir zu nehmen, habe ich nicht die Augen hinunter nach 
dem Kirchenfchiff gerichtet, um zu arg ob er nicht da fei, ihn zu 
fuchen unter dem Gedränge Und das Gebet ijt auf meinen Lippen 
erftorben. Mein Gedanke iſt an ihm haften geblieben, flatterte, 
träumte, irrte durch die Felder, laujchte jenem Schritt, jenem leijen 
Klopfen am Fenſter, blidte nach) den Sternen, faßte jene Hand, jtrei- 
chelte den Kopf der Brade und hörte ein Flüjtern: Maria! als töne 
e3 vom Himmel, 

O Gott, ih bin ſchwach, bin gebrochen. Doc) ich kämpfe noch, 
wehre mich noch. Es iſt nicht meine Schuld. Dieje Macht iſt jtärker 
als ich, ala mein Wille, als meine Neue, als mein Glaube! 

Du u mir, daß Du glüdlich, daß Du zufrieden auch außer- 
halb des Kloſters bift. Danke Gott, Marianne, daß er Dir Deine 
Eltern, Deine Mutter erhielt, daß er Dich nicht arm geboren werden 
ließ, daß er Dir diefen Stachel nicht ins Herz gebohrt, daß er Did 
nicht ſchwach, nervös, krank hat werden laſſen Erit wenn dieje Hülle 
fi) auflöft, werde ich nicht mehr leiden. Daher möchte ich mich von 
der Erde trennen, die mich jo mächtig gefejjelt hält und hebe Augen 
und Hände flehentlich zum Himmel. 

est da ich zu meiner guten Filomena zurüdgefehrt bin, die 
Mitleid mit meinen Leiden hat und mir den Troſt verichafft, Dir 
jchreiben zu können, werde ich Dir noch mehrmals jchreiben, ehe ich 
mein Gelübde ablege. Du kommſt zu der De nicht wahr? 

Ich möchte von allen, die mir — ind, Abſchied nehmen, Ab— 
ſchied durch jene Gitterfenſter, jene Weihrauchwolken und Orgelklänge. 
Ich möchte, daß alle befreundeten Geſichter mich tröſteten bei jenem 
ſchweren Schritt, denn mein Herz iſt verzagt; ich muß meine armen 
Augen in die Deinen und in die meines armen Vaters, meiner Schwe— 
ſter, Gigis, Annettas und — ach in Eure Blicke ſenken können, um 
den Schnitt der Scheere in meinen Haaren ertragen zu können. 

Ich fürchte mich — ich fürchte mich, Marianne! Sen fürchte mich 
vor jener Schere, fürchte jenen Augenblid. Ich fürchte mid) vor Ihm! 
Wenn er an jenem * in die Kirche käme! Gott! Nein, nein! Ich 
bin ſchwach! Gott, habe Erbarmen! 

u wirſt mit meinem Vater, Giuditta, Gigi, meiner Mutter, 
Annetta und deren Eltern kommen. Mein Gott, Dein Wille geſchehe! 


23. Februar. 

Meine Marianne! Meine Schweiter! Ich hoffte gegen den 
— gefeſtet zu ſein, aber dieſes neue Weh, welches id erfahren 
habe, zerreißt, vernichtet, tüdtet mich! Elender, jammervoller bin ich, 
als zuvor. Mein Gott! Auch das noch! Auch das noch! 

Was habe ich erfahren, Marianne! Was habe ic) erfahren! = 
e3 denkbar? Seit zwei zum war ich jehr krank. Jetzt bin ich auf- 
geitanden, um Dir zu jchreiben, mit Dir zu weinen. 

Was ift da furchtbares in mir, was ich ftöhnen höre, leiden 
fühle und was mir die Macht nimmt, mich aus diefem Erdenelend auf 
zu Gott zu ſchwingen? Doch man hätte mir diejes eine Doch verjchweigen 


Geſchichte einer Grasmũcke. 171 


können! Sie ſind ohne Erbarmen! Nein, ich nur bin ſchwach, bin 
ſündhaft! Gott ſtraft mich! 

Signor Nino wird meine Schweſter heiraten. Sie ſind gekommen, 
mir die frohe Nachricht zu bringen. Es iſt eine gute Heirat; beide 
ind reich. Giuditta ijt zufrieden, ift glüdlich. Ich habe nicht den 

uth gehabt, fie zu bitten, mir die übliche Brautvifite zu erfparen — 
daher werde ich auch ihn jehen. Doch ich fühle, daß ich dieſes neue 
Opfer zu bringen nicht die Kraft habe. Es wird mich tödten. 

Und er? Er! Wird er fie haben? Aber ich werde Gott fo Lange 
bitten, für mich und für ihn — werde mid) fo lange geiheln, jo lange 
weinen, bis Gott ung beiden die Kraft verleihen wird, diefe graufame 
Prüfung zu erdulden. 

Meine Bruft jchmerzt vom Weinen, mein Kopf fchwindelt; ich 
möchte ſchlafen. Ach, möchte doch der Herr mir dieſen großen Schmerz 
erſparen! 

Doch des Herrn Wille geſchehe! 


28. Februar. Mitternacht. 
Gott ſei gelobt! Auch dieſe Prüfung iſt überſtanden! Ich 
— ſterben zu müſſen. Doch es iſt vorüber. Nun iſt alles zu 


Sie hatten ſich anmelden laſſen und wir erwarteten fie; die ung 
verwandten Nonnen, die Mutter Webtijjin, die Oberin der Novizen 
und ich; alle hatten wir uns in dem großen, vor dem Sprachzimmer 
— Saal verſammelt. Ich — meinen Platz zwiſchen der 

utter Aebtiſſin und der Mutter Oberin. Sie kamen pünktlich zur 
beftimmten Stunde. Ic vernahm den Wagen, der am NKlofterthore 
hielt, ich hörte, wie ihre Schritte die Treppe heraufflangen und fich 
näherten, wie fie ftillftanden am Sprachgitter. Wanfend verjuchte ich 
mich zu erheben — noch jah ich nichts — ich hörte die Glode, Die 
mi ed Die Oberin Te den Vorhang, ic) hielt mid) daran * 
und ließ mich auf die Holzbank vor dem Gitter nieder ſinken. Da 
blickte ich hinaus in eine von ſchwarzen Eiſenſtäben durchkreuzte, ver— 
ſchwommene Maſſe von Geſichtern, ſie konnten mich nicht ich 
war im Dunkeln; ich hörte das Summen ihrer Stimmen, allmählich 
unterſchied ich die Stimme meiner Stiefmutter, dann die meines Va— 
ters. Giuditta ſprach nicht, auch er ſchwieg. Meine Schweſter trug 
ein Kleid und ein Hütchen von Roſenfarbe. Sie ſchien glücklich zu 
jen Er jaß neben ihr, hatte den Hut in der Hand und glättete 
hn mit dem Handſchuh. Ich weinte nicht. Mir war als träume ich, 
ih war verwundert, nicht mehr zu leiden. Bald jtanden ſie auf. 
Bapa jagte mir Adieu, die Mama lächelte, Giuditta bat mich um einen 
Ru Gigi um Zuderwerf, er verneigte ſich vor mir. Ich ſah fie ſich 
entfernen, er an Giudittas Seite, an der Thür reichte er ihr den Arm; 
die Thüre jchlug zu, die Schritte verflangen ferner und ferner, dann 
gone ic nicht3 mehr. Schweigen. Der Wagen rollte davon. Nichts! 

ichts! Ich bin allein! Allein! 


12* 


172 Gefchichte einer Grasmüce, 


10. März. 
In einem Monat werde ich den Schleier nehmen. Sie machen 
ſchon die Vorbereitungen zum Feſte. Alle überjchütten mich mit Zärt- 
lichkeiten. Es vergeht fein Tag, an weldem Papa und Mama mich 
nicht bejuchen. Site wollen jenes Ereigniß feſtlich — Man wird 
Muſik, Feuerwerk veranſtalten, Gäſte einladen. ein Vater ſcheint 
lücklich zu fein, daß auch ich mich „verjorge“, wie er es nennt. Much 
Bei Giuditta ift mehremal — Wenn Du ſehen könnteſt, 
wie das Glück ſie verſchönt! Gott —— ſie! 
Auch Du biſt verlobt, meine Marianne! Du ſchreibſt mir, daß 
Du glücklich biſt. Magſt Du es ſein! Doch vergiß im Glück Deiner 
armen Freundin Rx ie mehr denn je Deiner Liebe bedarf. Dann 
und wann, wenn Deine Zeit es erlaubt, komm mic) au befuchen. 
Wenn Du wühteft, wie ich während der jeltenen Augenblide, da ich 
die, welche mich Lieben, jehen darf, glüdlich bin! Wiſſe, daß es eine 
That der Barmherzigkeit ift, die armen Eingeferferten zu bejuchen! 
Du, die Du Braut, Du, die Du glüdlich bift, jage mir, welcher 
Art jene Freude, jene Wonne, jene Seligfeit ijt, welche meine Schwe— 
Ir empfindet; jage mir, was fie in ihrem Herzen fühlt, wenn fie jich 
o ohne Skrupel, ohne Reue, ohne Furcht, gejegnet, gefeiert, von allen 
beglüdwünjcht, Seite an Seite mit dem Geltebtejten, ſieht; ſage mir, 
wie das Glüd beichaffen ijt, welches ein liebendes Herz bei dem Ge— 
danken erfüllt, daß es fein eigen fein, ihm angehören, ihn, jeden Tag, 
jede Stunde jehen, ihn veden hören, jich auf A Arm ftügen, ihm 
eden Gedanken ins Ohr flüftern darf, jeinen Namen führen, einft 
eine Kinder auf jeinem oße wiegen und ihnen lehren wird, ihn 
zu lieben, den lieben Gott für ihn zu bitten. Ach, und zu denken, 
daß alles eine einzige Seligfeit, eine Seligfeit fein wird ohne Ende! 
Wie gut ift Gott, daß er jo viel Glück gejchaffen hat! 
ch habe erfahren, daß die Trauung Sonntag ftattfinden wird. 
Gott jegne jie! 


Sonntag, 9. März Mitternacht. 

Marianne, ich jchreibe Dir aus meiner Zelle, des Nachts, voll 
Furcht, daß mein Licht durch den Vorhang entdedt werde, daß man 
mir aud) a Mer legten Troſt, Dir meine Seele auszujchütten, rau- 
ben fönne. lch ein u iſt diefer für mich gewejen! Höre ich 
denn niemals auf zu leiden 

Ich bin allein, — vor Froſt. Alles —— um mich her; 
man hört den ag ichlag der Uhr wie einen durch die weiten Kor⸗ 
ridote wandelnden Gejpenjterjchritt. Ich habe während des ganzen 
Tages im Chore gebetet, vor Gottes Angeficht geweint. Jet bin ich 
matt, müde, ich bin gebrochen, aber doc) ge — Es iſt Sonntag! 
Verſtehſt Du, begreift Du alles, was in diefen Worten liegt? Ich 
jage nichts mehr, e8 iſt heute gejchehen! 

Man hat mir Erfrijchungen von der Feſttafel gebracht! Denfe! 

Sie denken nicht einmal daran, daß ich Frank bin und daß fie 
mir jchaden könnten. 

Wie hätten fie daran denken können? 


Gefchichte einer Grasmücke. 173 


Sie find alle jo fröhlich; es iſt ein Freudentag. Mein ift die 
Schuld, da ich ein armes, franfes, mißmuthiges Gejchöpf bin. Weld) 
ein Feſt wird das gewejen jein! 

Die ganze vorige Nacht ſchon habe ich nicht fchlafen können. 
Auch jie werden das Morgengrauen dieſes Tages herangewacht, mit 
offenen Augen von all diejfen Blumen, diejen zeitgewändern, diefen 

äſten, ri lachenden Gejichtern geträumt haben. 

Auch ich habe all diefe Dinge a erträumt. Sch habe 
Giuditta in all ihrer Schöne im weißen Brautkleid, in ihrem wallen- 
den Brautjchleier unter dem Orangendiadem erblidt. 

Und ihn — ihn, da er ihr die Hand reichte, J 
er ſie, von Freunden, von Verwandten, von lieben Menſchen umringt, 
in die Kirche führte, ihn auch habe ich geſehen. Der Altar ftrahlte 
ganz im Kerzenglanz, die Orgel ertönte — dann fnieten fie nieder 
und riefen Gott zum Zeugen ihres Glüdes an. Gott, der barmherzi 
it, wird ihn haben jenen Abend vergejjen lajfen, da er meine Han 
ergriff, mir jene Worte zuflüjterte, vergeffen laſſen das Leuchten jener 
Sterne und jener Wetternacht, al3 er gekommen, mir Lebewohl zu 
jagen; jein Klopfen an meinem Fenſter und den Hujten, der mich 
überfiel. Auch ich habe vergejjen — — ich möchte vergejjen! 

Alles ijt zu Ende! Mein Gott! Alles ift zu Ende! 

Du fiehft, daß ich gefaßt bin, Marianne, bob Gott jich meiner 
erbarmt hat. Morgen beginne ich damit, mich auf den großen Schritt 
durch geiſtige Uebungen vorzubereiten. Ich werde Dir nicht jchreiben; 
werde niemanden ** ſehen, auch meinen Vater nicht. 3 iſt der 
Todestampf. RR 

Jene zwei Herzen, werden jie wohl inmitten der —— 
ihres Glücksrauſches — Augenblicke an jene Aermſte gedacht haben, 
die hier einſam und verlaſſen —*8* 

Du wirſt bei der Ceremonie anweſend ſein? Sie findet Sonn- 
tag, den 6. April ſtatt. Es iſt ein zweiter Sonntag, der eine Feſt— 
feier bringt. Nur daß dieſe zweite eine Trauerfeier if. Alfo Du 
fommjt doch? Ich erwarte Dich! Addio! Erjcheint Dir dieſes Addio 
nicht recht, recht traurig? 


ulächelte, da 


Sonnabend, 5. April. 

Ich jchreibe Dir eiligjt noch eine Zeile, um Dich zu erinnern, 
daß ich Did) erwarte, daß ich Deiner bedarf, Euer aller bedarf, daß 
ih Kraft und Muth nöthig habe. 

Sie haben mir Schleier, Blumen, ein neues Kleid gebracht; es iſt 
ein jchönes Brautkleid. Man macht die legten Vorbereitungen. Mor— 
gen wird es gejchehen jein. Säheſt Du Ddieje ungewöhnliche Auf- 
regung, diejen umult, diefen Jubel! Es wird ein gen ür alle dieje 
armen Eingejchlofjenen geben. Diejes ungeheure Grab belebt ſich, 
jobald es ſich öffnet, um ein neues Opfer zu verjchlingen. 

Es ijt ein jchöner Apriltag heute. Das ter war bisher 
fchlecht, doch eben }trahlt eine herrliche Sonne herab. Ich war auf 
dem Belvedere, um ein letztes Mal Lebenzluft & trinfen. 

Was jah ich nicht da unten, Marianne! Die Felder, das Meer, 


174 Geſchichte einer Grasmücke. 


die unendliche Häuſermaſſe, weit im Hintergrunde den Aetna. Doc) 
al diefe Dinge jehen jo — aus. 

Ich wollte ſo gern zum letzten Male den Monte Ilice, unſer 
Häuschen, den Kaftanienwald ſehen. Ich kann es nicht finden; werde 
e3 nie, nie mehr eg Mein Herz frampft ſich zuſammen! 
Von der Straße nad) dem Klofterdach tieg ein verworrenes Geräuſch 
von rollenden Wagenrädern, von Stimmen, von Leuten, welche arbei= 
ten, fommen und gehen. Alle diefe Leute haben Gejchäfte, haben 
Freuden, Schmerzen, jie gehen, arbeiten und leben. — — Wie weit 
diefe Vögel Hinausfliegen! Zwiſchen mir und all diefen Lebensregun- 
en, we % ic) da erblide, wird fic von Morgen an, in wenigen 
tunden ſchon, eine umüberfteigliche Mauer aufrichten, wird (ih ein 
Re aufthun, ein Wort, ein Schwur Br erheben. Wie joll i 
diefe Nacht hinbringen? Hätte ich Dich doch wenigſtens bei mir! J 
fürchte mic), o Gott! 

Mein Gott, gieb mir Kraft! Stehe mir bei! 


—— 7. April. 
Meine Schweſter! Haſt Du je Todte aus ihren Gräbern ſpre— 
chen gehört? 
bin todt! Deine arme Maria iſt todt! Sie haben mich auf 
die Bahre ausgeſtreckt, haben mich mit dem Leichentuche bedeckt, haben 
das Requiem geſprochen, die Sterbeglocke geläutet. Es ſcheint mir, 
ß etwas von dem Leichenbegängniß auf meiner Bruſt zurückgeblieben 
iſt, daß auf meinen Gliedern nod) die Eritarrung des Todes liegt. 
Zwiſchen mir und der Welt, der Natur, dem Leben hat ſich ein Etwas 
aufgerichtet, was fälter ijt al3 der Marmor, jchwerer als ein Grab- 
ftein, fchweigjamer als das Grab. 

Es ijt ein Schaufpiel zum Entjegen. Der Tod inmitten der 
Lebensluſt, inmitten des Aufruhr der Leidenjchaften; der Körper, 
welcher die Seele jterben fieht, die Materie, welche die Seele überlebt! 

ch öffne die Augen wie in Betäubung. Ich jtarre hinaus in 

die Unermeplichfeit aus diefem Dunkel, dieſem Schweigen, diejer unbe— 

weglichen Ruhe. Alles it ın unberechenbare Entfernung gerüdt. Dich 

ehe ich wie im Traume, jenjeit der Grenzen der Wirklichkeit. Biſt 

u es, die ji) im weiten Raum verlor, oder bin ich es, die ſich ing 
Nichts aufgelöſt? 

Ich bin noch vom Schred gelähmt. Es jcheint mir, daß ich in 
einem — Grabe liege, doch nur im Traume, daß es nicht 
für immer ſein kann, daß ich erwachen müſſe. Ich habe einem feier— 
lichen Hai de beigewohnt, doch es dünkt mich, es habe nicht 
um meinetwillen jtattgefunden; ich meine, daß ich wie alle die anderen 
einem Leichenbegängniß beigewohnt, Zujchauer geweſen bin bei einer 
— religiöſen Ceremonie, doch daß ic. wenn te Mufif 
ſchweigen, wenn dieje Glode nicht mehr tönen wird, wenn dieje Kerzen 
erlöjchen, wenn dieſe Priejter in der Sakriſtei verjchwinden, wenn alle 
diefe Leute jich erheben werden, um fortzugehen, daß auch) ic) dann 
mit ihnen gehen darf, nicht hierbleiben muß, hier, allein, wo ich mic) 
fürdte. Handelte es ie: bei all diefen grauenhaften Vorberei— 
tungen, welche mir das Herz jchaudern machten, um mid? War id) 


Geſchichte einer Grasmürke, 175 


Weihrauch, u buntes Gewimmel, brennende Fadeln und hörte 


meine Zähne aneinander jchlugen. Sch ke an das jchöne —— 
ndlung, bei we auch 


fühlte ich, wie das Knirſchen des eiſigen Gegenſtandes an meinem 

es — Hang der Orgel, das Schlud)- 
zen meines Vaters übertönte. Das Haar fiel um mid) her nad) allen 
Seiten hin in Locken, in langen Strähnen und die Thränen — 
aus meinen Augen. Da ſpielte die Orgel Ai leije und die Glode 
ei zu weinen. Sie jtredten mid) * die 


mich; ſahen mich an, blaß, unbewegt, wie Geſpenſter, pſalmodierend, 
deln in den Händen haltend. Der Vorhang ſchloß ſich aufs neue. 
tan vernahm aus der Kirche das Geräusch der ich entfernenden Zu- 

ſchauer. Alle verließen fie mich. Auch mein Vater. Die Gejpenjter 

umarmten mic), füßten mich, mit eisfalten Lippen und lautlos. 

Alles das bedeutete, daß ich geitorben war. Und wie fonnte dies 
allein hinreichen, alle jene Liebesfülle, die mir im Buſen fochte, in 
Schlaf zu bringen? Zu erjtiden? Dieje Geremonie, gi Lichter, 
bie Bahre, diefe Scheere, wie könnten alle diefe Dinge die Macht 
befigen, meine u leer, meine Sinne fühllos zu machen? Mic) 
(ebendig ing Grab jteigen zu lafjen? Mic) entjagen zu lafjen allen 
Gütern des Lebens, der Quft, dem Licht, der Freiheit, der Liebe? 

Da ift fie wieder, die Sünde! Noch, immer noch! Aber aud) 
fie wird fterben! Da, an der Stelle, wo das Herz war, ift nichts 


176 Geſchichte einer Grasmüdke. 


mehr. Es find nur die legten Zudungen des Lebens, das Ringen 
der Seele, die nicht fterben will. Ich denke, ftöhne, ängitige mich, 
leide noch, doch nur für kurze Zeit. Ich habe während der ganzen 
Naht fein Auge geſchloſſen, ohne zu träumen, ohne auch nur denken 
u können. Was ift mit mir gejchehen? Was? So frage id) mich 
* voll Entſetzen. Während der ganzen Nacht, da, über jenem 
Vorhang ſtand immer unbeweglich — jenes Geſicht — ſein Geſicht. 
Es * mid an, ſtumm, blaß; mit weitoffnen Augen, während die 
Scheere unaufhörlich in meinen Haaren fnirjchte. Ich habe die Kraft 
en verloren. Das Nichts Hat mich verjchlungen. Ich joll 
bejjer jein: 

Nein! Das ift nicht wahr! Diejes fremde Geheimniß, welches 
fid) an mir begeben, hat mich Gott nicht näher gebracht. Er hat mic) 
ind Dunkel, in die Leere hinausgejchleudert; es hat mich vernichtet. 
— nicht, was da noch in mir lebt. Es iſt eine ſchauerliche 

tille. 


15. Mai. 
Ich ſchreibe Dir im Bette. Ich bin recht krank. Wenn Du 
mich ſäheſt, liebſte Marianne, wie das Fieber mich abgezehrt hat! 
Wenn id) meine armen, blaſſen, zitternden Hände betrachte, jcheint es 
mir, daß ich das Blut in den Adern fliegen jehe, jo fleiichlos find fie. 
Und ein Brennen, ein Glühen hier in der Bruft! 
Heute fühle ich mich ein wenig bejjer und habe die Kraft, Dir 
zu jchreiben. Sch möchte mit Dir — und jener ſchönen Tage 
edenken, die ſo voller Leben und Luſt waren; * alles, was mich 
jier umgiebt, iſt jo traurig, daß mein Herz nicht fähig iſt zu lächeln, 
auch wenn ich die Augen jchliege und an Vergangenes gedenfe. Ic) 
habe ſchwer gelitten, doch der Herr hat mich nicht verlafjen. Sie haben 
mich in den Kranfenfaal gejchafft und dies war ein großer Schmerz 
für mid. Denn in der Zelle umgaben mid) eine Menge Erinnerungen, 
welche, wenn jchon trauriger Art, mir doc) lieb waren; doch hier er- 
jcheint mir alles jchauerlih, als ob eine jede Kranke hier das Ge— 
ſpenſt ihres Leidens zurücgelajjen hätte. Wer weiß, wie viele Nonnen 
hier jchon gejtorben find! Vielleicht jogar in diefem meinem Bette! 
Und wenn während der langen, jchlaflojen Nächte, während welchen 
das Fieber in mir tobt, dieje Gedanken mir kommen, jo erfüllt mich 
ein unbejiegbares Grauen und ich jehe die Schattengejtalten in Den 
langen jchwarzen, jchleppenden Schleiern ji) an den Wänden entlang 
jchleichen und das matte Licht der Lampe erzittern machen. Und von 
Furcht gejchüttelt, verberge ich den Kopf unter den Bettüchern. Ich 
weine von früh bis abends, an den lieben Aufenthalt auf Monte 
Ilice gedenkend, dort wo jeder Stein des Haufes mich fannte und mir 
— dort, wo ich die Meinen bei mir hatte, in jenem ſchönen 
onnenſchein, jener Luft der Freiheit. Und wenn mein Herz mehr 
denn je der Liebe und des Troſtes bedarf, erblicke ich nichts um mich 
* als die Geſichter der Krankenwärterinnen mit ihren durch den 
teten Anblick des Leidens unbeweglich gewordenen Zügen. Selbſt der 
ag der ſich durchs Senfter Stiehle iſt blaß, farblos, kränklich. 
Der Lenz iſt lachend über die Erde dahingezogen, ohne mir auch nur 


Geſchichte einer Grasmücke. 177 


einen Schimmer feines Feſtglanzes in diejen Winkel der Schmerzen, 
des Leides, des Elendes zu Tenben. 

Gejtern Fam ein ganz weißer Schmetterling und jete be auf 
eine Fenſterſcheibe. Du, Geſegnete des Herrn, die Du die Sonne ſiehſt, 
die Luft der ‚zreiheit in vollen Zügen athmeit, Du kannſt Dir feine 
Idee von dem zärtlichen Gefühl machen, welchen der Anblid eines 
Schmetterlings, der Duft einer Blume in der Seele einer armen 
Kranken hervorzurufen vermag. Es jchien mir, ala ob das ganze hold- 
jelige Gefolge des Lenzes, der Dufthauch der Blüten, das Grün der 
Wiejen, der Morgengejang der Lerche diejen Falter umfchwebe und 
———— ſei, die — ——— Stätte ſo vieler Elender zu erhellen. 

ch! Nachdem ſich der Schmetterling ein Weilchen auf dem blaſſen 
Zweig, der einer Steinritze am Fenſter entſproſſen, gewiegt, erhob er 
ſich flügelſchlagend und verlor ſich im Blau der Lüfte, er war ja frei, 
—— und hatte wohl all dieſe blaſſen Geſichter, all dieſe Thränen 
erblidt. 

In zwei oder drei Tagen hoffe ich auf einige Stunden das Bett 
verlajjen zu können. Ich werde alle meine Kraft aufbieten, damit man 
mir erlaubt, in meine Zelle zurüdfehren zu dürfen, damit ich von die- 
ſem Aufenthalte erlöjt werde. 

weiß, wenn ich Dich wiederjehen kann? Ich fühle mich jo 
ſchwach, daß es mich oft bedünfen will, ala fünne ic) mich nie mehr 
von dieſem —* erheben. 

Ich habe Dir in mehreren Abſätzen geſchrieben und doch machſt 
Du Dir keinen Begriff, wie mich * Schreiben angegriffen hat. 
Dennocd hat es mir einen großen Trojt gewährt, den einzigen Troft, 
der mir geblieben ijt. Ic vermag diejes Ausiprechen gegen Dich nicht 
mehr zu entbehren, denn während ich jchreibe, denke # nicht daran, 
wie ich leide, daß ich hier bin — nicht an andere jchlimme Dinge. 
doch nun ijt meine Kraft erichöpft. Ich habe Dir einen langen Brief 
geichrieben, nicht wahr? Sehr lang für eine arme Kranke. E3 wird 
Dir Mühe kojten, ihn zu entziffern, denn meine Hand zittert. Doc) 
Du wirjt errathen, was ich gejchrieben und was ich nicht gejchrie- 
- ben habe. 

Sch muß Gott auch für dieje Krankheit danken. Ich bin wie be- 
täubt, wie jchlaftrunfen, wie träumend, begreife noch nicht recht, was 
aus mir geworden ift. Wenn ich erwache, ho wird mir Gott die Kraft 
verleihen — Addio! 

27. Mai. 

So habt Ihr mich alſo alle verlaſſen? Marianne, auch Du! 
Auch mein Vater! Ich bin hier, ganz allein, um in dieſem öden 
Saale, ohne einen Sonnenſtrahl, ohne ein liebes Angeſicht, ſo uner— 
hört zu leiden! Ich befinde mich in einem Zuſtand, der Steinen Er— 
barmen einflößen könnte. Ich muß ſterben, meine Marianne! Deine 
arme rege jtirbt und fie fieht Dich nicht mehr, fie jieht auch 
ihren Vater nicht mehr! 

Ic hoffte auf Beſſerung; hoffte dieſen furchtbaren Leidensort ver- 
lafjen zu können. Ich bin kränker geworden und niemand verhehlt 
mir mehr die Gefahr meines Zuſtandes. 


178 Geſchichte einer Grasmücke, 


Wenn ich fterben muß! Hier! Allein! — Die Nacht! Wie fie 
grauenhaft ift, die Nacht, Marianne! Dieje langen Stunden, die nie 
enden wollen! Dieſes zitternde Lämpchen! Diejes Krug, dieje 
ichattenhaften Bilder, Diele halberſtickten Tel dieſes Schnarchen 
der im Lehnſtuhl — Wärterinnen! Ich brenne vor Durſt und 
wage nicht die Schweſtern zu wecken, welche ſchelten, die Armen, wenn 
kr geftört werden. Während der legten Nacht verjuchte ich es, mic) 

i8 zu dem Tiichchen zu jchleppen, wo das Waſſer jteht, weil der 
Durjt mir die Eingeweide zu verbrennen jchien und ich vor Durft 
wahnfinnig zu werden — — kaum hatte ich mich vom Bett 
erhoben, fiel ich ohnmächtig zu Boden und 5 mir eine tiefe 
— in den Kopf. Sie haben mid) in einer Blutlache liegend 
efunden. 

: Der Tag kommt farblos, lichtlos, ohne Glanz, ohne Lächeln. Die 
Nacht vertreibt ihn, von Grauen und Schredbildern erfüllt. Ich denke 
an meinen Vater, an die meinen, an all das, was meine jchredlichen 
Leiden mildern fünnte und ich weine, weine, und meine Bruft 
—— Mein Gott! Wenn ich ſtürbe! Hier ſtürbe, ohne meinen 

ter wiederzuſehen! 

Es muß ein ſehr, ſehr ſchlimmer Augenblick ſein, Marianne! Ich 
zittere bei dem Gedanken, dann zu ſein ne jemand, der mich tröftet. 
Wenn id) nur meinen Vater jehen könnte! Erſcheint e8 Dir nicht 
barbariſch, uns unfere Theuerjten nicht einmal in dieſem feierlichen 
Moment jehen zu laſſen? Mein einziger Troſt ift der, Dir zu fchrei- 
ben. Aber wenn id auch nicht zu —— vermag? Wenn mein 
Vater auch nur den hundertſten Theil von dem wüßte, was ich leide! 

Was koſtet es mich für Mühe, Dir zu ſchreiben! Während der 
wenigen Augenblicke, wenn ich mich ein wenig kräftiger fühle, raffe ich 
mich auf, um zwei oder drei Zeilen zu ſchreiben. Dies ſcheint mich 
ans Leben zu feſſeln und ich verſichere Dir, daß ich mich verzweifelt 
daran klammere. Doch bebt meine Hand ſo ſehr, daß ich ſelbſt meine 
Schrift nicht zu leſen vermag. Filomeng, dieje barmberzige Seele, 
fommt jeden Morgen, um mir Eure Grüße zu bringen. Gott Iegne 
die Gute für den Troſt, den jie der armen Kranken gewährt. 
kannst nicht begreifen, was für meine verlaffene Seele aud) das — 
Liebeszeichen bedeutet. Ich bedarf ſo ſehr des Geliebtſeins; ich liebe, 
liebe, bis mein Leben erliſcht. 


3. Juni. 
D Marianne! Morgen wird man mir das Viatikum reichen! 
Aljo ijt mein Duo jehr hoffnungslos, 
Köcher doch bin ich nicht bereit zu jterben. Mein Gott, Dein Wille 
geſchehe! 
Außerhalb dieſes Fenſters ſcheint noch die Sonne, hört man das 
Geräuſch vieler Leute, welche kommen und gehen, welche leben. Ein 
Sonnenſtrahl dringt durch die Scheiben und fällt auf mein Bett. 
Wie viel iſt doch in einem Sonnenſtrahl enthalten! All das, 
was er ſieht und in dieſem Augenblick beleuchtet; ſo viel Freude, ſo 
viel Schmerz, jo viel Menſchen, die ſich lieben — und ihn! 


Geſchichte einer Grasmücke. 179 


Auf dem Firſt iſt ein Schwalbenneft — aud ihnen leuchtet die 
Sonne. 

Mein Gott! 

Aber wie kann ich denn fterben, ohne meinen Water noch einmal 
zu ſehen! Ich darf ihn nicht ne jehen! Ich bin ja gefakt * 
Sterben, aber laßt mich meinen Vater zum letzten Mal Sehen! 
weiß e3 ja nicht, daß ich jterbe, der arme Papa! Warum benachrich- 
ten fie ihn denn nicht? Warum riefen fie ihn nicht? Wie wird er 
weinen! — Sterben! Sterben jo jung! Noch bin ich nicht einund- 
zwangig Jahre alt! 

eg he ic? Stürbe ich doch ſt echt ſchnell! D 

nn ſterbe i türbe ich doch wenigſtens recht ſchnell! Die⸗ 

jer Todesfampf der Seele ijt jchredlich! 


4. Juni. 

Sch Habe gebeichte. Welches Entſetzen! Welches Entjeßen, 
Marianne! AU dieſe Veranjtaltungen redeten zu mir von einem an- 
deren Leben und ich dachte noch an — ihn! Und ich Hatte a. 
nen Namen auf den Lippen, während die Schweitern um mein Lager 
her fnieten und die Litanei ſprachen. 

Welch bag rer Geremonie! Diefe Kerzen, diefe Glode, diejer 
Baldachin, die Sterbegebete! 

Addio, ihr alle, die ic) liebe; mein Vater, Marianne, meine Schwe- 
iter, ne und Du! — — 

D Marianne, ſage es ihm, daß ich feiner gedacht auch in dieſem 
Augenblid! 


7. Juni. 

D Marianne! Marianne! 

Danfe Gott mit mir; ich lebe noch. Ich bin nicht geftorben! 
Werde vielleicht am Leben bleiben! 

(ff Gott wird barmherzig jein und mich meine Geliebten wiederjehen 
afjen! 

Sie haben mir gejagt, daß auch jogar dieſe Sehnjucht eine Sünde 
jei und. daß ich) mich dem eg Willen zu fügen habe. Ich flehe 
um Deine Verzeihung, o Herr! Aber das Herz iſt ſchwach und krank! 

10. Juni. 

D, Gott it a6: Ich werde nicht jterben! Der Arzt 
jagt, ich befinde mich bejjer. Ich werde leben! Marianne! Gott läßt 
mich leben! Ich bin fo Schwach. Ich bete — ich danke dem Herrn. 
Und wenn ic) diejen Sonnenjtrahl jehe, der dort auf der Fenſter— 
ſcheibe jchimmert, jo weine ich, vor Rührung und das Weinen thut 
«mir wohl. D Marianne! Meine Marianne! 


| 13. Juni. 
Welch ein Feſt wird es fein, wenn ich den theuren alten Mann 
und alle Lieben wiederfehen werde! Welche Thränen! Welches Glüd! 
Sie verbieten mir, mich zu ermüden. Ich werde Dir nicht viel 


180 Geſchichte einer Grasmücke. 


jchreiben. Ich habe . gar nicht die Kraft dazu. Säheſt Du, wie 
abgezehrt Deine arme Marta ijt! 
ie jagen, ich foll ruhig jein. Doch ich kann meinen Gedanken 

nicht verbieten umberzufliegen, an alle jene Dinge zu denken, welche 
mich vor Freude weinen machen, fann es nicht hindern mich auf den 
Tag zu freuen, wenn ich ins rem hinabjteigen werde, um 
Euch alle zu jehen. Meine arme Seele iſt jo froh! 

gr wenn Ihr nicht kämet! Wenn Ihr mich aufs neue hier 
allein Tieget! Allein! — Mein Gott! Mein Gott! 


24. Junt. 

Gott jei gelobt! Ich habe endlich meinen Vater gejehen! Du 
weißt, wie jehr ich den Arzt und die Aebtiſſin bitten mußte, damit fie 
mir diefe Gnade bewilligten. Geſtern endlich erhielt ic) Erlaubniß, 
den Krankenſaal zu verlafjen. 

Das Wetter war jchön. Ich fühlte, wie meine arme franfe Bruft 
ſich ausdehnte im Athmen der belebenden Morgenluft. Filomena gab 
mir ihren Arm. Wir durdichritten den Garten, wo die Sonne hell 
auf die Blumen jchien. Sch Hatte jo jehr im diefem fait dunklen 
Raume gefroren! Das Laubwerk raufchte faum, da der Wind nicht 
über die jo hohen Mauern dringt, der Sand der Wege nirichte unter 
unjern Schritten und einige Schmetterlinge flatterten von Blume zu 
Blume Das alles war wohl recht wenig, aber Du weißt, was diejes 
Wenige für eine arme Nonne bedeutet! Dort drüben in einem Fen— 
jter des Schlafjaals ſchlug ein Kanarienvogel jo janft. Er ijt freilich 
in jenem Bauer eingejchloffen, der Arme! Und wenn er es verjtände, * 
wenn er wüßte, dab er vergeblich weint! Und dieſe unjcheinbaren 
Dinge, die für viele gewiß unbemerkt vorübergehen, bilden Schäge 
jüßer Empfindungen für jene, denen an Feld, Id, Leben nur die 
—— geblieben iſt und machen das Herz, wenn ſchon den Geiſt 
nicht, lächeln. 

Wenn man in dieſem zum Kloſter gehörenden Erdwinkel die 
Augen jchlöffe, jo könnte man vergejjen, wo man ſich befände und ſich 
der Vorftellung hingeben, man jet von freier — von Licht, Luft 
umgeben, man lebe in der Freiheit. Doch erblickt man dann die hohen 
Mauern, die vergitterten Fenſter — jo krampft ſich das Herz unwill— 
kürlich zuſammen. 

Sieh, ſo bin ich nun! Wenn ich denke, daß dieſer Winkel von 
einem Garten hier, ein Eckchen Himmel, ein Glas mit Blumen mir 
genügt hätte, mich alle Seligkeit der Welt koſten zu laſſen, wenn man 
mir die Freiheit nicht gezeigt und damit jenes verheerende Feuer der 
Sehnſucht in meinem Herzen nach jenen ie entzündet hätte, die 
ih außerhalb dieſer Kloftermauern befinden! Und wenn mir der 
Gedanke fommt, daß ich wieder frank, daß ich wieder in diefen Kran— 
fonjaal eingeſchloſſen, auch dieſes Gärtchens, diefer wenigen Blumen, 
auch diefer Sonne beraubt werden fünnte, welche nicht diejen armen 
Kranken zu jcheinen wagt, aus Furcht, dat ihre Strahlen traurig wer— 
den könnten! 

D Marianne, was empfand ich, als ich zu meinem angebeteten 
Vater eilte, der mich im Sprechſaal erwartete! Was ich empfand, ala 


Geſchichte einer Grasmücke. 181 


ſich meine zitternden ag an jenes Gitter Elammerten! ch wüßte 
Dir nicht einmal zu jagen, ob es Schmerz oder Freude war. Der 
theure alte Mann konnte fich der Thränen nicht erwehren, als er mid, 
jo blaß und abgemagert jah. Auch Gigi weinte, jelbit Giuditta — 
und ich, die ich ie — bin, die ich um nichts in Thränen zerfließe, 
ich brach in Schluchzen aus, welches mein Herz erleichterte. 

Ich hätte mich in ſeine Arme werfen mögen, aber da ſtand jenes 
harte, kalte Gitter zwiſchen uns, zwiſchen Vater und Tochter, die nahe 
daran geweſen waren, ſich nie mehr wiederzuſehen — und nie zuvor 

atte ich ſo ganz und tief empfunden, was haſſenswerthes in dieſer 
bſperrung liegt. 

Nachdem wir unſere Thränen — ließ ſich mein Vater die 
kleinſten Einzelheiten meiner Krankheit mittheilen. Er verſuchte zu 
lächeln, “ u tröften, und von Zeit zu det erſtickte Schluchzen jeine 
Stimme und die Thränen rannen, ohne daß er es gewahr wurde, in 
jeinen grauen Bart. Wie frampfte fi) mir das Herz zujammen! 
Und das hatte ein Feſt jein jollen! Giuditta jah jo Hof aus, fie 
weinte; auch fie weinte! ch mußte fie immer wieder anfehen, ald ob 
ich in ihrem Wejen etwas neues, undefinirbares entdeckte. Ich hätte 
(aut in ihren Armen weinen mögen und fühlte dabet, daß ihre Liebe 
mir weh that im Herzen; indem ich fie anjah, füllten Nic meine Augen 
mit Thränen, und durch dieje Thränen zeigte mir die Anfechtung ein 
todtblajjes Antlit an ihrer Seite. — — 

D Marianne, es iſt die Hinfälligfeit, die mir meiner langen 
Krankheit geblieben ift! Es find Hallucinationen, die der Dämon 
mir zeigt. 

Herr Gott, erbarme Dich meiner! — — 

Und als ich meine Geliebtejten wiederjah, auch während dieſer 
unausfprechlich geweihten Minuten, ftand eine Nonne, die mir zur 
Begleitung gegeben, fremd, gleichgiltig gegen dieje Freude, ie 
Schmerz, biete Thränen neben mir — haben denn nicht auch Die 
Thränen ihre Verſchämtheit? Meine Stiefmutter verbot mir endlic) 
das Weinen unter dem Vorwand, daß es mir jchade. Unter all diejen 
falten, harten, widrigen Dingen waren doch die Eijenjtäbe des Sprad)- 
gitterd das mindeſt Schredliche. 

Wie verfloffen doch mit ——— die zwei Stunden, — 
man mir geſtattet hatte im Sprechzimmer zu verweilen! Endlich muß— 
ten alle die theuren Perſonen, die ein Theil meines Selbſt ſind, mich 
verlaſſen. Ich folgte ihnen mit den Augen bis zur Thüre, doch als 
ſie die Schwelle überſchreiten wollten, ſchien es mir, als müſſe mein 
Herz in der Bruſt zerſpringen; ich rief den Papa mit lauter Stimme, 
außer mir, als ſolle ich ihn nie mehr wiederſehen; ich ſuchte nach einer 
Ausrede, ihn noch einige Minuten zurückzuhalten, wußte keine und 
brach in Thränen aus. Alle weinten und keiner ſprach ein Wort. 
Papa verſprach mir am nächſten Tage wiederzukommen und dieſes 
Dial ging er wirklich fort und das Geräuſch der ſich hinter ihm 
ſchließenden Thüre jchnitt mir ins . IH riß mit, frampfhafter 
Anjtrengung an dem eijernen Gitter und ftarrte auf die gejchlofjene 
Thüre. Was für furchtbare Augenblide waren dies! Die Nonnen 


182 Geſchichte einer Grasmücke. 


führten mich in meine Helle zurüd und als ich da allein war, ftürzte 
ich auf meine Kniee nieder, um mic) auszumeinen. 

Jetzt bin ich ruhiger. Ich — den Herrn gedankt, daß er mich 
hat meinen Vater wiederſehen laſſen, ich habe ihn meines Schmerzes 
wegen um Verzeihung gi ten, denn dieſer Schmerz ijt Sünde, da ic) 
mic diefem Leben der Entjagung hingegeben und geſchworen habe, nur 
Gott allein mich zu weihen. Und doc) umſchlingt mich die Welt mit 
ihren Ketten fejter denn je! 

Barmherziger Gott! Iſt es denn meine Schuld, wenn ich nicht 
die Kraft bejige, dieſe Ketten zu zerreißen? 

Marianne, wirft Du nicht an einem diefer Tage kommen, die arme 
Kranke zu bejuchen? Ich bedarf Deiner fo jehr! 





28. Juni. 

Was magſt Du wohl von mir denken, von einer Nonne, die ſich 
beffagt, die jammert, die Dir heimlich fchreibt? Wenn ich über mic) 
ak nachdenfe, finde ich mich jo jchuldig, jo ſchlecht, daß ich nicht 
egreifen Fann, wie Du mir die Gnade Deiner Freundichaft noch zu 
gewähren vermagft. Meine Sünde ijt riefengroß, das ift wahr, doch 
ıch fühle, daß in meinem Elend etwas enthalten it, welches an Schuld 
die meine —— Gott verzeihe mir dieſe Auslegung. Es giebt 
Momente, in we * wenn ich Dir nicht ſchriebe, das in a 
mer ich leide, mit lautem Wehgejchrei aus allen meinen Boren dringen 
müßte. 

Wiſſe es denn, Marianne, wiſſe e8! Dieſe Verſuchung ficht mid) 
noch immer an! Jene Schlange lebt noch, da, in meinem Kerzen! 
Wenn ich zu Dir von gleichgiltigen Dingen rede, um Dich und mich 
dadurch zu trügen, dann nagt fie mic) am meijten, jchlägt ihre Gift- 
zähne in mein Fleiſch. fürchte verdammt zu werden; ich ringe 
mit dem Dämon und er beherricht mich mehr und — Er befitt 
mich, verſtehſt Du? Beherrſcht mich! Jetzt, da die Krankheit mich 
abgemattet hat, fehlt mir die Kraft au fümpfen. Ich mag = ſter⸗ 
— weil ich mich vor der Hölle fürchte. Weil — ich meine Sünde 
iebe! 

O vergieb mir, Schweſter! Ich ſchaudere ja auch vor dem, was 
ich ſchreibe, vor dem, was ich denke. Ich kann nicht mehr zu Gott 
beten, weil ich die Stirne nicht mehr zu ihm zu erheben wage. 

Mein Gott! Was habe ich ad Was that ich denn? 

Ic Liebe ihn noch! Mehr als früher; Tiebe ihn bis zum Wahn- 
finn! Und bin Nonne! Und er ijt Gatte! Gatte meiner Schweiter! 
Es ift grauenhaft! Schaudervoll! 2 bin verloren, bin verflucht! 
Doc welche Schuld habe ich dabei? Wie habe ich denn eine fo harte 
Strafe verdient? Nun ich hier Tebendig in mein Grab gejchloffen bin, 
iſt diefe Liebe zum Delirium, zur Wuth, zur ea geworden. Ich 
gedenfe nicht mehr jener paradiefiichen Augenblide, ich empfinde jene 
Icheue Freude nicht mehr — ich habe immerfort hier vor meinen Augen, 
in meiner Seele, in meinem Herzen ein entjegliches Geficht, weldyes 
mich in Angft und Leidenſchaft erlodern macht. Sch vernahm eine 
Stimme, die von jenjeit des Grabes fommt und mid) ruft. Ich höre 
fie: „Maria! Maria!" Der Name, mit dem man mid) in der Welt 


Geſchichte einer Grasmũcke. 183 


draußen rief. Nun iſt Maria geſtorben, ſie erbebt, der Schweiß ge— 
riert Eis auf ihren Gliedern, da ſie das Mahnen des Dämons 
ühlt, der ſie an den Haaren in den Abgrund zerrt. 

Alle dieſe reinen, unſchuldigen Jungfrauen im Gebete knien zu 
ſehen und ſich als die einzige Schuldige unter ihnen zu wiſſen! Und 
die Reue verbergen zu müſſen, wenn Ne am beftigften nagt! Im der 
tröftendjten Neligionsübung nur noch eine größere Sünde der Ver- 
lorenen zu erfennen! Werurtheilt gu fein, Gott jelbjt zu betrügen! 

Jeden Sonntag gehe ich zur Beichte und kniee vor Gottes Rich— 
terjtuhl nieder. Doc), ac), mir fehlt die Kraft, jene ungeheure Sünde 
zu befennen. Ich erfinde Sünden, die ich nie erben babe, um 
einen Erjat für das zu bieten, was ich nicht auszufprechen wage, was 
ich eiferfüchtig in mein Herz verjchließe, wie eine Wölfin ihre — 
in ihrer Höhle birgt. 

Marianne, ich fürchte, wahnſinnig zu ſein. Ich möchte mein 
Haar zerraufen, meine Bruſt mit den Nägeln zerfleiſchen, heulen wie 
ein wildes Thier; an dieſen Eiſenſtäben möchte ich rütteln, welche 
meinen Leib einkerkern, meinen Geiſt foltern und mein Nervenſyſtem 
irritiren. 

Mein Gott, wenn ich in der That Ben gi: würde! Ich fürchte, 
ich fürchte mich jo! Ein Schauder überriejelt mid), das Blut wird zu 
Eis in meinen Adern. 

Ich fürchte mich vor jener armen Schweiter Ugate, welche 3 
fünfzehn Jahren in der Zelle der Irren eingejperrt ijt. Entſinnſt Du 
Dich jenes blaffen, abgemagerten, entjeglichen Gefichtes? Jener ver- 
dummten, wilden Augen? Sener fnochigen Hände mit langen Nägeln, 
jener nadten Arme und grauen Haare? Sie rannte ohne Aufhören 
in ihrem Gefängniß auf und ab, rüttelte am Gitter und umfrallte die 
Eifenjtäbe wie ein wildes Thier, halbnadt, heulend, wiüthend! Ge- 
denkſt Du 2 noch jener grauenvollen ai ern daß dieſe 
Zelle niemals leer jein darf, daß fie immer, jobald eine arme Tolle 

eftorben, ſich wieder öffne Ri eine andere Unjelige? Marianne! Sch 
Fürchte, daß ich Schweiter Agates Nachfolgerin fein werde, wenn Gott 
jie in Gnaden erlöjt haben wird. 

Ih habe das ‚Fieber. Ich werde jung jterben. Ach, Gott wird 
mich nicht aljo jtrafen. Ich fürchte, fürchte mich vor jenen grauen 
Haaren, jenen Augen, vor jener Bläffe, jenem Grinſen, jenen Händen; 
die ſich an die Eiſenſtäbe Erallen; wenn ich auch jo wirde! Mein 
Gott, nein! Nein! 

Es ift Nacht. Alles ift Schweigen. Das Fenſter ift geöffnet. 
Ich hörte einen Straßenverfäufer fich mit feiner Frau zanfen und 
endlich jchlug er jie! Glüdlih! Glücklich find fie! Man hört noch 
die Schritte eines fpäten Nachtwandererd. Er wird ein Daheim, An- 
gehörige, eliebte Gegenjtände beiten. Warum denke ich über jolche 

inge nach? Sie machen mich weinen. Warum bin ich Eränflich, 
warum ijt mein Kopf ſchwach, warum bin 0 jündig? DO, die Sünde! 
Ich will nicht mehr daran denken! Da fällt mir ein, wie furchtbar 
meine Sünde ift, wie fie ſich unter allen Geftalten zeig. Am Sonn: 
tag befand ich mich im Chore, um die Mejje zu hören. Ich fühlte 
einen Frieden, eine Stille, eine Heiterkeit in der Bruft! Ich glaubte, 


184 Geſchichte einer Grasmücke. 


Gott erbarme jich endlich meiner und vergebe mir. Ich betete, betete 
und heftete meine Blide auf einen Mann, der da unten an eine 
Säule En itand. Er hatte jeine Gejtalt, jein jchwarzes Haar, er 
* gewiſſe Bewegungen, die ſeiner Art ſich zu bewegen glichen. Ich 
ätte gern die wenigen Lebenshoffnungen, die mir — ſind, 
darum gegeben, wenn er einmal den Kopf zum Chore emporgerichtet 
hätte. Ich ſtarrte in an — und endlich deuchte eg mir, er müfje es 
ohne allen hweifel ein — und da fing mein Blut mir im Hirn zu 
toben an. Am Schluß der Meſſe ſchritt er hinweg und flehte zur 
Jungfrau, daß ſie ihm ſein Geſicht zu ihrem Bild aufheben Inflen 
möge, welches ſich dicht neben dem Chor befindet, damit ich jeine Züge 
jehen könne. Doc) er entfernte ſich, ohne daß ic) mid, hätte über: 
zeugen fünnen, ob er es gewejen. Ich jtand da wie zu Stein eritarrt, 
wie lange, weiß ich nicht, die Augen unverwandt nach jener Säule 
gerichtet, an welche jich vielleicht ein Unbekannter gelehnt gehabt. 


Mein Gott! Fit es denn jo große Sünde, ihn nur zu jehen? Ihn 
nur jehen — durch die Saloufien, von fern. Er wird mic) nicht 
jehen, nicht ahnen, daß Hinter jenen Stäben diejenige fteht, die feinet- 
wegen den Tod der Verdammniß jtirbt! 

Warum haben jie ihn mir entriffen? Warum haben fie ihn mir 
geraubt, meinen Nino? Mein Herz, meine Liebe, meinen Antheil am 
Saradieie? Mörder! Mörder! Ihr tödtetet meinen Leib und mar— 
tert nun noch meine Seele! 

D, wie ich ihn liebe! Wie ich ihn liebe! Ich bin Nonne, ich 
weiß es! Was thut e8? Ich liebe ihn! Er it vermält und Gatte 
meiner Schweiter — ic) liebe ihn! E3 iſt Sünde, grauenhaftes Ver— 
brechen — id) Liebe ihn! Ich liebe ihn! 

Sch muß ihn jehen! Ich will ihn jehen! Wäre es auch zum 
fegten Male! Ich werde ihn am Gare: des Glodenthurmes, das 
nad) der Straße geht, erwarten. Jeden Tag werde id) ihn erwarten. 
Er wird vorüberfommen — einmal, ein einzig Mal. Gott wird ihn 
diejes führen. Gott? 

D Marianne! Wie diejes Wort mic) entjegt! Delirium, Du 
fiehft es! Ich bin außer mir. Ich wei nicht, was mit mir vorgeht. 
E3 wird das Fieber jein; die Nerven werden es fein. Ich werde 
wahnjinnig. 


5. Juli. 
Ich will ihn jehen! Ich muß ihn jehen! Einen u (hen nur! 


28. Juli. 

Sch Habe ihn gejehen, Marianne! Ich habe ihn gefehen! Au 
dieſes Furchtbare habe ich erfahren! Gott jet gelobt! : r 
Er ging mit einigen feiner ng vorüber. Er hat nicht ein- 
mal die Augen aufgejchlagen; vielleicht ſich nicht einmal erinnert, daß 
in diejem Klojter Keine Maria, jeine arme Maria vom Monte Ilice 
verborgen fei, jeine Maria, welche jo blaß geworden, welche jo viel 
weint, im Fieber jchaudert, jtirbt, ihn, ihn ftets und immer hier in 
ihrem Herzen trägt. Die Funken, welche aus meinen Augen jtoben, 
haben ihn nicht geblendet. Er ſprach, lachte, hatte die Cigarre im 


(„maag“ suoaqonavq ang) uveaoc mv Wulpjauvz 





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Gelchichte einer Grasmücke. 185 


Munde und der Rauch derjelben jtieg bis zu meinem Fenſter. Ich 
habe ihn gejehen, ja, ja — ihn, jein Geficht, feine Kleider, feine Be- 
wegungen, und Grauen hat mich erfaßt vor dieſem lachenden, rauchen: 
den, mit jeinen Freunden plaudernden Mann. War das nicht ein 
jchredliches, ungeheuerliches Ding? 

Dann it er verſchwunden, iſt um die Ede einer anderen Straße 
gebogen und ich Habe ihn nicht mehr gejehen. Wo war er? Wohin 
ging er? In jein Haus? Zu meiner Schweiter — jeiner Frau? 

h! Ein Tiger, ein Dämon möcht ich jein! Im Fetzen möcht ich 
mir diejes Fleiſch zerreißen. Dieje Luft möcht ic) mit meiner Ver— 
zweiflung vergiften! Dieje Sonne mit meinem Jammer auslöjchen! 

Fluch! Fluch mir, ihm, allen! O Gott, Gott! Was wollt ihr 
von mir? 

5. Auguft. 

Marianne, ich flehe um Deine Verzeihung! Verzeihung aller, 
denen meine Sünden weh gethan, jo wie id) das Erbarmen des barm- 
herzigen Gottes herabgefleht habe. Was habt Ihr von mir gedacht? 
Bon diejer elenden Sünderin, welche ihr Leben zu Füßen des Kreuzes 
— wird, um ihre Sünden unter Gebet und Thränen zu 
tilgen 

Wir haben einen außergewöhnlichen Kurſus religiöſer Uebungen 
durchgemacht. Ein ganz beſonders berühmter Prediger kam zu uns. 
Gottes Donner erſcholl uns aus ſeinem Munde durch das Halbdunkel 
der I warzverhangenen Kirche entgegen. Wie fürchterlich it es doch, 
das Wort Gottes! — Nein! — TFlirchterlich find nur meine Sünden 
und mein geängftigtes Gewiſſen; meine Neue ift es, die e8 mir ent- 
jeglich erjcheinen läßt. Denn mein Herz jagt mir, daß das Wort 
eines guten Gottes nicht anders tönen könne, als Liebe und grenzen- 
(oje Erbarmen. 

Welchen Eindrud haben ags Predigten bei mir hinterlaffen! 
Schauder, Schred, ja id) könnte jagen, Gott ijt mir in der Geſtalt 
des Schredens erjchienen. Sch an den Zorn des Himmels vom 
Altar herabbligen jehen; ic) habe das Wimmern der verlorenen Seelen 
in der Kuppel vernommen und erblidte den Schatten der teuflifchen 
Tledermausflügel im Dunkel der Arkaden. Gott jprad) von der Hölle, 
von den Verdammten, und es deuchte mir während der gänzen Nacht, 
als höre ich das Jammern der Gemarterten, die Eulenrufe aus andern 
Welten und o fürchtete mich, fürchtete mich vor mir, vor meiner 
Sünde. Jetzt ſucht mein Herz vergeblich die Gnade Gottes. Meine 
Sünde iſt riefengroß. Kann mir je vergeben werden? Der Prediger 
|prach in unbejtunmten Ausdrüden. Er nannte wohl vielerlei Siün- 

n, doch unter denen, auf deren ungeheure Laſt die himmlische Rache 
am —— herniederblitze, wagte er die meine nicht einmal zu 
vermuthen. Seine Seele würde vor deren Größe zurückgebebt ſein. 

Was iſt aus mir geworden, guter Gott? Ich habe nicht einmal 
mehr das Dich anzurufen! Verloren in der uld, verdammt 
von Deinem Zorn, darf ich wagen noch Dein Wort zu hören? Darf 
ich mich noch zu Deinen üben werfen inmitten dieſer Sungfrauen, 
die Deine Erwählten find? 


Der Ealon 1887, Seft VIIL Band II, 13 


186 Geſchichte einer Grasmücke. 


Meine Marianne, wie furchtbar! Verlaſſen auch von Gott! Und 
doch wie oft flüjtert mir die Verjuchung zu, ich ſei a jet 
feine Schuld in meiner Sünde; Gott fünne mir — ßhalb 
bin ich verloren? Was habe ich denn gethan? Es iſt der Böſe, 
der. mir dieſe Zweifel zuraunt. Der Böſe, der Beſitz von mir ge— 
nommen. 

Ic jehe mich als Verdammte an. Ic jchaudere vor mir jelbit. 
Sch bin ganz Neue und Entjegen. Und doch liebe ic) Gott nod) und 
möchte zu Füßen des Sreuzes meine unendliche Schuld jühnen, die 
Angſt meiner Seele jtillen. 

Ic kann nicht, ic) kann nicht — ich bin verloren. el Nächte! 
Wüßteſt Du, welche Nächte das find! Tas —— icht, der 
itternde Schatten, die Möbel, welche kniſtern und knacken, die von 

eflüſter und undeutlichem Getön erfüllte Luft ſind voll von tiefem 
Grauſen, vom Geheimniß der Grüfte, vom Geſtöhn der Dämonen, dem 
Heulen der Verdammten, vom Fugen lage verfluchter Geiſter. Dieſe 
weiten, ſtillen, düſtern Gänge, die Verſtorbenen, welche unter unſeren 

üßen ſchlafen, dieſe Kirche, dieſe Lampen, dieſe Gemälde, alles, alles 
iſt todtenhaft. Man ſieht an den Wänden den Schattenriß ungeheuer— 
licher Geſtalten am Kopfende des Bettes; zu Füßen des Kruzifixes 
ſtarrt jener Todtenſchädel uns an, man fürchtet ſich vor der I die 
man athmet, vor der mit unheimlichem Geliſpel erfüllten Stille, vor 
den Bettlaken, die auf unſerm Körper liegen. Ich wage nicht zu 
ſchreien, aus Furcht grauſige Echoſtimmen zu wecken; ich wage die Augen 
nicht zu ſchließen, weil id er daß ſich ſchauerliche Dinge in tau— 
jendfacher Form auf mich jtürzen wollen. Schlafe ich doch ein, jo 
ängftigen mic) jchredhafte Traumgebilde; ich erwache mit lautem Auf: 
jchrei, jchweißbededt, unter Thränen. 

Warum war jene Predigt jo furchtbar? Warum ift Gottes Wort 
ſchrecklich? 

Mein Gott! Gnade auch für die Verdammte! Gnade für die 
Verlorene! 


17. Auguſt. 

Herr! Erbarmer! Dank Dir, Dank! Ich fühle mich wieder— 
geboren, fühle mich gereinigt durch Deine Vergebung! elch eine 
—* des Friedens und der Seelenruhe! Ich habe ſo viel geweint 
und gebetet, daß mein Jammer Dein Erbarmen geweckt hat. Nun bin 
— gefaßt, bin beruhigt. Ich will nicht mehr denken, will nicht mehr 
allein ſein. Das Denken iſt unſer Uebel, unſere Verſuchung. Ich 
werde Dir nicht mehr ſchreiben, Marianne, denn um Dir ſchreiben zu 
können, müßte ich mich erinnern. Ich will mich Deiner, meines Vaters, 
keines Menſchen mehr erinnern! Verzeiht mir, meine Theuren — — 
das Herz birgt eine große Gefahr in ſich. Könnte ich mir mein Herz 
aus der Bruſt reißen, wäre ich Gott näher. 

O, der Herr wird mir die Kraft dazu geben! 

Könnte ich in dieſem Augenblicke ſterben, ſo würden mir die 
Engel lächeln. Doch nein, meine Marianne! Auch dieſer Wunſch iſt 
eine Sünde. Ich muß hienieden ausharren, ſo lange der gute Gott 
es will. Meine Seele, die feig und verzagt iſt, möchte jo gern von 


Geſchichte einer Grasmücke. 187 


hinnen eilen, daß ich mit ſündhafter Freude die rapiden Fortſchritte 
beobachte, welche die Krankheit von Tag zu Tag madıt. 

Sähejt Du mich, meine arme Marianne! Ich bin ein Schemen 
—— Säheſt Du mein Geſicht, meine Hände, meine Augen! 

deine Bruſt iſt eine einzige Fieberglut, die mich mit gierigen Zähnen 
verzehrt. wor Du mid) huften und ftändeit Du neben mir wäh: 
rend jener Momente, da die Schmerzen meine Kraft überjteigen. 
eſſer ijt es, Du fiehjt mich nicht mehr, meine Marianne! Steiner 
möge mic) mehr jehen — feiner! Ich fühle fozujagen die Scham- 
baftigfeit meiner Krankheit. Nur mein Vater, der gute Alte, findet 
immer noch in jeiner glüdlichen Blindheit taujend Gründe fich zu 
täufchen und meinen Zuſtand nicht zu jehen. 

Mein Gott, Dein bin ich, jo wie ic) bin, mit meiner Krankheit, 
meiner Schwachheit, meinen Jrrthümern, mit meiner Schuld, mit der 
unausfprechlichen Liebe zu Dir. Gnade für mich, Mein Gott, Gnade 
für mih! Laß mich nicht denken, nicht denken! Das iſt mein ein- 
ziges Gebet, um mit dem Gedanken nur an Dich leben und jterben 
zu fönnen! 


26. Auguft. 

Mein Gott! Warum Haft Du mic) verlafjen! Das, was idy) leide, 
ift namenlos! Sich jo jchuldig zu fühlen! So die eigene Sünde zu 
rürchten umd fich nicht von ihr frei machen zu können. 

Welch eine Predigt! Welch eine Predigt! Immer dieje furcht— 
bare Stimme im Ohr! Welch ein Graujen! Die Hölle, welche mic) 
erwartet, weit offen zu jehen! Gleich Satanas mic verloren zu wiſſen 
in der Unermeßlichkeit des Gottverlafjenjeins! Und immer — liebe ich 
Nino! Ic fürchte die Teufel, und denke an ihn! Ic Habe den 
Kopf voll Geijter, Flammen, Schredgefichte und brenne für ihn! Ich 
wage die Arme flehend zum Altar zu erheben und jehe nur ihn, ihn, 
der die Sünde, die Verſuchung, der Böſe ijt! 

Höre, Marianne, was mir gejchehen ijt: 2 war auf dem Bel: 
vedere neben dem Stapellchen, welches wir mit Blumen zu befränzen 
pflegen; die Sonne hatte ſich kaum erhoben, man vernahm von fern 
den erwachenden Straßenlärm, den Gejang der Vögel; der Himmel 
war blau, das Meer leuchtete, eine ſüßduftende Baljamluft ließ meine 
franfe Bruſt erleichtert athmen. Ich dachte, dachte. Siehft Du, wie 
diefer Teufel der Verjuchung, der ſich Gedanke nennt, ſich durch alle 
Poren unjerer Wejens in unjer — zu ſchleichen pr Ic), dachte 
an die Blümchen, die ihren Berlenthau im Lufthauch abjchüttelten, an 
den Rauch, der den Schornjteinen entjtieg, an die Segel, die jich im 
Glanz de3 Meeres verloren, an den Gejang, der von der Straße 
emporflaug. War’s ein Traum? Ich weiß es nicht. Zwei Schmetter- 
linge hajchten fi) von Blume zu Blume. Die Flügel des einen 
ſchimmerten goldig, die des andern waren weiß. Jener mit den fchnee- 
weißen Flügeln verjtedte jich in den SKtelch einer Blume, die weißer 
war als er Telbft, mit jener reizenden Schalkhaftigkeit, die allen jenen 
Weſen eigen Air jein pflegt, für welche Liebe nicht Sünde ift. Und 
jein armer Gefährte juchte, juchte, bewegte jeine Goldſchwingen jo 
jehnfüchtig; wie erbebte das Thierchen, als es fi den Staubfäden 

13* 


188 Geſchichte einer Grasmükke. 


ber jchönen Blume näherte! Dann tauchte er in ihren Kelch, ar 
lächelte vielleicht und dann verjtecte er ſich auch in der Blüte, 8 
fagten fie fich wohl? Was ging in ihren Eleinen Seelen vor? Weld) 
ein Glück umſchloß wohl der zarte Blumenkelh? Ein Bögelchen 
zirpte auf dem Dad) des Schreines und bewegte feine Flügel mit 
einer jolchen Gejchwindigfeit, daß jeine — wie Goldfaſern in der 
Sonne ſchimmerten. Es rief: Komm! Komm! Es ſchien, als ob es 
weine. weiß! Vielleicht weinte es wirklich. Wen erwartete es? 
Wen rief es? Dann flog es dahin, geradaus, ſicher. Wohin? Es 
war frei und flog! Auf einem Mauervorſprung ſonnte ſich eine 
Eleine Lacerte, hättet Du gejehen, wie froh es war, das kleine Thier! 
Wie die fleinen Seiten athmeten, wie es jein Köpfchen drehte, wie 
jeine Aeuglein — Es er vielleicht den Sonnenjtrahl, der 
auch ihm ein Segen war und den Thautropfen, welcher von einem 
Blatte herabgetropft war. Wer hat = je alle Freude ermejjen, 
die ihn von allen Seiten umgeben? ALU die Wonne, die auch der 
Wurm im Staube, jelbit das unfichtbare Atom erfüllen? Dann hörte 
man das Geräuſch eines Wagens, dejjen Pferde Schellenhalsbänder 
trugen. Weißt Du, wie heiter das Schellengeflingel der Wagenpferde 
tönt? Es erzählt Dir von der Campagna, vom Grün der Wicjen, 
von jtaubigen Landftraßen, blumigen Wiejenpfaden, von Lerchen, 
die vor den Pferden auffliegen. Ich vernahm das Geräuſch eines 
Brunnens und eine Stimme dazu; — eine friiche Frauenſtimme, welche 
eine jener Volksweiſen jang, die fait feinen Sinn haben und doc jo 
rührend find. Ein Mädchen, welches Waſſer am Brunnen holte, war 
die Sängerin. Warum war es jo heiter? Warum jang es? Was 
dachte es wohl dabei? An jein KHeimatsdorf? An die Sonntags- 
meſſe? An den Ktirchplag, auf welchem fic die Dorfburfchen im Feſt— 
tagsputz verjammeln? An jene gewijje Stimme, — 

Fenſter jene alte Kanzone zu ſingen pflegte? 

Und alle dieſe Dinge haben eine Sprache, ſie reden nur ein Wort. 
Nino! Nino! — Ihn ſuchte ich mit den Augen ringsum und ſah 
ihn an dem Fenſter eines nicht fernen Hauſes. Er war's! Mit den 
Ellenbogen auf das Fenſterbrett gelehnt, die Pfeife im Munde, trank 
auch er all die Wonne des jchönen Morgens ein. O, mein armes 
Herz! Mein armes Herz! Es fiel mir ein, dag man mir erzählt 
hatte, meine Schwejter wiirde in einem in der Nähe des Klojters ge— 
legenen Haufe u doch Gott hatte mic) dies gnädig vergeijen 
Ioffen, et, da jah ich ihn! Da, da jah ich ihn, ihn jelbit! DO 
Gott, warum? Warum? Was that er dort? Was dachte er? Sah 
er mich? Nein! Nein! Seine Augen jchienen zerjtreut umherzu— 
bliden. Und doc) ir er mid) — müſſen, mit meinem ſchwarzen 
Kleid, dem weißen Schleier, die Arme ausgebreitet. Was fühlte re 
Mann in jenem Herzen? Mein Gott, fol ich Dir danken, daß Du 
mich a haft jehen laſſen — o Gott, jo laß mid) nur — yur meine 
— ter nicht ſehen! Mein Gott, laß mich meine Schweſter nicht 
ehen! 

Nino! Nino! Ich bin hier! Ich bin's! Siehſt Du mich nicht? 
Erinnerſt Du Dich meiner nicht? Was haſt Du? Was habe ich 
Dir gethan? O, mein armer Kopf! Nino! So ſieh mich doch! 


e ſonſt vor ihrem 


Geſchichte einer Grasmücke. 189 


Sieh, wie ic) blaß geworden! Fühle, wie meine Bruft fchmerzt! O 
Nino! Erbarme Dich meiner und fieh mich an! Er hat fich umge 
dreht. Ic jah einen Schatten hinter ihm — ein Gewand. Sch eiie 
floh, weil ich meinen Berjtand zu verlieren fürchtetee Gott! Gott!‘ 
Welche Dual! Ic, entfloh nach meiner Zelle, wie ein verwundetes 
Bild. Welch ein Feuer da innen! Welche Schmerzen! Mein armer 
Ko 


Welch ein furchtbarer Tag! Immer dieſe Geſpenſter vor Augen! 
Immer dieſen Krampf in der Bruſt! Warum? O Gott! Ich bin faſt 
toll! Ich fühle etwas, was ſich in mein Fleiſch krallt und mich wieder 
hinaufzieht. Alle jene kleinen Gegenſtände ſind von ſeiner Hand berührt 
worden. Auf jenem Seſſel hat er wohl hundertmal geruht. Warum iſt 
jene Kammer jetzt leer? Sie ſcheint ſich zu fürchten und ich fürchte mich 
vor ihr. Da öffnet ſich eine Thür, eine Frau tritt ein. Sie. Meine 
Schweſter iſt's! Wie iſt ſie ſchön! Sie darf nun alle dieſe Gegenſtände 
berühren, auf jenem Seſſel ſitzen. Sie tritt ans Fenſter und hebt ſich dunkel 
gegen das Licht ab. Grauſame! Grauſame, Du! Nun lehnt ſie ſich 
* Fenſterbrett. Sie ſcheint * anzublicken. Ich ſchaudere vor 
dieſem nach mir emporgerichteten, beſchatteten Geſicht. Ich verberge 
mich hinter das Kapellchen. Wie ich zittere! Wie mein armes Herz 
ſchlägt! Plöglid tritt jie eilig zurüd und sc um die Thür zu 
öffnen, durch welche fie eingetreten war. Da iſt er, er! Faßt ihre 
yon: füßt fie auf den Mund! Mein Gott, laß mic) fterben, fter- 

n; wenn auch verdammt! 

Du weißt nicht, weld) eine beraujchende, rajende Wollujt darin 
liegt, ſich grauſame Martern zuzufügen. Sic jelbit zu zerreißen, 
wenn man amdere nicht zerreißen kann. Und ich habe es angejehen, 
wie diejer Mann dieje Frau gefüßt hat. Diefer Mann! Nino! Er, 
meine Schwejter gefüht! Öefeben, wie er jich neben fie ſetzte, Lächelnd 
ihre Hand erfaßte, ich empfand es, wie den jcharfen Schmerz einer 
ichneidenden Meſſerklinge. 

Die Straßen waren noch belebt. Leute gingen und lachten, man 
hätte ihr Geſpräch verjtehen fönnen, wenn man darauf geachtet hätte. 
Durchs Dunkel Teuchtete jenes erhellte gerlet und Ich mid) an wie 
ein weitgeöffnete3 Auge. Hundertmal habe ich jeitdem nach jenem 

nfter gejtarrt, welches in eine erleuchtete Kammer jchauen ließ, und 
I dann zu errathen verjucht, was an Glück, zorge, äuslichen 

—— Geſprächen und Zärtlichkeiten ſich im Lichtkreis jener 
Lampe ſpiegeln möge. Doc) jenes Fenſter hatte einen Reflektor, wel- 
her mic) in Flammen jr Ich konnte es nicht anjehen, ohne alle 
meine Adern lodern zu fühlen. Er! Er! Sein Haus! Alles dort 
ehört ihm, iſt ein Theil feines Lebens, feiner Liebe, feines Friedens, 
Feines Familienglüdes! Jene Kammer hatte eine blaue Tapete mit 
großen Blumen. Am Fenſter ftand ein Lehnjejjel. Weiter zurüc 
Dekanden ſich auf einem Tiſchchen eine Menge Gegenjtände, die ſich 
— unterſcheiden ließen, welche aber alle im Lampenlicht blitzten. 
Und immer muß ich dahin zurückkehren, um diejenigen zu ſehen, an 
welche zu denken mir jchon das Herz zerfleiicht. Meine Tage möchte 
ich dort oben verbringen, um vor Schmerz jterbend, meine Augen nad) 
jenem Fenſter zu richten. 


1% Geſchichte einer Grasmürke. 


Sch verjuchte an Gott zu denken, doch Gott erjchien mir graufam. 
Ich wollte an jene Predigt denken, doc) ich fand jie ungerecht. Alle 
urien der Hölle jind in meinem va erwacht. Höre, Marianne! 
dre die VBerdammte! Denn ich will verdammt, ich will verloren fein! 
n der Nacht, wenn alle jchliefen, bin ich hinaufgeitiegen auf die 
Terraffe, mit nadten Füßen, mit den Händen mein Herz zujammen- 
refiend, damit die Nonnen jein Schlagen nicht hören * ten. Ich 
für mich, indem ich mich wie ein Geſpenſt durchs Dunkel jchlid). 
iefer Weg dauerte eine halbe Stunde, eine halbe Stunde der Angit, 
des Schredens, des inneren Kampfes. Sch erzitterte beim leiſeſten 
Geräuſch, hielt den — vor jeder Bellenthüre an und ſank nad) 
jeder Stufe fraftlos zujammen. Wenn er mich hätte jehen können! 
Dann, als ich oben angelangt war und die Sterne mir zu Häupten 
ſah — und jenes Fenjter im Lichtichimmer — was da im mir vor- 
gegangen ift, vermöchte ich Div nicht zu jchildern. Höre! Ich will 
ir jagen, was ich jah, Du wirft leiden wie ich — alle, die lieben müſſen 
leiden. Es jchlu eh Uhr — Dieje Lieblojungen und Küſſe — id) 
errieth all die Füßen iebeöiworte, jah, wie durch ein Wunder der In— 
tuition die Hleinjten, wechjelnden Bewegungen jenes Mienenſpiels, jah 
den Ausdrud in jeinen Augen. Niemand hatte das zu jehen vermocht, 
was ich jah. Meine Sehkraft war eine gejteigerte, mein Herz hatte 
zu ſchlagen aufgehört, ein Hauch des Satans war in mir. Und fajt 
eine Stunde lang ertrug ic) das! Eine Stunde fait jtand ich dort, 
mit nadten Füßen, in Dee brennend, zitternd vor Schauder; Todes⸗ 
angit, Verzweiflung, Wuth mit vollen Zügen einathmend. Ich legte 
mir dieje grauenhafte Freude, dieje Freude, fie zu jehen, jelbit auf, 
ließ mich von ihren feurigen Zähnen zerreißen, jtieg hinauf Abend für 
Abend, unter Gefahr, Fieber, Delirium — ic) jah fie! Was that es, 
wie ich fie jah? Ich jah fie! Ich jah fie des Tages auch; wenn die 
glühende Sonne mir aufs Haupt brannte, jtand ich dort, graujend 
von Qualen gejchüttelt, jchwindelnd, die Augen voll Flammen, den 
Leib in Fieber brennend, Jah ich fie, oft nur einen Augenblid lang, 
dann nicht mehr. Ach, wenn der Schmerz tödtete! 


| 10. September. 
Mein Gott, mein Gott, laß mich jterben! Gott, laß mid) fterben! 


13. September. 
Gnade! Erbarmen! Ich ertrage es nicht länger! Mein Gott! 


2 15. September. 
Marianne, ich bin Frank! ch habe Fieber im Gehirn; mein Kopf 
brennt. Ich höre in meiner Zelle das Heulen der armen Schweiter 
Agate — es dünkt mich, ich müſſe heulen wie fie, wie fie mit den 
Nägeln den Kalk von den Wänden — 
Warum haben ſie mich hier eingeſchloſſen? Was habe ich ver— 
brochen? Wozu dieſe Eiſenſtäbe, biete Schleier, dieje Riegel? Weß— 
halb dieje jchauerlichen Todtengebete, dieje trüben — dieſe blei— 
en Geſichter, dieſe erſchrockenen Mienen, dieſes Dunkel, dieſe Stille? 
s hab ich verbrochen? Mein Gott, was hab ich gethan? 


Geſchichte einer Grasmücke. 191 


Ich will fortgehen! Fort von ag will ich! Will nicht mehr 
hier bleiben! Will fliehen! D hilf mir, Marianne! Ic fürchte 
mich, ich bin rajend; ic) brauche Licht, ich will entlaufen! 

Marianne, warum verläjjejt auch Du mic)? Sage doch meinem 
Vater, daß er mich aus dieſem Grabe wegholt! Sag ihm, daß ich 
ermordet jterbe; jag ihm, daß ich mein Haupt an diefen Wänden zer: 
jchmettere. Sag ihm, daß ich gut fein, daß ich alle lieb haben, daß 
ich ihnen als Magd dienen, daß ich im Sta — will. Aber 
fort von hier! Sag ihm, daß ich ihm ne zu Leid gethan habe. 
Warum iſt auch er jo graujam mit mir? Hat feiner Erbarmen mit 
mir? Hilft mir feiner? Keiner von allen, die da mit freudvollem 
Herzen vielleicht zu einem Feſt durch die Straße gehen, denkt daran, 
daß hier eine Unjelige — iſt, die verzweiflungsvoll ſtirbt. 
Schreie! — wie ich! Rufe zu Hilfe! Sage allen, die Dich hören 
können, da ewaltſam hier ——— werde; daß ich nichts ver⸗ 
brochen habe, d ich unſchuldig bin. Sage, daß hier in dieſem Orte 
der Tod ar daß er erfüllt ıft von Grabgeruch und dem Jammer: 
geichrei der Wahnjinnigen! 


18. September. 

Die Wahnjinnige! Die Wahnfinnige! nie fie will entfliehen, 
die Arme! Sie haben fie eingejperrt, eingejchlojjen in eijerne Stäbe. 
Sie kann nicht Schlafen, fie kann nicht jterben, fie rait vom Morgen 
bis zum Abend, wüthend, heulend in jenem Kleinen Raume hin und 
her, den man ihr angewiejen hat. Die Arme! Die Arme! Wie 
ichredlih! Wenn jie mid) wie Schweiter Agate einjperrten! Weld) 
a Wenn ih wahnjinnig würde! 

arianne! Ich möchte mich aus dem höchiten Fenſter hinab- 
jtürzen. Aber jie find alle mit Eijengittern verjperrt. 

Welch eine Marter! Welche Dual! Nicht einmal der Tod! Nicht 
der Selbjtmord, nicht die Hölle! Was hab ich verbrochen? Ich bin 
ihuldlos, ich jchwöre es Dir! 

Höre! Ich will ihn nicht mehr Lieben, will ihn aus meiner Bruft 
reißen; will jeine Kinder wiegen — will weit hinaus in die Ferne 
fliehen — mögen jie mit mir thun, was jie wollen, alles, alles, nur 
I von diejem Ort erlöfen. 

Bon hier, wo jie mich zur Nonne gemadt, ohne daß ich wußte, 
was jie mit mir vorhatten, nicht wußte, daß ich immer hier Gefangene 
bleiben müfje, daß ich hier wahnfinnig, daß hier meine Seele ver- 
dammt werden jollte, daß mir nur eine 7 kurze, jo jehr kurze Lebens— 
frijt noch geblieben jei. Warum laffen fie mich denn nicht wenigjtens 
in Frieden jterben? 


24. September. 
Gejtern bejuchte mic der Arzt. Warum hat man ihn gerufen? Er 
blidte mich auf eine jo jonderbare Art an; befühlte meinen Puls. 
Ich bin wohl; ich bin nicht kränker als zuvor. Er jtellte eine Dtenge 
Fragen an mich, die on veritand. Was joll das heißen? Was 
will man von mir? jah mir ins Gefiht, betrachtete mich dann 
von fern. Was mag gejchehen jein? Wollen fie mir Furcht einjagen? 


192 Gefchichte einer Grasmüdke. 


Ic) jagte dem Doktor, daß ich diejen Ort zu verlafjen wünjche; 
verjprach ihm gut zu jein, zu arbeiten, alles zu thun, was man von 
mir verlange, wenn man mich freilaffe. Der gute alte Mann lächelte 
und verjprach mir, mit einer Gewißheit, die mich in Erjtaunen — 
alles zu erfüllen, was ich wünſche. Was meinte er damit? Was 
meinte er, Marianne? Ich bin allein, ich glaube zu träumen. Weiß 
nicht, was geſchehen ſein mag. Aber es muß irgend etwas unerhör— 
tes, ſchauderhaftes ſein! | 

Vielleicht entjteht meine Angst nur dadurd), daß ic) das Heulen 
der armen Schweiter Agate höre, welche einen ihrer Anfälle hat, 
die Arme! 

Heute habe ich den Tag damit zugebracdht, die Thüre zu betrad)- 
ten, durch welche ıch hier hereingetreten bin. Dieje Thür, die fohl- 
ihwarz it und große Riegel hat und die jich nur öffnet, um ein 
Opfer hereinzulaften, nie aber um eines wieder im die Freiheit zu 
geben. Und ich bin hereingei ritten durch Diefe Thüre! Ich war 
frei und jtand draußen und jchritt mit meinen Füßen über dieje 
Schwelle! Niemand zerrte mich, niemand jtieß mich hinein! Wie 
fonnte Dies — Mein Gott! War ich denn wahnſinnig? 
Schlief ich denn? Was ging in mir vor, da ich noch außerhalb die— 
ſer Thür ſtand? Wie mag e3 da draußen jein, was mag die Seele 
empfinden, wenn man aus dieſer Thüre träte? Wie muß der Himmel 
im Lichte jtrahlen? Dort draußen ift Nino? Nicht wg 

Sie wollen nicht, dat ich länger dablieb, um jene Thüre anzu— 
jehen. Warum? Auch das ijt unrecht. Sie rifjen mich hinweg. Ich 
will ja alles thun, was jie verlangen — id) bin fügjam; ich —— 
mic) jo ſehr, fürchte, daß fie mich zu der Wahnſinnigen einjperren. 


| Ohne Datum. 

Nino! Nino! Wo it Nino? Sch will m F en! Warum 
laſſen ſie ihn mich nicht ſehen? Nur ihn allein will ich ſehen! Weder 
meinen Vater, noch meinen Bruder, nicht meine Schweſter — meine 
Schweſter! Sie, die ihn mir geraubt hat? Wußte ſie nicht, daß er 
mein war? Warum kann ich ihn nicht ſehen? Sag ihm, daß er 
kommt! Sag ihm, daß er kommt, mich zu befreien! ir wollen zu— 
ſammen nach dem Monte Ilice gehen. Wollen uns im Kaſtanien— 
walde verbergen — allein — wie die Thiere des Waldes. Sag ihm, 
daß er kommt! Mit ſeiner Flinte bewaffnet! Damit wird er meinen 
Kerkermeiſterinnen Furcht machen — es ſind ja Frauen — die laſſen 
ſich einſchüchtern. Er tödtet ſie, wenn es ſein muß! Mich errettet er! 
Mich findet er hier, in meiner delle Ich fliege an jeine Brujt! Ach! 
Ah! Die Nonne! Ja!_Eben die Nonne enttlieht: nr mit ihm! 
Mit dem Manne ihrer Schweiter; jie raubt ihn ıhr. iv gehen weit 
fort; wandern, wandern! Gehen über die Berge; in die Wälder, wir 
werden beijammen jein. Ich werde Feine Angft mehr haben, nicht 
mehr das Gejchrei der Schweiter Agate hören. Dort werden die 
Sterne leuchten, e8 wird vegnen, man wird das Ungewitter braujen 
hören, er wird ans Fenſter Hopfen; fie wird huften; er wird Maria 
rufen. Maria! Wer it denn Maria? Mich dünft, ich habe fie ge- 
fannt. Maria? Sie it todt — entflohen. Wo ift fie? Ach, mein 


Gefchichte einer Grasmũcke. 193 


armer Kopf! Höre, Marianne! Es ift jegt Nacht. Alle Ichlafen — 
niemand wird mic) fehen. Sch werde —*— leiſe hinabſteigen — durch 
den Garten gehen; es iſt dunkel, der Sand der eg wird nicht Enir: 
Ichen, weil er Erbarmen mit mir hat. Ich werde an die Thüre gehen — 
dieje abjcheuliche . wird nein jagen! Ich werde weinen, flehen, auf 
die Kniee fallen. erde ihr jagen, daß Nino mich erwartet, daß ich 
ihn finden muß. Dann wird die Thüre Erbarmen mit mir haben, 
denn ſie iſt ja nicht Nonne! Sie wird mic, hinausgehen laſſen — 
durchs Schlüffeltod, Ich werde draußen jein, dort, wo die Sonne, 
das Licht, das Leben, die Welt, wo er ijt! Dort, wo man fchreien, 
laufen, weinen, wo man diejenigen umarmen darf, die man liebt. Ich 
werde fliehen — fliehen — denn wenn Schweiter Agate mic) ſieht, jo 
hält jie mic) feit — bis an feine Thüre fliehen und ihm jagen: „Da bın 
ih! Da bin ih!“ Und er wird mir die Arme entgegenbreiten. Nein, 
das iſt jchlecht, das ift Sünde! * werde zu Giuditta jagen: „Sch 
bin Deine rn Deine arme Schweiter, die jo viel gelitten hat. 
Sie wollten Dir Deine arme Schweiter umbringen, wollten fie leben— 
dig begraben, wollten jie * Schweſter nr ———— Laſſe 
mich hier, ich will Deine Magd ſein, ich will ihn nicht mehr lieben 
— will ihn nur anſchauen, durchs Schlüſſelloch, dann wenn Du ein— 
geſchlafen biſt und ihn nicht anzuſchauen brauchſt. O Gott! Wie 
glücklich bin ich, Marianne! Wie glücklich bin ich! Mein Gott, ich 
danke Dir! Ich danke Dir! 


Ohne Datum, 

Hilfe, Marianne! Zu Hilfe, mein Vater! Nino! Nino! Mör- 
der! Mörder! Gigi! Giuditta! Zu Hilfe! Sie paden . an 
den — Sie ſtoßen mid) fort! Ad) mein Haar! Meine Arme! 
Sie ſind ganz blau — das ijt Blut! Sie nennen mich wahnjinnig! 
Wahnfinnig! Ad, Schweiter Agate! Was wollen fie? Was wollen 
fie alle? Warum paden jie ar an? Ic bin jchuldlos — wollte 
niemand eim Leid thun — wollte nur fortgehen — wollte — 
Es ſind die Todten! Es ie die Dämonen! Sch —* Angſt! Gott 
hat mich verlaſſen. Verlaß Du mich nicht auch! Nino! Nino! Du 
biſt muthig! pi Du mir! DO, ich habe feine Kraft mehr. Gie 
en Sir fort, fie jchleppen mich hinweg! Wohin? Wohin? Mein 

ott! 

In die Zelle der Wahnfinnigen jagen fie? Ach nein, Erbarmen, 
ich bin nicht verrüdt! Ich fürchte mich nur! Ich thue es nicht mehr; 
will qut fein, will beten. Was wollt ihr denn? Ruft meinen Bater, 
ruft Marianne! Sie werden’s Eud) jagen, daß ich nicht wahnſinnig 
bin! Ah, Nino! Nino! a sn Welch Kretichen, welche 
Thränenflut! Schaum vorm Munde! Blut! Nino! Hilfe! Hier, 
hierher! Hilfe! Ich wehre mich mit den Zähnen, ich beige! Ach, 


Erbarmen! Nino! Nino! 


ochgeehrte Signora Marianne! 
Jene arme Schweiter Maria — Gott gebe ihrer armen Seele 


Ruhe — hat mic) beauftragt, beifolgendes Heine filberne Kruzifix und 
r 


194 Geſchichte einer Grasmũcke. 


die wenigen beſchriebenen Blätter, welche ich Ihnen durch unſern 
Pförtner zuſende, in ihre geehrten Hände gelangen zu laſſen. 

Ehe ich aber einen Entſchluß in einer fo zarten Geniffendange 

le En zu fajjen mich entjchloß, habe ich lange gezögert. Der leßte 

unſch der Berjtorbenen war gewiß ein — für mich; doch 
unſere Regel verbietet uns, auch im Falle des Todes, über irgend 
einen Gegenſtand, ſei es was es ſei, ohne die Autoriſation der Mutter 
Aebtiſſin eine Verfügung zu treffen. Ich hoffe, daß der heilige Geiſt 
mir die Gnade erwiejen hat, mich zu erleuchten und folgendes ijt mir 
als das Beſte erjchienen zur größeren Ehre Gottes und im Dienjte 
des Nädjiten. 

Sch habe mic, eines Ausweg bedient, um dieſe Erlaubniß zu 
erhalten, ohne welche ich fie wohl jchwerlich erlangt haben würde. Ic) 
theilte der Mutter Superiorin den legten Wunfch der Schweiter 
Maria mit und zeigte ihr das Krugifir, über welches die Aermite im 
Kar ihres Todes verfügt hatte, zugleich mit jenen Blättchen Manu— 
fript und zwar jo, als ob legtere zu nichts anderem, als zum Ein- 
wideln des Eleinen Bermächtniftes dienten. Ic weiß nicht, was jene 
Blättchen enthalten. Ich bezweifle aber, daß wenn jie gelejen worden 
wären, die Erlaubniß erfolgt jein würde, fie fremden Händen zu 
überliefern. Ebenjo nehme ich an, daß, falls fie im Kloſter aufgefun- 
den jein würden, jie Anlaß zu großem Aergerniß und dem Andenken 
und Seelenheil der Entjchlafenen zum Nachtheil gereichendem Urtheil 
hätten geben können. 

Die ehrwürdige Mutter Aebtiffin, welche die Gegenjtände für jehr 
geringwerthig erkannte, ertheilte leicht die erbetene Erlaubniß, ohne es 
für nöthi gu erachten, zuvor die Anficht des Pater Kaplan zu hören, 
und jo e ich heute die Genugthuung, die mir auferlegte Liebes— 
pflicht zu erfüllen, ohne irgend eine weitere Verantwortung dabei zu 
wagen. 

Sie, hochgeehrte Signora, empfangen das kleine Päckchen in dem— 
ſelben Zuſtande, in welchem es die gute Seele hinterlaſſen hat. Es 
ſind neun Blättchen; vier davon von blauem Papier; zwei find Brief- 
bogen und die anderen drei jind bejchriebene, alte Briefcouverts. Alle 
jind genau numerirt, das Ganze ijt mit einem jchwarzen Schnürchen 
ummunden und enthält: 

1. Ein Eleines Kruzifir von Silber. 

2. Eine Haarlode. 

3. Einige Rojenblätter. 

Wenn meine arme Freundin während ihrer letzten Augenblide 
nicht eine jo große Zärtlichkeit für dieje zwei oder drei trodnen Roſen— 
blätter gezeigt hätte, jo würde ich mir die Freiheit nicht genommen 
haben, auch dieje mitzujchiden, da es Ihnen wohl als ein unerlaubter 
Scherz von meiner Seite hätte jcheinen fünnen. Doc, die Sterbende 
verlangte die Blätter zu füffen, als die Schmerzen, welche fie tödteten, 
den höchſten Grad erreicht hatten, und ſie ſtarb mit diefen welken 
Blättern auf den Lippen. 

Möge Gott fie den Qualen des Fegefeuerd entheben für das, 
was fie litt hienieden, die arme Märtyrerin! 

Sie ift verjchieden wie eine Heilige. Geſegnet ſei fiel 


Geſchichte einer Grasmüdke. 195 


An jenem verhängnißvollen Tage, als Ih irrthümlich für wahn- 
finnig gehalten, a ihre ſchon jehr gejchwächte Gejundheit den 
Todesſtoß. Jeſus Maria! Welh ein Tag war das! Wie litt die 
Aermſte! Sie war fo zart, jo ſchwach! Sie konnte fich faum auf: 
recht halten und doc) genügten vier Laienjchweitern nicht, um fie nad) 
der für die Geijtesfranfen bejtimmten Zelle zu fchaffen. Ich Höre 
immer noch ihr Gejchrei, welches nichts menschliches mehr hatte und 
jehe noch ihr von Schmerz verzerrtes, in Thränen gebadetes Geficht 
mit dem herzzerreißenden Ausdrud. Als wir die Zelle wieder öffne: 
ten, war ſie ohnmächtig. Sie ließen jie da — auf dem falten, nad: 
ten — Gott mag mir verzeihen, aber ich glaube, daß Schwe— 
ſter Agate, die arme Tolle, die einzige geweſen iſt, die Mitleid mit 
der Ohnmächtigen gehabt hat, denn ſie wagte nicht, ihr ein Leid zu— 
zufügen. Sie * ie mit ihren blöden Augen an und knieete dann 
neben ihr auf den Fußboden nieder, befühlte und rüttelte ſie, als ob 
ſie die Ohnmächtige zum Leben erwecken wollte. Als der Arzt fam, 
fand er beide noch in derjelben Lage. Er ordnete dann an, daß man 
die Kranke nad) dem Krankenjaal jchaffe, und als die ehrwürdige Mut- 
ter Aebtiſſin im Intereſſe des Allgemeinwohles Hiergegen Bedenken 
äußerte, erklärte er, daß e8 nur I furze Zeit jein werde. Und in 
der That, e8 war nur für kurze Zeit! Im Krankenſaal erlangte die 
Ohnmächtige ihr Bewußtfein wieder und Sie können nicht glauben, 
wie herzzerreißend der entjegte Blick war, den fie auf uns richtete. 
Denn fie konnte jich nicht mehr bewegen, die Aermite! Ihre Kraft 
war erjhöpft. So währte es noch drei Tage; drei Tage Todeskampf. 
Sie bewegte jich nicht, ſprach nicht mehr. Blieb, wie wir fie aufs 
Bett gelegt hatten, mit weitaufgeriffenen, entjegten Augen, immer zit 
ternd und mit einem furchtbaren Röcheln in der Luftröhre. 

Endlih, am Morgen des dritten Tages gab fie mir mit den 
Augen zu verftehen, da fie gs Angeficht nach dem Fenſter gewendet 
zu haben wünjche, und da fie den Himmel jah, füllten ſich ihre Augen 
mit Thränen. 

Arme Schweiter Maria! Sie war ſchon nur noch ein Leichnam. 
Nur in den Augen war noch ein Lebensfunfe; e8 waren immer no 
ihre jchönen, armen Augen. Sie jagte mir io viel, indem jie mi 
anblickte, und der Schmerz durchzudte das letzte Auffladern ihres jam- 
mervollen Dajeins. Als ich ihr den Kopf emporrichtete, ſah fie mir 
in einer gewijfen Weiſe in meine Augen — in einer Weije, die mir 
die Thränen hervorquellen ließen. Sie verfuchte e&&, den Arm um 
meinen Hals zu legen, doc) jie hatte nicht die Kraft dazu und jeufzte; 
da ergriff ich ıhre Hand und fie drückte die meine und drückte jie fo, 
als ob fie jpräche. Re 

Gegen zehn Uhr reichte man ihr das Viatikum. Ste fommuni- 
irte mit einer Seelenruhe, einem Glauben, daß e3 jchien, als ob alle 
Beifigen und Engel des Paradiejes ihr Bett — Geſegnet, 
gebenedeit jei fie! Während des ganzen Tages blieb ſie jo, indeſſen 
die Sterbegebete für fie gejprochen wurden. Als die Sonne im Unter- 
ehen war, jchien fie von großer Beängjtigung befallen, ihre Thränen 
Holen in jo großer Menge, daß eine der Laienjchweitern Mitleid mit 
ihr empfand und ihr Angeficht trodnete, welches ganz in Thränen 


196 Gefchichte einer Grasmüdke. 


ebadet war. Hierauf bewegte fie die Lippen, als wolle fie rufen. 
&p bog mich über fie, da näherte fie mit größter Anftrengung ihre 
Lippen meinem Ohre und flüjterte mir mit herzzerreigender Mühe 1% 
legten Wünjche zu, während das Röcheln ihrer Bruſt fie zu erjtiden 
drohte. Ich errieth mehr, als daß ich ihre Worte verjtand, eilte das 
Pädchen zu holen, welches fie mir — hatte und als ſie es in 
meinen Händen ſah, lächelte fie, wie die Engel des Paradieſes lächeln. 
Sobald das NRöcheln ein wenig nachließ, flüjterte he zu wiederholten 
Malen: „Für ihn! Für ihn!“ Ich glaube, fie jprach diefe Worte 
im Delirium. Dann wollte jie den Inhalt des Pädchens jehen und 
ich zeigte ihr alles: die Blätter, die Haare, das Kruzifiz, die welfe 
* dieſe küßte ſie, ſie küßte ſie ſo heftig, daß eines der welken 
Roſenblätter nach ihrem Tode noch an ihrer Lippe haftete. 

Hierauf wandte ſie den Kopf leiſe ein wenig nach der anderen 
Seite, ſeufzte erleichtert auf — es ſchien, daß ſie ſanft eingeſchlafen — 
ſie war wirklich eingeſchlafen für immer. 

Arme Schweſter Maria! 

Doch ſie iſt nun unter den Seligen und bittet den Herrn für 
uns armen Sünder, die wir uns der Schwachheit hingeben, um ſie zu 
weinen. Ich muß auch noch zum Lobe der Mutter Aebtiſſin und der 
ganzen Kloſterſchweſterſchaft, ſo wie zum Troſte derer, die ſie im Leben 
geliebt, hinzufügen, daß ihre Exequien aufs rührendſte abgehalten wor— 

en ſind. Mehr als dreißig ur wurden an allen Altären dei 
— geleſen und beim De-profundis brannten mehr als hundert 
erzen. 

Ich bitte Sie, mich in Ihren Gebeten dem Herrn zu empfehlen 
und zeichne mich mit Achtung 

Ihre ganz ergebene Dienerin 


Schweſter Filomena. 





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FSudwig Ahland. 
Bu feinem Hundertjährigen Geburtstag. Von Mid. Zul. George. 


(Mit Porträt.) 


Bon des Lebens Gütern allen 
Ift der Rubm das Höchſte doch. 
Wenn der Leib in Staub zerfallen, 
Lebt der große Name noch. 

m Schiller. 


N udwig Uhland ift ein Name, bei deſſen lange fic das. 
. Herz jedes Deutfchen freut; jeine Lieder und Ballad en 
* al; jte gehören zu den größten Schätzen unſerer nationa en 
ERSTER Viteratur, und fie Mn en auf die Denk- und Empfin- 
Dungaweie unjeres Volkes den jegensreichiten Einfluß 
ausgeübt 
Ein Jahrhundert iſt am 26. April ſeit der Geburt dieſes 
Dichters verflojjen; das Leben, Wirken und Dichten deſſelben iſt 
ein. fo jonnenflares, ein jo edles, daß es ung eine Dar Herzens⸗ 
freude iſt, anläßlich dieſer Jubelfeier einen Blick auf daſſelbe werfen 
zu können. 
In der Sitte und Denkart des väterlichen Hauſes liegt der 
Schlüſſel zu den herrlichen en des Gemüthes und des 


Charakters, die wir an Ludwig Uhland in überreichem Maße zu be= 
wundern Gelegenheit haben; er fingt über fein Elternhaus: 





werden gejungen, fo weit die deutjche Zunge Elingt 






gan ſtehen in frommer Eltern Pflege, 
D, meld’ ein Segen für ein Kind! 

Ihm find gebahnt die rechten Wege, 

Die andern ſchwer zu finden find.” 


Diefe Worte charakterijiren am bejten die Grundjäge, nad) wel- 
chen der Vater Uhlands ſeinen Sohn 30H; erjterer war Univerſitäts— 
Sefretär in der guten Schwabenjtadt Tübingen. Hier erblidte unfer 
Dichter das Licht der Welt, und hier an dem flaren Nedar, der fo 
freundlich ernjt durch das Städtchen fliegt, entwidelte fich in dem 
redlichen, wahrhaften und frommen Gemüthe des Knaben jener zarte 
Sinn für Natur, der uns in den Erzeugniffen feiner Mufe k anzieht. 
Schon 1802 bezog Uhland, wie dies damals Sitte, als fünfzehnjähriger 


198 Ludwig Uhland. 


Jüngling die Univerfität der Vaterjtadt. Bu dem Corpus juris, das 
er jtudirte, fühlte er wenig Neigung in jich, er widmete jich der Rechts- 
wiſſenſchaft nur, weil äußere erhältnifje diejes Studium erjprießlich 
ericheinen ließen. 

Neben der Jurisprudenz, welche Uhland jtets als eine drückende 
Lajt empfand, jtudirte derjelbe jehr eifrig das Franzöſiſche, das Eng- 
Ice die nordiichen Sprachen, das Portugiefiiche und Spaniſche. Vor 
allem jchlug jein Herz jedoch für die mittelalterliche Poejie und Sage 
und in a drang er mit raftlofem Fleiße tiefer und tiefer ein. Weber 
das lateinische Gedicht Walther von Aquitanien, das fich Uhland lieh, 
jchreibt er entzüdt: „Das hat in mich gejchlagen! Was die klaſſiſchen 
Dichterwerfe troß meines eifrigen Leſens mir nicht geben fonnten, weil 
fie mir zu Far, zu fertig Saltnde, was ich an der neueren Poeſie 
mit all ihrem rhetoriſchen Schmud vermißte, das fand ich hier: friſche 
Bilder und Gejtalten mit einem tiefen Hintergrund, der die Phantaſie 
beichäftigte und anſprach!“ 

Ber diefem Studium entdedte Uhland die Stoffe, welche fic für 
die poetijche Bearbeitung eigneten; denn jchon während feiner Univer: 
fitätszeit, namentlich in den Jahren 1805 bis 1807, entjtanden jehr 
viele von den Liedern, Balladen und Romanzen, die jegt in aller Munde 
jind. In Uhland, der allerdings verjchloffen, ſchweigſam und ftille war, 
war nicht3dejtoweniger der Sinn für Freundſchaft jtarf entwidelt; und 
jo trat er denn auch auf der Univerfität mit dem gleichgejinnten 
Juſtinus Kerner und Karl Mayer in eine jehr enge Verbindung, welche 
fi) bis zum Tode erhielt. 

ar Uhland die Rechtswifjenjchaft nicht Liebte, ftudirte er die- 
jelbe doch jehr fleißig, jo daß er im Mai 1808 das — — 
cum laude beſtand und am 12. Oktober dieſes Jahres an Karl Mayer 
betreff3 de3 Advofateneramens jchreiben kann: „Mein Eramen ift über- 
ftanden und jo, daß ich zufrieden fein kann, wenngleich nicht ſplendid.“ 

Das Jahr 1809 und die erjten Monate von 1810 benutzte 
Uhland, um eine ae föftlicher Perlen unſeres Liederfchages zu 
Ichaffen. Unter diefer Beichäftigung hatte jeine Doktordifjertation zu 
leiden, die nicht t vorwärts fommen wollte. Sie behandelte das 
Thema: „De juris Romanis servitutum natura dividua vel indivi- 
dua.* Uhland reichte fie am 1. April 1810 ein umd wurde drei Tage 
jpäter mit Ehren zum Doetor juris promovirt. 

Schon einen Monat fpäter — wir ihn auf der Reiſe nach 
Paris; hier ſollte er den Code Napoléon und die Juſtizpflege des 
kaiſerlichen Frankreich ſtudiren. Er ſelbſt geſteht jedoch, daß er das 
Palais de justice weniger beſucht habe, als die Bibliothek, wo er ſich 
tief in das Studium der alten franzöfiichen und deutjchen Manujffripte 
verjenkte. Uhland traf in Paris ll Varnhagen von Enje, den 
er.von Tübingen ber fannte, und wurde durch ihn mit Chamiſſo be: 
fannt. In produftiver Beziehung war der Aufenthalt in Paris ſehr 
günstig für Uhland; er brachte aus der fran llnen uptitadt mit: 
„Der nächtliche Ritter“, „Das Reh“, „Amors Pfeil“, „Schidjal“, „Das 
Kr — Eberhards Weißdorn“, „Die Jagd von Wincheſter“, 
Todesgefühl“ ꝛc. 

Als Uhland Februar 1811 wieder in Tübingen angelangt war, 


Ludwig Uhland. 199 


fühlte er ſich fehr vereinfamt; jeine rg hatten alle die 
Vaterſtadt verlajjen; einigermaßen Erjag für fie fand er in Guſtav 
Schwab, mit dem er damals zuſammenkam. Dazu fam, daß die Pro- 
zegichriften, welche er 1811 big 1812 verfertigte, wenig geeignet wareır, 
ihn zu erheitern. Ende 1812 trat er als unbefoldeter Sekretär in 
das A engl in Stuttgart, fühlte ſich jedoch gar nicht wohl 
in demjelben, was jchon aus der Charakteriſtik hervorgeht, welche er 
von jeinem Chef, den Freiherrn von der Bühe giebt: „Ein bewegungs— 
lojes Gejicht, une bejchreibt er —— 

Hatten die Jahre 1811 und 1812 31 und 23 Gedichte aufzu— 
weiſen, jo finden wir deren 1813 nur 5. Die monotonen Bureau- 
arbeiten, welche fajt jeine ganze Zeit in Anſpruch nahmen, lähmten 
jeinen Geiſt jo, daß ihm die Stimmung zu dichteriichem Schaffen 
fehlte. Als man ihm dazu noch 1814 das Sefuch um Bejoldung ab: 
ſchläglich beantwortete, gab er im Mat jeine Stellung im Ministerium 
auf und ließ ſich in Stuttgart als Advofat nieder. An Mayer jchrieb 
er damals: „‚zreilich bin ıc) nicht zum Advofaten geboren, es fehlt 
mir bejonders das Talent zum Erwerb.“ 

Sehr jchmerzlich hatte es Uhland berührt, daß er als Württem- 
berger den Kampf gegen Frankreich nur mit jeinen Wünſchen begleiten 
konnte. Wie heiß Diele für das deutjche Vaterland die Befreiung her: 
beifehnten, zeigen die Gedichte: „Vorwärts“ und „An das Vaterland“. 
Mit dem Ve der wiedererlangten Unabhängigfeit erwachte auch in 
Uhland die Sangesluft aufs neue, jo daß das Jahr 1814 das lieder: - 
reichjte unjeres Dichters ift. Im Sommer 1815 hatte derjelbe Die 
Freude, daß jeine Gedichte bei Cotta erjchienen. Dieje erjte Auflage 
zeigte im wejentlichen denjelben Inhalt, wie die, welche bei Uhlands 
ode herausfam, wenn jchon die jpäteren Jahre noch manche Perle 
brachten. Es dürfte daher ganz am Plate jein, jet einen Blid auf 
die Bedeutung Uhlands als Lyriker zu werfen. 

Die ungeheure Popularität, welche ſich Uhland durch jeine Lie- 
der, Balladen und Romanzen erjungen, bafirt in erjter Linie darauf, 
daß er ein durch und durch deutjcher Dichter ift, welcher in jedem 
feiner Verje deutjche Eigenart, deutiches Wejen und deutjche Gemüths— 
tiefe wiederjpiegelt. Er jelbit äußerte ich zu Riehl über diefen Punkt: 
„Für eine Poeſie für jich, vom Volke abgewanbdt, eine Poeſie, die nur 
die individuellen Empfindungen ausipricht, habe ic) nie Sinn gehabt. 
Im Volke mußte es wurzeln, in jeinen Sitten, jeiner Religion, was 
mich — ſollte.“ 

Uhland ſteht in ſeiner Lyrik namentlich im ar jeiner poe⸗ 
tiichen Laufbahn ganz unter dem Einfluffe der Romantik, die bei ihm 
jedoch nie in die Verſchwommenheit und die Phantasmen ausartet, 
welche fich einige rs dieſer nos haben zu Schulden kom— 
men laſſen. Sehr lebendig ijt in Uhland der Sinn für Natur: 

„Ih bin ein Kind und mit dem Spiele 
Der beiteren Natur vergnügt. 


In ihre rubigen Gefüble 
Iſt ganz die Seele eingewiegt“ 


fingt unfer Dichter in den „Sanften Tagen. 


200 Ludwig Uhland. 


„Die Eigenthümlichfeit feiner Ddichterischen Anſchauung“, jagt 
D. Jahn in feinem Werfe über Uhland, „beruht wejentlicy in jeinem 
lebendigen Sinn für Natur. Diefe wurde ihm zum Symbol der fitt- 
lichen Welt, er lieh ihr das Leben jeines eigenen Gemüths und machte 
die Landjchaft, dem Es Maler gleich, zum Spiegel jeiner dich— 
teriichen Stimmung. ie aber die bejeelte Landichaft die menſch— 
liche Gejtalt al3 nothwendige Ergänzung fordert, jo belebt und indis 
vidualijirt auch Uhland das Bild der Natur durd) den Ausdrud 
menschlichen Seins und Handelns. Und hier macht jich nun feine 
Vorliebe für die Erinnerungen deutjcher Vorzeit geltend. Die Empfin- 
dungen, welche — werden, die Situationen, die Charaktere 
gehören nicht der Vergangenheit an, ſie haben die ewige, jugendfriſche 

hrheit aller echten Vockie: aber der Dichter jucht mit Recht, dieje 
einfachen Gejtalten von allgemeiner Geltung dem gewöhnlichen Kreis 
der täglichen Erfahrung zu entheben und hüllt jie in den Duft mittel- 
alterlicher Reminiscenzen. Seine Kunst, die verjchtedenen Elemente 
der Veen Stimmung, des landjchaftlichen Bildes und der 
mittelalterlichen Staffage zum Ganzen einer fünjtlerischen Kompoſition 
im fnappften Rahmen mit den einfachiten Mitteln rg ng ai 
iit bewunderungswürdig, und auf ihr beruht wejentlich der Reiz feiner 
vollendetiten und beliebtejten Gedichte. — iſt ſie ſeinen Liedern 
und Balladen gleichmäßig eigen; die nahe Verwandtſchaft beider iſt 
darin begründet, nur die Miſchung der Elemente iſt eine andere.“ 

—* Worte Jahns charakteriftren die dichteriſche Eigenart Uhlands 
jo ap und erjchöpfend, daß wir denjelben nichts Dingugufügen 
haben. Neben jeiner Wirkjamfeit als — dürfen wir jedoch auch 
die als Dramatiker nicht ei ler ereit8 beim Beginne jeiner 
Tübinger Studien wendet ſich Uhland auch dem Drama zu; er lehnt 
fich) zuerjt ganz an feine klaſſiſchen Studien an. Y In jeinem „Thyeſt“ 
nac) Annäus Seneca ſteht er noch in der Abhängigkeit des Ueber— 
jegers. Um 1805 beichäftigte er jich mit einem Drama „Achilleus 
Tod“, von dem ich nichts erhalten Hat. In dieſem wollte er in helle 
nischem Koſtüm die ‚moderne Idee zum Ausdrud bringen, daß, wenn 
auc das Schidjal die Ausführung unjerer —“ verhindert, ſie 
doch vollendet ſind, wenn wir ſie nur ganz und feſt erfaßt haben, 
d. h. etwas, was in Wirklichkeit Bruchſtück 9 kann in der Idee ein 
großes Ganze ſein. 

Die klaſſiſchen Geſtalten feſſelten Uhland bei ee dramatijchen 
Entwürfen nicht lange; von ihnen wandte er jich ab, um zur Romans 
tif überzugehen. Auch was er unter dem Einflufje diejer Richtung 
geichaffen, 1it Fragment oder Entwurf geblieben. So der „Speerwurf“, 
„Helgo“ (1807), „Alfer und Auruna“ (1807—1808), „Francesca da 
Rimini“ (1807); legteren Stoff, zu dem Dante Comedia divina die 
Anregung gegeben, hat befanntlic, vielfach, zur Dramatifirung ange- 
reizt, wobet wir nur an Paul Heyjes, an Silvio Pellicos Schöpfun— 
gen zu erinnern brauchen. Der romantischen Richtung gehören ferner 
an: „Eginhart oder die Entführung“; ein Theil dieſes Dramas ijt 
unter dem Titel „Schildeis“ den Gedichten in der allgemein befammten 


— — 


N Bergl. Keller, Uhland als Dramatiler. Stuttgart 1877. 





Ludwig Uhland, 201 


Ausgabe beigefügt; ferner das ergögliche Singſpiel „Der Bär’, das 
— in Gemeinſchaft mit Juſtinus Kerner verfaßte. Entwürfe, 
rejpeftive Fragmente blieben „Zamlan und Jannet“ (1809), „Der u 
ſüchtige König“ und das Luſtſpiel „Serenade“. Vollendet iſt das 
Zrauerjpiel „Benno“ (1809), das injofern bejonderes Interefje ver- 
dient, als Uhland in Bezug auf dafjelbe am 21. Januar 1810 an 
Kerner die für ihn jo charakterijtiichen Worte jchrieb: „Bei meiner 
inneren Unruhe, bei meiner jonjtigen jo verjchiedenartigen Beſchäfti— 
gung war mir bisher nichts größeres, ausgeführteres möglich. Und 
mein Talent zum Drama?“ 

‚Wie umgerechtfertigt der Zweifel ift, den Uhland ſomit in jeine 
Fähigkeit als Dramatiker jet, zeigt uns der „Normänniſcher Brauch“ 
1814—1815). Die dee, welche demjelben zugrunde liegt, hat der 

ichter altfranzöfischen Fabliaux entnommen; jo beginnt 3. B. das 
Diz dou soucretain de Cluny von Jehan li Chapelain bei Meon, 
nouveau recueil de Fabliaux mit den Verſen: 


„Usages est in Normandie 

Que qui herbergeriez est qu’il die, 
Fable ou changon die à l’oste 
Cette costume pas n’eu oste 

Sire Jehans li Chapelains etc. etc.“ 


„KRormännischer Brauch“ ijt ein Eleines Meiiterwerf, in das Uhland 
jo viel Herzlichkeit, Gemüthstiefe in_fnappem Rahmen zum Ausdrud 
bringt, daß wir uns wundern müfjen, daß diejes Drama jo felten 
aufgeführt wird. In Stuttgart iſt es z. B. am 9. April 1874 und 
Dftober 1876 mit bejtem Erfolge zur Darjtellung gebracht worden. 

Im „Normanniichen Brauch“ haben wir den legten Nachklang 
der Romantik zu jehen. Das Fragment „Karl der Große“ (1814) 
gehört ſchon der hijtorischen, vaterländiichen Richtung an, der Uhland 
nun in jeinen Dramen treu blieb. Sehr zu bedauern ijt, daß der 
„Konradin“ unvollendet blieb. Unfer Dichter — ſich, wie aus 
einem Briefe hervorgeht, dieſem Thema, das an dreißig Bearbeiter be— 

eiſtert hat, nicht Bee: zu jein. Im die Jahre 1816 bis 1817 
Kalle fein Trauerjpiel: „Ernit, Herzog von Schwaben“, in dem uns in 
ergreifender Weije die unerjchütterliche Treue de Helden gegen jeinen 
Freund Werner von Kyburg gejchildert wird. Diejes Drama ijt 1819 
in Hamburg und Stuttgart über die Bühne gegangen. Eine edle Sprache 
vereinigt ſich in ihm mit der vollendetjten ‘ —— edler Charak— 
tere; bühnenwirkſam kann jedoch das Drama nicht genannt werden, da 
ihm ſpannende, energiſch fortſchreitende — packende Leidenſchaft 
fehlen. „Die Weiber von Weinsberg“, die „Nibelungen“ (1816) blieben 
wieder Fragmente. Erſt das Jahr 1818 brachte uns in „Ludwig dem 
Bayer“ das zweite größere vollendete Drama. Den Inhalt deflefben 
bildet die Ruͤckkehr ‚rierie des Schönen in die Gefangenfchaft ſei— 
nes einjtigen Freundes und jpäteren Gegenkönigs Ludwig, welcher 
ergreifende, für den Charakter unjeres Volkes jo bezeichnende Moment 
der deutjchen Gejchichte auch Schiller zu feinem herrlichen Gedichte 
„Deutiche Treue“ begeijtert hat. Die Vorzüge und Mängel diejes 
Uhlandjchen Dramas jind diejelben wie die ın „Ernjt von Schwaben“ 

Ter Salon 1887. Heft VIII. Band II. 14 


202 £udwig Uhland. 


enthaltenen. Nach „Ludwig dem Bayer“ vollendete unfer Dichter Fein 
Drama mehr. „Welf“, „Der arme Heinrich“ (1818), „Otto von Wit: 
telabad)“, „Bernardo del Caprio“ (1819) und Johannes PBarricida“ 
(1820) jind ung nur in Entwürfen und Fragmenten überliefert. 

Die dramatijche Thätigkeit Uhlands, welche wir im vorjtehenden 
im Anjchluffe an Keller ſkizzirt haben, wird vielfad ganz falſch und 
tadelnd beurtheilt. Gerade deßhalb hielten wir es für nöthig, dieſe 
Seite Uhlands ausführlicher zu beleuchten. Sagt doc) ubalt Wien- 
barg in den Dramatifern der Jetztzeit“ (Altona 1839) mit Recht: 
„Man ahnt nicht, daß Uhland den Dramen jeine Jugendfraft gejchenft 
und daß man, wenn man gevecht jein will und fein Urtheil nicht bloß 
durch die Vollendung der — leiten läßt, in ihnen den treuen, ſtarken, 
unverfälſchten, Fed und ſinnig geſtaltenden Dichter für ebenſo einzig 
und eigenthümlich auf dem dramatiſchen Gebiete anerfennen muß wie 
auf dem Iyrijchen.“ 

Wir And überzeugt, daß diefe Worte das Wichtige treffen und 
wenden uns, nachdem Uhland ala Dichter gewürdigt, nunmehr wieder 
feinen weiteren Lebensſchickſalen zu. 

Seit dem Jahre 1816 ai Uhland den Tebhafteften Antheil 
an den Verfafjungsftämpfen in jeinem engeren Vaterlande, wobei feine 
entjchieden demokratische Gejinnung hervortrat. Die Bewerbung um 
eine Staatsitelle, welche jeine Eltern, die um die Zukunft des Sohnes 
bejorgt waren, lebhaft wünjchten, hielt er für unmöglich, da er ange: 
fihtö der obwaltenden politiichen Verhältniffe dem Könige Lu den 
Eid der Treue leiften zu können glaubte. Bei diefem Entſchluſſe be— 
harrte er, obwohl er fich ala Advokat in jehr bedrängten Finanzver— 
hältniffen befand. Das Gedrücdte in feiner damaligen Stimmung 
zeigen uns die wehmiüthigen Gedichte „Mailied“, „Klage“, „Rechtfer: 
tigung“ (1816). Im allgemeinen haben jedoch Die poetijchen Erzeug⸗ 
niſſe jener Zeit ein entichteden politifches Gepräge; war Uhland doc 
Teuer und Flamme in dem Kampfe um „das alte gute echt“, von 
dem er begeittert jingt: 


„Wo je bei altem guten Wein 
Der Württemberger zecht, 

Da foll der erfte Trinkſpruch fein: 
Das alte gute Recht. 


Das Recht, das unfer Fürftenbaus 
Als ftarker Pfeiler ftütst, 

Und uns im Lande ein und aus 
Der Armutb Hütten jchiitt. 


Das Recht, das uns Geſetze gicht, 
Die feine Willfür bricht, 

Das offene Gerichte liebt 

Und giltig Urtbeil ſpricht.“ 


Diejelbe —— ſpiegeln die Gedichte wieder, die betitelt ſind: 
„Die neue Muſe“, „An die Bundſchmecker“, „Geſpräch“, „An die 
Volksvertreter“, „Ernſt der Zeit“, „Schwindelhaber“ „Hausrecht“, „Das 
Herz für unſer Volk“. Auch in ſeinem Leben hat Uhland allzeit be— 


£udwig Hhland. 203 


wiejen, daß ihm „der Männeritolz vor Königsthronen” in Fleiſch und 
Blut übergegangen war; I vor allem auch während feiner Wirkſam— 
feit al3 Abgeordneter für Tübingen in der Württembergijchen Stände: 
fammer von 1819 bis 1826. Stet3 war jein Augenmerk auf das 
Wohl des Volkes gerichtet, das ihm ohne Inſtitutionen wie: Deffent- 
lichkeit der bürgerlichen Rechtspflege, vollitändige Freiheit der Preſſe 
nicht denkbar jchien. 

Bm 29. Mai 1820 heiratete Uhland Emilie Viſcher, mit der er 
eine jehr glückliche, wenn auch kinderloſe Ehe verlebte. Diejes Bünd⸗ 
niß enthob unſeren ae aller äußeren Sorgen; in jeiner alten 
Sangesluſt zeigte er fich jedoch nur noch zweimal; 1829 bis 1830 
entitanden: „Der Mohn“, „Bertram de Born“, „der Waller“, „Ver 
sacrum“, „Dünfterfage“, Merlin der Wilde“, „Der A! von Greyers“, 
1834 jchenfte er uns: "Die Bidaſſoabrücke“, „Die Geiſterkelter“, „Die 
verfunfene Krone“, „Das Glüd von — Das Singenthal“. 
Von dieſem Zeitpunkt an ſchwieg die Uhlandjche Muſe faſt ganz. 

—— während der erſten Periode, welche unſer Dichter der 
Ständekammer an Din vertiefte ſich Uhland in die Poefie des 
Mittelalters; das NRejultat diejer altdeutichen Studien, bei denen er in 
dem a ir von Laßberg einen Gejinnungsgenofjen und eifrigen 
‚Förderer fand, war die Schrift über „Walther von der Vogelweide“ 
(1822). Dieje wirkte jo epochemachend, dag Uhland als Profejjor der 
deutjchen Literatur an die Univerjität Tübingen berufen wurde. Hier⸗ 
mit wurde ein Lieblingswunſch Uhlands erfüllt, der fich nicht allein 
* der Vaterſtadt, wo ſeine bejahrten Eltern lebten, ſehnte, ſondern 
au * eine akademiſche Lehrthätigkeit geſchaffen war. 

ie Vorträge Uhlands, die derſelbe mit ſeiner markigen, kraft— 
vollen Stimme hielt, waren Die re — Forſchungen; er 
las über die Geſchichte der deutſchen Poeſie im 13. 14, 15. und 16. 
Jahrhundert, ſowie über romaniſche und germaniſche Sagengeſchichte. 
Die Vorträge wurden ſpäter in den „Schriften zur Geſchichte der 
Dichtung und Sage“ veröffentlicht; de glänzen durch die Durcharbei- 
tung des Stoffes und durch die vollendete, — volle Darſtellung; 
ſie zeigen uns Uhland als gelehrten Forſcher, ae ung jedoch au 
jeder Seite den kunſtſinnigen Dichter erfennen, in dem F gediegenes 
Wiſſen mit dem feinſten Sinn für das Schöne und Erhabene zu 
einem harmoniſchen Ganzen vereinigen. 

Im Jahre 1831 verlor Uhland ſeine beiden Eltern, die uns in 
den aufbewahrten Briefen als treue, herzliche, echt deutſche Geſtalten 
entgegentreten; unjer Dichter wurde von ihrem Ableben aufs Tiefſte 
erjchüttert und brach in die wehmüthige Klage aus: 


„Zu meinen Füßen finft ein Blatt, 
Der Sonne müd', des Regens fatt; 
Als diejes Blatt war grün und neu, 
Hatt' ich noch Eltern, lieb’ und treu. 


O, wie vergänglich ift ein Laub, 

Des Frühlings Kind, des Herbites Raub! 
Doch bat dies Blatt, das nieberbebt, 

Mir fo viel liebes überlebt.“ 


14* 


204 Ludwig Uhland. 


Auch der Tiebgewonnenen a Bag mußte Uhland nad) kur— 
zer Zeit entjagen. Er war von jeiner Vaterſtadt zum zweiten Male 
in die Ständefammer gewählt worden (1832); hier trat er uner- 
Ha ein für Preßfreiheit, Vereins- und Berjammlungsfreiheit, 
timmte gegen die übermäßige re. des Milttäretats und jprach 
warme Worte für Hebung des Volfsunterrichts, für. die Rechte der 
Volfsvertretung. Dieſes freifinnige Vorgehen veranlafte die Regierung 
ihm den Urlaub, der zum Eintritt in die Kammer nöthig war, zu 
verjagen, worauf Uhland am 16. November 1833 jeine Profejjur 
niederlegte und dem Staatsdienjt für immer entjagte. 

Diejes mannhafte Auftreten eroberte Uhland die Herzen, welche 
feiner Sangeskunſt widerjtanden hatten. Es that dem waderen, treuen 
Manne unendlic) wohl, daß in in Tübingen Studenten und Bür- 
gerichaft zujanejäte, und daß ſeine Dichtungen, wie die fortwährend 
nothwendigen Auflagen zeigten, tiefer und tiefer in das deutſche Bolf 
drangen, wozu namentlich auch die glüdlichen Kompojitionen Glüds, 
Silchers, Kreuzers und Mendelsſohns das Ihrige beitrugen. 

Neben jeiner parlamentariichen Wirkſamkeit, welche bis 1838 
dauerte, waren es wieder altdeutiche Studien, die Uhland in den 
wer zwölf Jahren bejchäftigten. In jedem Sommer unternahm er, 
meiſt in Begleitung jeiner Frau, ausgedehnte Reifen in alle deutjche 
Gaue. Diele 7 nicht allein den Zweck der Erholung; Uhland 
wollte auch auf ihnen nicht allein das von ihm ſo heißgeliebte deutſche 
Vaterland kennen lernen, ſondern vor allem ſammelte er auf dieſen 
Reiſen Volkslieder und ſtudirte in den Bibliotheken die alten Manu— 
ſtripte, was ihm ſtets eine Lieblingsbeſchäftigung geweſen iſt. Früchte 
dieſer Studien waren „Ueber den thus vom Thor“ (1836) und 
„Alte hoch- und niederdeutiche Volkslieder“ (1844); dieſe Schriften, zu 
denen ſich jpäter die Abhandlung über das Volkslied reihte, gehören 
zu dem Vortrefflichiten, was wir auf diefem Gebiete bejigen, jo daß 
Uhland verdient, neben den eng mit ihm befreundeten Gebrüdern Grimm 
als Germanijt genannt zu werden. 

Aus der Huhe jeines wiffenjchaftlichen Beitrebungen gewidmeten 
Lebens wurde Uhland durd) das Revolutionsjahr 1848 geriſſen. Als 
dieſes auch den morjchen deutjchen Bund in feinen Grundfejten erzittern 
ließ, war Uhland einer der jiebzehn Vertrauensmänner, Die nad) 
Frankfurt a. M. gingen, um den feitgefahrenen Bundesfarren wieder 
ins Geleiſe zu bringen. Später wurde er als Vertreter von Tübingen- 
Rottenburg mit 7086 von 7682 Stimmen in die erite deutiche Ratio- 
nalverfjammlung gewählt. Daß er in diefer jeine demofratijchen An— 
jichten zum Ausdrud brachte, verjteht ſich nach dem ng wohl 
von jelbit. Zu bemerfen iſt jedoch), daß Uhland in feiner Demofratie 
„neben der Feſtigkeit im Beharren feiner Rechte, auch fein Recht ver: 
legen“ wollte. Bei der Wahl eines Neichgoberhauptes griff, Uhland 
mit kräftigen Worten in die Debatte. Er erklärte ſich für die perio- 
diiche Wahl eines verantwortlichen Reichsoberhauptes durch die Volks— 
vertretung und ſtimmte gegen das preußiiche Erbfatjerthum unter Aus— 
ichliegung Oeſterreichs. Unter Hinweis auf den volfsthümlichen 
Urjprung der neuen Gewalt jchloß er jeine Rede mit den befannten 
Worten: „Slauben Sie, es wird fein Haupt über Deutjchland leuch— 


£udwig Hhland. 205 


ten, das nicht mit einem vollen Tropfen demofratijchen Deles gejalbt 
it.“ Uhland begleitete das jogenannte Rumpfparlament bis nad) 
Stuttgart, jah hier den deutjchen Einheitstraum verwehen und 309 
fih) dann 1850 ganz von dem politischen Leben zurüd, um im der 
Stille jeiner Frau, jeinem Pflegejohne, feinen Freunden und feinen 
wiffenjchaftlihen Studien zu leben, mit denen wieder die ausgedehn- 
teiten Reifen abwechjelten. 

Ein hohes und Fräftiges Alter war Ludwig Uhland bejchieden; 
die fchlichte Einfachheit jeines Wejens Liegen ihn mit Konſequenz jede 
Auszeichnung zurüdweijen, jo lehnte er 1853 den Orden pour le 
merite ab, obwohl Friedrich Wilhelm IV. ihn jchon als Ritter deſſel— 
ben bejtätigt hatte. Uhland genoß wegen der fledenlojen Reinheit jenes 
Charakters, wegen der jeltenen Treue, die er in feinen Anfichten, in jeinem 
Handeln gezeigt, die Achtung aller Parteien im höchiten Maße; edel, 
bieder, fromm, kühn, treu, ich und rein iſt er durch das Beben gewan— 
delt. In allen Stadien diefer langen Lebensbahn hat er tiefite Reli— 
giojität, le Fleiß, Eraftvolle Männlichkeit bewiejen; er war jtreng 
gegen Jich, mild, wohlthätig und nachjichtig gegen andere; er war mit 
einem Wort das Ideal eines urdeutichen Mannes. 

Als Ludwig Uhland am 13. November 1862 die treuen Augen 
in feiner Vaterſtadt jchloß, durchzitterte ein Schmerzensſchrei Aldeutich- 
land. Ebenjo tief, aufrichtig und herzlich werden die Neuerungen 
der en jein, zu denen die Jubelfeier am 26. April diejes Jahres 
Anlap geben wird. Der Inhalt all der zahlreichen Gedächtnigreden, 
die man an jenem Tage halten wird, läßt fich in die Worte Hermann 
Kletkes Eleiden, mit denen auch wir jchließen: Ä 


„Er war ein Dann; ein Dichter voll umd ganz! 
Legt ihm aufs Grab den immergrünen Kranz! 
Und mie er felbft fo treu, fo fejt und echt, 

So eifr’ ibm nach der Zukunft neu Geſchlecht!“ 


ar 


e N S) 





Aus dem Gebiete der Keramik. 


Bon R. Raab. 







IL, as hohe Alter der Thomwaareninduftrie oder Keramik 
A o| geht nicht nur aus erhaltenen Ueberbleibieln jehr Br 
} * Perioden, ſondern auch aus der bei vielen Völkern 
ZU wiederkehrenden Sage hervor, nach welcher der Menſch 
TEN von Götterhand aus dem Thon erjchaffen ps 
U RS > Dr. Schliemanı nennt die Topfwaaren fehr ſchön: 
| „Das Füllhorn archäologischer Weisheit für jene dunfeln 
| Zeitalter, die wir, im Zwielicht einer unvordenflichen Ber: 
P gangenheit unficher taſtend, vorgej ichtlich zu nennen pflegen.“ 
Der berühmte Gelehrte hat bei ſeinen ir ern in der Troas 
riefige Maſſen von — ———— zutage gefördert und auch damit der 
Kulturgeſchichte weſentliche Dienſte geleiſtet. In der Mehrzahl der 
prähiſtöriſchen Städte von Hiſſarlik, der wenige Kllometer vom Hellespont 
entfernten Stätte, wo nach Schliemann das homerische Ilion zu ſuchen 
ift, giebt e8 Thonjachen, wie man fie — in Ungarn und Steben- 
bürgen, in Oſt- und Mitteldeutichland, ja jelbit in den Pfahlbauten 
der Schweiz antrifft. Die Völker, die in_dem Zeitalter, für welches 
leichzeitige gejchriebene Dokumente nicht exiſtiren, den Bügel von Hijjar- 
üt bewohnten, verfertigten aus gebranntem — alle Geräthe für das 
alltägliche Leben ſehe als für das Begräbniß der Todten. Statt 
hölzerner oder ſteinerner Särge verwendeten ſie Graburnen aus Ter— 
rafotta. An Stelle der Keller, Kiſten oder Büchſen hatten fie er 
4 bis 7 Fuß hohe Krüge, die in den Boden eingegraben wurden, jo 
daß nur die Mündung Nhtbar war, und die zur Aufbewahrung von 
Speifen oder ala Behälter für Del, Wein oder Wafjer dienten. Statt 
der Wajchfübel benugten fie große Terrafottabeden. Aus gebranntem 
Thon bejtanden alle ihre Geräthe zum Kochen, Eſſen und Trinken, 
die Nährflajchen und verjchiedenes Spielzeug für Kinder, aus ge: 
branntem ** ſogar ihre Kleiderhafen, die Handhaben ihrer Bürſten, 
ihre Weihgeſchenke, die Gewichte an ihren Fiichernegen. Bon Kinder: 
jpielzeug wurden tief aus dem Schoße der Erde hervorgeholt: ein 
ea eifel aus Terrakotta, eine merhvürdige, mit eingejchnittenen 


Aus dem Gebiete der Keramik. 207 


Linien verzierte Klapper von jchwarzem Thon, deren Griff zum Auf— 
hängen durchbohrt ih und eine andere Klapper in Gejtalt eines Wei- 
bes, das die Hände auf der Brujt hält. Beide Klappern enthalten 
fleine Metallitüde. Selbjt ein Stüd von einer jechsjattigen Lyra aus 
Zerrafotta hat Dr. Schliemann aufgejtöbert. 

Der zweiten von ihm ausgegrabenen Stadt, dem anjcheinend 
durch eine gewaltige Feuersbrunſt zeritörten eigentlichen Troja, dem 
Ilios“ der homeriichen Legende, jind 15 Millimeter dide, vollkommen 

ebrannte, glänzend dunkelrothe Thonplatten eigenthümlich), deren 
Bruchitüde man in ungeheuren Maſſen in dem Schutt der Stadt fin- 
det, die aber in feiner der anderen Anfiedelungen in Hiſſarlik vore 
fommen. Bei allen zeigt der Rand eine Krümmung, woraus ſich 
— läßt, daß die Platten die Fragmente großer, faſt flacher 
eller oder Schalen ſind, die mehr als einen Meter im Durchmeſſer 
ehabt haben müſſen. Dieſe Schalen dürften, auf ein Holzgeſtell ge— 
—* als Tiſch gedient haben und geugen von der Reinlichkeit nicht 
minder, als von dem guten Gejchmad der Trojaner. 

Unter den in den Schuttmafjen der trojanischen Ortſchaften auf: 
gefundenen zerbrochenen Thongeräthen iſt feine Spur von Dachziegeln 
zu entdeden. Es jcheint deßhalb jicher, daß, genau wie die Die 
der jegigen Bewohner der Troas, aud) die der hier aufeinander folgen- 
den vorhijtoriichen Städte mit flachen Dächern und Balken gededt 
waren, über welche man eine dicke Lage Thon breitete. 

Während den Ruinen von Troja nur mit der Hand gemachte, 
unbemalte Töpferwaare mit eingepreßter oder eingejchnittener Orna— 
mentation entitiegen ift, fand Dr. Schliemann in Tiryns und Myfenä 
phantaſtiſch — Vaſen, Kannen, zum Teller, Näpfe ıc., Die 
alle auf dem Zöpferrade gedreht und gewöhnlich auf hellrothem Grunde 
mit den verjchiedenartigjten gemalten, lebhaft rothen Verzierungen ge: 
ſchmückt waren. 

Die uralte Eitadelle von Tiryns, jest Paläocaſtron genannt, lag 
in der jüdöjtlichen Ede der Ebene von Argos, auf der niedrigiten und 
flachiten jener Felshöhen, welche dort eine Gruppe bilden und jid) 
wie Inſeln aus der jumpfigen Niederung erheben, nur gegen 1500 
Meter vom Golf von Argos entfernt. Sie jtand in hohem Anjehen 
als Geburtsort des Herkules und war durch ihre „cyklopiſchen“ 
Mauern berühmt. Nach alter Tradition wurde Tiryns von — 
(circa 1400 v. Chr.) erbaut, welcher der erſte König der Stadt war und 
dejien Sohn Megapenthes jie an Perjeus, den Gründer von Myfenä 
abtrat. Perſeus gab ſie an Elektryon, dejjen Tochter Alkmena, die 
Mutter des Herkules, den jpäter von Sthenelus, dem Könige von 
Argos und Myfenä, vertriebenen Amphitryon heiratete. Herkules 
eroberte Tiryns und hatte lange Zeit hier feinen Wohnfig, weßhalb 
er häufig der Tirynthier genannt wird. Tirynd wurde 468 v. Chr. 
von den Argivern zeritört. 

Die Gründung der 11/, deutjche Meilen von Argos entfernten 
Stadt Myfenä jchreibt die Sage Perjeus, dem Sohne der Dana und 
des Zeus, zu. Perſeus zeugte mit Andromeda den Sthenelus, wel 
chem er das Königreich hinterließ. Die Dynajtie des Perjeus endete 
mit Euryjtheus, dem jein Onfel Atreus, der Sohn des Pelops, folgte. 


208. Aus dem Gebiete der Keramik. 


Bon Atreus überfam das Königreich jein Sohn Agamemnon. Aejchy- 
(03 und Guripides behaupten, Agamemnon jet mit jeinem Wagens 
lenker Eurymedon, der Prinzeifin Caſſandra und ihren Begleiter 
nach der Rückkehr von Troja verrätherijcherweie von Klytämnejtra 
im Bade ermordet worden. Pauſanias giebt an, die ermordeten 
Berjonen wären in der Akropolis von Mykenä begraben. Cs 
unterliegt faum einem Zweifel, daß die von Dr. Schliemann in My— 
fenä entdeckten Gräber die irdischen Tleberreite der Getödteten enthals 
ten, und daß die aufgefundenen riefigen Schäße mit den Leichen in 
die Erde gebettet wurden. 

Die Baujtelle von Myfenä ift mit Taujenden von Topfjcherben 
überjäet, Die — ihrer Farbenfriſche verloren haben, obwohl ſie 
Ic es 2500 Jahren der Sonne und dem Wegen ausgejegt ges 
wejen jind. 

Die Mykenier jcheinen Muſiker gewejen zu jein; denn Schliemann 
fand das herrlich verzierte knöcherne Bruchſtück einer Leier und drei 
Bruchitüde einer Flöte, die an derjelben Stelle, aber in verjchiedener 
Tiefe lagen und augenjcheinlich zu einem und demjelben Inſtrumente 
gehören. Das obere Stück der öte beitcht aus Knochen, das untere 
aus Terrakotta, das Bruchſtück der Röhre aus Topfitein, dem lapis 
olloris des Plinius. 

Bemerfenswerth ijt, daß in Hiſſarlik ſowohl, als in Tiryns und 
Mykenä eine Unzahl von Terrafotta-Fdolen gefunden wurden. Der 
Thon jtand aljo auch im Dienſte der Religion. 

Was veriteht man denn num unter Terrakotta? 

Das italientiche Wort bedeutet nichts als gebrannte Erde. Der 
Thon oder die thonige Majje erlangt nur durd) ſtarkes Erhigen die 
Eigenjchaft, hart, weniger porös, überhaupt brauchbar zu — Es 
werden daher alle aus Thon angefertigten Gegenſtände gebrannt. 
Nur vereinzelte Ausnahmen hiervon finden wir jetzt noch bei Völkern, 
deren Kenntniß der Töpferei auf ſehr untergeordneter Stufe ſteht. 
Beiſpielsweiſe werden die von den Bewohnern Südamerikas und 
Mittelafrikas angefertigten, zur Aufbewahrung von Getreide und ſon— 
ſtigen trocknen Sachen dienenden Thongeſchirre nur an der Sonne 
oder aber fünftlich nicht einmal bis zur VBerflüchtigung des gebunde- 
nen Waſſers getrodnet. Im Alterthum unterblieb das Brennen bei 
vielen Thonmwaaren, jo bei den Mauerjteinen, aus denen Wälle von 
noch) sn erijtirenden Städten in Aſien erbaut wurden, bei Urnen 
und Vaſen, die in römischen Gräbern jich fanden. 

Die gewöhnliche Terrakotta befundet den erſten Fortjchritt, den 
die Thonbildnerei bei allen Völkern gleichmäßig gemacht hat; denn es 
mußte jehr bald die Ueberlegung darauf führen, die zuerſt nur an der 
Luft getrodneten Thongebilde der wirkſameren Hitze des Feuers aus: 
zujegen, um ſie zu harten. Die ältejten Ueberreite, die wir dem 
Schoße der Erde entnehmen, jind nichts als Terrafotten. 

Im großen Publikum herrichen über die Terrakotta höchſt wunder: 
bare Vorjtellungen. Sogar mit Chamotte, dem ald Magerungs- und 
Yoderungsmittel dienenden grobkörnigen Pulver von gebranntem Thon, 
welches man aus gebrannten feuerfeiten Steinen, Kapſeln ꝛc. erhält, 
wird Terrakotta vielfach identifictrt, 


Aus dem Gebiete der Keramik. 209 


Man bezeichnet mit diefem Wort heute eine große Zahl jehr ver- 
Ichtedenartiger Produfte von erdiger, unglafirter, mattfarbiger Maſſe. 
Da die verhältnigmäßig geringe Hite, welche bei dem Brande 
angewandt wird, jowie die Abwejenheit eines jchmelzenden Binde 
mittel3 die Konjervirung der Form begünitigt, jo führt man in Ter- 
rafotta häufig plaſtiſche Kunſtwerke aus, die in ſolcher Behandlung 
eine wenig koſtſpielige Wiederholung geſtatten. Sie werden entweder 
mit Hilfe von Formen hergeſtellt oder aus freier Hand modellirt. 
Ber ung haben die Terrakotten — für die Architektur 
Werth erlangt, welche Ornamente, Geſimſe, Roſetten, Statuen xc. 
daraus heritellt. Auch Ziegelſteine (insbejondere Verblender), Fuß— 
bodenplatten, Mojaikiteine und die befannten etrurischen Vaſen aus 
jehr feinem gelben, braunen oder jchwarzen Thon gehören hierher. 
Einen ehrenvollen Ruf hat fic) auf diefem Gebiet die Thon— 
waarenfabrif von Ernſt Mard) Söhne in Charlottenburg erworben. 
Diejelbe wurde im Jahre 1836 von dem Bater der jetigen Befiter 
urfprünglich zur Fabrikation von Formen für die Zucderraffinerie ge: 
gründet. Die Einführung der eijernen Formen zwang zur Aufgabe 
diejes Artikels; dagegen EN rte der Aufjchwung, den die Bauthätigfeit 
zu Anfang der vierziger Jahre nahm, den künſtleriſch veranlagten 
zabrifanten zu einem Kultus — es liegt nichts überſchwängliches in 
dem Worte — der Bauornamente, die bei jeinem im Jahre 1847 er- 
folgten Tode dem Etablifjement bereits eine — Stellung 
eingetragen hatten. Die beiden genialen Brüder, Dioskuren, die ſich 
egenſeitig ergänzen und die Loſung „Vorwärts“ auf ihre Fahne ge— 
—— haben, pflegen pietätvoll das Werk des Schöpfers der Fabrik 
und ſchaffen auf den von ihm vorgezeichneten Bahnen, das Kunſtge— 
werbe mit herrlichen Erzeugniſſen befruchtend, rüſtig weiter. Speziali— 
tät des Inſtituts iſt die Vervielfältigung plaſtiſcher Bildwerke zum 
Schmuck von Gärten, Parks, Gebäuden x. in Terrakotta; nirgends 
fann die Vereinigung von Kunſt und Induſtrie jchöner und effeftvoller 
um Ausdruck gelangen. Die Träger berühmter Namen: Die Pro: 
Seffoven Albert und Wilhelm Wolff, der Bildhauer Leſſing, die Bau- 
räthe Ende, Adler, Orth und andere, zählen zu jeinen Mitarbeitern. 
Aber auch hervorragende antike Skulpturen werden reproduzirt. Die 
Fabrik vereint in ihrem Schoße alle — — welche die 
heutige keramiſche Induſtrie der Architektur zur Verfügung ſtellt, und 
erzielt hocherfreuliche Reſultate —— die Kombination der rohen 
Terrakotta mit der Majolikatechnik. Das wetterbeſtändige, den Mar— 
mor an Feſtigkeit übertreffende Material zeichnet ſich durch die beſondere 
Eigenjchaft aus, daß es jede Farbennüance annimmt und die täuſchende 
Nahahmung aller zu Skulpturen verwendeten Naturjteine geitattet. 
Sandfteinkolorit herricht vor. Ernit Marc) Söhne haben in Berlin 
für das — — für das neue Muſeum, die meiſten neueren 
Kirchen, die Borſigſchen Bauten in der Chauſſeeſtraße, das Rathhaus, 
für verſchiedene Schulhäuſer, für die Kaiſergalerie (Paſſage) und 
mehrere andere, außerhalb z. B. für die ie erg bei Dirſchau, 
die Nogatbrüde bei Marienburg, die Univerfitäten zu Königsberg, 
Roſtock und Peſt, für die Paulskirche in Schwerin, die Thonorna- 
mente geliefert. Der herrliche, eines fürjtlichen Palais würdige Garten 


zu 


210 Aus dem Gebiete der Keramik. 


des Etabliffement3 bildet mit Fe Jinnigen Anlagen den 
reizenden Ausjtellungsraum für eine reiche Mujterfammlung von hohem 
Kunſtwerthe und jteht dem Publikum gut Belihtigung Fri 

Die Erfindung der opafen arg ajur als Ueberzug der Terra— 
fottamajje iſt nach den neuejten Unterjuchungen uralt. 

Die Glafur bezwedt, poröfe, glanzloje Gejchirre mit einem gegen 
das Einjaugen von Feuchtigkeit jchügenden, weiche Geichirre mit einem 
harten Ueberzug zu verjehen. In gewiſſen Fällen iſt fie dazu be— 
jtimmt, die Farbe der Maſſe zu verdeden oder eine rauhe Oberfläche glatt 
zu machen. Die Majfe F are Glaſur beiteht fajt immer aus 
einem Gemenge von Bleioxyd (Glätte) mit Thon, Lehm oder Sand. 
Die Färbung bewerfitelligen verjchiedene Metallverbindungen. Das 
Weſen der Glajur beiteht darin, daß jie in der Hige in Fluß geräth 
und jich in eine Art Glas verwandelt, welches die Foren des Thones 
ausfüllt und eine glatte Oberfläche erzeugt. Das für Glajur übliche 
Wort Email iſt die franzöfiiche Form des mittelalterlich-lateinijchen 
smaltum, esmaletum, italientich smalto, deutſch Smalte, Schmalte, 
Schmelz. Smaltum jelbjt wird von den meijten Sprachforjchern auf 
das althochdeutiche Zeitwort smelzan, jchmelzen, zurüdgeführt und be= 
deutet urſprünglich Geichmelze von Gold und Silber, dann erit 
metalliiches Glas. Die Kunſt, farbige Glasfritte zu bereiten, jcheint 
überall der eigentlichen Glasfabrifation vorausgegangen zu fein. Un 
der glafigen Schlade, welche bei der Aufbereitung der Erze zurüd- 
bleibt, mochte zuerjt ihre Verwandtſchaft mit vulkaniſchen Stoffen, 
: B. dem Obſidian, auffallen, damit war die Anregung zu künſt— 
icher Heritellung glafirter Subjtanzen aus Erden und Metalloryden 
egeben. Das Alter und die Herkunft der Schmudjachen aus Glas— 
Iuß, welde faſt auf dem ganzen Erdboden bei Ausgrabungen ver- 
chütteter Städte, Deffnen von Grabhügeln ꝛc. zum VBorjchein —— 
ind ſtreitig. Manches wird für moderne Handelswaare aus Venedig 
oder De gehalten. Stüde ——— alten Urſprungs, welche 
an der Oſtſee oder im Innern Deutſchlands aufgefunden wurden, 
gelten keineswegs für einheimiſche Produkte, ſondern für ſolche, die 
durch Karawanen aus dem Orient dahin gebracht worden ſind. Daß 
aber die älteſten Völker des Orients das Schmelzglas gekannt und 
mannigfad) verwendet haben, das beweijen die emaillirten oonpfatten, 
welche auf dem Boden der altajjyrischen Städte, jowie im Innern 
ägyptiicher Pyramiden entdedt worden find, die bei Mumien gefun- 
denen Ölaspajten ꝛc. Dieje Funde, dazu die Nachrichten alter Schrift: 
jteller von der Nachahmung der Edeljteine in Glasfluß, von der 
Kunft, gebrannten Thon in Smaragd zu verwandeln, die ausgegrabe: 
nen grünen Ölasziegel, mit denen Fußböden von Zimmern belegt 
waren, auf der jogenannten Farneſiſchen Injel zwiſchen Rom und 
Biterbo jprechen für die Auffafjung, daß unter den von den Alten 
erwähnten koloſſalen Edeljteinen, jo unter den japhirnen Ziegeln des 
Moſes, Glasfluß zu verjtehen jei. 

Zu uns fam Die Zinnglaſur wahrſcheinlich zuerſt durch die Ver— 
mittelung der Mauren in Spanien, die noch unter der Herrſchaft der 
Chriſten bis zu Anfang des ſiebzehnten Jahrhunderts fortfuhren, ihre 
goldſchillernde, blumenreiche, wappengezierte Töpferwaare, zumeiſt 


Aus dem Gebiete der Keramik. 211 


große N: zu fabriziren. Ein Bauptiik diefer Indujtrie war 

die Inſel Majorka, woraus ſich der Name Majolifa erklärt. Ihr 

Stil iſt noch mittelalterlic architektonisch, die Dekoration ein mit 

Blumen und Arabesken durchwirktes Flechtwerf, Nachahmung der 

— Muſter auf den Stuckwänden und Getäfeln der mauriſchen 
äude. 

Als Schöpfer der Majolifa gilt der Bildhauer Lucca della Rob— 
bia*), der zum eriten Male in Italien zur Verzierung der Terra= 
fotta ein undurchjichtiges, weißes, jehr jchön glänzendes Email her: 
jtellte. In welchem Verhältniffe er zu den ſpaniſchen —5* * 
iſt ungewiß. Seine Originalität wird dadurch verbürgt, daß in ſeiner 
berühmten Waare von den ſpaniſch-mauriſchen Grundſätzen der Bes 
handlung und der Dekoration nichts erfennbar ift. 

Die jogenannte Terra invetriata des Yucca ift wirkliche email- 
(irte Fayence. Sie wurde von ihrem Erfinder zuerjt an Stelle der 
Terrakotta für plaftiiche und bauliche Zwecke verwerthet, erg auch 
zu eigentlichem Töpferwerfe, das nad) einem der Hauptfabriforte Faenza 
jeinen Namen führt. 

Majolifa und Fayence find ein und dafjelbe Die Paſte dieſer 
Sraeugniffe beitcht aus gereinigtem Töpferthon, Thonmergel und 
Sand. Der Kalkgehalt bejchränft die Plajtizität der Maſſe, macht 
jie bei gewiſſem SR rade jchmelzbar und vermindert ihre Reſiſtenz 
bei Temperaturwechjeln, giebt ihr indeß mehr Weiße und Härte. Die 
Fayence wird zweimal gebrannt, bei einer Glut zwiſchen Kirſchroth— 
und Blaßrothhige. Aus Majolikamaſſe bejtehen unjere gewöhnlichen 
weißen Teller und Kaffeegeichtrre, auch die feinen weißen Ofentacheln. 
Mit Fayence bezeichnet man in der Kegel die weißen oder weißgrun— 
digen Geſchirre. Majolifa umfaßt nicht nur mit farbigen Sfahuren 
und Malereien deforirte Schüjfeln, Gefäße und — kunſtgewerb⸗ 
liche Zimmerausſtattungen, ſondern auch die in ähnlicher Weiſe be— 
handelten größeren Vaſen und Dekorationsſtücke für Gärten, ſowie 
werthvolle Farbige Frieſe, Reliefs und andere Bruchtheile für reichere 
Architekturen. Lucca de la Robbia's Arbeiten der legteren Art an 
zahlreichen Gebäuden Norditaliens, ſowie von demjelben Meijter her: 
rührende, ebenjo — Altare in italieniſchen Kirchen — ein— 
zelne zieren jetzt unſere Muſeen — deuten darauf hin, daß man ſchon 
vor — beſtrebt war, den Faſſaden mit Zuhilfenahme von 
wetterfeſten eingebrannten Glaſuren und Farben einen reichen man— 
nigfaltigen Schmuck zu geben. Dies Verfahren iſt ſeit etwa fünfzehn 
Jahren wieder an der Tagesordnung. Bon Ernit Mard) Söhne in 
diefem Genre ausgeführte Berliner Bauten: Das Kunſtgewerbe— 
mujeum, die Poitgebäude a der Spandauerjtraße und die 
Hauptfafjade in der Oranienburgeritraße, Cafe Helms beim föniglichen 
Schloß, die Gymnajien in der Köpniker- und in der Parkſtraße, be— 
funden eine außerordentliche Metiterichaft, welche Maß zu halten, 
grelle Farbenzujammenjtellung zu vermeiden — iſt. Jedes Stück 
der Charlottenburger Fabrik, welches mit aufgebrannter — und 
farbigen Glaſuren behandelt iſt, verdient die Bezeichnung Majolika. 





*) Anmerkung. 1388—1430. 


* 


212 Aus dem Gebiete der Keramik. 


Im Innern der Gebäude kommen faſt ausjchlieglich, bei billigen 
Putzbauten (mit Kalk abgepugten Hausflächen gegenüber den Roh: 
ziegel- oder a auch außen Studornamente aus Gips 
ur Verwendung. Sie bedürfen von Zeit zu Zeit eines neuen jchügen- 
Su Oelanſtrichs und vermwittern troß deitefben nach einer Reihe von 

ahren. ° 

Prachtſtücke in Majolika liefert die bereits 1755 vom Kurfürjten 
Klemens Auguft von Köln — rheiniſche —— und Stein⸗ 
gutfabrik in Poppelsdorf bei Bonn, welche it udwig Wejjel gehört 
und nahezu 1000 Arbeiter bejchäftigt. Verkehrte Anfichten. find in 
weiten Streifen über Steingut und Steinzeug im Schwange. Stein 
Wunder! QTappen doch ſelbſt Techniker hier vielfach im Finjtern. 

Was bei uns unrichtig Steingut genannt wird, weicht oft in 
nichts von der rar ab. Nach Jaennicke find feine weiße Fayence 
und Steingut gleichbedeutend. In England geht das in fajt unglaub- 
licher Durchbildung der Formen auftretende Steingut außer unter den 
andläufigen Namen „Earthenware* noc) unter einer Unzahl anderer 
Benennungen. | 

Das Steinzeug enthält Beitandtheile kalkiger, alfaliicher oder 
fiejeliger Natur, welche mit dem Thone bei — Hitze ſchmelzbare 
Verbindungen geben und im ſcharfen Feuer mindeſtens ein — 
ſintern der inneren Subſtanz bewirken. Sie geben der Maſſe einen 
nahezu muſcheligen, ſcharfkantigen Bruch und eine Härte, die oft be— 
deutend genug wird, um dem Stahle Funken zu entlocken. Die Waaren 
dieſer Gattung ſind nur an den Kanten oder gar nicht durchſcheinend 
und eignen ſich nicht zum Gebrauche im Feuer. Der ſcharfe Brand 
Ds die Farbenauswahl für die Bemalung ein. Von den in der 

ajolitamalerei Anwendung findenden Metalffarben fönnen, joll nicht 
die Waare wiederholt gebrannt werden, nur die wenigen in Betracht 
fommen, welche Scharffeuer aushalten, wie 3.3. Kobalt für Blau. 

Das ordinäre oder gemeine Steingut (gres ordinaire, brown 
stone ware) bejteht aus einem bei jtarfer Hige ohne Zuſatz von Fluß: 
mitteln ſtark frittenden, nicht völlig feuerfeiten, mehr oder weniger 

efärbtem Thon GRjeitenthan) welcher beim Brennen wenig jchwindet. 

dit Hilfe von Kochjalz wird eine einfache und billige Glaſur herge- 
jtellt. Sie bildet jich dur) das Zuſammenwirken der Kochjalzdämpfe, 
der Kiejeljänre des Thons und des in der Flamme enthaltenen 
Majjerdampfes. Der ———— des letzteren tritt an das Chlor, der 
Sauerſtoff an das Natrium des Kochſalzes. Das Chlorwaſſerſtoffgas 
entweicht; das Natron verbindet ſich mit * Kieſelſäure zu einem dun— 
nen Ueberzug gebenden Glas. 

Man fertigt aus ordinärem Steinzeug dem Feuer nicht auszu— 
Kan Küchengejchirre, Krüge, Wajjerleitungsröhren, Klojettrichter, 
Flurplatten x. . 

Bruno Kerl rühmt den englischen Fabriken, namentlich denjenigen 
der Vorjtadt Lambeth bei London „eine jeltene Vollkommenheit“ in 
der Anfertigung von ordinärem Steinzeug nad). „Sie liefern“, jchreibt 
er, "Wirthichaftsgeräthe von eleganten Formen und großer Dauer: 
haftigkeit, und jtehen umübertroffen da in der Fabrikation chemischer 
und technijcher Geräthichaften.“ Wir wollen uns nicht in Rangjtreitig- 


Aus dem Gebiete der Keramik, 213 


feiten vertiefen, doc) aber hervorheben, daß die aus dem Etabliffement 
von Ernjt March Söhne in Charlottenburg hervorgehenden 
gefäße und Apparate für technijche und chemiſche Zwede, z. B. Wan- 
nen für galvanijche Bäder mit Steinzeughahn, Säurepumpen, deren 
Pumpenkörper und Kolben aus Steinzeugmaffe bejtehen, den engliſchen 
mindeitens ebenbürtig find. Nur in Bezug auf die „enormen Dimen— 
jionen“ jei John Bull ohne weiteres der Bortritt eingeräumt. 

Das feine Steinzeug entjteht aus plajtiichem, fi J weiß brennen 
den, weniger feuerbejtändigem Thon mit nei von Quarz umd feld» 
air Subjtanzen. Wegen eichteren Schmelzbarfeit bes 
darf die Majje einer weit be eren Temperatur zum Garbrennen, als 
das ordinäre Steinzeug. Die Lemperatur wird in der Weije regulirt, 
daß die Oberfläche zu erweichen beginnt und einen Glanz erhält, der 
eine bejondere Glajur entbehrlich macht. 

Die unter dem Namen „Flandriſches Steingut“ umlaufenden 
Steinzeugwaaren jind Fabrikate der Töpfer zu Siegburg, zu Naer in 
der Eifel und im Sannenbäderlande. Das Krug und Kannen— 
bäderland, in welchem Ddiejer Induſtriezweig in großartigem Maß— 
ſtabe gepflegt wird, liegt im Unterwejterwaldfreis im Reg.:Bez. Wies- 
baden. Dort wird jehr primitive, aber auch Knfteich vollendete 
Waare angefertigt. In leßterer Hinficht zeichnen jich die Firmen 
Reinhold Hanke, Dümler & Breiden, Marzi & Remy, jämmtlid) in 
—— aus. Aus dem Hankeſchen Muſterlager haben mir eine gelbe 
Vaſe mit Neptuns Meerfahrt, ein braun und blau ausgeführter Krug 
mit einer Sagbicene und ein reich ornamentirter Humpen mit einem 
altdeutjchen Ritter imponirt. Die Hankejchen glafirten Waaren in der 
— — finden allenthalben großen Anklang. 

on der groben Bahl der in den Fabriken Dümler & Breiden her— 
eitellten Kunſtwerke —— ic) die Kaiſerpinte“ mit eingebrannten 
— und vortrefflicher Malerei. Das berühmt gewordene Stück 
zeigt auf der Vorderſeite Kaiſer Wilhelm in dem — des 
—— Jahrhunderts, zu beiden Seiten allegoriſche Figuren, die 
deutſche Reichsflagge, die — Karls des Großen. Unten in 
den Eckmedaillons befinden ſich die Miniaturköpfe der Gottheiten 
Mars und Pallas Athene, der Beſchützer des Reichs. 

Von den gewöhnlichen Steinzeugwaaren des Kannenbäckerlandes 
ſpielen die Mineralwaſſerkrüge, die immer von neuem in vollzähligen 
Regimentern aufmarſchiren, die Hauptrolle. 

Häufig genug hört man von Steingutkrügen ſprechen, wie denn 
überhaupt ohne Unterſcheidung die Benennungen Steingut und Stein— 
zeug gebraucht werden, wo es nur Steinzeug heißen dürfte. 


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Ehbougquet. *) 
Blüette in einem Akt von Hans von Reinfels. 
Perfonen: 


Julius Fleiſcher, Frifeur. — Manfred von Wildungen, Hufarenoffizier. — 
Elfriede Aſchenfeld. — Klara Borned. 





(Das Stück fpielt in einem eleganten Friſierſalon. Die Bühne wird etwa bon ber 
Mitte aus bis nach binten durch eine Zugportiere (eventuell auch durch einen brei- 
tbeiligen Schirm) getbeilt. In der linken Hälfte feben wir binten und an ber Seite 
bohe Spiegel mit Marmorplatten, auf denen Toilettengegenflände aller Art ſRümme, 
Bürften, Scheere, Puderkaſten, Bomaben zc.] liegen. Große Frifierftühle ftehen auf 
Heinen Teppichen davor. Links zmifchen ben beiden Spiegeln eine Wafchtoilette mit 
Zubehör, in ber Ede ein Ständer, an bem faubere Frifiermäntel und Handtücher 
hängen. Born erblidt man auf einem Tiſch Perrüden auf Ständern, darüber an 
der Wand einen Rahmen mit Zöpfen, Scheiteln 2. Man fiebt Journale auf ein- 
zelnen Heinen runden Tifchen liegen, die ſowohl Tinte al® auch rechts, wo Pla vor- 
banben, poftirt find. Kleine Seſſel oder Fauteuils fteben dabei. Moderne Cinridy- 
tung, wie fie jeber beffere Frifierfalon aufweiſt. Im der rechten Hälfte befinden ſich 
an ber Seite Fenfter mit Uebergardinen. Im ber Mitte binten Flügelthüre. Zwi— 
ſchen ben Fenſtern vor einem Spiegel ein Blumentifh [eventuell auf einer fchwar- 
zen Säule eine ſchöne Wachsbüſte init Berrüde, wie man fie oft in den Schaufenftern 
ſolcher Frifierfalons findet]. Zu beiden Seiten Fauteuils. Rechts und links von 
der Thüre Glasfpinde oder GEtageren mit Parflims, Pontabentöpfen, Delgläfern, 
Refraichiffeurs, Neceffaires ꝛc. Eleganter großer Teppich in ber Mitte ber rechten 
Hälfte. Links und rechts von der Dede berab hängen Kronen. Das Ganze muß, 
obne überladen zu ericheinen, eine bübjche Verbindung von Salon und Geſchäfts— 
ftnbe fein. [Rechts und links vom Zuſchauer aus.]) 


Erſter Auftritt. 
Julius, (Ein junger hübſcher Mann, ift mit einem Handfeger befhäftigt, von ber Erbe einige 
unter dem erften Spiegel linke liegende Haare fortzufegen.) 

So, das wäre wieder bejorgt, die Iette Karte des Abonnements 
abgelöft und ein neues an den Herrn Grafen für zwölf Mark ver: 
fauft. Das fam mir eben recht, vielleicht kann ich davon ein paar 
Mark für meine ebenjo reizende als unglüdliche Nachbarin Klara ab- 
jtoßen. (Er befieht den über'm Stubl Liegenden Prifiermantel) Ganz * geblieben, 
auch nicht ein winziges Fleckchen drin, wieder zehn Pfennige gejpart. 
Das iſt jo der indirefte Vortheil dieſes Gejchafts. (Cr ſtaubt den Mante 
nochmals aus und bängt ihn binten an den Ständer.) Ja, wenn man verheiratet 


*) Den Bübnen gegenüber Manuſtript. 


Eßbouquet. 215 


wäre! Was könnte man allein an Waſchgeld ſparen. Aber, aber — 
die Einrichtung des Geſchäfts läßt mich die erſten zwei Jahre noch 
nicht dazu kommen. Na, wenn meine Schweſter erſt hier iſt, beſorgt 
ſie mir die Wäſche. (Er ordnet überall ein wenig, einmal dahin, einmal dorthin gehend.) 
Die Klara wäre jchon jo ein Mädchen für mich, hübſch, proper 
und gebildet. Ja, ja fie hat auc) beſſere Tage gejehen und fünnte 
andere Anjprüche als auf einen * Friſeur machen, aber die 
kranke Mutter, die kleinen Geſchwiſter und dabei der karge Verdienſt 
in den Tapiſſeriegeſchäften! (Er borcht aufmertfam) Na, da hör ich ſchon 
wieder jemand die Treppe herauffommen. Gott Lob, es iſt bloß einer. 
Ich habe heute, wo der erg hr mir jo plöglich fortblieb, immer Angit, 
e3 fünnten zwei oder drei Kunden augleich fommen und wenn jie mich 
allein hier wieder fortgehen. Den Lehrling kann ich unmöglid) 
ſchon arbeiten lajjen. Er jchneidet den Stunden beim Haarkürzen plöß- 
lih 'ne Tonſur und beim Barbieren den fchönften Studentenjchmiß. 


Zweiter Auftritt. 
Julius Manfred. 
Manfred. (Junger, eleganter Hufarenoffizier, mit Meinem Schnurrbart, den er perma- 


nent dreht, wenn er fpridt. Gutmüthig blafirt, ohne affeftirtes Näfeln. Gr trägt ein Monocle. 
Tritt rechte ein.) 


Julius. Ehm döftic grüßend entgegen) Morgen, Herr Baron. 
Manfred. (Sih umfgauend.) Morgen! — Berflucht nobel bier, im 


ä He? nali 
ee — Haben wohl viel Geld. He? «Er ſchnau 


Julius. Nöthig, Herr Baron, nöthig. Alles auf Kredit. Das 
bringen einem die Parfümeriereifenden jo ind Haus, wenn man einen 
— Namen hat. 

anfred. Sit heute jo 'ne Sache mit'm ehrlichen Namen. 

Julius. Was befehlen der Herr Baron? 

Manfred. Berflucht viel. nurrbart joll "runter. 

Julius. O, o! 

Manfred. Nicht wahr? s iſt eigentlich 'n Blödſinn, was? 
Sehen Sie mich mal an, alte Schnecke. Iſt es nicht 'n Kapitalver— 
brechen den Bart zu fällen? 

Julius. Etwas zutraulich, in denſelben Ton verfallend) Gewiß, Herr Baron, 
aber warum thun das der Herr Baron, vielleicht Bartflechte? Habe da 
'ne famoſe Salbe. Sehr empfehlenswerth. 

Manfred. (Rneift das Monoele ins Auge und ſieht Julius von oben bis unten fragend 
an. Gedehnt, mit Betonung.) Sprechen ja 'n merhvürdigen Stil, alte Schnede, 
mal Offiziersburſche gewejen? He? 

Zulius, (Bei eite.) Verdammt. a mich vergeſſen. 

Manfred. (Bei Seite. Der Hieb ſaß. 

Julius. (Berlegen.) Pardon, De Baron, bei meiner großen 
Fe gewöhnt man fich jo einige ungehörige Redensarten 
eicht an. 

Manfred. Alte Schnede! Reden da wieder jchönes Gewäſch 
durcheinander. Ungehörig, 'n Offizier fpricht nie "was ungehöriges. 
Beritanden? Wären Ste nicht ſo'n brillanter Friſeur und armer 
Teufel, müßte man Sie in Ihrem Gehäufe rubig ſchlafen laſſen. Doc) 
genug. Was jagen Sie zu dem Schnurrbart? 


216 Epbonguet, 


Julius. Stehen laſſen, Herr Baron. 

Manfred. Nicht rajiren? 

Julius. Nein. 

Manfred, Verdienen dann ja nichts, 

Julius. Ich bin meinen Kumden Wahrheit jchuldig. 

Manfred. Und was jind Ihnen die Kunden jchuldig? 

Sulius. Das Wiederfommen. 

Manfred. Sonjt nichts? —— — wohl ganz, was? 

Julius. Bis jetzt noch nich 

Manfred. Die Kreide ‚ei 

Julius. Nicht doch, H aron, eier Ehrenſache. 

Manfred. Gefällt A Fleiſcheri 

Julius. Danke für gütige Anerkennung. (Sie Haben ſich beide nad) lints 
binübergeipielt.) 

M tanfred. Nun und der Bart? 

Julius. Er thut mir leid. 

Manfred, (Muftert fig im Spiegel) Schade um ihn, brillantes Gewächs! 

Julius, ei Seite) Nur zu heurig. 

Manfred. Wie? Sagten etwas: 

Julius. Ich jagte, es A Dune 

Manfred. Was, der 

Julius. Nein, der Bebante a en de laſſen. 

Manfred. (Hard für ih) So, er Bien muß. Sie will’s 
haben. Gletjcherhaft! Wergert a ü * F Fleck von Bart, zieht 
mich damit auf. Will mich nicht mehr anſehen. Götterweib, dieſe El⸗ 
friede! Muß ſie — muß ſie Haben! (Faut und beſtimmt Kommen Sie, 
Fleiſcher, jeifen Sie ein, 'rımter mit den Borſten. Berfluchte Erfin- 
dung dieſe Feng von unter der Naje. Ewiger Aerger damit verbunden. 


(Er nimmt eine Zeitung vom a wirft fid lang in einen Seſſel vor dem zweiten Spiegel Tinte 
und brennt fi eine Cigarrette a 


Julius. Bringt —3 das er ihm umbindet und ſchlägt Seifenſchaum.) 

Manfred. (Bläf Rauhmwolten emphatiſch von ih) Wozu hängt der Lap— 
pen Da? (Gr zeigt auf bie Pertiere.) 

Julius. Die Gardine? 

Manfred. Nu ja, das Dingsda von Portiere. Soll wohl den 
Zug abhalten? 

Julius. Nein, neugierige Blide. Anjtandsichirm nennen wir das. 

Manfred. Famoſes Wort, da, ha, ha! Anjtandsichirm! Bin 
wirklich — von dem Wort. Wozu aber? 

Julius. (Seift ipn ein) Wenn Damenbefuch kommt. 

Manfred. (Greift nach dem Arm, fo daß diefer mit dem Seifen einhalten muß. Sich 
Halb aufrichtend.) Damenbejuch? Hier? . 

Julius. (Seift weiter.) Das fümmt öfter vor. Erjt gejtern war eine 
reizende Blondine hier. 

Manfred. Schneidig? 

Julius. Außerordentlich. 

Manfred. So’n bißchen von Stand? 

Julius, Sehr nobel und liebenswürdig. 

Manfred. Zu Ihnen? 

Julius. (Rafirt die rechte Hälfte ab.) Jawohl. Die eine Hälfte tft 'run— 
ter, Herr Baron. 


—— 





Enle mit Iungem. 





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Eßbouquet. 217 
Manfred. Gott hab’ ſie ſelig. Aber wo? Ich ſehe ja nichts! 
* 


(Sieht ſuchend mit dem Monocle auf bie €. 

Julius. Nein bier, auf dem Meſſer. 

Manfred. Iſt doc) nicht alles? Machen Sie feinen Spaß, alte 
Schnede. (Rigtet fih wieder in Pofition.) 

Julius. Ich erwarte fie jchon. 

Manfred. gi 

Julius. Nein, die Dame. Sie fommt gewiß noch. 

Manfred. So? Das wär ja entzüdend. Was wollte fie denn? 

Julius. (Hält mit der Arbeit cin) Erlauben, Herr Baron. Ich höre 
Schritte. Das find Damenfüße. 

Manfred. Verflucht feine Witterung, können 'mal mit auf Jagd 
fommen. 

Julius. Ich täufche mich niemals. Das tt fie. 

Manfred. (Errest.) Gehen Sie, gehen Sie, halten Sie jie auf. Ich 
werde laujchen, kümmern Sie jich nicht um mich. Habe verfluchte Luft 
jo'n bischen zu charmiren. Ich leſe hier. 

Julius. Schön, Herr Baron, wie Sie befehlen. (Eit nach rechte ab.) 

Manfred. (Steht auf, wiſqht fih energifd die Seife von der linken Hälfte tes Shmurr- 
barts, dabei wiederholt ein Handtuch in bie —— tauchend. Er zieht ſein eigenes ſeidenes 


Taſchentu 8, das er auf die Spiegelkonſole legt. Zieht ben Rod v Spiegel t unb 
va in *F Doppelbärften ei — — ſetzt * —* 4 —8R a uns) 


Dritter Auftritt. 
Die Vorigen. Elfriede. 

Eif riede. (Junge hübſche Dame mit vollem blondem Haar. Elegante Toilette, heitere 
liebenswürdige Manieren.) 

Julius. Gerbeugt fich reſpeltvoll vor ber Eintretenden.) 

Elfriede. (niet gegengrügend,) Nun, Herr Fleiſcher, iſt es Ihnen ge— 
lungen, meinen Wunſch zu erfüllen? 

Manfred. CGuſhborchend, bei Seite) Donnerwetter, die Stimme! 

Julius. Zu meinem lebhafteſten Bedauern nein, meine Gnä— 
digſte, ich hoffte immer, aber die Farbe Ihres Haars iſt zu zart 
und jelten. 

Elfriede D, das iſt fatal, Sie haben mir jo große Hoffnung 
— Nun kann ich die Zöpfe gar nicht bekommen? 

anfred. (Bei Seite.) Ich will verflucht ſein, wenn das nicht Elfriede 
it. Muß doch 'mal zufehen. «Er Mehr vorfihtig auf, ſchleicht fih an die Garbine, die 
er wenig aufeinander ſchiebt. 
RR. ulins. Wollen die Gnädige nicht Pla nehmen. (Er rüdt ipr einen 
auteu in. 

Elfriede. (Sest fih.) Ich habe — ſo ſehr darauf gefreut. 

Manfred. (Bei Seite, zurüdjahrene) Ber Gott, ſie iſt es wahrhaftig. 
Und ich in dieſer Situation, mit 'nem halben Schnurrbart. 

Julius. Ic Habe noc) eine Kleine Hoffnung, aber bis morgen 
wird es unmöglich jein. 

Elfriede. Und doc möchte id) gerade morgen im Bejit der 
Zöpfe jein. Worauf hoffen Sie noch? 

Julius Es tft ein ganz bejonderer Zufall, daß auf dieſem 
Korridor eine arme franfe Wittwe wohnt, deren älteite Tochter wun- 
dervolles Haar fait von der Farbe des Ihrigen bejigt. 

Elfriede AH, das ijt interejjant. 

Der Ealon 1887. Heft VOIL Band II 15 


218 Eßbouquet. 


Julius. Ich glaube wohl, daß die junge Dame ſich herbeilaſſen 
würde von ihrem Haarſchmuck jo viel einzubüßen, wie ich für den 
Kopf bedarf. 

Manfred. (Bei Eeite) Alfo falſches Haar hat der Engel und beitellt 
Böpfe auf Vorrath? Verfluchte Entdedung! 

Elfriede. Sie meinen gegen angemejjene Entjchädigung? 

Julius. Ach nein, das möcht’ ich dem jungen Mädchen unter 
feinen Umständen anbieten. Doc, gegen ein gutes Wort Ihrerſeits. 

Elfriede. Etedt auf) Mas Ihre Schußbefohlene thun würde, fann 
ich ja jelbit, mein Herr. 

Sulius. Sie wollten Ihr jchönes Haar — —? 

Elfriede Was thut man nicht für eine liebe Schweiter? Und 
den halben Kopf wird's für ein Paar Puppenzöpfe nicht often. 
Warum haben Sie mir nicht glei) den Vorjchlag gemacht? 

Julius. Wie konnte ich annehmen — — — 

Manfred. (Bi Suite) Donnerwetter, das wird hübſch, die Situation 
ändert ſich. 

Elfriede Sie müßten das ſüße Feine Kind kennen. E3 liebt 
mich mehr als eine Mutter, die es leider früh verlor. Nun joll die 
leßte eng aber genau ſolche Zöpfe haben, wie ich fie 
trage, jonjt will jie die Puppe nicht. Morgen iſt der Geburtstag der 
Klemmen und ich wollte ihr zu gerne die Freude bereiten. Können Sie 
den Kopf fertig machen, wenn ıch Ihnen das Haar gebe? 

Julius. Gewiß, gnädiges Fräulein, wenn die Zeit auch etwas 
fnapp iſt. Ich bin heute ohne Gehilfen. 

Elfriede So, bitte, jchneiden Sie das nöthige Quantum an der 

eeigneten Stelle nur gleich heraus. Mit meinem Haar bin ich bald 
fertig (Sie nimmt jhnell ihren Hut ab und löſt ihr Haar auf, das bald in vollen Strähnen ben 
üden berabbängt.) ‚ , 

Julius. Wie Sie befehlen. 

Manfred. (Hat aufmerkfam zugefehen. Als er das volle Haar ſieht, entfährt ihm etwas 
Taut der Ausruf:) Entzückend! Welche Pracht! (Er erigriet über fig ſelbſt, eilt nad 
feinem Stuble, fett fi ſchnell und hält fein Taſchentuch an die abrafirte Stelle des Bartes.) 

Ei Triebe Erſchreat.) Iſt jemand hier? (Sie eilt vorne um die Ede und ſieht 
auf ben verlegen auffpringenten Manfred. 

uliug. (Retirirt ängrlih an die Thüre., Um Gottes willen, was nun? 

Elfriede Sie hier, Herr von Wildungen? 

Manfred. Wie Sie jehen, gnädigjtes Fräulein, (Er vitt vas Tafıpen- 
tuch feft unter die Nafe.) 

(Elfriede. (Etwas pitit.) Das iſt ein jonderbares Spiel des Zu— 
falls, faft möchte ich an eine Abficht denken. Sie erlauben, daß ich 
mich empfehle, Herr Lieutenant. Mein Auftrag, Herr Fleischer, bleibt 
einjtweilen unausgeführt. 

Manfred. (Bortretend, liebenewürdig, Ich bitte taujendmal um Ent- 
——— mein verehrtes Fräulein, wenn ich durch meinen vorlauten 
Ausdruck des a eg Sie beleidigt habe. Aber welcher Sterbliche 
fann bei jolchen Reizen jtumm bleiben. Seien Sie großmüthig. 

Elfriede Man kann Ihnen kaum im Ernfte böje fein. 

Manfred. Sein Sie es aljo auch nicht im Scherz. 

Elfriede So geben Sie zu, daß Sie von meinem Kommen 
unterrichtet waren? 


Eßbouquet. 219 


Manfred. Das kann ich nicht, denn ich wußt! es parole d'hon- 
neur — Aber hätte ich es geahnt, wäre ich ſicher hier geweſen. 

Elfriede. Sie find aufrichtig; die einzige Tugend, die ich an 
Ihnen ig bewundern Eonnte. 

Manfred. Das iſt wenig genug. 

mer Und jelbjt diele üben Sie Rn immer. 

Manfred. Sie wollen es nur nicht glauben. Wie oft habe ich 
Shnen Ehe Beijpiel Schon gejagt, daß id) &ie grenzenlos — 

riede. (Ihm ins Wort fallend und fich an Julius wendend. Mit Betonung.) Haben 
Sie —8 Ylang-Ylang, Heliotrop oder Eßbouquet? Am lieb⸗ 
ſten Ehbouquet. (Zu Manfred, mit Ironie) Lieben Ste auch Eßbouquet? 

Julius. Gewiß, gnädiges Fräulein, was Sie wünjchen. 

Manfred. (Bei Seite.) rte, Du kleine Here. (Laut mit Empbafe.) Es 
ijt mein Lieblingsparfüm. 

Elfriede. (u Iulins teisıhin) So paden Sie mir einige Flaſchen 
ein. (Zu Manfrer.) Was fehlt Ihnen aber, Herr Lieutenant? Sie prefjen 
ja mit jeltener Ausdauer Ihr Foulard an die Lippe. 

Manfred. Bertegen) Ich habe mir mit der Cigarrette die Lippe 
verbrannt, aber nur unbedeutend. 

Elfriede. Nediih.) Man joll nicht mit dem Feuer ſpielen, guter 
Freund. Ihr Bart ijt gewiß nicht verjichert. 

Manfred. Ich war in BE verjunfen und führte die, 
Cigarrette verkehrt in den Mun 

Elfriede Ein weni eng Pflaster * alles. — ſcha⸗ 
det ein kleines Pflaſter au den Mund gar nich 

Manfred. Wie Sie mich verkennen, wie 

Elfriede. Fürchten Sie nichts Ic Halte Zie — — Gae bliete 
anf uline.) Waren Sie jo freundlich? 

Julius. Wie Sie befahlen. 

Elfriede Zie haben vielleiht die Güte, das Pädchen nach 
meinem Wagen zu jenden, der vor der Thüre Hält. 

Julius. Sofort, gnädiges Fräulein. (#6.) 

Manfred. Ich bin begierig mid) von Ihnen porträtirt zu hören, 

Elfriede Nun, Sie find ein ganz hübjcher Mann. 

Manfred, Mein Kompliment. 

Elfriede. Ein reicher Mann. 

Manfred. Ohne meine Echuld. 

Elfriede. Ein aufmerkjamer Kavalier. 

Manfred. Verfluchte (sit Ab die Hand auf den Mund.) Pflicht und 
Schuldigkeit. 

Elfriede. Etwas burſchikos, ein wenig leichtſinnig und ſehr eitel. 

Manfred. Was ſonſt noch? 

p —— Bon Herzensgüte gaben Sie noch feine eklatanten 
roben 

Manfred. Ebwebrent. Dann hat es mir an der Gelegenheit gefehlt. 

—— Geiſtesgaben — — — 

Manfred. Einauend) — Habe ich noch nicht verrathen. Stimmt, 
denn ich bin ein dummer Teufel. Pardon, mein gnädiges Fräulein. 

Elfriede. Weßhalb dumm? 

Manfred. Weil ich Ihnen längjt Hätte zu Füßen * müſſen, 


220 Efbouguet, = 
um Ihnen meine Liebe zu geitehen. Sehen Sie, ich hole es gleich 


nach). (Er kniet nieder und bettelt mit zufammengelegten erhobenen Händen, das Taſchentuch ba» 
zwifen haltend.) Witte, bitte, erhören Sie mich! 

Elfriede. GEieht ven abgeſchnittenen Shnurrbart und lacht laut auf, wieberbolt auf 
Manfred blidend, Tann fie iprem Lachen kaum Einhalt gebieten.) Ha, ha, ha! Ha, ha, ha! 

Manfred. (IM gan erſtaunt. Er fieht fih rechts und linke um und ficht dann wieber 
auf) Sie lachen mich einfach aus, mein verehrtes Fräulein; ift meine 
Liebe denn gar fo lächerli? - 

Elfriede. Ha, ha, ha! 

Manfred. Sie finden es ridifül, daß ich Ihnen hier in einem 
Frifierfalon meine Hand anbiete? Aber fragt denn die Liebe nad) For— 
men, nach Ort und Zeit? Nie habe ich Sie allein jprechen können. 

Elfriede. & a, ha! Sie jehen ja zu komiſch aus, Lieber Wil- 
dungen, bliden Sie doch nur in den Spiegel. 

anfred, (Blickt in den Spiegel und prallt felbft erflaunt zurüd, lat nun ebenfalls.) 

Elfriede, (Stimmt mit ins Faden ein, beide beruhigen ſich bald.) 

Manfred. Sie hätten mich nicht auslachen dürfen, mein ver- 
ehrtes Fräulein, denn gerade diejer hochkomiſche Halbe Schnurrbart 
mußte Ihnen meine Liebe befunden. 

Elfriede. (Mensa) Herr Fleischer kommt. 


Manfred. (Erret) Er muß ‚wieder fort. Einen Augenblid. (er 
—— ie * Karte aus ber Taſche, wirft einige Zeilen darauf hin und überreichi ſie dem eintre⸗ 
en us, 


Julius. Das Päckchen Liegt im Wagen. 

Elfriede. Ich dante — 

Manfred. Alte Schnecke müſſen nochmal hinunter, Bitte doch 
diefe Harte Durch Ihren Lehrling zu erpediren. Sofort hierher! 

Julius. Ganz recht. (Bei @eite) Hier geht etwas vor. Man 
will mid) fort haben. (we.) Aula 

— Alſo mir zu Liebe opfern Sie wirklich den koſtbaren 


art 

Manfred. Es * mich genug Ueberwindung gekoſtet. 

Elfriede. Das kann ich mir vorſtellen. Doc) hr Entſchluß tt 
‚Ihnen er wieder leid geworden? 

Manfred. Mein Fräulein, was denken Sie von mir! 

Elfriede. Nun weil Sie auf dem halben Wege jtehen blieben. 
Eine — iſt dem Henkermeſſer entflohen. 

tanfred. Daran tragen Sie die Schuld. Ihr Kommen unter- 

brach die herzensqualvolle Operation. 

Elfriede So waren Sie wirklich nur zufällig hier? 

Manfred. Ganz zufällig Exit morgen wollt ich Ihnen mit 
abrafirtem Barte meine Aufwartung machen. 

Elfriede. Ich danke Ihnen, Herr von Wildungen. Was ich 
vorhin von der Eitelkeit jagte, nehme ich wieder zurüd, 

Manfred. Das ift der ganze Lohn für mein Opfer? 

Elfriede. (Seite) Einjtweilen ja, doch wenn Sie wollen, werde 
ih mir zur Erinnerung an Ihre heroiſche That die noch ftehen ge- 
bliebene Bartfpige in mein Medaillon legen. «Es nopft, O weh, es 
fommt jemand. 

Manfred. Treten Sie dort hinten hin, Fräulein. 

Elfriede. Und Sie mit dem halben Schnurrbart? 


Eßbouquet. 221 


Manfred. Verteufelte Situation, was machen wir. Ee wird zum 
uweiten Mal geftopit) Es Flopft jchon wieder. 

Elfriede. Gehen Sie nur wieder in Ihr Verſteck. Herein! 

Manfred. (eints ab.) 


Vierter Auftritt. 
Die Borigen. Klara. 

Klara. (Iunges, yartes Mädchen, mit etwas angegriffener Geſichtsſarbe. Ihr Haar hängt 
in zwei langen Zöpfen herunter. Daſſelbe hat bie gleiche Farbe, wie das Elfriedens, Im bloßen Kopf und 
in einfaer Teilette. Stügtern) Herr Fleiſcher it nicht zugegen ? 

Elfriede Doch, doch. Er kommt jogleich zurüd. Wollen Sie 
nur einige Augenblide werweilen. 

Klara. Sch kann wiederfommen. 

Elfriede. Bleiben Sie nur, Fräulein. Sie wohnen bier auf 
diefem Korridor, nicht wahr? Wie geht es vg franfen Mutter? 

Manfred. (Bei Seite.) Verflucht! Hier Luft jein zu müffen, wäh- 
rend dort zwei reizende Weibsbilder ſitzen. 

Klara. (Erfrem.) Sie fennen meine Verhältnifje? Da find Sie 
vielleicht gar Fräulein Fleiſcher, die Schweiter des Herrn, die er täg- 
lich erwartet. | 

Elfriede. (Bei Seite) Warum nicht, vielleicht kann ich gutes ftif- 
ten. (Faut.) Ja. 

Manfred. (Wie oben. Suchend umpertrippeind.) Iſt denn fein Rafirmefjer 
da? Ich muß die andere Hälfte fortichaffen. 

Klara. (freudig ihr die Hände darreichend) O, wie mic das freut! Schon 
lange habe ich Sie recht lieb gehabt. 

Manfred. (Wie sten.) Ich auch. 

Elfriede. (Nimmt herzti bie dargereichten Hände.) Ich danke Ihnen. Alfo 
hat er Ihnen öfter von mir erzählt? (Zieht fie auf einen Fautenil miever und fegt 

zu ibr.) 


Klara. Und mit welcher Liebe! Er iſt ein ſehr guter Menſch, 
ohne ihn jähe es bei uns noch troftlofer aus. 

Elfriede So hat er Ihrer armen Mutter le 
... Klara. Schon vierzig Mark find wir ibn} uldig. Ich weiß 
nicht, wie und wann ich Nie ihm je abzahlen ſoll. 

Elfriede. Darüber machen Sie in feine Sorge. Er liebt Sie 
ja. (Bei Seite) Nur immer friſch d'rauf los. 

Manfred. (Bei Eeite.) ober jie das alles weiß. Die alte 


Elfriede. Weßhalb thaten Ste das, lieben Sie ihn nicht wieder? 

Klara. O, jo recht von Herzen, wie er es verdient. Aber durfte 
ic es ihm verrathen? Sollte er, ein * Anfänger, ſelbſt ohne 
Vermögen, ſich an ein blutarmes Mädchen ketten, das für eine kranke 
Mutter und drei unerzogene Geſchwiſter zu — at? O nein, ihm 
dieje Laft aufzubürden, würde ich für eine Sünde halten. 


222 Eßbouquet. 


Elfriede. Sie gutes Kind. 

Klara. Er hätte ſich ins Elend geſtürzt, — ich ihm nur mit 
einem Wort meine innige Liebe verrathen. Vielleicht führt der Him— 
mel uns ſpäter — Doch wo er nur bleibt, ich hätte ihn ſo 
gern geſprochen. Die Zeit drängt. (Sie wit aufftehen.) 

(friede. (Drüdt fie wieder nieder.) Darf ich Ihre Sorge nicht theilen ? 

Klara. Na, Liebes Fräulein, Ihnen will ich mic) offenbaren. 
Mich führt bittere —J ierher. Ich ſagte Ihnen ſchon, daß Ihr 
Bruder mir hilfreiche Hand — hat, uneigennützig, aus reinſter 
Menjchenliebe. Mein armes Mütterchen läge Sr ihn vielleicht jchon 
auf dem Kirchhof. Heute befindet fie ſich außer Gefahr, vielleicht auf 
dem Wege volljter Genefung, wenn unfere” Arınuth uns denjelben 
nicht verichlöffe. Der Arzt — beite Pflege. Wein, Eier, Fleiſch— 
brühe und Auftern. Hören Sie, Auftern! Welcher Hohn auf unjere 
Armuth. Kaum, daß ich durch Nachtarbeiten die — Groſchen 
verdiene, um die armen Kinder zu ſättigen, die das Elend unſerer 
Lage noch — begreifen können. Sie eigen, während mir das 
gen brach. Sie lachten, während die Mutter mit dem Tode rang. 

indliche Unſchuld! Die Miethe iſt ſchon jeit einigen Monaten 
nicht bezahlt, die bejjeren Gegenftände unferer Wirthichaft, meine 
Kleider ind verkauft, es iſt nicht® mehr vorhanden, was zu Geld 
gemacht werden könnte. Was bleibt mir num zu thun übrig, wenn 
ich die Mutter retten und meine Ehre bewahren will? Nichts, nichts 
und doc) noch etwas, an das ich erjt in letter Stunde gedacht. Herr 
Fleifcher rühmt mein Haar, das Einzige, was unter den bitteren Ber: 
eilig nicht gelitten hat. Er hat wiederholt den Werth meiner 

iden Böpfe — hundert Mark geſchätzt. Hundert Mark. Welche 
Summe für einen Schmuck, den ich gern entbehre und den ich zehnfach 
für das Wohl der armen Mutter opfern wollte. Ich komme, um ihm 
mein Haar zu verkaufen. (Zieine Vauſe.) 

Elfriede. Sie find ein edles Kind. Verzagen Sie nicht. 

Manfred. (Er ift bei der Erzählung Klaras aufmerkſam geworben unb tritt, nachdem 
er na inzwiſchen mit der Scheere ben Bart bie auf einige Refte abgef@nitten bat, Teife burd die 
Bortiere in bie rechte Salonbäl reift in die. Taſche und entnimmt feinem Portefenille eine 


e. Er 
Banknote. Nachden Klara, bie — — wie Elfriede bemerkt bat, ihre Erzählung geendet, 
tritt er vor. 


) 
Elfriede. Klara. (Beide ſtehen erfhroden auf, Klara fehr verlegen.) 

Manfred. (Mit warmem innigem Ton.) Sein Sie nicht böfe, mein ver- 
ehrtes Fräulein, daß ein Unbekannter ſich in Ihr Geheimnig gedrängt 
hat. Gott hat es jo gewollt. Zwar ift Ihr Haar bei feiner Fü 
und Pracht unbezahlbar, aber 1 will für das geringe Honorar, das 
ich) Ihnen biete, auch nur einen Theil Ihres ſchönen Schmudes. Neh— 
men Sie mein Angebot ohne Zögern an. 

Klara. (Berisämt.) Ich kann es nicht. 

— (Bewegt.) Sie dürfen es, Klara. Der Herr, der es 
Ihnen bietet, ift mein Verlobter. 
nn Wanfred. (Entzuat. Elfriede! Mein herziges Mädchen! Er win 

ihr näbern. ) 

Elfriede. Noch nicht, lieber Wildungen, erjt wollen wir unfere 
junge Freundin beglüden. Nehmen Sie, Klara, und denfen Sie dabei, 
e3 füme auch von mir. 

Klara. (Sie nimmt das von Manfred ihr gebetene Geld, will e# aber, als fie baranf 


Eßbouquet. 223 
blidt, ihm wicher zurüdgeben.) Tauſend Mark! Mein Herr, Sie beſchämen 


mic). | 
Manfred. ch bedaure, den Kauf nicht mehr rüdgängig machen 
zu fünnen. Ic, habe Anrecht auf Ihr Daun von dem meine jüße 
Braut zur Erinnerung an diefe Stunde jo viel abjchneiden wird, als 
jie zu den Zöpfen für die Puppe ihrer fleinen Schwefter bedarf. 
Elfriede. Abgemacht! Lieber Freund, jet nehme ich auch mein 
Bedenken wegen der Herzensgüte zurüd. Ste find ein guter Dann. 
Manfred. Du, wenn th bitten darf, fortan nur Du. Und 
jollte Ihnen, Fräulein Klara, der Preis für das Haar zu hoch jein, 
jo verwenden Sie den Ueberſchuß zur Ausdehnung des Gejchäfts, das 
Sie doch nun wohl mit Herrn Fleiſcher theilen werden. Für gute 
a a lajjen Sie uns nur forgen, nicht wahr Elfriede? 
Elfriede. Gewiß und nun dem armen Liebhaber um den Hals 
gefallen. Da fommt er. | 


Letzter Auftritt. 
Die Borigen. Julius. 

Suli 18, (Lommt atbemlos mit einem großen Karton dur die Thüre.) 

Manfred. Eut fhnel auf ihn zu und nimmt ihm denfelben ab.) 

Klara. Gliegt ihm entgegen und umarmt ibn.) Mein lieber, lieber Julius. 
Willſt Du mich haben? | 

Julius. (Erfaum.) Was it das? Träume ich wirklich nicht? 
Klara, Du willft mein jühes Weib werden? | 

Klara. Und Dein Compagnon. Sich hier, Pe von Wildungen 
und Deine liebe Schweiter find unſere Schußengel gewejen. 

Julius. (Erfaun) Herr von Wildungen, meine Schweiter!? 

Elfriede. Giebt ihm ein Zeigen zu ſchweigen, das er verfteht.) Später davon. 
Doc was haft (mit Betonung, Du denn dort noch, Manfred: 

Manfred. Mein Verlobungsgefchent. Hier. Giebt ihr den Karton.) 

Elfried e, (effnet und entnimmt unter lautem Vachen dem Karton ein ſchönes, großes, for 
genanntes Naturbouguet, beftchend aus Früchten sc.) Was iſt das? 

Manfred. (Mast die Bewegung des Kauens, Eßbouquet — mein Lieb— 
lingsparfüm. Guten Appetit. 

Elfriede. Drobend und mit Ironie) Du wäreſt werth, daß ich mein 
Wort wieder zurüdnehme, denn diefe Geiſtesgabe — — — 

Manfred, (Einfatend) — — iſt nur ein Fleiner Racheſcherz für 
Deine wohlriechende Unterbrehung meiner Liebeserklärung. 

Elfriede Nun, als folder mag er gelten. Doch nun, Ihr 
jungen Brautleute, vajc zur franfen Mutter. 

Manfred. Nicht, bevor ich endlich vernünftig rafirt bin. 

Der Vorhang fällt ſchnell. 


— 21 244 SOSE 


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N m Kamin. SEBAN 
(vs 8 — — — a, 
— I — rm r > — Oman 


SEES — 


EEIIIIT7] 





Die Hitler von der Nodel. 
Eine tragilomifhe Geſchichte. 


Vor mehreren Jahren gajtirte die Solotänzerin der großen Oper 
zu Mailand an einigen Abenden in W...... und jette die leicht ent- 
zündbaren Männerherzen dajelbit in helle Flammen. 

Signora Mirafuctle war nicht nur ſchön, jondern auch tugend- 
haft. nn fie auch die ihr gejtreuten Lorbeern und die ihr von 
allen Seiten zufommenden Geſchenke mit großer Gelajjenheit — wie 
etwas jelbitverjtändliches — einheimfte, konnte fich doch niemand nur 
der geringiten Gunjt von ihr rühmen. Nicht das Eleinjte Löckchen, 
nicht einmal ein Strumpfband, nicht der Finger eines Handſchuhes, 
nicht das Eleinjte Endchen eines Bändchens war ihr zu entloden. Ein 
Lächeln war alles — und ein Lächeln ijt unter Umſtänden blutwenig. 

Da nahte ſich das Ende ihres Gajtipieles und Conte Spanfudelio 
ſchwur hoch und theuer, er werde jich ein Andenken verjchaffen,- Eofte 
es, was es wolle! 

Die Diva ließ ihn jedoch nicht vor; jie wäre unmwohl, hieß es. 
Spanfudelio gab aber nicht ige! bis Marietta, die Zofe der Tän- 
zerin, ihm eine Haarnadel aus Schildpatt brachte, die von der Diva 
wäre. Nun gab der entzüdte Spanfudelio der Zofe einen Dufaten 
und für einen Kuß von ihrem reizenden Munde einen zweiten, mit 
welchen beiden Angebinden er jelig über die — eilte. 

Nun beſaß der Conte einen ſeltenen Freund, mit dem er Glück 
und Unglück theilte. Ste hatten es ſich einſt zugeſchworen, eine Hoſtie 
darauf genommen, auch ihr Blut vermiſcht und davon getrunfen. 
Dieje zwei Dinge aber, jo er von der Zofe erhalten, konnte und 
— er nicht theilen. So verſchwieg er das Eine und vom Anderen, 
das heißt von der Nadel, ließ er eine gleiche aus Gold anfertigen, 
die einen Dukaten wog. Dieſe Nadel überließ er nun als uneigen— 
nütziger Freund ſeinem Freunde Montegocolo gegen Vergütung der 
gehabten Auslagen von drei Dukaten als die ehe von Signora Mi- 
rafucile erhaltene Nadel. Auf dieſe Art hatte Spanfudelio feine 
Scildpattnadel umſonſt — er war glüdlic). 

Doch auch der witzige Montegocolo 2* den gleichen Einfall; 
er ließ nach dem Muſter ſeiner goldenen Nadel eine ſilberne anfertigen, 
die er dem reichen Juden —32*— d'Oro als echte Nadel der Tän— 
zerin Mirafucile um vier Dukaten verkaufte. Er hatte alle Urſache 
mit dieſem Handel zufrieden zu ſein, denn er beſaß — nach ſeiner 
Meinung — nicht nur die wahre Nadel, —— — auch einen 
kleinen Nuten gezogen. Auch der Jude Giuſeppe dOro ließ ſich den 
— nicht gereuen; er ſelbſt behielt die ſeiner Anſicht nach echte 

adel, ließ aber 500 ganz gleiche anfertigen, die er als Mirafucile— 
*5* zum Preiſe von einen Dukaten für das Stück in den Handel 
rachte. 


Am Kamin. 225 


So jah man denn eines Schönen Morgens die jungen Herren von 
—J— mit Mirafucile-Nadeln im Halstuch einherſtolziren und der 
Volkswitz nannte diefe Herren die „Ritter von der Nadel“. Auch un- 
fere drei Freunde trafen I auf der Promenade, jeder mit jeiner 
Nadel. Im Anfange ftußten jie, dann brach jeder für ſich in ein Ge- 
lächter aus, denn jeder hielt den andern für den Gefoppten. Der 
Umstand, daß der andere über die vermeintliche Nasführung des einen 
lachen Eonnte, verjegte jeden in immer erneute jchranfenloje Heiterkeit. 
Als fie Il ja. ausgelacht Hatten, trodneten fie ihre Thränen und 
nahmen ſich gegenfeitig aus Mitleid unterm Arm, um durd) die Stadt 
u promenteren. Da begegneten ihnen denn viele, die auch ähnliche 
adeln hatten, jo daß der Berwunderung und Heiterfeit fein Ende war. 

So erfuhr aud) Signora Mirafucile in Mailand von den Mira— 
fucile-Nadeln und war jehr verwundert darüber. Sie nahm fich vor, 
der Sache auf den Grund zu jehen. Die ei fand ſich bald 
dazu, da die Diva abermals der Einladung, ın W...... zu tanzen, 
folgte. Nach dem Ballet verfammelte jie ihre Verehrer in ihrem Hötel 
J——— und ſprach: „Dunque, signori, was trieb man während 
unſerer Abweſenheit? — Man ſteckt ſich Nadeln abſonderlicher Form 
in die Krawatte — Dio mio, das ſind ja Haarnadeln! Hahaha! — 
Man benennt dieſe Nadeln nach mir — — Ma, da hätte ich Euch doch 
geichmadvollere empfohlen! — Woher ſtammt doc) dieſe bizarre Mode?“ 

Da warf fid) der Jude Giufeppe d’Dro in die Bruft, trat vor 
und ſprach feierlich, auf jeine filberne Nadel deutend: „Dieje Nadel 
ijt ımter Brüdern eine Lira wert, Man kauft fie aber in Italien 
- un Dufaten. Warum? — Reizende Diva, kennt Ihr dieje 

a e — 

„Wie ſollte ich?“ A die Tänzerin eritaunt. 

Montegocolo jedoch rief lachend dazwijchen: „Siujeppe d'Dro giebt 
fich einem naiven Irrthum Hin, wenn er glaubt, er befite die echte 
Nadel der Diva. Ic gab ihm eine Nadel, die ich bei Foreſto um 
eine halbe Lira faufte. Er darf jich jedoch nicht beflagen, denn er 
machte troßdem ein gutes ar t. Die wahre Nadel aber“, fuhr er 
triumphirend fort, „Eure Nadel, illustrissima signora, trage ich hier 
in meiner Krawatte — ecco —“ | 

Giufeppe d’Dro war anfänglich bleich geworden, tröftete fich aber 
bob mit dem Gedanken, immerhin ein gutes Gejchäft gemacht zu 

en. 

Das Staunen der Tänzerin aber wuchs. | 

„Sc verjtehe Euch nicht! Hätte mir jemand gejagt, W...... habe 
fih in ein ee verwandelt, ich würde mich weniger wundern. 
— trage weder ſilberne noch goldene Nadeln. Auch dieſe gehörte 
nicht mir. —“ 

Da blickte ſich Montegocolo verblüfft und wie hilfeſuchend um. 
Seine Blicke begegneten zuerſt den höhniſchen Blicken des Giuſeppe 
d’Oro, dann den etwas ängſtlichen Augen ſeines Freundes Spanfu— 
delio, der fich eben halb zuverfichtlich, Halb ängjtlich näherte, denn 
nun follte der Verrath an dem Freunde offenbar werden. 

urpurroth im Antlig neigte ſich Spanfudelio vor der Tänzerin 
und flüfterte: „Wären Ihre Augen, Diva, jo flinf wie Ihre Beine, 


226 Am Kamin. 


Ir hätten die echte Nadel gewiß jchon entdedt. — Beide Herren be- 
inden ſich im a. on der echten Nadel habe ich) mich nie ge: 
trennt — ich trug fie bejtändig in — der Krawatte. Ecco la qua! —* 

Die Diva aber betrachtete den zuverfichtlichen Conte Spanfudelio 
mitleidig und jagte weich: „Povero mio, wenn ich jemals derartige 
Nadeln getragen — würde ich vielleicht Eure Behauptung gelten 
laſſen. Fragt doch mein Mädchen —“ 

„Eben Eure dk. ſtammelte Spanfudelio mit gebrochener Stimme, 
„überbrachte mir die Nadel.“ 

„Marietta, komm hierher“, rief die Tänzerin, „gabit Du dem 
Herrn diefe Nadel? —“ ; 

Die Zofe glättete mit den Händen ihre reich in Farben gejticte 
Schürze und jprad: „Der Herr wollte aus unjerem Haufe ein An— 
denfen mitnehmen. Santa Maria vergine, was fonnte ich ihm geben? 
oo mic). Ic z0g eine Nadel aus meinem. Haar, gab ſie ihm 
und Jagte —“ 

Ein vieljtimmiges, jchallendes Gelächter übertönte ihre Stimme. 
Spanfudelio fühlte ſich vernichtet. Als jich die Heiterkeit gelegt hatte, 
jagte die Tänzerin halb verächtlich zu ihrer Dienerin: „Alfo Deiner 
Haarnadel verdankt die Herrenwelt von W...... eine abjurde Mode, 
santa semplieitä ?“ R 

* 
* 


Am nädhjten Tage verjchwanden die Nadeln jpurlos aus den 
Krawatten der Herren und machten jilbernen Ejelein en miniature 
Platz. Es hätte mithin die ganze Angelegenheit weiter feine ernſt— 
lichen Folgen gehabt, wenn Montegocolo nicht darin einen Verrath 
an dem vom Gonte — beſchworenen Freundſchaftsbunde er— 
blickt hätte; er forderte alſo den verrätheriſchen Freund und man fand 
53 beide wie Käfer geſpießt — todt im Boſchetto. Zu ihren 
Füßen ſtand ein Becher. Sie hatten ſich nämlich gleichzeitig erſtochen, 
ihr Herzblut in dem Becher vermiſcht, davon getrunken und waren 
dann verſöhnt geſtorben. | 

Auch aus diejer traurigen Begebenheit wußte Giufeppe d’Dro 
Nugen zu ziehen, denn er ließ viele gleichartige Becher anfertigen, die 
er einzeln als echte Becher zur Erinnerung an dieje jeltene rend: 
haft an Engländer theuer verkaufte. 

Sp jchlägt oft das Traurige zum Nußen aus für einen ſpekula— 


tiven Menjchen. I: 
Friedrich Rottenbader. 





Wiener Brief. 
Wien, 5. April. 


Ausstellung kirchlicher Kunjtgegenitände vom frühen Mittelalter 
bis zur Gegenwart, „Siebzehnte Jahres-Ausſtellung im Künjtlerhaufe, 
April und Mai-Ausitellung im Kunſtverein, Bienen» Austellung in 
der Gartenbaugejellichaft, Theaternovitäten und neue literarijche Er: 





Am Kamin. 227 


jheinungen, das ift das Programm für meinen heutigen Wienerbrief 
und mit alledem ſoll man in zwei bis drei Geiten fertig werden — 
wie das möglich, iſt mir nicht ganz klar — gelingt mir’, jo verdiene 
ic) un bei einem Berichteritatter:steeple-chase, wo es gilt im 
Rennſchritt das Ziel_zu erreichen, den Ehrenpreis. Die kirchliche Aus- 
itellung nimmt jr I mehrere Säle im öjterreichischen Muſeum am 
Stubenring in Anſpruch; fie repräfentirt nicht allein einen hohen Werth, 
jondern auch den Gejchmad von der Entjtehung des Chrijtenthums 
angefangen, bis auf Die — get — intereffant find in derjelben 
alte Handjchriften und gedrudte Bücher auf Pergament mit und ohne 
Jluftrationen. So 3. 3. der Codex Millenarius aus dem Stifte 
Kremsmünjter — dann das Paſſionale der Aebtijfin Kunigunde, das 
Gebetbuch Herzog Karl des u von Burgund mit farbigen Rand» 
verzierungen und eine große Anzahl übriger mehr oder minder ver: 
ilbter Druckwerke, unter denjelben eine deutjche Bibel aus dem Jahre 
483, Albrecht Dürer Feine Paſſion, gedrudt zu Nürnberg 1511 
— und die „Heiligen aus der Sipp Mag und ea Me des 
Kaiſers Marimilian I.“ mit Hunbertneungehn dolzichnittbildern nad) 
— von Linhard Beck. Die textilen Arbeiten, Wandbehänge, 
oſamente, Stickereien und Spitzen aus alter und neuer Zeit ſind ſo— 
wohl durch ihre Menge als auch durch ihre Vielſeitigkeit geradezu ver— 
blüffend. Aus bereits erwähnter Urſache können wir dem Leſer von 
all dieſen Genüſſen des Auges nur Kaffeelöffelweiſe zu koſten geben 
und ſo wollen wir auch hier nur eines modernen Prachtſtückes Er— 
wähnung thun, welches gerade in der Jetztzeit noch beſonderes In— 
tereſſe Re ein — Wandgobelin „Chriſtus am Kreuze“, 
ausgeführt von Fräulein Mathilde —* in München, in einem 
Rahmen von Goldſtickerei auf dunkelrothem Sammetgrunde, welches 
im Schlofje zu eg über dem Bett des unglüdlichen Bayern- 
fönig hing und nad) dejjen Tode von der Dame zurüdgefauft wurde, 
In den Sol. und Elfenbeinjchnigereien finden wir ganz prächtige 
Eremplare, jo 3. B. ein Tabernafel von Untersberger aus Gmunden 
in Eirbel-, Birn- und Palifanderholz ausgeführt; dann Schnißereien 
aus dem Grödenthal in Tirol. Die Glasmalerei präfentirt fich ver- 
ältnigmäßig wenig, das, was jie bietet, ift aber lobenswerth. Eine 
N; prunfvolle und umfaſſende Austellung kirchlicher Gegenjtände ift 
allerdings nur in einem fatholiichen Lande denkbar, e3 iſt aber das 
Fortichreiten in der Kunſt mit dem NRüdblide auf die ng 
vielleicht nie jo grell zutage getreten, al3 bei diejer Erpofition, in der 
ſich die Fantaſie und der Kunftjinn der Vergangenheit jenem der Ge— 
enwart gegenüberjtellt. Jedenfalls räumte man einſt dem Gott des 

fies und der Verdammniß jelbit im chrijtlichen Glauben viel mehr 

acht ein, und der Gott der Liebe, zu weldem man gläubig und 
boffnungsvoll emporblidt, iſt eine mit der fteigenden Kultur an Macht 
und * gewinnende Geſtalt. 

Der Kaiſer hat am 2. April die —— Jahresausſtellung im 
Künſtlerhauſe eröffnet, welche nicht nur durch die Menge des Gebo— 
tenen, jondern auch durch die Vorzüglichkeit deſſen, was man bietet, 
allgemeines Erjtaunen hervorruft. Die heimijchen eier bon es 
endlich Gott ſei Dank aufgegeben, ihr Licht unter den Scheffel zu 


228 Am Kamin. 


ftellen; fie beichiden die Ausjtellung und man fieht, was fie da Präch— 
tiges leiſten. m großen Saale des linken Traktes zieht vor allem 
ein flottgemaltes hijtorijches Gemälde de3 Wiener A. Seligmann un- 
fere Aufmerkſamkeit auf ſich: „Leopold von Babenberg rettet Kaiſer 
Dtto das Leben.” Es ijt ein gutes Bild des jungen Künſtlers, welches 
mehr verjpricht. Unſere Porträtmaler haben fich in diefem Jahre be— 
ſonders ausgezeichnet. L'Allemand mit einem vorzüglichen Tebensgroßen 
Bilde des Grafen Erwin — Beräton mit einem ſprechendähn— 
[ichen Porträt des Sängers Blaumaert. Lebiedzfi mit einem Bilde 
der Fran von Bräuning. — Klotz bietet drei or re olz⸗ 
reliefs. Unſere Bildhauer Tilgner, Weyr, Benk, Zumbuſch überbieten 
ſich in ihren Leiſtungen. Die wenigſt gelungene iſt Zumbuſchs Mar— 
morſtatue des Kaiſer Franz Solepd, beitimmt für das Treppenhaus 
der Univerfität. Weyrs Reltefe für das Grillparzer-Denkmal —— 
und „Der Traum ein Leben“ ſind Kunſtwerke in des Wortes beſter 
Bedeutung. Auch unſere Landſchafter Joſeph Hoffmann, Darnaut, 
Pauſinger, Wieſinger haben ſich brillant eingeſtellt; ebenſo Karl, Eugen 
und Julius von Blaas mit ‚„Venezianlſchen Mädchen“, Kunſtreiter auf 
dem Jahrmarkte“ und „der Gefangennahme Andreas Hofer.“ Bere 
bietet ung einige jeiner beliebten envebilder aus dem Land» un 
Soldatenleben. Das Genre ift in Del und Paſtell diefes Mal glän- 
zend vertreten. Auch die ausländijchen Künſtler haben da prachtvolles 
geboten, jo Ehierici mit ein Baar klaſſiſchen, humorvoll aufgefaßten 
cenen aus dem Kinderleben. Mathias Schmid mit jeinen Gemälden 
„sn der Galerie“ und „Auf der Wallfahrt“ u. ſ. w. Wir begehen ein 
— — Unrecht, indem wir von der Ausſtellung im Künſt— 
erhauſe nicht weit mehr und weit ec erzählen — aber was 
läßt fich denn thun, wenn der Raum jo knapp bemejjen iſt. Noch 
einen flüchtigen Blick in den Kunjtverein, in welchem wir uns übri- 
— ohne allzu große erst a nur furz aufzuhalten brauchen. 
as Beite darin ift Profefjor Lindenjchmids „Allarich nach der Er- 
jtürmung Roms" und Van der Bujches „Einkleidung der Herzogin 
Luiſe de Lavalieve als Büherin bei den Karmeliter-Nonnen in are. 
Es iſt dies ein in feiner anjpruchslojen en erichütternd ſchönes 
Gemälde; die anmuthige Gejtalt der jugendlichen Herzogin, welche auf 
dem Betſchemel kniet und der eine grimmig ausjehende alte Nonne 
das ag Goldhaar abjchneidet, treibt uns unwillkürlich einen 
feuchten — in die Augen. Von den übrigen Bildern läßt ſich 
noch erwähnen das Gemälde Fesztys aus Budapelt „Die Abgebrannten“ 
wehmuthsvoll in jeiner draſtiſchen Naturtreue; und ein Cyklus von 
jechzehn jederzeichnungen von Emanuel Kratky „Das ——— 
Symbolum“. In den Sälen der Gartenbaugeſellſchaft wurde in den 
erſten — dieſes Monats die Bienen-Ausſtellung eröffnet, welche 
in ihrer Art zu den intereſſanteſten Expoſitionen der Saiſon gehört. 
Man kommt ſich da erſt recht zum Bewußtſein der Bedeutung der 
—— und alle fünf Abtheilungen, lebende Bienen, Bienenwoh— 
nungen, Geräthe der Bienenzucht, Produkte zur Bienenzucht und Lehr: 
mittel der Bienenzucht find ein intereffantes Studium und wurden 

vom In⸗ und Auslande reich beichidt. 
Die Theater bieten ung nicht viel neues; doch jollen im Laufe 


Am Kamin. 229 


diejes Monats nod) allerhand Novitäten an-die Tagesordnung kommen, 
Die Burg war — er Oſterzeit Hg und nimmt nach der: 
felben gig auf. In der Oper gajtirt Frau Marcella Sembrich 
— ruft bei dem einen Beifallsjtürme, bei den Verehrern der Biandji, 
wenn nicht Tadel, jo doch Stillfchweigen hervor. Worbereitet wird 
an diefer Bühne Karl Bfeffers neue Oper „Harold“. Im Karltheater 
verzeichneten wir als legte Novität Karl Lauffs vieraftige Poſſe „Ein 
luftiger Einfall“ und verdienen bejonders Herr Witte und Herr Gutt— 
mann volle — u Gunſten der Wiener Wärmejtuben fand 
unter dem Proteftorate der Fürſtin Bauline Metternich im Karltheater 
eine Matinee jtatt, in welcher die jächliiche Kammerfängerin Frau 
Schuch-Proska, dann der jachjifche —— Paul Bulß, der 
Violinvirtuoſe Hans Weſſely und unſere männlichen und weiblichen 
Komiker Alerander Girardi, Franz Tewele, Karl Blajel und Frau 
Marie Schwarz-Meyfenbugg mitwirkten. Erzählen kann ich Ihnen 
von dieſer Mafinee nur das on dit, daß fie gefallen, weil ich nicht 
Dabei gewejen bin und zwar nicht aus Saumfeligfeit in meiner Rolle 
als arg sec jondern da ich feine Karte mehr befam — was 
nebenbei bemerkt, durchaus nicht Schuld der Theaterdirektion ift. Im 
Theater an der Wien werden große Vorbereitungen getroffen für das- 
Ins Scene-gehen des Ausitattungsitüdes von Julius Bauer, Iſidor 
Facho und 5. Zell „Die Wienerjtadt in Wort und Bild.“ Für das 

heater in der Joſephſtadt jteht die Burleske „Münchhaufen“ von 
Horold und Waldau auf dem Repertoire. Unjere Naive vom Burg- 
theater, Fräulein Hohenfels hat als Vorleferin fich jüngjt wieder alle 
Herzen erobert und dem Vereinsſäckel der Schriftjtellerinnen und Künft- 
lerinnen ein hübjches Stüd Geld eingetragen. Man kommt in Ber- 
legenheit, was man bei ihr am meiſten bewundern joll, das klangvolle 
Drgan, die feine künſtleriſche Suffoffung, oder die unendlid) eg 
beicheidene — ihres Benehmens. Unſer Kronprinz hat jüngſt in 
dem illuſtrirten Prachtwerke „Die —— e Monarchie 
in Wort und Bild“ eine intereſſante Schilderung „Eine Jagd in den 
Donauauen“ publizirt und in dieſer anſchaulichen und poetiſchen Wieder: 
gabe des Gejehenen von neuem jein feines literariiches Verftändniß. 
an den Tag gelegt. Ueber eine fürjtliche Reife hat der Linienfchiffs- 
fapitän Augujt von Almſtein fich auch kürzlich veranlaßt gejehen, unter 
dem Titel „Ein flüchtiger Zug nach dem Orient“ ein drachtwert u 
veröffentlichen, in wel er die Reiſe unſerer Kaiferin als Sräfn 
von ——— ſchildert. 

Ich wüßte Ihnen noch dieſes und jenes Rn erzählen, aber was 
nügt meine Wiffenjchaft, wenn ich nicht den Raum habe, diejelbe an 
den Mann zu bringen. — Für heute aljo leben Ste wohl. — Die 
Ergänzung gt ein andermal. 

Mar v. Weifenthurn. 


Aippfaden. 

Eine Kuriofitätenböhle, welche die berühmte Mammuthhöhle von Kentudy 
weit übertrifft, wurde auf ber Farm von John Davis bei Jadsboro, Kampbell- 
County, Tenneſſee (Norbamerila), entdedt. Nah ben Berichten zu urtbeilen, ift dieſe 
Höhle erfüllt von Seltfamkeiten. Bis jett ift nur theilweiſe eine einzige Kammer 


230 Am Kamin. 


durchforſcht, in welcher fich vorgeſchichtliche Mumien fanden, mit Sandalen an ben 
Füßen, vollftändig fonferbirt, einige verftümmelt, andere durch den Salzgehalt ber 
Höhle erhalten. Die Wände dieſes Raumes find mit ben Bildern ausgeftorbener 
oder phantaftifcher Thiere bemalt. Ein von blinden Filhen mwimmelnder großer 
Strom durcfließt dieje Höhle. Davis hat in ibr eine befondere Art Echalal over 
rotben Fuchs gefangen; fie ift erfüllt von thieriſchem und pflanzlichem Leben. Heim- 
hen von Sperlingsgrößge büpfen und wandeln darin umber und Ratten jo groß wie 
Kaninden. Sehr ſchön geftaltete Fußiporen find in dem erbärteten Schlamme er- 
balten geblieben, und Mmiaturwälder mit jchmeeweißen Blättern und ſehr jenfitiven 
Blüten ziehen ſich an den Ufern des Fluffes bin. Alle diefe Wunderdinge vermeldet 
die „Bofton Boft“. 

Eine chinefifche Katharina. Einer amerikanischen Zeitung wird aus 
Peking u. a. das Folgende geichrieben: „Die wobllöblichen Cenſoren des kaiferlichen 
Hofes in Peling kommen aus dem Staunen über das Betragen ibrer erbabenen 
Souveränin, die num ſchon feit mehr denn zwanzig Jahren bie Zügel der Regierung 
führt, gar nicht mebr heraus. Die Kaiferin bat im letter Zeit ganz und gar mic 
den ftrengen Regeln ber SHofetilette gebrochen, trot aller Borftellungen der ebren- 
wertben Cenſoren, bie daburdb das Wohl des Landes bedrobt ſehen wollen. Sie bat 
es, allen Borftelungen des Hofceremonielld Hohn fprechend, gewagt, ihre Refidenz 
von dem langweiligen Winterpalai® nah ben prachtvollen Faiferlihen Parls mit 
ihren zierlihen Schlößchen und Pavillons zu verlegen. Und bier läßt fie fih in 
einer Weife gehen, die den ftrengen alten Herren die Haare zu Berge fteben macht. 
Ein jeder bat dort ungehindert zu ihr Zutritt, und fie unterhält ſich mit jedem, 
ohne dabei in Erwägung zu zieben, wie fehr durch derartige Freiheiten beim Volle 
die Ehrfurcht vor der göttlichen Macht des Kaijerhaufes ſchwindet. Die Kaiferin ift 
von ber Ueberzeugung durchdrungen, daß die bis jetzt noch ziemlich ftreng gehand— 
babte Abichliefung Chinas von den anderen Ländern und ber europäifchen Kultur 
ſich nicht mehr durchführen läßt und daß in politifcher, jozialer und religiöfer Be— 
ziehbung Reformen durchaus notbwendig find. Den älteren Chineſen fcheinen natür- 
lich diefe Anfhauungen der Monarchin gottlo®, und fie erbliden in ihnen den Be- 
weis, dag ein Weib unfähig zum Regieren ift und nur unbeilvoll auf die Geſchicke 
des Pandes wirken fann. 

T'ſu Ch'i ift die dritte Frau, melde in dem Reiche der Mitte bie Zitgel ber 
Negierung führt; eine erfte Frauenherrſchaft findet fih unter der Dynaftie Han, als 
der Kaifer Kno Tſu die Krone niederlegte; damals ergriff, ald der minorenne Sohn 
des entjagenden Herrſchers den Thron beftieg, die erfte Gemalin Kno Tſus das 
Staatsruder. Sie berrichte mit vieler Grauſamkeit und machte ſich befonders durch 
Berfolgung aller ſchönen frauen, da fie von einer Eranfhaften Eitelleit bejeelt war, 
furdtbar. Die zweite berrfchte zur Zeit der Tongs, während ber Renaiſſanceperiode 
Chinas; fie beberrichte den blutigen Kaifer Wu volllommen und fol feine graufamen 
Triebe noch befördert haben; fie zeichnete fich übrigens durch eine große und um- 
faffende Bildung aus. Die jetige Katjerin T'ſu Ch'i ift jedenfalls eine der bervor- 
ragendften Frauen, die je auf die Gefchide Ehinas Einfluß ausgeiibt haben. 

Den enormen Aufjchwung der Neichshauptitadt Berlin in ven let- 
ten 40 Jabren zeigt die letzte Volkszählung. Die Einwohnerzahl Berlins bat ſich danach 
in dem gedachten Zeitraume um circa 800,000 Seelen vermebrt. Mit diefer Vermeh— 
rung bielt gleichen Schritt die Vergrößerung Berlins, wie aus folgenden autbentifchen 
Angaben erfitlih if. Damals umfaßte die Stadt innerhalb ihrer Ringmauern 
einen Flähenraum von 6017 Magdeburger Morgen, nicht ganz '/, Duadratmeile. 
Sie bildete beinahe ein ungleichjeitiges Biered, ungefähr ein fchiefwwinktiges Parallelo- 
gramm, befien größter Durchmeffer etwa bie Entfernung von dem Stralauertbore 
bis zum Neuentbore der Friedrih-Wilhelmsftabt war. Der Meinere Durchmeſſer 
vom Hallefhen- bis zum Königstbore war etwa 1000 Ruten, aljo '/, Meile, und 
ungefähr ebenjo groß mar bie Entfernung vom Brandenburger bi6 zum Lands- 
bergertbore. Die große Friedrichſtraße, melde die Stabt von ber weſtlichen Seite, 
vom Oranienburger» bis zum Halleſchen Thore durchichneidet, maß 840 Ruten. 

Der vollftändige Umfang der Berliner Stadtmauer betrug 3900 Ruten oder 
beinahe 2 Meilen. Innerbalb ber Stadt war das Köpenider Feld von 720 Morgen 
und das Feld zwiſchen dem Stralauer-, Frankfurter- und Landsbergerthore von wer 


Am Kamin. 231 


nigftens 300 Morgen, noch unbebaut. Die bebaute Fläche innerhalb der King- 
mauer betrug etwa 5000 Morgen und der mit Häufern bededte Theil der nächſten 
Umgebung etwa 800 Morgen. Auf diefem Raume von 5800 Morgen ftanden 8380 
bürgerlihe Vorderhäuſer, melde mit ibren Hinter- und Geitengebäuden bei ber 
ftäbtifhen Feuerſocietät mit 102,411,925 Thaler verfihert waren, 181 tönigliche 
Gebäude zum Werthe von gegen 12,000,000 Thaler und 32 Kirchen. Berlin batte 
17 Thore, 294 Strafen und Gaflen, 24 öffentlibe Pläge und Märkte. Außer den 
benannten Gebäuden bejaß Berlin 6 Gymnafien, 5 höhere Stadtichulen, 1 Gewerte- 
ſchule, 12 Kommunalarmenjchulen und mehr als 250 böbere und niedere Schul- und 
Bildungsanftalten, eine öffentliche Bibliothel, ein Mujeum, 3 öffentliche Theater, ein 
Zeughaus, 15 Kaſernen und eine große Menge von milden Stiftungen und Hoipi- 
tälern. Wie bedeutend fi nur der Immobilienwerth Berlins gefteigert bat, zeigt 
die Thatjache, daß bei der ftäbtifchen Feuerſocietät im laufenden Jahre Gebäude im 
Werthe von circa 2,500,000,000 Mark verfihert waren. Diejer kurze Rüdblid ge- 
nügt, um zu beweifen, melde Ausdehnung Berlin in dem verbältnigmäßig furzen 
Zeitraume erbalten hat. 


Anfer Bildertifd. 

Polnifche Panzerreiter. (Mit Iluftration.) Wir bringen heute eine ge- 
fungene Nahbildung eines Gemäldes des berühmten polnischen Malers Wladislaw 
Szerner, welches eine glänzende Kavallade polnischer Banzerträger aus dem fiebzehnten 
Jahrhundert darftellt. Es ift das feine leichte Neiterei, jondern eine Abtbeilung 
jhwerer Kavallerie, welche den fpäteren Küraffieren ähnelt. Das Haupt der Rei— 
figen ift mit einem glänzenden Helm gejchmüdt, welcher mit dem den Leib bededen- 
den Panzerhemde aus Eijendraht, nah Art der altperfifchen Rüftung, in Berbindung 
ftebt. Unſere Panzerreiter find auf einem Streifzuge während bes polnifch-fchwe- 
diſchen Krieges ums Jahr 1658 begriffen. Der Anführer, der mit einem des Weges 
in der öden Gegend funbigen Bauern fpricht, ift durch einen glänzenden Schild 
fenntlih, ber zur linken Seite feines ftattlihen Rappens hängt, während er in ber 
rechten Hand einen mächtigen Feldherrnſtab, nah Art des ungarischen Handbeils, 
bilt. In ehrerbietiger Entfernung verbarrt das Gefolge. Im Sonnenjdein des 
beißen Sommertages bliten bie glänzenden Panzer und Waffen und die ſchimmern— 
den Bebänge ber edlen Roſſe — ein charakteriftiiches Bild kriegeriſchen Lebens ver: 
gangener Zeiten. 





Landichaft am Jordan. (Mit Jlluftration.) Wer, fo erzählt der Reife 
ſchriftſteller Shweiger-Yerdhenfeld in dem bei A. Hartleben in Wien erjchie- 
nenen Prachtwerle „Der Orient”, wer von Ierufalem nah Jericho, oder vielmehr 
nach dem beutigen elenden Dorfe Richa, beruntertommt, fiebt von ber felsöben Höhe 
des Jordanthales nach ſechsſtündigem beſchwerlichem Nitte zum erftenmal das Todte 
Meer wieder. Ueber breizebnbundert Buß tief unter dem Spiegel des Mittelmeeres 
ift diefer jagenbafte, gefürdtete und gemiedene See eingejentt, ein Wunder jeiner 
Art auf unſerm Planeten. Einen graufigen Eindrud macht das Gemäfler, wenn 
man es aus der Ferne überjchaut, freilich micht. Der Spiegel ift von einem wun— 
berbaren Hellblau, und die wild zerriffenen, vollftändig fablen Gebirgseinfaffungen, 
die ihre Zacken und jcharfen Stufen in der Tiefe fpiegeln, erböben den romantifchen 
Heiz des Bildes, 

Anders wenn man zum Jordan binabfteigt, um den Nordrand des Sees zu 
erreihen. Das breite, menfchenleere und wüſte „Ghor“ ift ein wabrer Herenteflet. 
Die Hitge ift zu Zeiten eine enorm bobe, die Luft heiß, wie über glübenden Metall- 
platten vibrirend. Nur am Geſtade des beiligen Fluſſes ift vegetatives Leben, und 
das Raufhen des Jordan verballt im Didicht der Weiden und Dleander, der Tama— 
riefen und des Lorbeer, der Alazien und der Erbbeerbäume Wo der raufhende 
Strom in die See ftürzt, findet die Begetation ibr Ende. Ein Boot, das von bier 
in den See binausfteuert, bat wohl bin und wieder friſche Nordbriſe und gleitet 
verbältnigmäßig raſch ſüdwärts, immer zwiſchen nadten Höben und todtftiller Wild- 
niß. Wenn e8 aber fpäter, zumal in der Tagesbige, Menſchenhände zuriid rudern 
wollten, gäbe es harte Arbeit. Das Waſſer ift ungemein ſchwer, und wenn Die 


232 Am Kamin. 


Wellen an die Borbwände anfchlagen, giebt e8 einen Ton wie von Hammerſchlägen. 
Die furchtbare Hitze macht alle Kraft erlahmen, und als einſt die amerilaniſche 
Erpebition unter Lynch über den See fuhr, bedurfte es außergewöhnlicher Energie, 
um die Lebensgeiſter rege zu erhalten. 








Eule mit Jungem. (Dit Illuſtration.) Daß Bögel vor nahender Gefahr 
ihr Junges in Sicherheit zu bringen willen, indem fie, ben Schützling mit ben 
Fußen ergreifend, denſelben forttragen, ift eine ſchon vielfach beobadıtete Thatfache. 
Unfer Bild ftellt eine Eule dar, welche ihr Junges in bie Fänge genommen bat und 
baffelbe in Sicherheit zu bringen fucht, da ihr Neft gefährdet zu fein jcheint. — Die 
Eulen find, um über biefen Bogel im allgemeinen etwas zu fagen, Weltbürger in 
der vollften Bedeutung bes Wortes. Sie bewohnen alle Erbtbeile, "alle ®ürtel ber 
Breite wie ber Höhe, alle Gegenden und alle Dertlichkeiten. Bon ben eifigen Pän- 
dern um ben Nordpol an bi® zu dem Gleicher bin und von der Seeküſte bis zu 
15,000 Fuß über dem Meer find fie beobachtet worden; ob fie im Himalaya nicht 
noch höher vorfommen, bleibt fraglid. Der Süden beherbergt felbftverftändlich auch 
fie in größerer Artenzahl, als ber Norden; dieſer aber ift keineswegs arm an ihnen. 
Waldungen find die eigentliche Heimftätte unferer Vögel; fie fehlen aber auch in ben 
Steppen, Wüften und felbft dem pflanzenlofen Gebirge nicht und ebenjo wenig bei 
vollöbelehten Ortſchaften und Städten; denn fie finden überall Rube und Berfted- 
pläge, welche ihnen genügen, und binlängliche Nahrung. Man nennt die Eulen aud) 
Nachtraubvögel; ber Ausprud erfordert aber mindeftens eine Erklärung. Allerdings 
beginnt die große Mehrzahl erft mit eintretender Dämmerung ihre Streifzüge; nicht 
wenige aber find aud bei Zage thätig und „feineswegs bloß diejenigen, welche ben 
nörblideren Erbgürtel bewohnen, jondern auch ſolche, welche in ben Gleicherländern 
leben. Gewiſſe Steppeneulen gehen jelbft in ber Mittagszeit ihrer Nahrung nad 
und Berwandte von ihnen treiben ſich angefichts ber Sonne munter in ben ſchattigen 
Urmwalbungen umber; fie find bei Zage minbeftens ebenfo thätig wie bei Nacht. 
Letztere freilich ift und bleibt bie Jagbzeit der Geſammtheit. Die Eulen find zu 
nädtlihem Wirken im höchſten Grabe geeignet. Ihr für kürzere Entfernungen 
überaus fcharfes Auge, ihr außerorbentlid feines Gebör, ihr weiches Gefieder be- 
fähigt fie noch während des Duntels zu erfolgreicher Tpätigfeit, Lautlos fliegen fie 
in nicht eben bebentenber Höhe über den Boden dahin; das Geräuſch ber eigenen 
Bewegung beeinträchtigt ihr Gehör nicht im mindeften; fie vernehmen das leiſeſte 
Geräufh, das unbedeutendfte Raſcheln auf dem Boden; fie fehen ungeachtet bes 
Duntels das Meinfte Säugethier. „Ach babe“, jagt Brehm sen., „bei zahmen 
Eulen, welche die Augen ganz geſchloſſen hatten und aljo völlig fchliefen, Verſuche 
über die Feftigfeit ihres Schlafes angeftellt und war erftaunt, ale ich erfuhr, wie 
leicht fie jelbft durch ein entfernte, geringes Geräuſch ganz munter und zum "Fort- 
fliegen bereit wurden... Ich habe auch bie Eulen in ziemlich finftern Nächten 
gegen den Himmel fliegen feben, in ganz finftern bald ba, bald bort fchreien hören 
und bin Zeuge geweſen, baß ein Rauchfußlauz, an welchen fich ein jcharffichtiger 
Freund von mir äuferft fill und vorfichtig anfhlih, um ihn von einer Taune 
berabzufchießen, fogleih wegflog, al® der Jäger über eine von Bäumen entblößte 
Stelle ging. Das Auge der Eule ift jeher empfindlich gegen das Tageslicht, und 
einzelne Arten von ihnen verfchließen ihre Augen bis zur Hälfte und noch weiter, 
wenn fie dem vollen Licht ausgefegt werden; ganz unbegründet aber ift die Behaup- 
tung, daß die Eulen am Tage nicht fehen könnten. „Sie find“, fährt Brehm sen. 
fort, „nicht nur imftande, bei hellem Tageslicht im Freien, fondern auch durch bie 
dichteften Bäume. zu fliegen, obne Be Ih habe dies bei fait allen deutſchen 
Arten bemerkt. Am hellen Mittag famen bie alten Ohreulen berbeigeflogen, wenn 
ih ihre Jungen ausnahm; am hellen Mittag entfloben die Eulen nicht felten, wenn 
ih fie ſchießen wollte; am hellen Mittag raubte ein Schleierlaug vom Schloßthurmı 
zu Altenburg aus einen Sperling, der mit ben Hühnern auf dem Echloßhofe frag 
und trug ihn in feinen Schlupfwinlel.“ 


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Neueſte Moden. 


Ar. I. Morgenjadie. 
Dieſe aus Flanell oder farbigem Wollenſtoff angefertigte Jacke hat loſe Bor- 
dertheile, welche am Hals etwas eingereiht werden. Der Stehkragen und der Gür- 


tel ſind vom gleichen Stoff und mit Spitzen beſetzt. Der untere Rand der Jacke 
und der glatten Aermel iſt ebenfalls damit verziert 





Nr. 1. Morgenjade. 


Nr. 2, Frühjahrshut. 

Das Kopftbeil diefes Hutes befteht aus rubinrotbem Samm und ift mit einem 
Perlennetz überſpannt. Der Rand von Strobgefleht wird vorn etwas zuriidge- 
ichlagen und von einer, von innen berausgebenden, gewundenen Verzierung, melde 
oben am Kopfe des Hutes einen Zweig mit großen Blumen und langen Stielen 

Der Salon 1887. Heft VII. Band II. 16 Pr 


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234 Heuefte Moden. 


fefthäft und mit großen Puffen untermifcht ift, gehalten. Die langen breiten Binbe- 
bänder find von elfenbeinfarbigem Failleband. 


Ar. 3. Capole. 

Diefe Eapote bat einen weichen Kopf aus beigefarbiger Faille und einen Rand 
von gleichfarbigem Roßbaargefleht. Die Faille ift mit einem Perlenneß überfpannt 
und born ift der Hut mit einer großen flachen weißen Blume mit purpurnem Kelch, 
fowie mit verfchiedenen Wlätterzweigen verziert. Die breiten Binbebänder aus Faille- 


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Nr. 2. Frühjahrohut. 


band find mit Perlenagraffen am Hute befeftigt. Der etwas zurüdgefchobene Schirm 
des Hutes bat innen eine Rüſche aus Doppelfalten. 


Nr. 4 Promenaden -Anzng. 

Der erfte Rod dieſes Kleides befteht aus einfarbigem Wollenftoff und fällt auf 
einen untern Rod aus Seide. Diejer einfarbige Rod ıft mit drei breiten Sammet- 
ftreifen, von denen ber unterfte am äußern Rande des Rodes angebracht ift, beſetzt. 
Zwiſchen diefen Streifen befinden fich je drei jehr fehmale Sammetftreifen. Die Tu- 
nifa aus gemuftertem Wollenftoff fällt ebenfalls bis an den untern Rand bes erften 
Rockes herab, doch läßt biefelbe die rechte Seite deffelben völlig frei, auf ber linken 
drapirt fich die Tunika nach der Hüfte zu und bildet hinten einen Puff. Die Taille 


Ueueſte Moden. 235 


aus gemuftertem Wollenftoff ift in Iadenform gejchnitten und born weit offen. Die 
Borbertheile derfelben haben oben febr breite, nad unten ſpitz zugebende Auffchläge 
von Sammet. Im Rüden befinden fich tiefe Doppelfalten. Die langen engen 
Aermel haben breite Sammetaufichläge. Auch der breite Steblragen ift von Sam- 
met. Die Wefte von einfarbigem Wollenftoff ift vorn berab mit Knöpfen gejchloffen 
und bat eine ziemlich lange Schnebbe. Großer bober Hut mit ſehr hoch an ber Seite 
aufgejchlagener Krempe. Oben am Kopfe befjelben find zwei verfchiebenfarbige jchöne 
Federn angebracht, von denen die hellere auf den dunkeln Sammet des Auffchlages 





Nr. 3. Capote. 


fällt, die dunflere Feder dagegen ftebt empor und wird von bellfarbigen Schlupfen 
aus GSeidengaze gebalten, welche wermittels zweier Schnallen auf dem Hute befeftigt 
werden. An Stoff zu diefem Anzug ift erforderlih: Ungefähr 5 Mir. Seide zum 
untern Rod. 2 Mitr. einfarbiger Dollenftoff fir die Seite. 1 Mir. 50 GCentm. 
zur Draperie. 2 Mtr. 50 Centm. zum Buff. 2 Mir. für die Taille und 40 Centm. 
zur Wefte. 50 Centm. Sammet zu den Streifen. 


Ar. 5. Promenaden -Anzıg. 
Auf einem untern Rod aus Seide befinden ſich zwei Theile aus Sammet- 
bamaft. Die Tunika aus glatter franzöfiicher Faille ift in der Taille eingereibt, an 
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238 Ueueſte Moden. 


ben Hilften erhoben und bildet hinten einen Puff. An der rechten Seite, von ber 
Taille herab bis nach unten bin, find einige glatte Falten davon neben dem Da- 
mafttbeil angebracht. Die Taille aus Faille iſt weit offen und bildet unten eine 
Schnebbe. Die Vordertheile, welche durch einen breiten Aufſchlag bis unten begrenzt 
werden, gehen ſchräg übereinander und werden durch vier große ſchöne Knöpfe 
zufammengebalten. Das glatte Latztheil mit Steblragen und auch die Aermelauf- 
ihläge find von Damaflfammet. Die Capote mit ſehr hohem Kopf ift mit einer 


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Nr. 7. Anzug für Knaben von 7 bid 9 Yahren. 


diden Spitenrilfche eingefaht und vornauf mit jhönen Federn befetst. Zur Anfer- 
tigung dieſes Anzugs bedarf man an Stoff: Ungefähr 4 Mtr. Seide zu ben Falten. 
2 Mtr. Damaftfammet zum Rod. 2 Mtr. 40 Gentm. Seide zur Draperie 3 Mtr. 
zum Puff. 3 Mir. für die Taille. 30 Gentm. Damaft zum Yatz zc. 


Nr. 6. Anzug für Mäddhen von 5 Jahren. 

Ein Rod aus gramatrotber Seide ift mit zwei Reihen Falbeln von beftidter 
Spitze beſetzt. Dieſe Falbeln werden in gleihmäßigen Entfernungen von granat- 
rotben Plüfchpatten, die mit Metalllnöpfen auf dem Rod befeftigt find, getrennt. | 
Das Jacket ift aus granatrotbem Plüſch angefertigt. Der anliegenbe Rüden des- 


Heuefte Moden. 239 


felben endigt in Doppelfalten und die langen glatten Borbertheile ftehen unten 
offen. Ein eingereibtes Latztheil aus Spitenftoff wird in ber Taille vermittels 
einer Schärpe aus Surab, welche unter den Schoohfalten eine dide Schleife bildet, 
gehalten. Große Metallfnöpfe find zahlreich fowehl an den Bordertheilen, als aud) 
an den Aermelaufichligen und oben an den Achjeln angebradht. Der runde Hut, 
mit hinten aufgebogener und mit Sammet belegter Krempe, ift mit einem biden 
Bauſch Schlupfen aus Pilotband, welche obenauf angebracht find, ausgeftattet. Zur 


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Anfertigung dieſes Kleidchens bedarf man: 1 Mtr. 50 Centm. Seide für ben Rod. 
1 Mir. Sammet. 5 Mir. Spige. 2 Mir. Plüfh. 1 Mir. Surab, jowie 35 Eentm. 
Spigenftoff zum Lab. 


Ar. 7. Anzug für Anaben von 7 bis 9 Jahren. 
Derjelbe ift aus bunfelgrauem Tuch angefertigt. Die Beinkleider find kurz. 
Die Bloufe ift im Rüden anliegend und fällt vorn loſe herab. Die Borbertbeile 
er meit übereinander und find durch zwei Reiben Phantaſieknöpfe geichloffen. 
er Gürtel ift von Tuch. Die Tafchen find unterhalb beffelben angebracht. Die 
Aermel find nicht fehr eng und haben einen imitirten Aufjchlag. 


240 Ueueſte Moden. 


Ar. 8. Anzug für Anaben von 3 bis 5 Iahren. 

Diefer Anzug ift aus otterfarbenem Plüſch bergeftellt. Derjelbe ift im Rüden 
anliegend und bat ein faltiges Rodtbeil. Die Bordertbeile gehen vorn übereinander 
und baben eine Reihe fchöner großer Knöpfe. Ueberjchlagfragen und lange Aermel. 
Die Meine Mütze von gleihfarbigem Sammet ift vorn mit einem Anker geſchmückt 





Nr. 9. Wirthſchafteſchürze 


Ar. 9. Virthſchaftsſchürze. 

Die aus bellblauer Leinwand angefertigte Schürze befteht aus einem geraden 
Stüd, weldes, oben in Falten gereibt, an einen Bund befeftigt wird. Der untere 
Theil der Schürze iſt mit Tanguetten Zaden und mit breiter Stiderei verziert 
Die Meinen Taſchen find eingereiht und mit einem beftidten Bündchen verjeben. 
Auch der Gürtel der Schürze ift beftidt. Die Stiderei wird in Weiß und Blau 
oder auch mur blau abgetönt ausgeführt. Die Bänder vom Stoff der Schürze find 
glatt befäumt. 


Redaction, Berlag und Drud von A. H. Bapne in Reubnig bei Yeipzig. 





Mberhalb Menagaio gegen Bellagio. (Comer-See.) 
erbilder”‘, Heft 114—116: „Lugano“ von 9. Hardmeher. Berlag von Orell Fühli & Go., Zürid.) 


(Aus „Europäiſche Wand 


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Wie Gertrud von Frank einen Mann bekam. 
Eine wahre Gefchichte von Gonflance Varoneſſe v. Gaudn. 


„reift nur hinein ins volle Menſchenleben, 

Ein jeder lebt's, nicht vielen iſt's befannt, 

Und wo Ihr's padt, da iſt's intereffant‘ 
läßt Goethe jeine luſtige — dem Dichter zurufen, und auch mir 
tönt dies Wort, muthentfachend in die Seele. Freilich, ein Dichter 
ſein, und zwar ein rechter, von Gottes Gnaden iſt ein gar hohes, ſelt— 
nes Glück in unſerer haſtenden, nivellirenden, nervöſen Zeit — ich) 
darf keinen Anſpruch darauf erheben, aber erzählen will ich ſchlicht 
und recht, was ich vor nunmehr ungefähr zehn Jahren ſelbſt mit 
erlebt. Wenn dieſer „Griff ins volle Wenfhenieben“ meinen freunds 
lichen Leſern dann wirklich „interejjant“ erjcheint, iſt mein Verdienſt 
dabei mur ein geringes; ich verjuche einfad) wiederzugeben was die 
Wirklichkeit, die jich noch immer als die wirkſamſte Rivalin aller 
Romanjchöpfungen erwiejen, mir, wenn auch nur in der Nolle eines 


Zuſchauers, gezeigt. 


General 3. D. von Frank war in der ganzen Stadt befannt, von 
vielen wegen * echt —— Kürze, Knappheit und Beſtimmt— 
heit geichägt, von anderen, die ihn näher kannten, wegen ſeines oft 
recht böſen Jähzornes gefürchtet. Er ſelbſt kümmerte ſich weder um 
die einen noch um die anderen, fondern ging, oder richtiger gejagt, 
„Itapfte“ jeinen Weg in unmwandelbarer Srodheit und Dezidirtheit 
weiter und fand es höchlichjt in der Ordnung, daß, wie früher, jeine 
Soldaten, jet feine Frau, Tochter und Dienftboten abjolut feinen 
andern Willen kannten als den jeinen. 

Seiner Frau war das unbedingte Unterordnen niemals jchwer 
geworden, fie war eine Eleine, feine, —— Geſtalt und ebenſo 
et auch ihr Wollen und Vollbringen. Aus fich jelbit heraus 
hätte jie wohl niemals eimen Entjchluß gefaßt und ausgeführt; Ge— 
horchen, Unterordnen, Sichbejchränfen war ihrer Natur Bedürfnig, 
und in rührender Selbjtlojigfeit hielt fie fi) ihr ganzes Leben hin— 
durch ſtets zurüd. | 

Anders ihre Tochter Gertrud, mit der ich durch lange Jugend» 

Der Salon 1887. Heft IX. Band II. 17 


— 


242 Wie Gertrud von Srank einen Mann bekam. 


freundjchaft innig verbunden war. Gertrud bejaß eine Feuerſeele, in 

ihren Augen „glühte Lava“ wie alle ihre Tänzer einjtimmig behaup- 

teten. Ich erlaubte mir zwar bejcheidentlic) diefen Vergleich unrichtig 
u finden, denn Lava bleibt bekanntlich zurüd nad) er 

[ut, und über Gertruds Leben war bis dahin weder der Wirbelwind 
der Leidenſchaft gebrauft, noc hatte ſich das Feuer echter, wahrer 

Liebe in ihr entzündet — aber wozu diejer Einwurf? Die Herren der 

Schöpfung behalten ja Doch recht, oft allen Beweiſen vernünftiger 

Logik entgegen und „Lava in den Augen“ blieb das Signalement Air 

Gertrud von Frank. 

Sie war ein ange Mädchen, nicht ein Charakter aus 
einem Guß, wie Romane und Novellen fie ung hauptjächlich —— 
ren lieben. An dieſen überraſcht nichts, da klappt alles, entweder: blond, 
entimental, energielos „noch im Verbluten Seligkeit empfindend“ oder: 
— brünett, emanzipirt, ſtolz — das ſind die — für 
unſere weiblichen Dichterfiguren. Gertrud paßte weder in die eine 
noch in die andere Kategorie. Es ſchlummerten viele Widerſprüche in 
ihr, und was ſie recht eigentlich De: und wollte, wußte fie jelbjt zu— 
nächſt nicht. Sie fühlte nur, daß fte nicht glüdlich war in der etwas 
ſchwülen Atmojphäre ihres Elternhaufes, daß fie weder volles Ge- 
nügen fand in ihres Vater Furzer herrijcher Weiſe noch Verſtändniß 
für ihre juchende Seele bei ihrer zarten Mutter großer Aengftlichkeit 
und Schwäche. Einjtweilen lachte fie alle ernften Gedanken zurüd, 
die ab und zu im ihr aufitiegen, um jugendfrijch und jorglos die „Feſte 
zu feiern wie jie fielen“. 

In unferer ftarfen Garnijon wurde jehr flott getanzt, Schlitten- 
partien, lebende Bilder, Kränzchen jagten einander täglich, und überall 
ehörte Gertrud, die federleicht tanzte und ie! jtet3 natürlich und ein- 

Ka gab, zu den beliebteften Damen. Ihre Tanzkarte war ftet3 vor- 
ber dicht bejchrieben. „Den fünften Eingefchobenen!“ rief fie oft in 
übermüthiger Heiterkeit, wenn auf der Schwelle des Ballfaales noch 
einer oder der andere der Herren mit „der unterthänigen Bitte berüd- 
fichtigt zu werden“ ihr entgegentrat. Natürlich waren es faſt aus- 
nahmslos Lieutenants mit denen wir tanzten, Civil und Militär ftan- 
den ſich damals leider noch nicht jo gut in M. wie jeßt, und wir Sol- 
datentüchter haben faum jemals einen fradbewaffneten Herren fennen 
gelernt, Regierung und Gericht lebten wie in einer andern Stadt. 

So vergingen die Jahre. Wir hatten nach Herzensluft getanzt, 
oft mofirten Gertrud umd ich uns über die nachgerade etwas zu 
ftereotype Form der Unterhaltung, die langweilige Reihenfolge des 
Gejprächsthemas. Ich bejonders, wenn die Herren begannen, lachte 
gern: „Sa, ja, danke! mein Bruder in Berlin iſt ganz munter“ (dies 
war jtets Frage Nr. 1) — „Der alte Ofen im — * ſchwankt 
ee mehr » je“ (Nr. 2) und „nein, morgen laufe ich nicht itt- 

uh“ Hr. 3)... 

Gertrud nahm es mehr au grand serieux, 

„Du lachſt immer, Lonni“, pflegte fie zu jagen, „aber ich bitte 
Did, iſt es nicht zum Verzweifeln? Immer dajjelbe! Was foll 
daraus werden? Nun bin ich achtundzwanzig, und — ich jchäme 
mic faſt, es einzugejtehen, aber Du weißt es ja ohnehin, noch fein 





Wie Gertrud von frank einen Mann bekam, 243 


einziger — Nächſten Winter tanze ich nicht mehr, es iſt 
zu Mr ich! 

„Aber Gertrud, was jchadet denn das? Sind wir nicht ganz 
zufrieden, gejund umd guter Dinge? Ich bin freilich ein paar Jahre 
jünger als Du, aber ich denke überhaupt nicht ang Heiraten. Wenn 
mal in ferner Zeit ung Gott unjere lieben Eltern genommen, ziehen 
wir zuſammen und werden jchon einträchtig bleiben. Das Epitethon 
„alte Sungfer“ ſchreckt mich nicht.“ 

„Du haft gut reden“, zürnte jie, „denn Du weißt nicht, niemand 
weiß e8, wie trojtlos es oft mit Bapa iſt. Er iſt jo — id) möchte 
e3 fajt: empört nennen, daß ihm zwei ug gejtorben, und wenn 
das Geringjte ihn an diejen nie vernarbten Schmerz erinnert, it jein 
Jähzorn geradezu maßlos. „Und dabei noch meine Tochter alte Jung: 
fer werden jehen!“ wie oft muß ich ihn das voll bittern air aus: 
rufen hören! Glaube mir, Lonni, kommt 'mal einer und will nicht 
nur mit mir tanzen, nein, will mich jelbit, ganz und gar — id) jage 
ja, bedingungslog!“ 

Ihre Stimme bebte vor Erregung, Thränen jtürzten ihr aus den 
Augen, und lange vermochte ich jte nicht. zu beruhigen. 

Eines Tages, es war etwas vor Weihnachten, hatten wir beide 
Luft, ung für unfere Lieben an ik zu lajjen und zwar in 
der neu erfundenen Weiſe der Emailbilder. Wie wir alles gemeinjam 
— — ſo auch dieſen Gang zum Photographen, und nach 
mancherlei mißglückten Verſuchen (ich beſonders war nicht imſtande, 
lange genug ſtill zu ſtehen, das ganze Atelier ſchwankte nach wenigen 
Sekunden mit mir wie im tollſten Schwindel) erklärte der alte, komiſche 
Mann mit vielen Büdlingen und ſchwülſtigen Redeweijen „den großen 
Wurf für gelungen.“ 

Als wir dann nad) einigen on die Probebilder zugeſchickt be 
famen, waren wir jelbit in hohem Maße befriedigt. Das heißt, ich 
jah aus wie immer, doch davon joll ja hier nicht Die Rede jein, 
Gertrud aber Hatte bei aller jprechenden Aehnlichkeit, einen wunder: 
voll idealifirten Ausdruck, ve uchenden Augen jchienen einem bis auf 
den Grund der Seele zu bliden. 

Sie hatte jeden gemalten Hintergrund verjchmäht, ganz allein, 
von feinen trivialen Säulen, Fauteuils, unmöglichen Candfihn ten ein= 
geichränkt, jtand fie auf dem Bilde, welt- und traumverloren, das un- 
elöjte „Wohin?“ auf den, wie in leijem erlangen balbgeöffneten 


tippen. 

„Das ſchicke ich Ella von Uhlenhorjt nad) N.“, rief Gertrud, „fie 
hat uns ewig lange ohne Nachricht gelaſſen“ 

„Shr Mann wird wohl nicht dafür jein, da fie alle ihre Mäd— 
chenfreundfchaften weiter fultivirt.“ ’ 

„Ach ja, die Glüdliche hat Mann und Kind! O Lonni, uns 
bleibt das ein verſchloſſenes Paradies, Aber mein Bild joll jie doch 
haben, noch heute!“ 

Und jo ſchickte ihr Gertrud die kleine Karte, nicht ahnend, daß jie 
damit das Schidjal heraufbeichwor, das ihr. bis dahin einfaches, ereig— 
nißlojes Dafein nun in gänzlich unbefannte Bahnen lenken jollte. So 
hängt gar oft ein ganzes Meenjchenleben von einer Kleinigkeit, einem 

17* 


ni 


244 Wie Gertrud von Frank einen Mann bekam. 


Nichts, möchte e8 ericheinen, ab. Wer will den rothen Faden ver: 
folgen, entwirren? iv vermögen es nicht, uns bleibt nur das eine, 
feſt und unverbrüchlich zu glauben: „Gott macht es nicht, wie wir's 
gedacht, er macht es beſſer als wir denken.“ Aus lauter Kleinigkeiten 
bejteht der Tag, das Leben, aber nicht blinde Willfür würfelt fie bunt 
durcheinander, nicht troftlos brauchen wir uns im All verloren zu 
glauben. Gott führt jedes jeiner Kinder mit Vatertreue ans ewige 
Biel, und jcheint e8 uns gleidy manchmal, als jtände unjer Leben jtıll 
in Alltäglichteit, oder als leuchte nach Todestrauer und Dunkel nie 
wieder die Sonne — jei nur getroft, „es ist alles zum Frieden.“ 

Einige Tage waren vergangen, Weihnachtsvorbereitungen in une 
jern beiden Häufern hatten unjer jonjt fajt tägliches Beifammenfein 
unterbrochen. Da Elingelt es eines Abends noch ziemlich jpät, und 
herein ftürzte Gertrud in großer Erregung. 

„Sit Lonni in ihrem Zimmer? * muß ſie ſprechen!“ 

„Gewiß, gewiß“, meinte beſchwichtigend mein Bruder, der ſchon 
zum Weihnachtsurlaub bei uns eingetroffen war, „ich glaube, ſie 
ſchmückt den Baum.“ 

Damit öffnete er meiner Freundin die Thür und dieſe ſtand vor 
mir, ſo überwältigt von Aufgeregtheit wie ich ſie nie geſehen. 

„Um Gott, Gertrud, was iſt gejchehen ?* 

Ganz allmählich nur helang es mir, aus diefem Chaos von Aus— 
rufen, Lachen, Thränen, Umarmen, VBerwundern zu verjtehen, was 
Gertrud jo jpät noch zu mir getrieben — und der freundliche Lefer 
fann nicht ungläubiger den Kopf jchütteln, wenn er die nachfolgenden 
Zeilen lieſt, als ich jelbit e8 damals gethan. 

„Ella jchreibt, ich joll jie bejuchen.“ 

„Nun, jo thue es doc, was jagen Deine Eltern? Du fannft 
doc) noch warten bis nach dem heiligen Abend?“ 

„Sa, ja! Aber höre: Ella hat mein Bild ins Album gethan, 
und an demjelben age haben jie Beſuch gehabt. Ein Herr 
von Palocy, Gutsbefiger aus Ungarn, ift auf einige Tage nach N. ge— 
fommen, um dort die Angehörigen jeiner verjtorbenen Frau zu bes 
juchen. Das Album lag auf dem Tiſch, Ella hat es ihm gereicht 
und geicant., ob er die neue Art Emailbilder jchon fenne? Da hat 
er todtenbla auf mein Bild geblidt, das Album gar nicht wieder 
loslaſſen wollen und mit bebender, heiferer Stimme leije gejagt: 
„Diejes Mädchen muß meine Frau werden, oder ich erichieße mic“ 

„ber um Gottes willen, Gertrud!“ —— ich entſetzt die 
leidenſchaftlich Erzählende, „iſt der Mann toll?“ 

„Das muß Ella von Uhlenhorſt wohl auch gedacht haben, denn 
ſie ſchreibt, ſie und ihr Mann hätten vergebens Ba mit Ernjt 
oder Scherz Herin von — aus ſeiner Ekſtaſe zu befreien. Er 
habe ganz ruhig den Kopf geſchüttelt und geſagt: „Es iſt gut, be— 
mühen Sie ſich nicht, ich kenne nun mein Schickſal.“ Da hat denn 
endlich Ella ihrem Mann zugewinft (Du weißt ja, wie fie alles Aben- 
tenerliche immer gern gemocht) und hat gejagt, daß dies Bild eine 
ihrer Freundinnen daritelle, die gleich nach dem zeit zu ihr nad) N. 
zum Bejuch kommen würde. 

Als Herr von Palocy das gehört, erwiderte er, er würde jeine 


Wie Gertrud von Srank einen Mann bekam. 245 


beabjichtigte Rücdveije nad) Ungarn noch um acht Tage aufjchteben — 
und nun jchieft Ella heute den Droh- und Brandbrief: id) jolle und 
müjje kommen!“ 

Ganz erichöpft und athemlos lehnte Gertrud ſich an mich, ic) 
umfaßte und liebfojte fie zärtlid). 

‚Willſt Du denn wirklich fahren?“ 

Ja, Lonni, ic) will, Ach, mir iſt's, ala müjfe ich hier zu Haufe 
erſticken! Iſt es nicht wunderbar? Aber die Eltern dürfen nichts 
ahnen, Papa würde ja ſchwören: Herr von Palocy ſei verrückt — 
und jiehit Du, jehen muß ich ihn!“ 

Was Eonnte ich jagen? Die Weihnachtstage vergingen und wie 
ein Traum, unfaßlich war e8 mir immer, daß Gertruds Eltern jo ohne 
alle Schwierigkeiten, mitten im Winter, die Erlaubniß zur Neije gaben, 
Vielleicht war e3 dem General gerade recht, ein Mal ein paar Kochen 
nicht jo jpät durch die Nacht zu jchwärmen, vielleicht gönnte Gertruds 
Mutter ihr die Kleine willlommene gr — furz, Thatjache war, 
daß am zweiten Januar, in bitterer Kälte, bebend vor Erregung, und 
mic) — wieder leidenſchaftlich küſſend, Gertrud von Frank nach 

reiſte. 

— Tage waren vergangen, und immer umſonſt hatte ich 
unſern alten, wunderlichen Poſtboten die verlangenden Hände entgegen— 
geſtreckt, wenn ich ihn nach ungeduldigem, langem Warten endlich unſer 

aus betreten ſah. 

„Nüſcht, nüſcht!“ * er und ſchüttelte, meine dringenden Fragen 
leiſe mißbilligend, ſein altes eisgraues Haupt. 

Wie war das möglich? Weßhalb ſchrieb Gertrud nicht, wie ſie 
— * für alle, auch die „abenteuerlichſten“ Fälle, hoch und heilig 

elodt: 

ö Da, e3 war jpät eines Abends, ich fonnte kaum meine Phantafie 
und Ungeduld mehr zügeln und warf jede Beichäftigung, die ic) ſo— 
eben erit aufgenommen, rajtlos wieder hin, trat unjere Köchin mit dem 
Theejervice ins Zimmer und —F beim Decken: 

‚Wiſſen gnä' Fräulein jchon? Fräulein von Frank iſt heute 
Mittag zurückgekommen.“ 

von Frank? Weißt Du das gewiß, Alwine?“ 

„sa, ihre alte Johanne hat es mir ſoeben drüben beim Kaufmann 
erzählt.“ 

Gertrud war zurüd, war denn das möglih? Und noch nicht zu 
mir geflogen? a3 war nur gejchehen? Kine Fülle chaotticher 
VBermuthungen drang auf mic, ein, ich war jo aufgeregt, daß die 
Meinigen ein übers andere Mal den Kopf jcehüttelten, und jchlieglich 
nur das Machtwort: heute wird nicht mehr zu Franks gelaufen! 
mich äußerlich wenigjtens zur Raiſon brachte. „Alfo morgen denn!“ 
dachte ich, „aber dann frage ich niemand.“ 

Daß id) in der folgenden Nacht kein Auge jchloß, war jelbitver: 
ftändlich, in meinen Ohren jaujte und tünte ein ganzes Orcheiter, wie 
mir dies mein Leben lang bei großen — gegangen iſt. 

„Gertrud iſt hier!“ jo klang es in allen Dur- und Molltonarten, 
nach jeder Melodie, die wir jo oft gemeinfam A quatre mains be- 
arbeitet. 


246 Wie Gertrud von frank einen Mann bekam. 


Und endlich war es wirklich „morgen“. So eilig habe ich mid) 
wohl nie angezogen, nie jo hurtig alles bejorgt, was zu gar mir des 
Morgens oblag, und gerade wollte ich, brennend vor Ungeduld die 
— hinuntereilen, da wurde ein kleiner, haſtig mit Bleiſtift be- 
frigelter Zettel für mich abgegeben: 

„Komm heute nicht — morgen alles nähere. Gertrud.“ 

Wie id den Tag verbracht habe, wie gi mir hunderttaufendmal 
Gertruds Erlebnijje ın N. immer von neuem durchdachte, ausſchmückte, 
verwarf, mich zmweifelnd wunderte, liegt lange jept hinter mir! Ver⸗ 
effen kann ic) es nie, und wer von meinen freundlichen Leſern jolchen 

ag peinlichiten Aufichubs durchgemacht, der wird wijjen, wie an ihm 
fih Stunden und Minuten zu qualvolliter eu ausdehnen, 
wie man jich martert und peinigt, alles verkehrt anfängt, um jchließ? 
lich) müde und rejignirt zu jagen: „Es muß doch morgen werden!“ 

Das ift e8 denn auch geworden, und dieſer ap mit all’ ſei⸗ 
nen unglaublichen Neuigfeiten ift mir in die Seele gebrannt, ic) weiß 
noch — e winzigſte Einzelheit. 

ls ich bei Franks klingelte, öffnete Gertrud mir ſelbſt die Thür. 
Sie zog mich, ohne ein Wort zu ſprechen, in ihr kleines trautes Zim: 
a 1% Bewegungen hatten etwas jo unſtätes, abgerilfenes, und 
fie jelbit jah jo zum Entſetzen bleich und ftarr aus, daß mein Herz 
vor Aufregung Kalt — zu ſchlagen. 
„Frag' mich nichts, Pollit alles erfahren. Set’ Did), 
höre zu.“ 

Dabei nahmen wir beide * dem alten kleinen Sopha neben 
einander Platz, Gertrud verſchränkte beide Arme feſt ineinander, wie 
ſie dies immer zu thun pflegte, wenn eine Angelegenheit ſie ganz er— 
füllte, vermied es konſequent mich anzublicken und ſtarrte nur unbe— 
weglich vor ſich auf den Teppich. 

„Den erſten Abend war es ſehr freundlich und gemüthlich bei 
Ella; ihr Mann hatte mich ſelbſt von der Bahn abgeholt, Du weißt, 
er ijt ein liebenstwürdiger, feiner Menjch, mit dem man ſich gut unters 
an fann. Der fleine Joſef war noch ein Stündchen bei uns im 

ohnzimmer und wurde dann zu Bett gebracht. Er ift ein lieber, 
a F Burjche mit langen, blonden Loden.“ 
„Schön, 1m, Gertrud — aber weiter —?“ 
„Du mußt mich nicht unterbrechen, Zonni, ton geht's nicht“, 
flang die Antwort eigenthümlich eintönig zurüd, „Du wirft jchon 
hören. Am erjten Abend fprachen Ella und ich nicht eine Silbe von 
Herrn von Palocy; ich verfichere Dich, ich wäre eher geftorben als 
dag mir fein Name über die Lippen gekommen! Ich erzählte von 
meinen Eltern, Weihnachten, im allgemeinen, Ella von ihrer angereg= 
ten Gejelligkeit in N. und jo trennten wir a rg früh, weil ich 
J der nicht langen Eiſenbahnfahrt nur einen Wunſch hatte: zu ruhen, 


zu jchlafen, —— a denen. 

m folgenden Morgen frühjtüdten wir ohne den Major von 
Uhlenhorft, der ſchon im Dienjt war. Auch da juchte ich nach taufend 
Geſprächsthemen, um nur das eine, das mir, num ich in N. war, in 
einem gar andern Lichte erjchien, zu vermeiden. Endlich ftand Ella 
auf und jagte: „Entichuldige, wenn ich für die nächiten Stunden in 


onni, Du 


Wie Gertrud von Frank einen Mann bekam. 247 


die Küche muß. Mein Dann ift ziemlich anjpruchsvoll, und außerdem 
erwarten wir heute um drei Uhr Herrn von Balocy zu Tifch.“ 

Ich glaube, ich bin glühend roth geworden, dann wohl wieder 
blaß, denn Ella umfaßte mid) und jagte in ihrer alten, tändelnden 
Weiſe: „Aber Kind, immer gemach! Du Haft ja noch nicht ja gejagt!“ 

Das Wort Hang wie Erlöjung in all den Sturm meines Innern. 
„Ella hat recht“, meinte ich zu mir ſelbſt, „Herr von Palocy ahnt ja 
nicht, daß ich nur feinetwegen gefommen (Ella Diskretion, das weiß 
ich, tft bewährt und — und ich kann ja nein ſagen.“ 

Dieſer Gedanke, der mir ſonderbarerweiſe noch nie zuvor gekom— 
men, beruhigte — wunderbar, ich wurde wieder ganz ich ſelbſt, ſpielte 
ſtundenlang mit dem muntern kleinen Joſef und ſagte mir von 
Bau zu Reit: „Du antworteft nein und reiſt bald wieder nad) 

u “u 


e. 
Dann wurde e8 Mittag, ich hatte Schwarze Seide angezogen und 
nur im Haar einen feinen Granatenftrauß ...“ 

„Wie auf dem Bilde“, fiel ich athemlos ein. 

Gertrud nidte leiſe. 

„sa, ja, genau jo. Ich ſtand in Ellas Boudoir, da hörte ich 
Schritte, Major von dont trat rajch ein, Herrn von PBalocy an 
der Hand. Lonni — in diefem Augenblid ging mir unjagbares durch 
die Seele — eine tiefe Bitterfeit gegen mein eigenes Beginnen über- 
* mich, o, wäre ich tauſend Meilen weit geweſen! Ich hatte die 

ugen geſchloſſen, wie um ir wahrzunehmen, mechaniich öffnete ich 
fie ala eine fremdflingende Stimme dicht neben mir jagte: „Beim 
ewigen Gott, das tjt fie! 

Dann legte Herr von Palocy ohne ein Wort der Frage meinen 
Arm in den feinen und führte mich zu Tiſche. Von der Mahlzeit 
weiß ich nichtS mehr, wie durch Wafjerbraufen und Tofen drangen die 
einzelnen Worte des Geſprächs an mein Ohr, ohne mein Verſtändniß 
zu weden. Mir ijt, als haben wir ziemlich lange gegefjen und ge 
trunfen, ich antwortete 'mal ja, 'mal nein, ohne zu wiljen worauf? 
und habe gewiß auf alle den Eindrud einer — — * ge⸗ 
macht. Bald nach Tiſche wurde der Wagen gemeldet, wir fuhren ins 
Theater. Denke Dir, ſie gaben Lohengrin, meine liebſte, ſchönſte 
Oper! Ich konnte mich nicht eich ih war wie im-Bann, nie habe ich 
fühllojer Mufif mit angehört, wie an jenem Abend. Nach dem Thea- 
ter jpeiften wir noch in einem eleganten Austernrejtaurant. Lonni, 
al3 aud) dies vorüber, . ich wie gerädert in meinem Zimmer um. 
Ob ih Ella auch nur „Gute Nacht!“ nt — ich ahne e8 nicht. 

Am nächſten Morgen hatte ich meine jchönften Kopfweh, Du 
fennft jie, Du weißt, dann hilft mir nichts, nichts als abjolute Stille 
und Dunfelheit. So blieb ic) im Bett bis gegen Abend, da riß es 
mit einem Mal wie Nebel vor meinen Augen, und mir war nun 
leicht und frei wie lange nicht. Ich ſtand auf, und als ih in Ellas 
Zimmer kam, jah ich ein köſtliches Bouquet an meinem Plage, daneben 
die Karte: Stefan von Palocy-Szolnöf. 

Major von Uhlenhorjt erzählte mir, daß derjelbe zu jeinem [eb- 
haftejten Bedauern mich heute früh verfehlt habe, fi) aber am Abend 
nochmals die Ehre geben würde nach meinem Befinden zu fragen. 


248 Wie Gertrud von Srank einen Mann bekam. 


Und bald darauf fam er. Er ging raſch auf mich zu, als gäbe es 
gar nichts weiter als mich auf der Welt, faßte nach meiner Hand, Die 
er küßte und fagte leife: „Gertrud, ich Liebe Sie. Ste müſſen Die 
Meine werden.“ 

Ganz ruhig, feit. Schwanfen, Zweifel gab es nicht für ihn, zum 
eriten Mal ſah ich ihn voll an — Lonni — Lomnt!“ 

Gertrud ſchlug in plöglich ausbrechender Leidenjchaftlichfeit die 
Hände vors Seht 

„Bott iſt mein Zeuge“, hauchte jie leife, „dieſer Augenblid war 
mir wie das ewige Gericht. O, wäre ich nicht gekommen! 

Ich konnte ihm nicht antworten, Ella fam mir zur Hilfe. „Freit 
man jo in Ungarn?“ rief fie lachend, „gönnen Ste meiner Freundin 
doch Zeit. In unſerm Haufe giebt e3 für Sie feinen andern Be- 
ſcheid, das jehe ich jchon, al3 den obligaten: jprechen Sie mit meinen 

itern. Nicht wahr, Schag?“ fügte jte ſchmeichelnd hinzu und küßte 
mich auf Stun und Wangen. 

Und dabei blieb es denn. Der Abend verging, ohne daß ich Dir 
bejonderes davon zu jagen wühte, aber ich fürchte Major von Uhlen— 
ri hat in mir einen jehr unbequemen Gaſt gefunden, ich war jo 
till und leblos wie nie. Als Herr von Palocy jih um zehn Uhr 
empfahl, fragte er nochmals: 

„Wann darf id) zu Ihren Eltern kommen?“ 

„Morgen früh reiſe ich nach Haufe.“ 

Das habe ich denn auch gethan. O Lonni, dieje drei Tage, it 
& denn möglich? Können ſie jo ein ganzes Menjchenleben ver: 
wandeln?“ | 

Gertrud jprach es leiſe, rathlos, hilflos und jchaute mich angit- 
haft an, nie war ſie mir rührender erjchienen al3 in dieſem Bekennt— 
niß, das nur zögernd über ihre Lippen kam. 

„So liebſt Du ihn, Herz? Und wirt glüdlich fein?“ und ich 
umjchlang fie in inniger Zartlichkeit. 

„Kein, nein, eben nicht! Das ijt es ja, ich kann nicht. Ach, in 
N. war id) im Bann, das Bewußtſein, weßhalb ich gekommen, jchlug 
mich in Feſſeln, ich war gar nicht ich ſelbſt. Das eine nur wuhte 
ich: nad) Haufe! nach Haufe! da muß Dir bejjer werden! und jo 
* ich. Ich telegraphirte an die Eltern und kam vorgeſtern Mittag 

ier an.“ 
| „Weßhalb aber liegeft Du mich nicht geitern zu Dir?“ 

„Weil er ja fommen wollte, weil ıch Dir nicht Hätte ins Auge 
fehen können — weil ich nicht Fonnte!“ 

„But, gut. Aber jage nur, wie es weiter wurde. Kam er?“ 

„Sa — aber wie!“ 

Gertrud wurde todtenhaft bleic), ein Schauer überlief fie. 

„LZonni, geitern glaubte ich wahnjinnig zu werden.“ Gie ftrich 
mit der Hand wie eifteßahteiend über ihre Stimm, jeufzte aus tief- 
ftem Herzen und fubr dann leiſe, tonlos fort: 

„Den Eltern hatte ich gejagt, wie es ja auch Wahrheit ift, daß 
zu Tijch bei Ella ein ungarischer Herr von Palocy mein Nachbar 
gervejen, der gleich am nächſten Tage um meine Hand geworben habe. 


Wie Gertrud von frank einen Mann bekam. 249 
Papa war außer fich vor Freude, ſchloß * in die Arme, küßte 
al: 


mic) auf die Stien und rief ein ums andere Mal: 

„Bravo! famos! veni, vidi, viei! Wo ijt er? Wann kommt er?“ 

Deama war ganz ftill, jah aber auch jo jelig verflärt aus, daß 
ic nicht imjtande war, ein Wort in meiner Herzensnoth und Bangig- 
feit hinzuzufügen. Sch dachte immer nur: lieber Gott, laß e3 nie 
morgen werden! Ich Habe die Hände gerungen — ich — nein, 
fein Wort — Gott weiß, ob ich vorgeſtern und in der Nacht 
nicht meine unbeſonnene Reiſe mit tauſend Qualen gebüßt habe. 
Am Morgen, ich hatte nicht eine Minute geſchlafen, kam endlich 
Ruhe über mich, es ſtand nun I in mir, ich wollte nein jagen, ihn 
bitten abzuveifen, mic) zu vergejfen. Das muß doch möglich fein, er 
fennt mich ja jo gut wie gar nicht. Wenn ich nun gar nicht das 
—— bin, das er in mir zu finden glaubt? Nein, ich kann 
nicht! 

Als er gemeldet wurde, ſtand ich auf, um das Zimmer zu ver— 
laſſen. Er war aber ſchon auf der Schwelle, ergriff, ohne eine Silbe 
u mir zu ſprechen, meine Hand, die er küßte, und wandte ſich an 


„Sxeellenz, ich bitte um die Hand Ihrer Fräulein Tochter —“ 
Da, in demjelben Augenblid jah ich ihn jchwanfen, jeine große Ge: 
ftalt taumelte — id) Ichrie laut auf — Lonni — denfe Dir, Herr 
von se war ohnmächtig auf den Fußboden gejtürzt! 

te Eltern, die Leute trugen ihn ins Nebenzimmer auf ein Sopha, 
ih) war wie paralijirt. Großer Gott, ift er todt? dachte ich immer 
nur. Todt? Und bin ich ſchuld? Papa in feiner Aufregung Tief 
bin und her, jchidte zum Doktor, benoh jein Geficht mit Eſſig — 
ek von Palocy rührte fich nicht. an bat mich hereinzufonmen, 
ihnen zu helfen — ic) konnte nicht, ich fam mir vor, wie jeine Mör— 
derin — oder, als jeien alle verrüdt geworden! 

Als nad) einer vollen Stunde Doktor König erjchien, jchickte er 
ung aus dem Zimmer, Papa ging nur unter heftigem Widerjpruch, 
trat dann zu mir und rief mehrmals zornig: 

„Bas joll denn nun werden? Mach' endlich den Mund auf!“ 
aber in mir blieb alles jtarr und jteinern. Und der Doktor jagte — 
Herr von Palocy würde das Nervenfieber befommen und müſſe jofort 
in ein Hoſein transportirt werden.“ 

„Großer Gott!“ rief ich in namenloſer Erregung. 

„Sei nur ftill, laß mich fortfahren, Lonni. Papa war wie un- 
finnig bei dieſer chredlichen Eröffnung, Du_ weißt ja, wie entjeßlich 
ihm jeder Gedanke an Sterben, Krankiein, Anſteckung ift, Mama jaß 
ganz gelähmt vor Schred auf ihrem Stuhl und rang nur rathlos 

ie Hände. Da erwachte mit einem Mal in mir meine alte Ruhe 
und Klarheit. Ich Stand entſchloſſen auf und jagte zu beiden: 

„Laßt mich nur machen. Herr von Palocy ift um meinetwillen 
hergefommen, ich werde für * ſorgen.“ 

„Aber, unglückliches Kind, er muß ſofort aus dem Hauſe. Wir 
können ihn nicht behalten, unſer enges Quartier —“ 

„Natürlich, Mama. Sei nur ruhig. Im einer Stunde iſt er 
ort.“ 


250 Wie Gertrud von Srank einen Mann bekam. 


Lonni, ich flog aus dem Haufe, fuhr nach) Bethesda, Du weißt 
ja, unjer neues, jchönes Krankenhaus vor dem Thor, und ließ mid) 
bei der Oberin melden. Beſuch von auferhalb,. jagte ich ihr raſch, 
furz und bejtimmt, ſei joeben ganz _. bei uns —25 ge⸗ 
worden und ſchwer erkrankt, Doktor König hielte eine ſofortige Ueber— 
führung in ein Hoſpital für dringend geboten. Ob ſie Raum habe 
für einen franfen Herrn im Einzelzimmer? 

Die Oberin, Gräfin Behr, war jehr freundlich, jagte aber: nein! 
alle Betten jeien bejegt, und jo viel fie wiſſe auch im Lazarusfpital. 

„Was joll ich dann thun?“ fragte ich ganz ruhig, kühl, ſach— 
gemäß. Mir war viel befjer, jeit ich die Lethargie von ui gejchüttelt 
und wieder handeln fonnte, ich jcheute nichts, was ic) für ihn thun 
fonnte, immer nur jagte ich mir leife: Du mußt ruhig bleiben — 
Kopf oben! 

Die Gräfin erwiderte, daß dann nur noch das Militärlazareth 
bleibe, wo unter bejonderen Umjtänden, d. 5. wenn notorijch in den 
beiden anderen Krankenhäujern fein Raum mehr fei, auch Eivilper- 
fonen in Einzelpflege genommen würden. 

Zuerſt fuhr ich ins Lazarusjpital. Auch hier der Beſcheid von 
Bethesda: leider im Augenblick alles überfüllt! Sch dachte an die 
Unruhe der Eltern zu Baufe — aljo ins Militärlazareth! Mein 
Kuticher wollte faum noch pariren. Hier war Doktor König bereits 
vor mir eingetroffen, Du weißt, er ijt leitender Oberarzt, er bieh mich 
in jein Empfangszimmer führen und verhandelte dann mit dem Arzt 
du jour. Im Havillon lag im Augenblid niemand, dort waren einige 
ee eriter Klajje zur Reſerve, und dort endlich fonnte Herr von 
Salocy aufgenommen werden. Der Doktor fuhr jelbit mit mir I. 
Dune er war jehr — und gütig, ein Krankenkorb verli 
ofort mit ung das Lazareth, und dahinein haben fie ihn denn gelegt.” 

Gertrud verhüllte jchaudernd * Geſicht. 

„Von uns durfte niemand dabei helfen, die beiden Träger und 
Doktor König haben alles beſorgt — wir haben Herrn von Palocy 
nicht mehr geſehen. Geſtern Abend war der Doktor noch einmal hier, 
Herr von ** iſt erſt im Lazareth wieder aus der Todesftarre 
erwacht, d. h. nur um mit furchtbarer Heftigfeit in die eigentliche 
Krankheit zu fallen, ein hitiges Nervenfieber. 

Doktor König fragte uns, ob wir die Angehörigen des Patienten 
fennten? Wo er abgeitiegen jet zc. Was fonnte ich) ihm antworten? 
Ih konnte ihm doch micht den ganzen Sachverhalt anvertrauen? 
dan Glüf war Papa in jeiner Empörung über mich), Herrin von 

alocy, die ganze Welt, den Tag über nicht mehr aus feinem Zimmer 
— ic war mit Mama allein und hatte verjucht, nachdem das 
Schredlichjte für mic überftanden, ruhige Gedanken feitzuhalten. So 
fonnte ich unjerem alten, guten —— ſagen, daß Herr von Palocy 
zweifelsohne im „Deutſchen Kaiſer“ abgeſtiegen ſei, daß der Wirth 
dort ſeine Sachen einſtweilen unter Obhut nehmen müfje und > 
im Lazareth alles für — auf Rechnung geſchrieben werden ſolle. 
Von ? — ahne ich nichts und Hoffe recht ſehr, daß die Krank— 
heit einen möglichſt guten Verlauf nehmen möchte, damit man niemand 


Wie Gertrud von Srank einen Mann bekam. 251 


— zu beunruhigen oder etwa gar aus Ungarn her zu citiren 
rauche. 
„Und im andern Falle?“ 

Mir ſchwindelte vor dieſer kurzen, kühlen Frage. 

„sm andern Falle weiß ich nichts. Ich kann nicht mehr.“ 

Doktor König jah mir wohl an, daß ich nur mit äußerfter 
Willensanjpannung mich noch aufrecht erhielt, er empfahl mir Ruhe, 
Ruhe — und ging. 

Das Zimmer, in dem Herr von Palocy über zwei Stunden bet 
ung bewußtlos gelegen, iſt abgejchlojfen worden, e8 darf niemand 
hinein. Die Feniter ſtehen Tag und Nacht offen, nach einer Woche 
Toll es geſchwefelt und gechlort werden, neu tapeziert, neugejtrichen — 
was weh ih? Wir jollen vier Wochen lang zu niemand gehen, nie 
mand zu uns lajjen, verordnete Doftor König. Aber, Lonni, einmal 
mußte ic Dich jprechen, ich wäre ſonſt toll geworden! Geh ie ver⸗ 
gieb mir, wenn ich Dich in Gefahr gebracht, ich bitte Gott ja ſo ſehr, 
nicht Dich für meine Schuld leiden zu laffen! Du wirft nicht krank 
werden, gerviß nicht, und was mic) angeht — mir ijt alles gleich. 
Krankwerden, jterben — id) bin am Ende mit meiner Kraft. Geh, 
Lonni, wenn ic) fann, jchreibe ic) Dir täglich.“ 
ai „Und Herr von PBalocy?“ fam e3 nur zögernd von meinen 

ippen. 

Gertrud jchauderte. 

„Wie Gott will“, war die faum vernehmliche Antwort, 


Wie ic) damals nach Haufe gefommen — id) fünnte es nicht 
an befchreiben, jtundenlang, dag weiß ich, lief ich troß der fcharfen 
Kälte in unſerm Stadtparf 9 teren. Alle Wege ſuchte ich mir auf, 
die ich jo oft mit Gertrud — durchſchritten, wo wir immer 
harmlos und froh unſere kleinen Erlebniſſe ausgetauſcht — ach, wie 
jo ewig fern lag dies alles! Immer wieder ſah ich ihr ſtarres geiſter— 
bleiches Geficht vor mir, hörte ich ihre vor Erregung Elanglofe 
Stimme, und das entjegliche Wort: Nervenfieber! fang mir erjchüt- 
ternd durd) die Seele. 

In — Tagen durchlief ein Meer abenteuerlichſter Geſchich— 
ten meine liebe Vaterſtadt. Der Typhus je im Militärlazareth! hieß 
es, durch einen Magyarenfürjten eingejchleppt, andere meinten durch 
einen —— Noch andere hatten Gertrud von Frank in einer 
Droſchke kreuz und quer durch die Stadt — und ſodann einen 
Krankenkorb nad) ihrem Haufe tragen ſehen. Wen hatte man a: 
Weßhalb war fie jo unvermuthet rajch. aus N. — Wer 
war der Fremde, deſſen Gepäck auch den Zettel N. trüg, der am Tage 
nach ihrer Heimkehr im Deutſchen Kaiſer abgeſtiegen, dann ſehr bald 
fortgegangen, aber nie zurüdgefehrt war? 

ie Räthin Baumann mit ihren langen, jcharlachrothen Hut— 
bändern, die man immer ftürmend um die Ede fliegen jah, um alles 
zu ergründen, aufzufpüren, weiterzutragen, war mit ihrem Klatjchlatein 
u Ende, und auch die Abende in der Rejfource, wo Whiſt und Skat 
* alle alten Herren einträchtig zu verſammeln pflegten, verliefen 


252 Wie Gertrud von frank einen Mann bekam, 


ohne den aufgeregten Eimvohnern von M. das geringjte Pofitive zu 
vermitteln. —— von a erichien nicht mehr am Spieltiſch, 
wochenlang wurde jeder Beſuch bei ihnen abgewiejen, jede Einladung 
abgeichlagen. Nicht einmal im Park, oder beim Schlittichuhlaufen 
wurde Gertrud mehr gejehen — die Aufregung der ganzen Stadt 
hatte ihren Siedepunkt erreicht. Mit taufend ‘ragen jtürmte man 
auf mic) ein, die ich faltblütig an mir abprallen ließ. Daß wir beide 
innig befreundet waren, war jtadtbefannt, aber was wollte man machen, 
wenn ich immer wieder nur jagte, Gertrud jei wegen einer Erkältung 
jchneller nad) Haufe gefommen, als jie vorher beabjichtigt, fie jei jeßt 
in der Genejung, aber auf Wunjch des Arztes jolle ſie bei der jchar- 
fen Luft nur möglichit re rege aß dahinter ganz anderes 
verborgen lag, witterte die Räthin Baumann mit ihrem unfehlbaren 
Spürfinn fobort heraus — und als nad) einigen Wochen Zijchler 
und Tapezierer ihr Werf gethan, das gefahrbringende Zimmer bei 
Franks total gelüftet, venovirt, gejtrichen, tapeziert, umgeräumt worden 
war und die verordnete Quarantänezeit vorüber, erfuhr das erjtaunte 
Bublitum nur, daß Gertrud wieder gejund, jowie ganz beiläufig, daß 
jener myjteriöfe Typhusfall im Lazareth zum Glück vereinzelt ge- 
blieben und der Betreffende inzwilchen, ob Magyarenfürjt oder nicht, 
abgereijt jet. 

Abgereift, wirklich? Und mit Gertruds Jawort, oder ohne das— 
felbe? Nein, ohne, Gertrud hatte nad) taujend Kämpfen und Qualen 
es nicht über ſich vermocht ihm Hand und Herz zu verjprechen. 

Der arme Herr von Balocy hatte nach dreimöchentlichem, jchweren 
Kranfenlager, jobald er Klar zu denken vermocht jeder und * 

efordert und täglich zwei-, dreimal an die plötzlich ſo heiß Ge— 
iebte geſchrieben. Gertrud hat mir ſpäter die Briefe ſämmtlich ge— 
zeigt, ſie machten nicht nur in ihrer äußern Erjcheinung — vielmafs 
urchjtochen, mit Chlor durchzogen, auf rauhem Lazarethpapier mit 
zitternder Hand hingeworfen — einen überaus eigenthümlichen Eindrud 
auf mich. Wie jo ganz anders hatten wir uns jeither Liebesbriefe 
geträumt! Wie furchtbar grell kontrastirte diefe Wirklichkeit mit allem, 
was wir Io in Freundeskreiſen gekannt! 

Er jchrieb mit fteifen a „Bergeben Sie den 
Scred, den ic) Ihnen gemacht. Nur wenige Wochen trennen ER 
von Ihnen. Dann aber nichts mehr, hören Sie wohl, Gertrud? Mein 
eijerner Wille beugt und bricht jeden Widerftand. ch werde gefund, 
— ich Sie liebe, und weil ich Sie liebe, müſſen Sie die Meine 
werden.“ 

Immer wieder nur dies eine, Gertrud war ſo in Furcht vor die— 
ſer Unerſchütterlichkeit, die ſo gigantiſch und unverſtändlich vor ihr 
lag, daß ſie vollſtändig hyſteriſch wurde, wenn fie nur daran dachte. 

„Nein, und taufendmal nem!“ jchrieb fie an ihn. „Ich appellive 
an Ihren Edelmuth, ertrogen Sie ſich nicht etwa die Einwilligung 
meiner Eltern, mein dert hat fein Echo für Ihr Werben. Wenn 
meine Bitte etwas über Ste vermag, jo reifen Sie ab, jobald Sie 
fünnen, vergejfen Sie mich.“ 

„Nie“, jchrieb er zurüd, „nie! Denn ich weiß es, Du bijt mein 
Schidjal. Laß mich nur einmal Dich jehen, ehe ich von hier gehe, 


Wie Gertrud von Frank einen Mann bekam, 253 


einmal nur für mich jelbjt zu Dir jprechen, wie ja auch der zum 
Tode Verurtheilte ji) eine Gunſt erbitten darf — weiter erflehe id} 
jegt nichts.“ 

Und dann haben fie fich gejehen, Gertrud erzählte es mir am 
ganzen Körper erbebend in der erjchütternden Erinnerung. Greellenz. 
von Trank, deſſen voller Jähzorn ſich gegen „den Fremden“ richtete, 
der es gewagt hatte jo viel Schreck und Ungelegenheit über ſein Haus 
u bringen, und dem dann zum erjten Mal in Aa Leben ein gleich 
Beiter ille wie der jeine ſich entgegenftellte, d. h. Gertruds Bee 
liches Nein, hatte mit kräftigſten Soldatenverwünjchungen betheuert, 
dag Herr von Palocy über Feine Schwelle nicht mehr dürfe. Frau 
von Frank, wie immer rathlos zwijchen beiden Parteien jchwanfend, 
richtete mit all’ ihren Bitten und Thränen gar nichts aus, und 
Gertrud, zum äußerjten getrieben durch die gereizte Stimmung zu 
Haufe und Herrn von Palocys unabläjjiges, eur Werben, Sehr 
ihm endlich, daß, wenn er die Erlaubniß des Arztes habe, fie ohne 
Gefahr jprechen zu dürfen, und er ihr ganz bejtimmt ur noch 
an demſelben Abend abzureiſen, ſie auf eine halbe Stunde im Privat— 
zimmer des Doktor König ihm erlauben wolle, fie noch einmal 
zu jehen. 

„Soll ich mit Div gehen, Herz?" fragte ich fie theilnehmend, „ich 
fürchte mich nicht, ich thue e8 Dir gern zu Liebe.“ 

„Nein“, erwiderte fie, „ich danfe Dir, Lonni. Ich weiß, was ich 
will, ich habe mir allein alles zugezogen, nun will ich es auch allein 
zu Ende bringen.“ 

Fünf Minuten hat das Geſpräch zwiichen beiden nur gedauert. 
Herr von PBalocy- hatte vorher alles dem Doktor anvertraut, damit 
diejer ohne etwaige peinliche Begegnungen Gertrud für die verabredete 
Zeit fein Empfangszimmer im Lazareth überliege, und der freundliche 
alte Herr, der wohl längjt — zwiſchen dem Fremden und 

— ein von Frank geahnt, geleitete ſie in ſeinem Wagen ſelbſt zur 
telle. 

„Sch war kaum eingetreten“, berichtete Gertcud und der Doktor 
promenirte in den langen Korridoren, „da ging die Thür wieder auf und 
herein trat er. Einer jeiner Wärter hatte ihn bergeführt, er entließ 
ihn und wie ein hilfsbedürftiges Kind hob er flehend von dem Stuhl, 
auf welchen man ihn gejegt, jeine Hände zu mir auf. Lonni, ich muß 
doch recht jchlecht jein — ich glaube, Feiner außer ihm hätte ſich in 
dieſem Augenblide vergebens an mich gewandt, aber ihm konnte ich 
nicht ja jagen. Er jah jo abgezehrt und entjtellt von dem langen 
Kranfenlager aus, feine großen Augen glühten mich noch immer fieber: 
haft an, daß ich mit lautem Schrei zurückwich.“ 

„Sch kann nicht, ich kann nicht!“ ftieß ich hervor, „was giebt 
Ihnen das Necht mic) jo zu quälen?“ 

Er wurde leichenblaß und rang mehrmals vergebens nad) Worten. 

„Sei es denn“, hörte ich ihn endlich leiſe elüftern, „ich reife noch 
heute nach Ungarn heim. Leben Sie wohl.“ 

Und hinaus flog ich, wie von Dämonen verfolgt. 

Er iſt gereift, Lonni, troß feiner entjeglichen Schwäche. Doktor 


254 Wie Gertrud von Frank einen Mann bekam. 


König, der ihn jo gern * ein paar Tage hat hier behalten wollen, 
erzählte mir, wie er nur geſagt: 

Ich muß fort, ic) habe es ib verjprochen.“ 

„Und nun fomm endlich zur Ruhe, Gertrud“, Schloß ich tröjtend, 
„vergiß ihn, denke es jei alles nur ein Traum gewejen.“ 

„Ein Traum?“ wiederholte fie mechanisch und ftrich wie jo oft 
en ihre Stirn, „Gott weiß, ein entjeglicher! Vergeſſen werde 
ih ihn nie.“ 

E3 vergingen einige Wochen, die Winterjatfon war zu Ende, 
Gertrud hatte wieder Einladungen angenommen, auch der General 
war wieder in die Nejjource gegangen, und alles erjchien wie jonit, 
Doktor König bewährte jeine alte Diskretion, Ella von Uhlenhorit 
hatte auf verichiebentliche Anfragen guter Belannter auch nur geant- 
wortet, daß Gertrud Frank damals zu ihrem lebhaften Bedauern durch 
heftigeg Unwohljein gezwungen gewejen jet, jobald wieder nad) Haufe zu 
reijen. Ob ein Magyarenprinz jich bei ihnen in N, aufgehalten, könne 
ihr niemand jagen. 


„Et le combat finit faute de combattants,“ 


d. h. die guten Bewohner meiner lieben Vaterſtadt troß aller bren- 
nenden Neugier erfuhren nichts mehr über jenen allarmirenden Patien- 
ten „aus der Fremde“, und allmählic) wandte ſich die Zungenkraft 
und Medifance der guten Gejellichaft andern, leichter verjtändlichen 
Ereignifjen zu. 

Worin es lag, kann ich nicht bejchreiben, aber ein Etwas war 
doch von damals an zwilchen Gertrud und mir anders geivorden. 
Ob es ihr fatal war, daß jie mir jo rücdhaltlos alles anvertraut, ob 
fie aud) die Erinnerung daran ganz auslöfchen wollte? Kurz, wenn 
wir zujammen waren, fam der alte Zon fröhlicher Sympathie und 
Zuneigung nicht mehr auf zwiſchen ung. Ich verjuchte es wie früher 
Fransdfiic und Englisch mit 2 zu lejen, aber ıhr Interefje wurde 
nicht mehr wach, wie ehemals, Debatten über Situationen und Charaf- 
Ei Er er jonjt ftundenlang erfüllt und bejchäftigt hatten, reizten 
ie.nicht mehr. 

„Wozu ſich über Fiktionen echauffiren?“ ſagte fie einmal mit 
müdem Ton, „die Wirklichkeit ijt jchwer genug.“ 

„Gertrud!“ vief ich plöglich wie injpirirt, „Du vermißt ihn! Tir 
fehlt Herrn von Palocys Liebe, möchtejt Du ihn wieder haben?“ 

a brad) das Eis, Taut jchluchzend fiel jie mir um den Hals und 
rief, mich leidenschaftlich küſſend: 

„D Lonni, könnte £ mich nur ſelbſt verftehen! Du, dent, feine 
Liebe fehlt mir? Nein, fie tft noch immer mein! Er weiß bejjer als 
ich, was er will. Er jchreibt mir täglich — manchmal jehne ich mich 
danad) m zu antworten, dann wieder überläuft's mich, und ich jehe 
ihn deutlich vor mir: neim, nein, ich vermag es nicht! Weißt Du, 
was er mir heute frü — Er läßt mir noch drei Tage Be— 
denkzeit, wenn ich auch dann nicht antworte, will er den Kampf auf— 

eben. Er ſchreibt ganz ruhig und feſt: „Ich will nicht wie ein Fluch 
hr Leben vergiften, wohl denn — ſeien Sie freil Nur weiter leben 
ohne Hoffnung, ohne Ihre Liebe kann ich nicht. Habe ich bis zum 


Wie Gertrud von Srank einen Mann bekam. 255 


huten nicht ein liebes Wort von Ihnen, jo werfe = dies Daſein 
It Ic vermache Ihnen mein Eleines verwaiites Mädchen, mein 

ermögen, es wird alles geordnet werden, und Sie fünnen dann wie 
Sie wollen darüber — Bis zum zehnten.“ 

„Gertrud, was gedenkſt Du zu thun?“ 

Ich weiß es nicht“, ganz ſtarr blickte fie vor ſich nieder, „mir iſt, 
als könnte ich gar nicht mehr klar denfen.“ 

Und da, an jenem Abend gejchah etwas entjegliches. Meine Lejer 
dürfen nicht abwehrend den Kopf jchütteln und jagen: es ſei unnatür— 
lih, romanhaft — es iſt alles Wahrheit was ich hier erzähle, und 
meine Feder fliegt dahin, ohne eignen Willen, unter dem Diktat der 
Wirklichkeit. 

In dem Seller des Daulen, deijen erite Etage der General von 
De bewohnte, lebte eine bildhübjche, Eleine Schneiderin, ein luſtiges, 
riiches Ding, das troß aller fleigigen Arbeit den ganzen Tag hell jang 
und lachte. Sie hatte natürlich; einen Bräutigam, mit dem fie des 
Sonntags ausging. Er war ein erniter, junger Mann und ihr von 

anzem Herzen zugethan, auch hatte er jchon öfter verjucht, den etwas 
eichten, flatterhaften Sinn feiner Geliebten von dem Gejchmad an 
Tanz und Luftbarkeiten abzulenfen. Am legten Sonntag war Martha 
Brecht wieder ausgegangen, hatte in einem Balllofal bis gegen Mor: 
gen mit voller Herzensluft getanzt, und dann, glaube ich, eine ziemlich 
heftige Scene mit ihrem Schaß gehabt. Jedenfalls war jie ohne ihn 
nah Hauje gefommen, und der junge Mann hatte jich jeitdem an 
feinem Abend mehr unten bei ihr — laſſen. Was zwiſchen den 
beiden vorgefallen, wußte niemand, am Abend des Tages aber an dem 
mir Gertrud ihres Herzens Rathloſigkeit geklagt, ſah ſie zum erſten 
Mal, als ſie in wirren Gedanken an ihrem Fenſter ſtand, das nach 
dem Hofe ging, den jungen Mann raſch über denſelben ſchreiten. Er 
trat an das Fenſter ſeiner Braut und pfiff leiſe bittend: Gute Nacht, 
Du mein herziges Kind! — aber nicht wie ſonſt wurde ihm bei die— 
re Tönen von innen geöffnet. Die unge blieben gejchlojjen, 

artha Brecht war in Nail Zimmer, aber jie rührte ſich nicht. Noch 
einmal hörte man ihn leife pfeifen — dann, ein Blig, ein Shuf — 
und zum Tode entſetzt ſah Gertrud unten ein grelles Licht aufflam— 


men, den — Mann mit zerſchmettertem Kopf auf das Stein— 


pflajter jchlagen. 
Am folgenden Morgen ging ein Telegramm nach Ungarn: „Sa!“ 


Einige Monate darauf war Die — Das heißt Gertrud 
—— ihn gebeten * vorher nach M. zu kommen, ein Bruder ihres 
ters, der ſie ganz beſonders lieb hatte und in Schleſien anſäſſig war, 
tte vorgeſchlagen ihr die Hochzeit auf ſeinem Gute auszurüſten. 
orthin ging Herr von Palocy, ich habe ihn nie kennen gelernt. 
Die Verlobung wurde gar nicht in unjerer Stadt verfei im 
Frühjahr jchon reifte Gertrud mit ai Eltern nad) Hohenkirch, von 
Dort datirten fie die Anzeige ihrer Vermälung. 
Sch war damals an der See, Gertrud hatte mir feit ihrer Ab— 
reife nach Schlefien nicht mehr gejchrieben, ich konnte e3 nicht begrei= 
fen. Ihr Verſtummen war jehr jchmerzlic) für mich, aber ich war zu 


256 - Wie Gertrud von frank einen Mann bekam. 


jtolz ein Bertrauen zu erbetteln, das bis dahin. fo rüdhaltlos mein 
— Mehrmals ſchrieb ich an ſie — dann ſchwieg auch ich. Die 
dachricht von ihrer geſchehenen Verheiratung fiel mir total unvor— 
bereitet in Die Hände, als ich eines Abends in jprachlojer Wonne dem 
Untergang der Sonne zujchaute — Thalatta! Thalatta! das ewige 
Meer mir zu Füßen. 

Und dann vergingen zwei Jahre. Anfangs hatte ich mit quälen: 
der Unruhe und Sorge Gertruds gedacht, bejtimmt gehofft, daß fie 
aus ihrem neuen Leben den Weg wieder zu mir zurüdfinden würde, 
aber feine, auch nicht die geringite Kunde war zu mir gedrungen. 
General von Frank war mit feiner Frau bald nad) der Hochzeit in 
unjere Garniſon zurüdgefehrt, um zu paden und feinen Wohnſitz nad) 
Breslau zu verlegen und jo verblaßte Die — an Gertrud 
allmählich bei unſeren Bekannten. Mir ſelbſt freilich blieb ſie immer 
lebendig, ich hatte ihr zu nahe geſtanden um leicht für ihr eigenthüm— 
liches, mir jo liebes — — 8— zu finden. Aber mein eigenes Schichſal 
trat dann an mich heran umd füllte mit ungeahntem Jubel mir Herz 
und Seele, Zeit und Leben aus. 

Die geichäftigen Zeitungen mögen die Kunde von meinem Glüd 
wohl auch bis ins ferne Ungarlan —— haben, denn folgende 
Zeilen fand ich unter zahlreichen anderen Gratulationen eines Mor— 
gens auf meinem Schreibtijch: | 

Szolnöf, Komitat B., 2. Juli 187. 

Glück ar Lonni, aljo au Du! Mein Mann will mit mir 
ausfahren, unſer Bube jchreit — ich kann Dir nicht viel jagen. 
Wozu auh? Das höchſte Glück hat feine Lieder. 

Daß ich einjt meinen Stefan nicht geliebt, id) muß mic) jet 
zwingen, um mich darauf zu bejinnen. Gott ſchenke Dir Herzensglüd, 
aber wenn möglich ohne jo heißen Kampf zuvor. Ich freilich taufche 
nit niemand! 

Deine Gertrud.“ 





Be 





Srankreih im Site feiner Siteratur. 
Kritiiche Eſſays von Charles Fufter. 
Autorifirte Ueberfegung von Ewald Paul.*) 


I i 


Ä Der naturaliflifche Roman., 
N der gewaltigen nihiliſtiſchen Se die am 
“ = einer Zeit, da die pathologische Beobachtung alle Geijter, 
FL jelbit die anjcheinend glüdlichiten, — hat und 
ens aus ihnen 





*) Anmerkung d. Ueberſ.: Charles Fuſter, der angeſehene Direktor der „Revue 
Litteraire et Artistique“ fordert uns auf, feine kritiſchen Eſſays, die in Frankreich 
großes Auffehen erregten und nächſt ihrer Publikation in Zeitſchriften auch eine zmei- 
fache Buchauflage erlebten, auch in Deutſchland befannt zu machen und wir feiften 
feinem Anfuchen an diefer Stelle gerne Folge, weil es fih um ganz vorzügliche, 
cavalierement niebergejchriebene Fritifche Peiftungen handelt, die dem talentoollen und 
noblen franzöfiihen Schriftfteller alle Ehre machen. Es ift ficher, daß dieſelben auch 
in Deutſchland Beachtung finden werden, denn ſie behandeln ein Gebiet, das uns 
ſehr nahe liegt und fürs zweite erfreuen ſie ſich eines Vorzuges: der Abſtammung 
aus berufener Feder. Wir wenigſtens haben in deutſchen Blättern noch nirgends ſo 
gute und zuverläſſige kritiſche Arbeiten geleſen als die hier vorliegenden. Noch eines 
will bemerkt ſein, nämlich, daß wir den Eſſays aus naheliegenden Gründen eine 
andere Reihenfolge gaben als der nur das franzöſiſche Publikum im Auge habende 
Verfaſſer und daß wir aus ähnlichen Rückſichten die eine oder andere Arbeit kürzen 
ober ganz auslaffen mußten. 

Der Salen 1887. Heft IX. Band II. 18 


— 


258 Frankreich im Lichte feiner Kiteratur, 


Worte, genauer Situationen, gejehener oder gehörter An rg 
und wenn fie diefe Arbeit des Zujammentragens einmal beendet und 
aus diefem Gemiſch das, was ihnen originell und neu dünft, hervor: 
gezogen haben, zeigen jie ung das Leben, wie ie es veritanden umd 
Mu haben, indem ſie in den meiſten Fällen verſuchen, ihre in das 
—** ſich zurückziehende Perſon durch die Deutlichkeit der Neben— 
umſtände zu verbergen. Die einen — wie zum ——— Guy de 
Maupaſſant — ſchildern den bäueriſchen Egoismus oder die gemeinen, 
niedrigen Paſſionen der Bourgeoiſie. Ihr geſammter Horizont läßt 
ſich in ein heckenumſäumtes d, in das Gemach eines armen Beam: 
ten oder in eine melancholtfche und banale Gejchäftsitube einichliehen. 
Andere, und umter ihnen Paul Bourget, jegen für die Frauen bejon- 
dere weibliche Romane zujammen, die von einer durchdringenden, aber 
im Uebermaße peſſimiſtiſchen Analyſe find und die aus der menſch— 
lichen Natur den ergebenen Sklaven der dunfeljten Leidenjchaften und 
der widerjpruchvolliten Eindrüde machen. Einige — wie Edouard Rod 
— jchreiben unter der Form eines Romans ein mehr oder minder 
aufrichtiges „intimes Journal“ und bringen darin die DPoftrinen 
Schopenhauers oder Hartmann nebjt den Erinnerungen Amiels und 
etlihem Hindu-Fatalismus unter. Noch andere endlich, jo Elémir 
Bourges, liefern den dramatischen Roman, den ergreifenden und zu: 
weilen an das Epijche jtreifenden Roman, jene Art Roman, von der 
Emile Zola in Germinal ein jo padendes Modell gegeben hat. Diefe 
— So glauben wir — werden den eriten Bla gewinnen, denn da 
einmal der Naturalismus heute auf die Tagesordnung gejegt ist, fo 
ift es der Naturalismus von Elemir Bourges, um den Hi die fein- 
fühlenden Geiſter zu jchaaren haben, weil diejer Naturalismus dadurd), 
daß er ungefannte Reize auffand, allein von dem zu profitiren wußte, 
was Die DODAU RER RDE NER Schriftitellerichulen ewiges und großes be- 
feffen haben. Klémir Bourges hat zwei Romane veröffentlicht: „Unter 
dem Richtbeil* und „Die Götterdämmerung“, die dem Datum nad) 
der legte der beiden Romane, jebod) der zuerſt niedergejchriebene üt. 
„Unter dem Nichtbeil* iſt eine Epijode aus dem Vendeer Striege, eine 
bewegte, leidenjchaftliche, ergreifende Epiſode, die jedoch durch eine ge- 
wiffe Verwandtichaft mit Victor Hugos „Dreiundneunzig“ eine relativ 
geringere Bedeutung hat. Wir wollen ung daher an diejer Stelle 
nur mit der gewaltigeren Schöpfung von Elemir Bourges — der 
„Sötterdämmerung“ bejchäftigen. 

Sicherlich ijt das ein herber und diüfterer Titel. Die „Götterdäm- 
merung“ iſt nicht allein die antike Fabel, welche uns die vom Olymp 
vertriebenen Götter zeigt, wie fie aus den griechiichen Bergen fliehen, 
den Meth und Weihrauch der Menfchen vergejjen, ihren Ruhm und 
ihre Liebe zurüdlaffen, um barfüßig, elend, frierend, aber noch erhaben, 
in jene Wälder Galliens zu entweichen, wohin fie M. de Banville 
verjegt; darin Liegt nicht bloß der jtumme Schmerz diefer Verbannung 
in jchredhafte Einſamkeit, über die nun die Melancholie der Dämme— 
rung hereinbricht, nicht allein das unheilbare Entjegen dieſes Sturzes, 
noch der ummiderjtehliche Schauder diejer Sonne, welche dahinscheidet, 
und der jterbenden Götter. Das ift mehr, viel mehr, das iſt der 
Leichenzug untergegangener Königspracht, ehemaliger und moderner 


Frankreich im Lichte feiner Siteratur. 259 


Neiche, die unter der Beichimpfung des empörten Volkes erlagen; das 
iſt ein Unterliegen ohne Größe, ein erbärmliches, demüthiges Unter: 
liegen, welches wehllagt und unter Seufzern zu Ende geht; das find 
die —— welche —— die großen Namen, welche ſich 
beſudeln, die Erinnerungen, welche Flecken haben, der in Verfall be— 
griffene Adel, ein ſchändlicher Niedergang, die königlichen Geſchlechter, 
die in den Schmutz gerathen und * im Blute wälzen. Die Götter: 
dämmerung — das bedeutet eine jchredliche Verderbniß, eine Ver: 
dammung ohne Appell, eine Schmach, in die man jich fügt — die 
Nacht, die jich bereits über diefe muthloje Betrübniß ausbreitet, 

Daudet hat ung in feinen „Königen im Exil“ noch vor Elemir 
Bourges das gezeigt, was Boſſuet mit feiner majeftätiichen biblijchen 
Ausdrudsweije „Diefe beflagenswerthe Ummendung der menschlichen 
Dinge“ heißen würde. Aber es jcheint, als ob Daudet, der den anef: 
dotifen Noman Schafft und der das Leben an jeinen niederen Seiten 
padt, der in die Einzelheiten der alltäglichen Piychologie eingeht, als 
ob Daudet nicht imftande war, einen derartigen Gegenjtand zuſammen— 
ubringen und eine gleiche Epopoe zu jchreiben. Sicherlich enthält 
* erk ſchöne Scenen, ſolche, die ergreifender und feſſelnder ſind 
als jene, in denen ſich Elemir Bourges gefallen hat, aber der Eindruck, 
den man daraus empfängt, tft doch weder jo gerecht noch jo traurig 
und man fühlt nur jelten in ihm den bitteren und wiühlenden Ab- 
ſcheu, der über der „Sötterdämmerung“ jchwebt. Rund berausgejagt, 
der Roman Daudet3 deutet auf mehr Talent, aber in demjenigen von 
Elemir Bourges ruht ein gewifjes Etwas, ein brutaler und zugleich 
beredter Anhauch, der uns an Genie denken läßt, falls eben das 
Genie darin bejteht, herbe Dinge hart herauszufagen und jchmerzhaft 
die Herzen erzittern zu laſſen. 

An die Spite feines Romans hat Elémir Bourges als eine Be— 
kennung des Glaubens etliche Verſe von Agrippa d'Aubigné geſtellt. 
Agrippa d'Aubigné war es, der einſt auch eine „Götterdämmerung“ 
ſeiner Zeit ſchrieb. Darin führt er den tollſten Haß vor, das blut— 
überſtrömte Frankreich, das Land, wie es den Händen der königlichen 
Lieblinge überantwortet iſt, die Niedermetzelungen der Hugenotten, den 

lühenden Wahnſinn, wie er allen als eine gräßliche Mordluſt ins 
Gehirn jtieg, die Todesangft dieſes Jahrhunderts, in dem alles aufs 
Spiel geieht war und wo jo viele Größen den Todtentanz tanzten. 
Aber Agrippa D’Aubigne war als Poet in die Enge des Verſes ge 
bannt und hatte zudem weder die lebhaften Farben, Die bei unjeren 
zeitgenöſſiſchen Schriftjtellern im Gebrauch find, noch die Energie des 
gegenwärtigen Realismus zu feiner Verfügung, daher er denn nur eine 
verhältnigmäßig kühl me Epopoe Zuſtande brachte, ein Helden— 
edicht, in dem die Uebertreibungen der Form der Macht des Schreies 
ea Uebrigens iſt jein Werk ein Werk des Glaubens, während 
— des modernen Schriftſtellers ein verzweifeltes und verzweifeln— 
es iſt und den ganzen ſchmerzlichen Reiz des Zweifels hat, der da 
glauben möchte. 

Gleich zu ra der Arbeit präfentirt ſich der Det Karl von 
Ejte, der erite des Namens, Herricher eines deutichen Kleinſtaates. 
Derjelbe wohnt einer Vorjtellung des „Ring der Nibelungen“ bei, zu 

18* 


260 Frankreich im Lichte feiner Literatur. 


deren Leitung Wagner jelbit herbeigefommen iſt. Man befindet jich gerade 
beim dritten Akte, als ein Courier in die Loge des Fürſten jtürzt. Die 
Preußen, gegen die er einft — und das war 1866 — Partei ergriffen, 
jind in jeine Befigungen eingerüdt. Er muß abreijen. Der ver: 
triebene Herzog will nad) Paris Be: diefem obersten Zufluchtsort 
für vernichtete Königsmacht und gefallene Monarchen. Alles tt in 
Bereitichaft geleht, jedocd) vor der Abreiſe läßt Karl von Eite Wag- 
ner herbeirufen, beglüdwünjcht ihn zu jeiner Schöpfung und fragt ihn, 
wie der Titel des vierten Aftes laute. Wagner antwortet unter einer 
VBerbeugung: „Die Götterdämmerung, Ew. Hoheit.“ Und von Stund’ 
an jchwebt diejes Wort, bald traurig, bald Ichändlich, bald ſchreckens— 
voll über dem ganzen Werke. Wir jehen nichts mehr als eine Kette 
von Gräueln im * dieſes Pariſer Lebens. Familienhaß, Ehe— 
bruch, Diebſtahl, Mord, Blutſchande, alle ——— Herabwürdigungen 
folgen einander, unglücklicherweiſe durch dieſen Niedergang einer Raſſe 
herbeigeführt, deren Nerven verbraucht find, deren Blut ſchlecht iſt 
und die ſich den krankhaften Paſſionen überlaſſen hat. Der Sohn 
Karls von Eſte, der ſein Nebenbuhler geworden, verſucht ihn zu 
tödten; dieſe ganze gemeine Geſchichte zeigt ſich blutbefleckt bis zu dem 
Tage, wo der Herzog, von allen verlaſſen und alle haſſend, zu Bay— 
reuth in ſeiner Loge während der erſten öffentlichen Aufführung der 
„Sötterdämmerung“ ſtirbt. In der Zwiſchenzeit führt uns der Autor 
durch) Paris, zeigt uns den Kaiſer, den nik verfehlten Lebens, 
alle Verbrechen und Betrübnijje von Wejen, die ihren gejchwächten 
Nerven überlaſſen find, aber auch eine gewiſſe myfteriöfe Rache, die 
diefe zu Ende gehende Rafje heimjucht und jo, als ob jie damit befjer 
den Beweis erbringen wollte, um wie viel verächtlicher und unabwend- 
licher der Untergang ohne Stolz it. Er führt uns den graufamen 
Iriumph des Weibes vor, welches den Willen beherricht, weil es die 
Sinne erregt und das, ich weiß nicht was für ein entjetliches Ver: 
nügen daran findet, den Sturz derer zu beobachten, die es zu Falle 
Pant Und wir finden auch in diefem menfchlichen Dokument, in 
dem jo viele Schauer der betrübenditen Sinnenluſt oder ohnmächtiger 
Angſt fich bemerkbar machen, wir finden darin ſelbſt unter dem uns 
zü gen Gewande der Beichreibungen, jelbjt unter der völlig moder- 
nen Neuheit der mitleidlojen Analyſe, die biblische Idee, nad) welcher 
der Himmel die Entarteten verfolgt, oder — wenn man bejjer will 
— die antife Vorftellung vom Gerhid, das die Schuldigen ſelbſt in 
der faljchen Freude des Sinnentaumels oder im Rauſche des Ber: 
brechens verfolgt. 

Ohne Zweifel ijt das Werk für unfere dermalige Literatur eine 
Ausnahmeihöpfung, eines jener Werfe, die Epoche machen fünnen. 
Gewiß, es iſt nicht hohl und gehaltlos, denn es umschließt eine ſchmerz— 
(ich bittere Lektion und bejchwört eine beflagenswerthe Wahrheit her: 
auf. Ich weiß; nicht, was Elemir Bourges in Vorbereitung hat und 
ic) fann nicht jagen, ob er jemals zu gleicher Höhe der Ceiftung oder 
noch höher anjteigen wird, aber ich habe wenigftens die Behauptung 
ewagt, daß jeine erite Schöpfung eine vielleicht unfreiwillig ausge— 
rücfte ewige und ergreifende Lektion birgt. Sie lehrt uns, was den 
Raſſen, auch denen von föniglichem Geblüt, widerfährt, wenn fie fich 


Frankreidy im Lichte feiner Literatur. 261 


herabwürdigen und — Sie ruft uns in das Gedächtniß 
— daß die thörichten Vergnügungen, indem ſie die Nerven ver— 
rauchen, auch den Willen ertödten, das Gewiſſen erſticken, das Herz 
vernichten, das Hirn ausdörren und ſchließlich den Wahnſinn oder die 
Schande nach ſich ziehen. Und — ob man wolle oder nicht — dieſes 
Verf eines Mannes unſerer Zeit führt ung, in dem es den Verfall 
in allen jeinen Schredlichkeiten bloplegt, bei aller Verzweiflung zu 
einer entweder verlajjenen oder noch in Dunkel gehüllten Wahrheit, 
aber zu einer Wahrheit, die ung aus diejem Schmut und Blut er- 
retten fann. 

Diejer Koth und dieſes Blut — dieſer —— namentlich 
iſt es, den wir im letzten Roman von Camille Lemonnier „Happe 
Chair“ (Häjcher) finden. 

Camille Lemonnier verwendet jeine Aufmerfjamfeit nicht wie 

lemiv Bourges auf die Größen, welche jich erniedrigen. Die Ber: 
fommenen, von denen er uns berichtet, haben niemals eine Größe ge- 
— Das iſt nicht mehr die groteske und zugleich ſtolze romantiſche 

ergrößerung, die alles übertreibt, alles in heldiſchen Proportionen 
und tragiſchem Lichte erſcheinen läßt, nein, das iſt die genaue, auf— 
richtige aber herbe und widerwärtige Beobachtung der niedrigen 
ſchmutzigen Inſtinkte. Durch das ganze Werk dieſes Schriftſtellers 
zieht es ſich wie ein Brechreiz und man fühlt, daß ihm das Herz 
im Leibe gehoben hat im Unwillen über den Anblick der menſchlichen 
Beſtialität. | 

Zur Zeit unjeres Krieges, jenes jchredlichen Krieges, der uns die 
Ehre aus der Bruft gerijjen hat; während jenes Gemegel3, in dem 
der franzöfiiche Ruhm na etlichen herzzerreißenden Erjchütterungen 
abgethan ward, im Augenblid, wo eine Armee und ein Kaiſer, in 
einem Thalgrunde in die Enge getrieben und von achthundert ‚Feuer: 
jchlünden bedrängt, die eine ihren Geiſt und der andere jein Schwert 
aufgab — nad) jenem Unglüd von Sedan beſuchte Lemonnier die von 
der Schlächterei noch warme Kampfjtätte. Er jah noch die Hügel er: 
beben von dem Donner der verjchwendeten Salven; er jah die brennen- 
den Dörfer, die aufgerifienen, bodenlojen Straßen, die in den Wege: 
vertiefungen verlorenen Leichen, die Pferde mit aufgerijjenen Leibern 
und hängendem Gedärm, die unter Majfen menjchlichen Fleiſches zer: 
malmten — die zertrümmerten, beſchmutzten Kanonen, die abge— 
ar öpfe, dag umbergeiprigte Gehirn und die jtarrenden offenen 

unden; er trat in die von Gewimmer erfüllten und mit fauligen 
Gerüchen durchdrungenen Feldlazarethe, jprach zu den Sterbenden 
und hob aus dem gerötheten Schmuß den Brief auf, der dem armen 
Burschen durch jein Mütterlein oder die Braut gejchrieben war; er 
erfuhr von dem nächtlichen Gejindel, das ſich in der Dunkelheit, nach 
dem Gemegel, aufmacht, um Finger abzujchneiden und den blutenden 
Gliedern die Ringe zu entreigen; dieſer lebendige Schreden eritand 
vor ihm und er, der das bislang nicht gefannt, lernte die ganze häß— 
liche und unverbejjerliche menschliche Verworfenheit verjtehen. Bis 
dahin hatte er nur harmloje Gejchichten gejichrieben, Erzählungen aus 
flämiſchem Lande, Sachen, die mehr kunſtreich und weniger ſtoffſchwer 
waren, nunmehr aber jchuf er unter dem Emdrud jener Abjcheulich- 


MT 


262 Frankreich im Lichte feiner Siteratur. 


feiten feine „Charniers“ (Beinfammern). Hier zeigt fich zu eriten 
Meale jener unbändige Realismus, den er jeitdem in Gebrauch und 
Mißbrauch genommen und an den er ſich gewöhnt zu haben jcheint 
wie der Soldat, der nad) anfänglichem Widerjtreben toll die jchwarze 
Gartouche zerfaut. Hinfort bewahren feine jämmtlichen Schöpfungen 
das Gepräge und die herbe, lebendige —— jener blutigen Tage. 
Weder in ſeinem „Mäle“ (Männlich), noch im „Mort“ (Tod), noch im 
„Hysterique“ (Hyjteriich) und am kin io im „Happe Chair“ 
(Häſcher) läßt nr etwas anderes erfennen als thieriiche Typen, wilde 
Gelüſte, widerwärtige Landichaftsbilder, nichts weiter als eine erjtaun- 
lie Epopoe wüjter Niedrigfeit. Ob er uns die Liebjchaften eines 
MWaldläuferd oder den langjamen Todesfampf einer von Bifionen 
Heimgejuchten, die Abjcheu erregenden Schamlofigkeiten eines Bauern- 
weibes, oder die unjauberen Ehebruchsgeichichten einer Dirne aus dem 
niederen Wolfe entrollt, ob er uns die trübjeligen Wälder oder die 
Nebelichleier des „Ichwarzen Landes“ vormalt, er verfolgt dabet nur 
einen Gegenftand, nur eine Idee und das iſt die, den Menſchen, der 
den Gelüſten der Beitie fröhnt, niedriger zu jtellen. Für ihn giebt 
es nicht3 edles in uns, nicht einmal den religiöſen Glauben, nicht ein 
mal die erhabenen Leidenschaften wie die Liebe und der Zorn. 

Zola bringt in „Germinal“ eine großartige Gemüthsbewegung 
hervor, indem er den tollen Zug jener Empörten im flachen Lande 
wachruft, die das Beil gleich) dem Mejjer einer Köpfmajchine hand- 
haben und denen Die fie in Blutwellen jpiegelnde Sonne auch in 
blutigen, feurigen Strahlen untergeht. Aus dieſer eingejchalteten 
Schilderung weht ein Hauch des Saties, der betroffen macht, aber dem 
Lejer einen Ausruf von verblüffter Bewunderung abringt. Im „Däs 
jcher“ findet ſich nichts dergleichen. Alle diefe Perjünlichfeiten bes 
wegen jich unter einer Art dichtem Nebel, der die Thaten Eleiner 
ericheinen läßt und die Stimme behindert: Das Ganze tjt die volle 
Einförmigfeit des Lajters und der Traurigfeit, es iſt die Photographie 
des Verbrechens, anjtatt deſſen geheimnigummobene und ergreifende 
re, zu jein. Eine einzige Scene ergreift Euch, erjchredt 
Such, ſchnürt Euch die Kehle zujammen und das ift jene, in der Jac— 
ques Hurtiaur jein Weib jammt ihrem Liebhaber auf die Straße 
wirft. Zuvor, danach, ringsum begegnen wir nur dem trivialen Leben, 
einem eben, dag gemeiner noch it, als es jemals in Wirklichkeit 
gewejen, niedriger, als es jemals in Wirklichkeit fein fünnte Alle 
diefe Frauen, die uns der Schriftjteller vorführt, find nichts ans 
deres als Bettelweiber, cyniſch ohne Größe, unjauber, abjchredend, 
verfommene, zerlumpte Seelen in Fetzenkleidern, Fleiſchbündel in 
ſchmutzigen Unterröden. Nichts, das erhebt, nur ein wenig erhebt, 
nein, wir jind geringer als die Erde, denn alles fehlt uns, die Luft 
und die Bewegung und man empfindet das Eingehen in diejes Werf 
wie das Hinabjteigen in einen Graben. Aber der Graben iſt noch 
dunkler, als man ihn jich vorgeitellt hatte, man ſtößt darin auf jo 
viel Unrath, geräth in jo viele jchmugige Winkel und fühlt ſich in 
einer jo widerjtrebenden Atmojphäre, daß man für immer angeefelt 
daraus hochjteigt. Draußen freilich glänzt der Himmel noch, die Blät- 
ter raujchen und die Waſſer fließen, een liegt auf den braun= 


Frankreidy im fichte feiner Literatur. 263 


farbigen Dächern, Vögel trillern in den Bäumen und der Staub der 
Landitragen bewahrt einen guten Geruch regengenegter Erde hinter ſich; 
die Springbrunnen treiben ihr luſtiges Spiel und die Menge tummelt 
fi) herum — überall zeigt ji) Bewegung und Licht und das ift das 
Leben. Und wie freudig begrüßt man es, wie lieb hat man diejes 
Leben, welches man wiederfindet, wenn man dem dunklen Schoße der 
Erde entjteigt, wenn man ein Buch zuflappt, das jo tief traurig und 
jo düfter ift als das erwähnte — diejes Leben, welches fortichreitet, 
welches anjpricht, welches handelt und das eben lebt! Wie e8 einem 
da jung erjcheint und herrlich und bejjer als die Bücher! 
3a, bejjer als die Bücher. Ehedem — und das ijt noch nicht 
allzulange her — ehedem und zwar nicht in den Tagen, da Königin 
Bertha am Spinnroden wob, jondern ganz einfacd) zu jener allbefann- 
ten Zeit, in der die Romantifer mit langen wallenden Haaren auf die 
Thürme von Notre-Dame ftiegen, um den Mondaufgang zu beobach— 
ten — in jenen — Tagen, wo man noch ſo vieles zu bewun— 
dern hatte, waren die Bücher beſſer als das Leben. Das Leben war 
traurig, zunächſt, weil die großen Erſchütterungen genug Geiſter ge— 
brochen und viele Gemüther verſtümmelt hatten, und daunn, weil die 
Meteleien des Kaijerreichs fajt alles, was noch an jugendlicher Leben— 
digkeit in diejer jchon erjchöpften Raſſe vorhanden war, ertödtet hatten. 
Nach diefen Stößen bedrüdte eine vollfommene Stille die Herzen. 
ragt einmal das entmajtete alte Schiff, ob es nicht dDuldet, weil es 
feine Fregatte jein fann! Das Leben war aljo traurig zu jener 
Epoche der Entfräftung, aus freien Stüden trübe bei den einen und 
— trübe bei den anderen, aber immer erniedrigend und melan— 
choliſch. Und dennoch — wie erheben uns dieſe Schöpfungen vom 
Anfang — Jahrhunderts heute noch! Wie erwecken ſie in uns 
eine Liebe, die wir nicht ahnten, einen Zorn, über den wir uns ſoeben 
luſtig machten, eine Begeiſterung, die uns bis zur Ermüdung und 
Betäubung mitnimmt! Wie ſind ſie warmherzig und edelmüthig und 
wie hallen ſie nach, dieſe Werke, in denen Victor Hugo ſeinen unver— 
leichlichen Feuergeiſt entfaltete, wo Lamartine ſeine zärtliche Liebe 
ür alles große kundthat und in die Muſſet ſeine Leidenſchaft hinein— 
warf; dicke Merfe, in denen Caſimir Delavigne die Freiheit prieg, 
Gautier die Kunjt rühmte und Vigny den Gedanken und die Ehre; 
an die Dumas jein unerjchöpfliches Genie verjchwendete und Janin, 
ohne, als echter Edelmann, der er war, dabei zu rechnen, jeine Para: 
doren ausgab, und wo man jchon mit dem Schwung der 
George Sand die lebendige aber hehre Stimme Barbiers en Ge⸗ 
wiß — während dieſes Zeitabſchnittes mächtiger literariſcher Lebens— 
kraft, zu dieſer Epoche flachen und gleichſam —— Daſeins 
waren es die Bücher, die für das Leben entſchädigten Man ſuchte 
in ihnen die großen Erinnerungen und Hoffnungen, die Liebe, den 
Glauben, den Ruhm, den Zorn und oft den Hab, aber immer jenen 
heldenmäßigen, gu tollen Streichen geneigten Sinn, der die aus ſich 
heraus entjtehenden eg rke zeitigt. Ich bilde mir ein, 
daß die jungen Leute von 1830, die die blutigen Tage der Revolu- 
tion und des Kaiſerreichs Hinter fich hatten umd die nun in eine 
ſchwüle Ruhe zurüdgeführt waren, ich jtelle mir vor, daß dieſe jungen 


264 Frankreidy im Lichte feiner Literatur. 


Leute in den zeitgenöfjiichen Werfen etwas anderes erblidten, als 
bloße literarijche Et öpfungen. | 

Sie jahen in Victor — in Lamartine, in Caſimir Delavigne 
die beredten und hingeriſſenen Sänger der Ideen, welche ihnen theuer 
waren, die ſie nicht nüchtern zu vertheidigen gewagt hätten, die aber 
in ſchöne Versform gegoſſen oder als eine eiſerne, erhabene Dichtung 
in ihnen als ebenſo viele Trompetenſignale nachhallten. Hernani war 
die Empörung der wilden, ungezähmten eigen gegen die fünigliche 
Majeftät, Didier bedeutete das gejfammte Volk, das Volk, welches die 
Ehre nad) jeiner Art auffaht, aber für diefe Ehre zu jterben weiß; 
unter Triboulet ift die erhabene Häßlichkeit zu — Saint-Vallier, 
das war die Empörung des Rechts gegen das Verbrechen, eine phra— 
rs Empörung vielleicht, und jicherlich unwahrſcheinlich, aber den- 
noch beiwundernswerth wie ein entrüjtetes Kapitel aus Tacitus — und 
überall in ſolcher Schöpfung, in den Oden wie in den Dramen, im 
Roman wie in den glühenden Reden war das, was die Jugend jener 
Zeit beflatichte, das, von dem jie jich begeiftern und hinreißen lieh, 
die Hervorrufung der höchſten Tugenden und die Lobpreijung jtolzer 
Ideen — es war das Vergejjen des niedrigen, alltäglichen Lebens. 

Heute ijt alles anders geworden. Das Leben tft vielleicht trau= 
rig, aber es ijt weder fade noch gering. Wir find an einem Punkte 
angelangt, an dem in der gejellichaftlichen Ordnung wie in der wijjen- 
Schaftlichen Ordnung und der des reinen Denkens alles aufs Spiel 
geſetzt iſt. Um diejer furchtbaren Probleme, die vor uns errichtet find, 
Herr zu werden, um all den aufgeworfenen Fragen ins Geficht zu jehen, 
bedürtte man einer Öeneration, die mit jener Lektüre gejättigt it, an 
der jich unfere Väter einjt erbauten. Gewiß find wir Weife in jenem 
Sinne, wie ihn die primitiven Völker diefem Worte geben. Wir gehen 
allen Dingen auf den Grund, wir zergliedern unjere Gefühle und 
fennen ſie, joweit man ſie erkennen kann. Wir find groß im Haut- 
abziehen und im Bloßlegen der Nerven. Wir gehen mit Renan von 
einer Religion zur anderen über und prüfen ſie alle, ohne jedod) 
irgend eine anzunehmen; mit Taine treiben wir den Verzweifelteften 
Schlüſſen des wiljenjchaftlichen Peſſimismus entgegen; mit den Roman- 
ciers der naturaliitiichen Schule haben wir den Ehebruch unter allen 
feinen Formen und von allen Gejichtspunften jtudirt; mit den Poeten, 
die das Ende unjeres Jahrhunderts gezeitigt, haben wir uns in einer 
mehr oder minder myſtiſchen und Eranfhaften Melancholie entnervt. 
Und wenn wir mit jchwerem Kopfe aus ſolchem, uns übelmachenden 
Lejejtoffe hervorgehen, dann — num, dann geichieht es wohl, daß ung 
der — anlacht und wir einen Blick hinabwerfen auf das Men— 
ſchenleben unten in der Straße und daß wir dann die ſeltſame Idee 
bekommen, das Leben ſei doch beſſer als es die Bücher darſtellen. 

Und es iſt wahr — das Leben iſt beſſer. Man findet ſchon noch 
im Leben große Seelen und geſunde Herzen. Man kann Bürgerin 
aus der Provinz ſein, ohne Madame Bovary zu werden; man kann zu 
Paris und ſelbſt in deſſen am wenigſten orthodoxen Quartieren er 
inden, die nichts mit dem aus Pot-Bouille gemein haben; die Bauern 
ind nicht alle jo gemein als die, die ung Sun de Maupafjant vor: 
führt, und die Frauen von Welt jind nicht alle jo naiv komplizirt 


Frankreich im Lichte feiner Kteratur. 265 


al3 die von Paul Bourget; man hat nicht nöthig, im Gefolge von 
Pierre Loti unter erotischen a nach ungezähmter Liebe und bei 
den gemeinen Negerinnen nad) großen aufrichtigen Paſſionen zu juchen, 
denn e3 giebt in unjerer nächtten Nähe gewiß Frauen von zärtlicher 
Hingebung und Männer, welche jtolz jind, Wejen, welche ihre Herzen 
in der Bruſt jchlagen laſſen und das Leben mit vollen Lippen und 
vollen Lungen genteßen, welche ſich in Enthujiasmus beraujchen und 
ji noch mit — einfältigen Späßen und herrlicher Naivetät 
urchhelfen. Für alle dieſe gilt das Leben mehr als ihm in den 
Büchern zuerkannt wird. Was ſage ich? für dieſe allein? Nein, für 
euch, für mich, für alle. So unglüdlih man ji) auch ein menjchliches 
Weſen vorjtellen mag, es giebt dennoch feines, dejjen Herz niemals 
für ein Weib gelitten oder für das Vaterland gepocht und das nicht 
zuweilen in edlen Stunden RE Schauer der Liebe oder des Stol- 
zes oder des Zornes oder jelbjt des äußerſten Dalles gehabt hat be- 
ra noch haben wird. Der moderne Roman verjchweigt 
ieſe Schauer. Wohlan — jedoch man findet jie im alltäglichen 
Leben wieder. Ehemals entjchädigten die Bücher für das Leben, heute 
aber, zur Stunde höchſter Verderbniß, it es das Leben, welches ung 
für die Bücher entfchädigt. 

Und hier liegt die UÜrjache, warum der naturalijtiiche Roman be> 
ftimmt ist, aufzuhören. Er wird zu Grabe gehen, nicht etwa weil er 
unmoraliſch ijt, nicht, weil er falſch iſt und un nicht, weil er gegen 
das künſtleriſche Prinzip ſich richtet, jondern einfach, weil er uns der- 
art betrübt, daß er ung einen Widerwillen gegen ihn einflößt. Man 
bewahrt jich davon etwas wie eine Erinnerung an eine frühere Uebel- 
keit: man fann ihn bewundern, aber indem ſich das Herz dabei hebt. 
Mit freudiger Emp — hingegen und tiefaufathmend, weil man 
ſich wohler und größer dabei fühlt, bewundert man die wahrhaft un— 
vergänglichen Werke, die Schöpfungen der Phantajie. 

Der Traum, die Phantafie — — das iſt es, was unjere Roman: 
cierd, was unjere gegenwärtigen Dramaturgen verbannen wollen. Als 
ob man das Leben verbannen fünnte! Das Träumen verbannen? — 
eht doch! Aber der Traum wideriteht, der Traum bleibt unwandel— 
* der Traum füllt alle ſchönen Verſe und alle hohen wohlklingen— 
den Phraſen: er iſt die Seele dieſer Harfe oder dieſer Trompete, er 
iſt deren Melodie und zugleich auch deren Kraft. Der Traum iſt es 
und allein der Traum, der uns Corneille ſo groß erſcheinen läßt. 
Zugegeben, daß Corneilles Verſe ſchwulſtig oder leer ſind, daß ſie 
unwahrſcheinlich, deklamatoriſch und zuweilen ſchlecht ſind, aber fie 
ſind bei aller ihrer Schlechtheit doch erhaben. Und warum dieſe ſtolze 
und unbegreifliche Schönheit? Woher dieſe Kraft, die man ſich mit 
erflären fann und der man jich mit Eritaunen unterwirft? Warum 
bilden alle dieje Eläglichen Einzelheiten ein jo bewundernswerthes 
Ganze? Einfach, weil jie mehr und bejjeres bejiten als plaſtiſche 
Schönheit, mehr und bejjeres als das klaſſiſche Theater, mehr und 
befferes als Ariftoteles und dag ift die große und oberite Beredjam- 
feit des Herzens, welches zum Herzen jpricht, das iſt die wundervolle 
Sprache, die der Traum gebärt. Der Eid bedeutet die Spanische Ehre, 
eine phrajenhafte und ungejchliffen ſich gebende Ehre, aber eine jolche, 


266 Frankreich im Lichte feiner fiteratur. 


die jelbit in ihrer Uebertreibung bewunderswerth rein erjcheint. Dies 
ift der Traum von der Ehre. Auguſte verzeiht, wie man nicht verzeihen 
darf, wie man nicht verzeihen fünnte und wie man nie verzichen hat: 
das ijt der Traum von der Milde. Der alte Horaz findet einen 
Ausruf wilden, unbändigen Stolzes und das ift der Ausdrud der 
Vaterlandsliche, die bervundernswerthe Narrheit der Opferung. Poly: 
euct jtirbt als Märtyrer für einen Glauben, dem er alles geopfert 
2 dies iſt die Leidenschaftlichkeit, die Tollheit, die Sucht nad) dem 

ode. Und alles das — Leidenjchaftlichkeit, Tollheit, Wahnwitz, er— 
habene jtolze und kurze Worte, begeifterte Regungen, oratorijche Poſen, 
Ausartung der Form, und Uebertreibung des Sefühls — alles das 
padt euch, bewegt euch, lenkt euch, und zwingt euch in die Arme des 
Idealen. Und alles das ift auch faljch, aber B, glänzend und jo jtolz 
bei jeiner Unrichtigfeit! Es liegt auch beſſeres darın als_ die epijo= 
dische Genauigfeit, bejjeres jelbit als die abjolute pſychologiſche Wahr— 
heit, nämlich eine Öenauigfeit, die unſeren niedrigen mn 
troßt, eine höhere Wahrheit, eine dee, die Flügel hat, um id) im 
weiten Himmelsraume zu verlieren, 

Der Traum hat, bald melandoliich, bald hochmüthig und rauh, 
unjere ganze Literatur erfüllt. Was iſt denn, wenn man es recht ans 
fieht, die Marfeillaife anders als der feurige Appell eines in Wuth 
gerathenen Traumes, eines Traumes, der Frankreich gegen Europa 
aufwarf, weil Europa eben diejen Traum nicht —— wollte? 
Was iſt denn die dramatiſche Poeſie Viktor Hugos anders als ein 
Traum in vierzig Akten, ein Traum des Erbarmens, ein Traum ritter— 
licher Nobleſſe, ein Traum hochherziger einfältiger Aufopferung, ein 
Traum, in welchem die Geſtalten wie Schatten in den großen Um— 
riſſen und mit der fernen Stimme der Erſcheinungen, die uns zuweilen 
in ſchwülem Nachtſchlafe bedrücken, vorübergleiten? 

Dieſes ganze Werk iſt alſo nur ein Traum, aber ein Traum der 
mehr gilt als die ſchmutzige Wirklichkeit und die alltägliche Betrübniß. 
Und mag dieſe dramatiſche Poeſie immerhin wenig ſceniſch ſein, ma 
ſie uns zuweilen durch beklagenswerthe Unwahrheiten ein Wer emiß 
geben, fie wird dennoch nicht unterlafjen, uns in Erjtaunen zu ſetzen, 
uns leidenjchaftlic einzunehmen; jie bemächtigt a unjer wie ein 
Alpdrud oder wiegt uns wie ein glorreicher füher Traum, fie birgt 
——— helltönender Trompeten, Sie birgt das Geräuſch von Küfjen 
und Thränen, jie birgt den Widerhall von Fanfaren — ohne Zwei: 
fel ijt das nicht das Leben, aber es iſt dejjen geniale Erhebung, dejjen 
übermenjchliche — 

Die Beſchwörung des Lebens ... Uns ſcheint, als müſſe hier 
der Endzweck dieſer literariſchen Werke liegen, die uns zwar über 
unſere höchſte Beſtimmung nichts lehren können, die uns aber wenig— 
ſtens tröſten und dieſes mit EN heruntergejegte Dajein bejjer und 
jtolzer gejtalten jollen, diejes Dajein, weldyes der Roman und das 
Theater unjerer Zeit in den Schmuß der Gräben ziehen und fic dort 
ſelbſt überlafjen. 

Gewiß — der Graben ijt da und in dem Graben modern allerlei 
Trümmer, fault allerleı Kraut unter der verzweifelt flaren, jcharf 
herabjtrahlenden Sonne; aber daneben befindet jic) auch die Straße, 


Frankreich im Lichte feiner Literatur. 267 


die Straße mit ihren Ueberrajchungen, ihrer Unendlichkeit und ihrem 
Ziel, das man nie erreichen kann, über das man jedoch mit ganzer 
Seele, mit allen Gedanfen, mit dem vollen Leben nachjinnt. Kir 
wiffen, dab das Endziel immer zurüdweichen und daß mit jeder neuen 
Station das Licht immer niederdrüdender jich geltend machen, die Be- 
jchwerde immer empfindlicher jein wird; wir wijjen, daß das Leben 
trübe umd gering und vor allem trivial iſt und eigenthümlich ausdör— 
rend und laſtend auf die entnervten Wanderer, die wir find, wirft. 
Und dennoch fann uns eins nod) — und dieſes eine iſt der 
Traum. Das iſt es, warum wir von der Literatur an und beſſeres 
verlangen, als ins Kleinfte gehende, jo KR mifrographiiche Beobad)- 
tungen und weitjchweifige, kleinliche Analyſen, mehr und befjeres als 
den Abjtieg in einen Sraben, dejjen Geruch uns ſchon übel macht: 
wir verlangen von ihr Die Luft, die uns fehlt, jene Welt, zu der uns 
ein unſtillbares Verlangen zieht, jenen Lichtſtrahl, der uns beim Leſen 
ie großen Werfes wenigftens das Herz täujcht, indem er es in 

ammen jeßt. Das it cs, warum wir, I, echt und genau auch die 
Sallenfhat jein mag, in der man (ebt, ihr dennoch die Leidenschaft: 
lichfeit vorziehen, die Gemüthsbewegung, an der man jtirbt. 

Es liegt ein Rauſch darin, Shut u athmen, und ein jchöner 

Wahnwiß, der Sonne ins Angeficht zu H auen. 


» jer vor dem Haus die alte Linde 
Hat mir den eriten Gruß geraufcht — 
Und was die Mutter jang dem Kinde, 
Das erite Lied hat Sie erlaufcht! 


Wie nun die Zweige leiſe — leile 
Herniederraufcen, vollbelaubt, 

s Da ſpielt die alte, ſüße Weife 

| Mir mächtig wieder um das Haupt — 





O grabet unter diejer Yinde 
Dereinjt mein ftilles, fühles Grab — 
Dann ranjcht fie mir im Abendwinde 
Das alte Schlummerlied herab. 
Paul Warnde, 


+29» — 





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Zur Naturgefdidte des Schaufpielers. 
Skizze von SHilvefler Frey. 


wenn i Ihnen ſo laut ſouffliren ſoll, ſo hört mich 
ja das 





Bühnenkünſtler ſehr gut und legt eine bedenkliche ae 
derſelben bloß: das übertriebene Selbitbewußtjein. Wie hinderlich dieje 


fo darf man gewiß jein, daß er jich in allerhand Klagen und Lamen— 
tationen ergeht. Er iſt ein verfanntes Genie, dem ſein Direktor, die 
Kollegen oder das Publitum nicht wohl wollen. Oder aud) die Kritik, 
und dieje letere iſt es zumeiſt, auf welche unſere Schaujpieler jehr 
felten gut zu jprechen find. Noch ſchwieriger aber geitalten ſich die 
Beziehungen zu jogenannten berühmten Künftlern. Sie beanſpruched 
eine Ausnahmeftellung, zu welcher jich leider die Gejellichaft heute nur 
u bereitwillig veritght. Ihr Ericheinen in der Deffentlichkeit oder im 
Salon ruft eın Aufjehen hervor, welches auf feine Weije gerechtfertigt 
iſt. Kurzum, wir jtehen vor der Thatjache, daß der darjtellende Künſtler, 
fei es num, daß er mit dem gejprochenen oder mit dem gejungenen Wort 
wirft oder gar im Ballet durch Poſe und Gejte — daß dieſer aljo 
Anfprüche an die Gejellichaft jtellt, welche weder mit feinen Leijtungen, 
noch mit feiner geiltigen Bedeutung, noch auch mit der Würde der 
eriteren auch nur im entfernteiten in Einklang gebracht werden können. 
Schuld daran tragen vor allem die übertriebenen Gagen, welche 
unjere Favoritdarſteller augenblidlich beziehen. Einige verbürgte Bei- 
ass werden das beweijen. Jenny Lind erhielt von Ihrem Impreſario 
arnum innerhalb eines Jahres 175,000 Dollars ausgezahlt. Die 
Malibran verdiente in London während der Saifon 1833, welche zehn 


Bur Raturgefcdichte des Schaufpielers. 269 


Wochen währte, 140,000 Franken. Henriette Sonntag nahm dajelbft 
bei einer Benefiz-Vorftellung 50,000 Franken ein. Die Rachel hinter- 
ließ nad) einem an Ertravaganzen und Leidenschaften jeder Art über- 
reichen Leben ein Vermögen von 1,274,371 Franken 9 Centimes. Sarah 
Bernhardt hat von ihrer amerikanischen Tournee im Jahre 1880—81, 
welche hundert Vorjtellungen umfaßte, eine und eine halbe Million 

ranfen heimgebradht. Die größten Honorare aber erhält augenblid- 
li) wohl Adeline Patti. Jeder Abend, welchen fie im nn 1883 in 
Amerika jang, trug ihr mit Abzug aller und jeglicher Koſten für jie 
und ihren unebenbürtigen Partner und feitherigen Gemal Nicolini das 
runde Sümmdjen von 20,000 Franken ein. 

Man wird vielleicht entgegnen, daß diefe Gagen nicht bedeutender 
find als jene, welche A Eu ihon früher, jelbit im grauen. 
Altertum, den Bühnenkünftlern gezahn wurden. Solche Beiſpiele 
exiſtiren allerdings, nur bildeten ſie damals eine ungeheuerliche Aus— 
nahme, während heute die Honorare ſelbſt in Europa und an regel— 
rechten, finanziell geordneten Bühnen von den ſonſtigen wirthſchaft— 
lichen Berhältnifjen grell abitechen. Im allgemeinen waren unjere 
Väter, zumal bier in Deutjchland, nicht jo dumm, daß fie ſit zu 
Gunſten der Repräſentanten einer Kunſt ruinirten. Bei aller Achtun 
vor derſelben deuchte ihnen die Wirklichkeit denn doch werthvoller ans 
würdiger einer Rücdjicht, ald das Scheinleben auf der Bühne. Konrad 
Eckhof (1720-77) erhielt durch geraume a wöchentlih 1 Thaler 
16 Grojchen. Iffland war mit 4 Thalern für den Monat angeitellt.. 
Ber Schönemann, einem der berühmtejten Theaterdireftoren jener Zeit, 
betrug per Woche der gejammte Gagen-Etat jeiner Truppe 16 Thaler 
8 Grojchen. Davon entfielen auf Acdermann und die Schröder allein 
je 2 Thaler. Und Schönemann ließ dieje berühmte Tragödin ziehen, 
als fie eine Erhöhung ihres Einfommens um volle 12 Grojchen ver— 
langte. Friedrich Ludwig Schröder (1741—1816), Balletmeiiter, Di- 
reftor, ——— Sänger und Tänzer, vor allem aber, wie ſein 
Name beſagt, Mitglied jener hochberühmten Künſtler-Dynaſtie, welche 
mit. der großen Schröder-Devrient von den Brettern verſchwand, bezog 
troß der Vielſeitigkeit ſeines Talents nicht mehr ala 16 Thaler für 
die Woche. Die Neuberin, welche im Vereine mit Gottiched die deutiche 
Bühne befanntlid) vom Hanswurjt befreit hat, zahlte ihrem erſten 
Heldendariteller, dem trefflichen Kohlhardt, 5 Gulden wöchentlich; und- 
als jie die Gage Kochs auf 9 Gulden — immer wöchentlich gerechnet — 
aus freien Stücen erhöhte, erregte diefer Akt der Großmuth innerhalb: 
der gefammten deutichen Kunſtwelt geradezu Senjation. 

So nimmt fich die Regel aus, während Fälle, wo die Gagen be- 
deutende Ziffern aufweilen, als Ausnahmen aufgeführt werden müjjen. 
Gewiß ift es Thatſache, daß eines der ältejten Balletmädchen, die antike 
le, ichon 200,000 Seitertien Jahreseinnahme erhalten hat. Aber 
dieſe Nachricht jtammt aus einer Zeit und aus einem Volfe, wo man 
die Kunst zum Nachtheil der Gewerbe pflegte, wo der jtaatliche und 
wirthichaftliche Ruin durch das Kagengold der Bühne überfirnißt wurde. 
Die berühmte Gabrielli verlangte von Katharina II. für den Monat 
ein Honorar von 5000 Dufaten. Die Kaiſerin fand die Summe zur 
hoch mit dem Hinweije, daß fein Marjchall einen jolchen Gehalt bes 


270 ur Haturgefchicdhte des Schaufpielers. 


ziehe. Darauf joll die Sängerin die oft zitirte Antwort gegeben haben: 
„So mögen Eure Majejtät einen Marjchall anſtatt meiner fingen lafjen.“ 
Wenn die Slaijerin gleichwohl diefe Summe bewilligte, R liegt der 
Grund eben darin, dat fie der Sängerin bedurfte. Ihre Kojafen jollten 
einen Begriff von menjchlicher Kultur befommen; der Hof des damals 
noch völlig aſiatiſchen Neiches mußte ich den Firniß europäiſcher Kunſt 
jelbit um einen hoben Preis herbeiichaffen. Nicht anders Lafjen jid) 
die erorbitanten Summen begreifen, welche Napoleon I. jeinen Künſt— 
lern bewilligte. Der junge Thron bedurfte eines Glanzes. Nur aus 
diefem Grunde gab er der Mars, welche von dem „Theätre frangais“ 
ſchon die refpeftable Summe von 30,000 Franken für das Jahr bezog, 
nochmals diejelbe aus jeiner Privatichatulle und lie der Catalani für 
Ber Monate eine Gage von 100,000 Franken anbieten. Sie jchlug 
tejelbe jedoch aus, weil jie — war, vor wirklichen Fürſten zu 
ſingen. Dieſe jedoch haben ſich, wenigſtens bei normalen Verhältniſſen, 
allezeit gehütet, die Geldgier der Theaterprinzen und -Prinzeſſinnen 
um Schaden der Allgemeinheit zu befriedigen. Der beſte Beweis auf 
ieſem Gebiet iſt ein Ausſpruch, welchen einſt Friedrich II. von Preußen 
ethan: „Die Opernleute ſeindt ſolche Canaillenbagage, daß ich Sie 
auſendmahl müde bin. Ich jage Sie zum Teufel und Solche Ca— 
naillen Kriegt man doch wieder, ich Mus Geld zu Kanonen und kann 
nicht ſo vühl Geld vor Faſelanten verthun. Ich wollte, daß Sie der 
Teufel Alle holete, die Canaillen bezahlt man zum Plaiſir und nicht 
riejirerei von Ihnen zu haben!“... Und dem großen Monarchen wird 
man doch gewiß nachruhmen, daß er für die darjtellende Kunſt in all’ 
Dee Zweigen Verſtändniß ſowohl als auch eine jtet3 gebebereite Hand 
ejejien hat. 

Daraus erwachjen denn all’ die Eigenichaften, aus denen die Na- 
turgefchichte des Schaufpielers bejteht. Bor allem ein Luxus, wie ihn 
fi) gewiß fein Stand erlauben kann, welcher aus dem mehr oder 
minder täglichen Verdienſt jein Einkommen bezieht. Natürlich jah es 
nicht immer jo wie heute in dem Heim aus, welches jich die Fürſtinnen 
der Bretter zu gejtalten belieben. Die Schaufpielerin Burgdorff, welche 
unter Goethe eine Hauptjtüge der Bühne in Weimar war, jchrieb eines 
Tages an ihn: „Was bleibt mir nad) Bezahlung meiner Schulden, die 
je auf fünfzig Neichsthaler belaufen, er, Ankauf eines Oberrodes, 

en ich jo nöthig brauche, da ich nichts warmes, nicht einmal ein 
warmes Unterkleid, nicht einmal ein warmes —— habe, da ich 
ſogar noch einen Koffer kaufen muß, da auch dieſer mir fehlt.“. . Man 
vergleiche damit den Luxus, in welchem ſich heute — Bühnen- 
— * gefallen. Als fi) Mademoijelle Schneider, Offenbachs 
erite „Boulotte“ und „Großherzogin von Gerolitein“, vom Theater zu— 
rückzog, konnte fie jich einen PBalaft bauen, um welchen jie von Fürften 
beneidet werden durfte. Adeline Patti beit Diamanten von einem 
Werth, wie diejelben höchjtens noch die Mitglieder der uralten Dynajtien 
Europas ihr Eigen nennen. Wenn jie in einer Stadt gajtirt, über- 
giebt jie ihre Kafjetten gewöhnlich einem VBerficherungsinftitut, Damit 
Diejes für diefelben einftehe. Jede neue Rolle, welche fie einitudirt, 
egt ihre Lieferanten in Aufregung. Die Koftüme, welche fie ſich an— 
chafft, die Noben, welche ihr Mr jede neue Tournee geliefert werden, 


Bur Haturgefchichte des Schaufpielers. 271 


ſtellt ſie ſtets aus wie den Trouſſeau, welchen eine fürſtliche Braut 
in die Ehe mitzunehmen gedenkt. Dieſer Aufwand der Künſtlerinnen 
eht von ihrem privaten Leben auch allmählich auf die Bretter über. 
Si treten in Kojtümen auf, weldye zu dem Geiſt der Rolle oftmals 
in frajjeitem Widerjpruch jtehen. Antonie Janiſch löſte ihren Kontrakt 
mit dem Burgtheater in Wien, weil ihr die Direktion dejjelben nicht 
die Mittel gewährte, deren jie bedurfte, um ihre Put: und Modejucht 
zu befriedigen. Man ließ fie ziehen, weil die Anjprüche dev Dame um 
vieles größer waren, al3 ihr gewiß allgemein anerfanntes Talent. Noc) 
mehr Aufjehen erregte ein Fall, welcher ſich vor einigen Jahren in 
Paris ereignete. Fräulein Jullien jtrengte einen Prozeß an wider 
Koning, den Direktor des Gymnaſe, weil diejer fie nicht von ihrem 
Kontrakt entbinden wollte. Ste erhielt 4500 Franken Jahresgage, be— 
auptete jedoch vor Gericht, daß ſie 6000 Franken für Kleider, 1000 
e für Hüte, 1000 für Handfjchuhe, 3000 für Wohnung und 8000 für 
Koft brauche. Das Gericht war vernünftig genug, die unfinnigen For— 
derungen diejer talentvollen jungen Dame einfach abzuweijen. Natür- 
lich tragen die Direktoren zum großen Theil jelber die Schuld an 
folchen Zuſtänden. Statt den maplojen Anfprüchen der eriten Kräfte 
vereint, vielleicht durch ein Kartellbündniß, entgegen zu treten, über- 
trumpfen jie ſich vielmehr in der Anjtrengung, — „Star“ für ihr 
Inititut zu gewinnen. So jpielen fie mit ihrer Erijtenz meiftens immer 
Babanque. Die nothwendige Folge ijt der fortdauernde Krach jo vieler 
oft anjehnlichen Bühnen. Die Hof: und Landestheater entgehen dem 
jelben gewöhnlich nur durch die Subventionen, welche ihnen gewährt 
werden. So fojtet die Oper in Budapeit für eine jede Voritellung 
dem Lande rund 2600 Gulden. Da muß jeder Unbefangene die Frage 
aufwerfen, ob man nicht dieje ungeheure Summe vortheilhafter ver: 
werthen fönne, als daß fie unter dem lächerlichen Borwande, wie wenn 
dadurch die Kunjt unterjtübt werde, dieſen Nimmerjatten von Sängern 
und Sängerinnen in den Schoß fließt. So bezieht die Turolla bei- 
fpieläweije allein eine jährliche Einnahme von 35,000 Gulden. Mit 
einem jolchen Einfommen, welches durch die andauernden Gaſtſpiele 
noch um ein Erflecliches erhöht wird, kann man freilich luxuriös leben. 
Allerdings frißt der Aufwand das meiste hinweg, Man weiß, daß 
Sarah Bernhardt troß der Millionen, welche fie verdient, von dem 
Erefutor wie von ihrem Schatten verfolgt wird. In Paris ftarb vor 
einigen Jahren die Schaujpielerin de Bongars im tiefiten Elend. 
Dabei erhielt jie die größten Gagen, welche damals einer Bühnen 
fünjtlerin gezahlt zu werden pflegten. Als fie in Petersburg gajtirte, 
gab fie dort einen Ball, welcher durch eine Bizarrerie das Tagesgejprüch 
der faihionablen Kreije bildete. Wie Marguerite Gautier für Kamelien, 
fo jchwärmte nämlich die de Bongars für Kirichblüten. Mit Zweigen 
Diejes Baumes von der eriten ———— Knoſpe bis zur prächtig 
entwickelten Frucht war nun der ganze Speiſeſaal dekorirt. Man kann 
ſich denken, welche Koſten dadurch — es war mitten im Winter und 
eine mörderiſche Kälte — verurſacht worden. Am nächſten Morgen 
kehrten die Diener allein für 10,000 Franken Kirſchkerne zuſammen. 
Solche maßloſe Verjchiwendung mußte ſich natürlich denn auch rächen. 
Wie die Alten ſummen, h, zwitjchern auch die Jungen, was, auf 


272 Zur Haturgefchichte des Schaufpielers. 


das Bühnenleben angewendet, etwa heißt: wie e8 die berühmten Künſt— 
lerinnen vormachen, wollen e3 auch die unberühmten nachthun. Da 
jie natürlich die entjprechende Gage nicht beziehen, juchen jie Ddiejelbe 
oftmals durch Nebeneinkünfte zu — — as iſt eins der trübſten 
Kapitel unſerer modernen Theaterverhä ae Die Mujen halten ji) 
die Ohren zu, wenn wir darauf zu jprechen fommen. Bejjer als taujend 
Beijpiele darakterifirt das eine einzige hübjche Anekdote, welche man 
von einer „renommirten“ Ballettänzerin neulich Eolportirte. Sie fam 
u ihrem Arzt und klagte ihm ihr Leid. „Doktor“, jagte jie, „ich werde 
eo ſtark, wi ich bald nicht mehr tanzen fann! Was ums Himmels 
willen joll ich dagegen tun?“ — „Ob, mein —— da weiß ich Rath! 
u Sie es, zwei Monate allein von Ihrer — age zu leben!“ 

it dieſer Gewinnſucht Hand in Hand geht eine andere bedauerns- 
werthe — welche aus jener reſultirt; der Mangel an Patrio— 
tismus. Wir begegnen demſelben vielleicht in keiner Klaſſe der mo— 
dernen — ſo pi und in jo Ba Weile, wie gerade bei 
den Bühnenfünjtlern. Wir weiſen nur auf das eine Beijpiel hin, wo 
ein Mitglied des Tor rag u Wien — der Name bleibe verſchwie— 
en — im Sahre 1866 bei dem Biene zwijchen Defterreich und Preußen 
emjenigen einen — ausſetzte, welcher die erſte Fahne des „feind— 
lichen“ Derres erobern würde. Und diejer „wadere“ war ein geborener 
Preuße. Das gejchah zu einer Zeit, wo die beiden Völker blutige 
Thränen über den unjeligen Bruderfrieg weinten und die Fürſten 
ſelbſt mit tiefem Weh im Herzen daran gingen, die Waffen über jtreitige 
Fragen entjcheiden zu lajjen. Man muß den franzöftichen Künjtlern 
nachrühmen, daß ſie in diefer Hinſicht mehr Charakter zeigen, als die 
meijten ihrer deutjchen Zunftgenofjen. Ihr Groll gegen die Sieger 
von Straßburg und Met geht gewiß zu weit und if in feinen über— 
fpannten Ausfällen oft albern, aber er jteht ihnen immer noch) bejjer 
als etwa der Mangel einer jeglichen Anhänglichkeit an die Heimat oder 
gar ein ———— Verleugnen derjelben. Wir brauchen nur zu er— 
Innern, wie jich Friedrich von Flotow, der Komponiſt der „Martha“, 
beim Ausbruch des deutjch-franzöfiichen Krieges benahm. Der geborene 
Mecdlenburger befundete damals einen Chauvintsmus, um welchen er 
von Herren Deroulede, dem befannten Führer der franzöfiichen Pa— 
triotenliga, beneidet werden dürfte Und die Heldenthaten Meiſter 
Hans von Bülows, welcher in Prag mit den die Deutichen jo 
mißachtenden Tichechen in fo wenig — Weiſe liebäugelte, 
7 ten — noch in aller Erinnerung. Beide ſind freilich eigent— 
ich keine Bühnenkünſtler, aber bei den innigen Beziehungen, welche 
ſie zu den Brettern unterhalten, können ſie mit si dazu gerech- 
net werden. Man fieht dann auch, daß der Dunſtkreis, welcher da= 
jelbjt herricht, ihre Anjchauung entiprechenderweije beeinflußt hat. Man 
werfe nicht ein, daß die Kunſt international ſei und jolche ängjtliche 
Rückſichtnahme nicht verträgt. Diejer Grundjag ijt nur jehr bedingt 
wahr; die Kunſt joll vielmehr eher als jede andere Thätigfeit Des 
Bolfsgeijtes den Ort und die Zeit wiederjptegeln, welche jie produzirt 
haben. Und jelbit wenn jener Sag unbedingte Geltung bejähe, jo bat 
der Künftler jelbjt fein Recht, ihn auch ke jeine Berfon in Anwen— 
dung zu bringen. Er gehört der Nation zu, welche ihm Bildung, 


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Zur Haturgefdichte des Schaufpielers. 273 


Lebensunterhalt und Heimatsrecht gewährt hat. Jedes Streben, jeder 
Verſuch, aus Reih' und Glied zu treten oder fich jo zu reden, daß er 
über die Mitlebenden hinausragt, bleibt eine — welche gerügt 
werden muß. Der Künſtler hat ſo ſelten ein Vaterland, weil er keins 
mag. Lilli Lehmann war mehr als ein Jahrzehnt Mitglied der Ber— 
liner Hofoper. Der Beifall, den man ihr zollte, die Anhänglichkeit, 
welche jie genoß, wußte fie nicht beſſer zu lohnen, als indem fie Fahnen 
flüchtig wurde und das Land der Dollars auffuchte Die Wilt hat 
mindeſtens eben jo lange in Wien gewirkt. Das hindert fie jedoch 
nicht, troß des augenjcheinlichen Bruce, wie er zwiſchen den Deutjchen 
und Tſchechen beiteht, auf der Bühne der Tegteren * Abkunft zu 
verleugnen. Dieſelbe Konzeſſion machte die Bianchi, welche ihren erſten 
künſtleriſchen Ruf Karlsruhe verdankt, in Budapeſt den Magyaren, 
und der Tenoriſt Schott, ein ehemaliger deutjcher Offizier, jingt in 
Stodholm in jedem Jdiom, nur nicht in dem feiner Heimat. Man 
hat ſich oft über die Gleichgiltigfeit, wenn nicht Abneigung gewundert, 
welche Klinik Bismard der darttellenden Kunjt gegenüber an den Tag 
legt. iv meinen, die Deutung liegt auf der Hand. Wahrſcheinlich 
widert den echt — Mann, den groß angelegten Charakter, ein 
ſolcher Mangel an Geſinnung und Patriotismus derart an, daß er die 
Sünden Einzelner mehr oder minder auf den ganzen Stand überträgt. 
Hand in Hand damit geht eine ſchrankenloſe Selbſtüberſchätzung, 

ein Stolz, welcher keine Grenzen kennt, eine Eitelkeit, welche die köſt— 
lichſten Kapitel liefern würde zu einem Werke über die menſchlichen 
Narrheiten. Der berühmte franzöſiſche Sänger Garat war der ver— 
hätſchelte Liebling des friſchgebackenen Hofes unter Napoleon J. Aber 
er war eben jo maßlos eitel, wie er bezaubernd ſchön ſang. Seine 
Putzſucht übertraf diejenige der Weiber. Als er nun eines Tages, bis 
zur Lächerlichkeit hergerichtet, auf den Hofwagen wartete, welcher ihn 
zu einer Soirée abholen ſollte, und ſtatt der ſtolzen Karroſſe, die er 
erhofft, nur ein Fiaker erſchien, weigerte er ſich, in dieſen zu ſteigen. 
Vergebens bat ihn der mn diesmal mit einem ſolchen Gefährt 
vorlieb zu nehmen, da jämmtliche Hofwagen in Bejchlag genommen 
jeien. Garat wüthete wie ein Beſeſſener und erflärte, bei dem Hof: 
fonzert nicht mitwirken zu wollen. „Sch habe aber den Auftrag Seiner 
Majeſtät“, verjegte der Huiſſier, „und ich werde denjelben unter allen 
Umftänden vollitreden. — „Das joll heigen: wenn ic) nicht gutwillig 
gehe . . .“ — „Sp muß ich zu meinem größten Bedauern Zwang an: 
wenden“, erwiderte der Abgejandte des Hofes. Zugleich jtredte er den 
Arm aus, um Garat3 Hand zu ergreifen. „Sie wollen mic) aljo 
wirklich zwingen, in jenem abjcheulichen Wagen zu fahren?“ rief diejer 
in der höchiten Extaſe. „Wohlan, jo jei es!. . .“ Dabei jpringt er — 
nicht etwa in den — ſondern auf die Straße, welche — es war 
Winter, und ein Regen, untermiſcht mit Schnee, hatte die Erde ge— 
lockert — einer Kothpfütze glich. Mit beiden Füßen, welche in zier— 
lichen, ſeidenen Strümpfen ſteckten, tritt er mehrmals in derſelben 
herum und ſtellt ji) dann, von oben bis unten beſpritzt und beſchmutzt, 
vor den genen „So, mein Herr“, jagt er dann, „jegt bin ich bereit! 
ühren Sie mich aljo in die Tuilerien!“ Dem Hutjjier blieb natür- 

ich nichts übrig, als ohne Garat den Heimweg anzutreten, und der 

Der Salon 1887, Heft IX. Band II, 19 


274 Bur Naturgefchichte des Schaufpielers. 


eitle Künstler jette jomit dur), was er jich in jeinem beleidigten 
u in den Kopf gejeßt. 
iefe Anmaßung und Weberhebung jcheint im Laufe der Zeiten 
geradezu gewa * zu ſein. Ein Beiſpiel möge das beweiſen. Das 
neu engagirte Mitglied eines Berliner Theaters ließ ſich im Kaffee— 
hauſe die Zeitungen des Ortes geben, wo er ehedem geweilt. „Ach“, 
ſagte ein Kollege, der neben ihm ſaß, „Ste möchten wohl wiſſen, wie 
Ihr Nachfolger gefällt? — „Mein Lieber‘, antwortet unſer Mime 
mit Stolz, „ich habe überhaupt feinen Nachfolger!“ ... Und nod) ein 
fernerer Fall, welcher unjere Behauptung beinahe noch Eöjtlicher illuftrirt. 
Ein junger Schaujpieler von jener Spezies, deren ng be wir 
hier zujammenjtellen, erfältete ji) und huſtete einige Male während 
der. grobe „Sie jcheinen ſich jtark erfältet zu haben!“ bemerkte der 
Direktor bejorgt. „Sie e De Daraus“, erwiderte der Mime jelbit- 
bewußt, „daß auch wir Künjtler nur jterbliche Menjchen find..." Noch 
ſchwieriger geitaltet jich der Verkehr mit den Vertreterinnen des jchönen 
Geſchlechts. Lumly, der Impreſario der italienischen Oper in „Her 
Majestys Theatre“ zu London, erzählt in feinen Memoiren, welche 
er ım Jahre 1864 veröffentlichte, daß ihm in jeiner an Verlegenheiten 
und Verdruß jo reichen Laufbahn nichts im Leben jo viel Mühe ver: 
urjacht habe, als das Arrangement eined Pas de quatre, in welchem 
er der Londoner Gejellichaft die vier berühmteiten Tänzerinnen des 
damaligen Europas vorzuführen gedachte. Nach Bejeitigung von un: 
ähligen Hinderniffen umd — den Aufwand von unglaublichen 
oſten gelang es ihm u in der Saijon von 1846 Marie Taglioni, 
Lucile Grahn, Carlotta Griſi und die Eerito in London beifammen zu 
haben. Doch nun, wo alles erreicht gu jein jchien, begannen erit die 
wirklichen Schwierigkeiten. Es lag in der Natur diejes Pas de quatre, 
daß der theatraliiche Effekt ſich allmählich jteigerte und daß en die 
ulegt erjcheinende Tänzerin gewijjermaßen die wichtigite Rolle jpielte. 
* der vier Jüngerinnen Terpſichores wollte — die letzte ſein; 
nad) den mühſamſten Verhandlungen ward dieſe Ehrenſtelle in Berüd- 
fihtigung des Weltruhms, welchen fie genoß, der Taglioni eingeräumt. 
Nun hoffte Lumly gemwonnenes Spiel zu haben. Der Abend für die 
Vorſtellung fam; man riß ſich um die Billets. Aber kaum eine Stunde 
vor Beginn des Ballets eilte der Regiſſeur zu dem im Glüde jchwel- 
genden Im reſario: Die Vorſtellung fünne nicht ftattfinden — die Cerito 
wolle durchaus nicht vor der Griſi tanzen und die Griji nicht vor der 
Cerito ... Einen Augenblid war auch Lumly wie niedergejchmettert. 
Dann aber zeigte ſich 2 Welterfahrenheit und Geiftesgegenwart im 
glänzenditen Lichte. „Sagen Sie“, antwortete er mit flo er Ruhe, 
„ven Damen, daß bei jo gleichen Talenten natürlich der Uelteren von 
ihnen der Soräug gebührt.“ Der Regiſſeur a ae mtit 
pfiffigem Lächeln auf den Lippen kehrte er auf die Bühne zurüd. Die 
beiden Rivalinnen sogen e3 denn auch vor, jich jeinen Anordnungen 
zu fügen, jtatt ihren Zaufjchein zu produziren. So fam denn endlich 
ein Pas de quatre zujtande, wie die Welt noch feines gejehen und 
wie fie es vielleicht nie wieder jehen wird. 
Ueberhaupt iſt das Alter eine — ‚welche den Bühnen— 
künſtlern manchen Kummer verurſacht. Die Art und Weiſe, wie man 


Zur Haturgefchichte des Schaufpielers. 275 


ſich damit abfindet oder diejelbe zum Schweigen bringt, hat. manche 
launige Anekdote gezeitigt. Der verjtorbene Alfred Meißner erzählte 
oft, welche Verlegenheit Emil Devrient empfand, wenn er einmal, bevor 
er richtig „hergerichtet“ war, von einem Bejuche überrumpelt wurde. 
Wenn nun jchon der Mann jo eitel ift, um wie viel mehr nicht erft 
die Frau! Nichtädejtoweniger giebt es immer einige Plaudertafchen, 
welche die Geheimniſſe des Toilettentiſches weiter erzählen. Wir jelber 
jind in der Lage, das Alter einiger berühmten Schaujpielerinnen dem 
Leſer mitzutheilen. Danach ze It Sarah Bernhardt 42, Chriſtine 
Nilsjon und Adeline Batti 43, Pauline Lucca 46, Jenny Lind 50 
Nr: Beſonders das Ballet ſteht in dem Rufe, da die Vertreterinnen 
dejjelben eine anjehnliche Laft von Jahren bei ihren Pirouetten und 
Entrechats mit ſich herum freifeln. Natürlic) fommt das nur in der 
dritten oder vierten Quadrille vor, während die beiden erjten, welche 
dicht an der Rampe getanzt werden, vor Jugend und ——— ſtrahlen. 
Haie B. vom Corps de Ballet einer großen Oper fommt eines 
torgens umvermuthet zu a: Kollegin, Fräulein C, und trifft dieſe 
erade bei der Toilette. „Was“, ruft die erjtgenannte Ballerina, „Du 
bi bereit3 graue Haare!" — „Sa“, erwiderte Fräulein E. in einiger 
erlegenheit. „Sie find mir in einer einzigen Nacht infolge eines 
roßen Schmerzes grau geworden!" Am nachften Tage fommt Fräu— 
ein B. wieder zum Beſuch. Diesmal aber hat die Kollegin ihre Toilette 
bereit3 beendet, und mit Hilfe der diverjen bewährten Tinkturen er- 
glänzen ihre Haare wieder wie ſonſt in ſchönſtem Schwarz. „Ah“, ruft 
etwas boshaft die leichtbeichwingte Berufsgenoffin, „heute jind Deine 
Haare ja wieder ſchwarz!“ — Kt erwiderte ‘Fräulein E., „Die find 
in —— Nacht infolge einer großen Freude wieder ſchwarz geworden.“ 
in ferneres Merkmal des geſammten Schauſpielerſtandes iſt der 
Mangel an Kollegialität. Der Trieb, ſich hervorzuthun, hat der dar— 
ſtellenden Kunſt ohnehin ſchon manchen harten Schlag verſetzt. Ihm 
verdanken wir das moderne Virtuoſenthum, jene ewigen Gaſtſpieler 
und Gaſtſpielerinnen, welche in ihren — ollen von Ort zu Ort 
reiſen, nur darauf bedacht, Ruhm und vor allem natürlich — Geld 
u ernten. Gerade der echt künſtleriſche Eindruck einer kn 
as Zuſammenſpiel, wird dadurch vernichtet. In dem Schaujpieler 
ſelbſt erjtehen allerhand irrige Anjchauungen, nicht nur bezüglich der 
Kunst, welcher er angehört, jondern aud) in Betreff_jeiner eigenen 
chägenswerthen Perjönlichkeit. Er hebt jich über den Rahmen hinaus, 
in welchen er gehört; er verlernt eine der wichtigiten Eigenjchaften, 
welche jedem Stande der modernen Gejellichaft eigen fein joll: den 
Sinn für Kollegialität. Wir brauchen nur die Namen Sarah Bern- 
hardt, Adeline Patti, Ludwig Barnay, Theodor Wachtel zu nennen, 
um von unjeren Leſern jofort verjtanden zu werden. Cine Reihe 
di minorum gentium, welche der Ruhm jener nicht jchlafen läßt, eifert 
ihnen in diejem Herumirren von einer Stadt zur andern nad). Unter 
einander aber Liegen ich die berühmtejten Künftler eben jo gut in den 
aren, wie Die — Lori Stubel und Franziska Raberg 
— ſich dieſelben einmal thatſächlich hinter den Couliſſen ng Seal 
eranlafjung zu diefem merkwürdigen Frauenkampf bot der Beifall 
ihrer Anbeter, welcher nach der Anficht diefer ruhmbedürftigen Prima: 
19* 


276 Bur Nalurgeſchichte des Schaufpielers. 


donnen der Operette ungerecht vertheilt worden war. Bei dieſem Duell 
joll thatlächlid Blut ehoffen jein. Etwas milder fiel das Intermezzo 
aus, welches die Mallinger und Lucca etwa vor einem Jahrzehnt ın 
Berlin auf der Bühne des Opernhaufes veranitalteten. Man gab die 
„Hochzeit des Figaro“ — eine Oper, welche durch das Zuſammenwirken 
der beiden damals auf dem Gipfel ihres Ruhmes ftehenden Sängerinnen 
eine überaus große Anziehungskraft ausübte. Das hinderte die Mallinger 
nicht, eine Skandaljcene der a eig Art herbeizuführen. Sie fang die 
Sujanne, die Lucca den Cherubim. In der Scene nun, wo die Kam— 
merzofe dem Pagen wegen jeiner Schelmereien einen leichten Baden- 
jtreich zu geben hat, vernahm man eine jchallende Ohrfeige. Man kann 
jich die Beitürzung des Publikums denken. Die Lucca jchrie laut auf, 
um dann Hinter die Couliſſen zu jtürzen. Der am ſich jchon peinliche 
Vorfall hatte injofern noch feine bedauerlichen Konjequenzen, als Berlin 
dadurch jeiner beiden Primadonnen beraubt wurde. Es war aljo wie 
der einmal die Kunjt, es war das Publitum, welches leiden mußte. 
Auch jonjt giebt es manche Kleine Bosheit, mit denen Nic die Heldinnen 
der Bretter das Leben würzen und — vergällen. Die Nilsjon, welche 
wenigitens den Schein der Jugend zu bewahren wußte, bewundert 
gern die Stimme der Batti „ber jolchem Alter.” Die Patti, welche 
doch feinesfalls jünger iſt, wie wir oben mitgetheilt, meint nichtsdejto- 
weniger, daß jie überglüdlich fein werde, im Alter der Nilsjon „noch“ 
jo zu fingen, wie jene. Und Etelfa Gerjter, welche doc auch ſchon 
eine hübjche Reihe von Jahren hinter ſich hat, jeit fie bei Kroll in 
Berlin „entdect“ wurde, jpricht mit Entzüden von ihrer „Kinderzeit“, 
wo fie dem herrlichen Gejange der Patti und Nilsjon lauſchte. Man 
jieht, welche liebenswürdige Herzlichkeit die Damen für einander ent- 
wideln. Welches Bouquet von feinjtichelnden Bosheiten aller Art müßte 
erit zu Tage treten, wenn es gelänge, all’ diefe erjten Größen der Bühne 
zu einem — beiſammen zu wiſſen! 

Andererſeits können ſie freilich auch bezaubernd liebenswürdig ſein. 
Natürlich hat ſolche Anwandlung zumeiſt ihren guten Grund. Sie 
verſtehen es vorzüglich, dem Direktor ſich unterzuordnen, wenn es ſich 
darum handelt, eine gute Rolle zu bekommen, oder die Gerechtigkeit 
der Kritik zu rühmen, wofern ſie ſelbſt von dieſer mit Lob bedacht wor— 
den. Um ihr Ziel zu erreichen, übertünchen ſie ſogar die eigene Eitel— 
keit und geben ſich Mühe, die Schwächen anderer zu ergründen und 
zu — überrumpeln. Heinrich Marichner, der berühmte Er des 
„Hans Heiling“ und des „Vampyr“, litt an einem Selbitbewußtjein, 
um welches ihn mancher Schaufpieler jener und der heutigen Zeit be= 
neiden dürfte. Bei der Stellung, welche er in den Kunſtkreiſen Han— 
novers inne hatte, bejaß er natürlich bei Engagements die Ausfchlag 
gebende Stimme. Beides erfuhr der Tenorift Nigelli, als er ji) um 
eine Stelle bei dem dortigen Hoftheater bewarb. Nun entwarf er fol- 
genden Plan. Er ging in die Wohnung Marjchners und ließ ſich an= 
melden. Er wurde auch angenommen. Nigelli Elopft leife und zaghaft 
an, „Herein!“ erjchallt e8 aus dem Arbeitszimmer des Kompontiten. 
Nigelli aber rolgt dem Rufe nicht, jondern wiederholt nad) einer Pauſe 
das Klopfen. Wieder ertönt aus dem Innern des Zimmers ein „Herein!“, 
nur räftiger, als vorhin, wohl aber mit demjelben Erfolg. Der Tenorift 


Zur Raturgefdichte des Schauſpielers. 277 


Öffnet noch immer nicht, jondern Elopft zum dritten Male. Da hört 
er drinnen einen Stuhl zurüdichieben, einen fernigen Fluch und rasche 
Schritte. Im nächſten Augenblick wird die Thür hajtig aufgerifien, 
Marſchner ericheint und ruft den Wartenden barſch an: „Zum Don: 
nerwetter, Herr, jind Ste denn taub!“ Zitternd wankt Nigelli zurüd, 
lehnt jich an die Wand und jtammelt in höchiter Befangenheit: „O, 
o — Ver—zei— hung, meine — meine — meine VBer—mejjen—heit!“ 
Mearjchner tritt näher, mujtert den Zitternden und jagt theilnahms- 
voll: „Sind Sie franf? Iſt Ihnen etwas zugeſtoßen?“ — „OD nein! 
— Aber — meine Kühndeit! Bitte! Laſſen Sie eben!“ Der 
Komponift, neugierig gemacht, nöthigt den jeltiamen — in ſein 
Zimmer und bietet ihm einen Stuhl an. Zögernd folgt ihm Nigelli. 
„Run? Wird Ihnen wohler“, fragt Marjchner. — „Ach nein! Ich 
habe mich überjchägt! Ich will Iteber doch gehen“, verjegte Nigelli. 
— „Ueberichägt? Wie das?" — „Ic jtellte es mir leichter vor, dem 
größten Muſiker aller ag gegenüber zu jtehen. Ich wollte meine 

timme von ihm prüfen lafjen! Und jest, wo ich mich in jeiner 
Nähe befinde, fühle ich mic ſchwach wie eın Kind! In kurzen, ab- 
erijjenen Sätzen jtieß der Tenoriſt dieſe Worte hervor, während jeine 
Blide an dem Boden hafteten. „Nun, fallen Sie fich, lieber Freund“, 
erwiderte Marjchner wohlwollend. „Ic glaube Ihnen gern, da Sie 
aufgeregt Um und fann mir Ihre Befangenheit jehr gut erklären. 
Aber nur Muth! Sie jehen, dat große Männer nicht Jo unnahbar 
jind, wie Sie glauben!“ — „Mein Gott! Ich bin aljo wirklich hier 
in den gebeiligten Räumen, wo die Kunſtwerke entitanden find, in 
denen mitzuwirken ich das Glück hatte!“ — „Sie haben in meinen 
Opern mitgewirkt“, unterbrach Mearjchner den jchlauen Tenorijten. 
„Dann müſſen Ste mir etwas vorfingen! Kommen Sie jchnell ans 
Klavier!" Nigelli fang, und am nächjten Morgen hatte er einen drei: 
jährigen glänzenden Kontrakt in jeiner Tajche. 

"rie rich Haaje, der außerordentliche Bonvivant und Charakter: 
jpieler, gilt unter jeinen Kollegen für das Nonplusultra der Liebens- 
würdigkeit. Bejonders die Damen wijjen feine Ritterlichfeit nicht ge- 
nug zu verhimmeln. Trotz des Vorraths von Schmeicheleien, über 
— er verfügt, kommt es vor, daß er bei ſeinen ————— dieſelben 
Manöver anwendet. Dadurch hat er einmal einen heilloſen Unfrieden 
angeſtiftet. Eine Heldenmutter und eine Soubrette rühmten ſich ihrer 
— natürlich nur freundſchaftlichen — Beziehungen zu dem großen 
Kollegen, wobei eine jede erzählte, Haaſe habe Br tief, vecht tief in 
die Augen gejchaut und mit weicher, vibrivender Stimme gemurmelt, 
diejelben gleichen zwei ungejchriebenen Novellen. Man kann ich die 
Enttäufchung der beiden Damen denken, als fie zu der UÜeberzeugung 
famen, dab der galante Kollege ihnen nur dasjenige Kompliment ge- 
macht, welches vielleicht noch ein Er anderer vernommen hatte. 
In jedem Fall iſt Höflichkeit im Verkehr hinter den Couliſſen jenit 
nicht immer die Regel. „Höre Du“, jagt ein Schaufpieler zum andern, 
„das muß doch wieder eine verdammte Arbeit gewejen jein, zu Deiner 
heutigen Leiftung die Kanone auf den Schnürboden zu ſchaffen!“ — 
„Kanone? Welche Kanone?“ — „Nun die, unter ae u gejpielt 
haft!” Am miplichjten iſt jedoch befanntlic) das Verhältniß der 


278 Bur Naturgeſchichte des Schaufpielers. 


Bühnenkfünftler zu der Kritik. Dieſes Thema iſt jo ernjt und weit, 
daß wir es hier nur jtreifen können. Auch muß man leider zugeben, 
daß mit dem Urtheil nicht immer Leute betraut find, welche verdienen, 
daß fie ein jolches fällen dürfen. Nur zu oft werden von jenjationd- 
lüjternen Blättern Privatangelegenheiten des Bühnenkünjtlers, welche 
mit feinem Beruf abjolut nichts zu thun haben, in die Deffentlichkeit 
ezerrt. Hier waltet noc) ein Abolutiemus, dejjen heiljame Bejchrän- 
ung ein jeder willfommen heißen muß, welcher ein ernites, wahrhafs 
tes Gedeihen der darjtellenden Kunſt vor Augen hat. 

VBorläufig findet man dies Ziel bei den meijten der Schaufpieler 
jelbft am allerwenigjten angejtrebt. T Berjon jteht ihnen höher 
als die Kunſt. Ste treten lieber in Jogenannten Baraderollen auf 
als in Stüden von wahrhaft ethifchem oder Literariichem Werth. Sie 
wagen es jogar, ein folches zu verjtümmeln oder umzugeitalten, wenn 
fie ſich dadurch in den Vordergrund des Intereſſes rüden können. 
Als Marie Seebad), einſt Deutichlands berühmtejtes Klärchen und 
Gretchen, auf der Höhe ihres Ruhmes jtand und von Ort zu Ort 
zog, um ich in diefen beiden Rollen bewundern zu lafjen, jchrumpf- 
ten Goethes betreffende Bühnenmwerfe bis zu den Scenen zujammen, in 
welchen fie auftrat. So wurde der ganze Theil des „Fauſt“ geopfert, 
welcher vor dem Slirchgange Gretchens Liegt. Zuweilen hat jolche 
Berunjtaltung eines Bülhnenftüdes noch ganz andere Motive. Als die 
Nilsſon auf ihrer legten großen amerifantichen Tournee auch das 
Gretchen in Gounods „Fauſt“ jang, trug fie die herrliche Ballade vom 
„König von Thule“ nicht etwa am Spinnroden vor, jondern an einer 
Nähmaschine, welche den Namen des Fabrifanten in großen eleftrijch 
— Buchſtaben zeigte. Die „Künſtlerin“ ſoll für dieſe Art 
von Reklame, für welche ſie ſich hergab, eine erkleckliche Summe ver— 
dient haben. Mitunter — liegen zwingende Gründe vor, wenn 
man ſich daran macht, ein Bühnenſtück — Oft findet 
auch die Komik ihre Stätte. So brachte ein kleines Provinzialtheater 
in Oeſterreich jüngſt Schillers „Fiesko“ zur Darſtellung. Die Scenerie 
bereitete der Truppe, welche in einem Reſtaurant ſpielte, manche 
Schwierigkeit. Zumal konnte man ſich mit dem letzten Akt, wo der 
Graf in das Meer geitürzt wird, nur jehr jchwer abfinden. Eine 
Verjenfung war natürlich nicht vorhanden; ebenjowenig fonnte eine 
Erhöhung hergeftellt werden. Im Schoße der Schmiere wurde num 
lange Zeit hin und ber berathen. Endlich fam ein findiger Künftler- 
fopr auf das allein Richtige. Man ließ im gegebenen Augenblid eine 
Bank hereinbringen, auf dieſe wurde der Held gelegt und ihm mit 
dem Rohritod gutgezählte fünfundzwanzig Hiebe aufgedrüdt. Das 
Publikum joll jich ganz vorzüglic, dabei unterhalten haben. Ob aber 
die Mufen mit diejer Interpretation eines der Werke ihres Lieblings 
einverstanden waren — das willen die Götter! 

Aber am jchwierigjten wird es ſtets den Direktoren und Regifjeu- 
ven fallen, mit diejen durch) das Talent oder irgend einen andern 
Umstand auf den Gipfel des Ruhmes gehobenen Kindern des Glücks 
auszufommen. Man mag über den verftorbenen Generalintendanten 
Botho von Hülſen denfen wie man will; aber anerfennen muß man 
jedenfalls die eijerne Disziplin, mit welcher er die vielen ihm unter- 


Bur Haturgefchichte des Schaufpielers. 279 


ftellten Bühnen leitete. Wenn der Laie ein Bühnenſtück fieht, wie es 
fih jo glatt abwidelt und all die tauſend Einzelheiten, wie durch 
einen natürlichen Organismus bewegt, ineinander greifen, vermuthet 
er jchwerlic), wie viele Menfchen, diveft und indirekt, dazu ihre Kräfte 
Dergegeben haben. Und wahrſcheinlich iſt mit allen leichter auszu— 
ommen gewejen als mit den wenigen Meenjchenfindern, welche fich in 
dem Befige einer jogenannten Hauptrolle befinden. Die Annalen der 
Bühne jind angefüllt mit ärgerlihen Scenen, welche durch den Eigen- 
finn der Dariteller herbeigeführt wurden. Lulli zerichlug feine Vio— 
line auf dem Kopfe eines widerjpenjtigen Sängers, und Händel jagte 
eine kapriciöſe Künmjtlerin von der Bühne hinweg. Am meijten hatte 
wohl jeiner Zeit Glud in Ki leiden. Bei den Proben zu 
Orpheus“ verjegte er einem Darjteller jolche Rippenſtöße, daß diefer 
heulend davonlief. Denn Gluck war groß und jtarf, eine echte Recken— 
figur, welche jich mit den Intriguen der Coulijjenwelt jofort Fahr, 
auseinander jegte. Als Bejtris, der Gott des Ban wie er fi 

felber nannte, behauptete, daß er nach der Al des Deutjchen 
Maeftro feinen Fuß bewegen fünne, padt ihn dieler, hebt ihn auf 
feinen Arm, trällert eine Melodie aus der eben fomponirten Iphigenie 
in Aulis und läßt den fi) Sträubenden wohl oder übel nad) der- 
felben herumjpringen. „Sehen Sie wohl, Monfieur Veſtris“, jagte er 
Dann, „daß es fi nad) meiner Mufif jehr gut —— Aller⸗ 
dings durfte ſich das Gluck nur erlauben, weil ihm die junge Königin 
Maria Antoinette bei ſeinen muſikaliſchen Reformen zur Seite ſtand. 
An der Wiener Hofoper kam übrigens vor einigen Jahren ein kaum 
minder energiſches — vor, als der Oberregiſſeur Tetzlaff die 
Altiſtin —* Papier, welche ſich weigerte bei der Aufführung die 
Stelle einzunehmen, welche er ihr anwies, kurzweg beim Arme packte 
und dorthin führte. Damals ſchwebten ernſtliche Kriſen über dem aus— 
gezeichneten Enſemble dieſer Muſterbühne. Es ſchien, daß dieſelbe 
entweder die jugendfriſche Stimme der Sängerin oder die bewährte 
Kraft des ————— Regiſſeurs einbüßen werde. Wer nachgab, 
war natürlich die Künſtlerin; eine andere Löſung hätte den ſceniſchen 
Organismus an dieſer Bühne für lange Zeit geradezu unmöglich ge— 
macht. Zuweilen genügt auch die Lijt, um jolche widerjpenjtige Pri- 
madonna zur Nachgiebigkeit zu veranlafjen. Bor einigen Jahren 
beſaß das Theater an der Wien in Zerline Druder eine Sängerin, 
welche jehr viel Stimme, aber wohl noch mehr Launen aufwies. Be- 
fonders in der Kunſt des „Abjagens“ war fie eine Birtuofin. An 
Gründen fehlte e8 ihr niemals; der Zweck war jedenfalls zumeiſt 
nur, der Direktion oder dem Publikum ihre Unentbehrlichfeit plaufibel 
zu machen. So wandelte ſie wieder einmal die Luft an, der für den 
nächſten Tag feitgejegten Vorjtellung ihre Mitwirkung zu — 
Nun beſaß eben jene Bühne an dem Tenoriſten Joſeffy ein Mitglied, 
welcher gerade die Eigenjchaften bejigt, welche man in der Natur: 
eſchichte der Schaujpieler leider in dem jelteniten Fällen antrifft. 
&ofeffn hörte nun gerade, wie die Druder ihrer Garderobiere den 
Auftrag giebt, daß ii die Direktion von ihrer re ſogleich ver- 
ftändige. Der Künſtler, welchen das empört, thut, als ob er nichts 
vernommen, fondern wendet jtch jcheinbar gleichgiltig an einen Kolle- 


280 ur Haturgefchichte des Schaufpielers. 


en. „Weit Du jchon“, jagt er ganz laut zu diefem, „daß König 
Milan morgen zu uns in das Theater kommt?" Das wirkte. Das 
noch eben „erkrankte“ Fräulein Drucder rief jchnell ihre Garderobiere 
zurück und flüjterte ihr etwas in das Ohr. Am nächjten Abend war 
die Kiünftlerin eine der erjten hinter den Couliſſen. Sie legte ſich 
die ſchönſte Schminke auf und fragte in allen Zwiſchenakten ſämmt— 
liche Theaterleute vom Portier bis zum Regiſſeur: „Sit der König 
ihon da?" König Milan fam natürlich nicht, aber Fräulein Druder 
hat gejungen, die Vorjtellung war nicht gejcheitert, und Herr Joſeffy 
achte ſich ins Fäuſtchen. 

Uns blendet das FFlittergold der Bühne zumeiſt derart, daß wir 
denen, welche es tragen, ein ungerechtfertigtes htereffe zuwenden. Mit 
dem Gelde, welches die Bouquets am Benefizabende einer Diva Eoiten, 
fönnte man der Armuth manche Thräne ftillen und viele Laib Brod 
faufen. In Berlin hat ein Verehrer jeiner Schönen innerhalb einer Hülle 
von Nojen und BVeilchen einen Hund auf die Bühne reichen lajjen. 
Die Dame, welche eine bevorzugte Stelle am Walhallatheater einnahm, 
hatte ich ein jolches Thier, natürlich von der edeliten Raſſe, ge 
wünjcht, und unjer Seladon war gejchmadlos genug, ſig dieſer Art 
von Huldigung zu bedienen. Noch ein merkwürdigeres Geſchenk er— 
hielt die Sängerin Leonhardi jüngſt in Padua. Sie bekam einen 
anz winzigen Veilchenſtrauß a allein die Hülle, welche die 
* umgab, beſtand in der Anweiſung auf eine jährliche Rente 
von 1000 Lire. Dafür jolle jich die Dame, wie der anonyme Spen- 
der anräth, ihren Bedarf an Veilchen faufen, welche jie ja jo jehr 
liebe. Der Tenorijt Götze, die Zierde der Oper zu Köln, wollte im 
verflofjenen Jahre jeinen Kontrakt mit diefer Bühne löjen. Er nahm 
aber von dieſem Vorhaben abitand, da ihm ein Millionär in Köln 
mittheilte, ev werde ihn zum Erben jeines folojjalen Vermögens ein- 
jegen, wenn er jich verpflichte, in Köln zu bleiben. Und Amerika, 
das Land der Ertreme aller Art, geht jogar jo weit, daß es die Loko— 
motiven mit den Namen jeiner großen Bühnenkünſtlerinnen belegt. 
AM das find Erzentrizitäten, durch welche die Selbjtüberhebung der- 
jelben nur noch gejteigert werden muß. Wir find weit davon entfernt, 
den Rath zu ertheilen, daß man unjere Weenjchendariteller wieder zu 
jener Partajtellung herunterdrüden möge, in welcher fie ſich ehedem 
befunden habe. Aber dieſes olympijche Dajein, welches jie jegt zumeiſt 
in der Gejelljchaft genießen, können wir ebenjowenig für gerechtfertigt 
halten. Bei den jozialen Reformen, mit denen man jtc heute jo gern 
bejchäftigt, vergejje man ja des Schauſpielerthums nicht. ch gebt 
es gar viel zu bejjern und zu modeln, jonjt könnten die Bäume in 
der That einmal in den Himmel wachjen! 

Aljo wer trägt die Schuld an diejer Ueberhebung eines Standes, 
welcher gerade durch jeine engen Beziehungen zu der jchönjten aller 
Künſte, der Darjtellung des Menſchen, dazu berufen jein jollte, fitt- 
lichend und veredelnd zu wirken! Gewiß das Publifum, wenn es in 
einem überjpannten Enthufiasmus Sängerinnen die Pferde aus dem 
Wagen jpannt, um jelbjt die entwiürdigende Arbeit des vierbeinigen 
Zajtthiers zu übernehmen. Wobei übrigens hervorgehoben werde, daß 
den Vertreterinnen des Dramas als der edeljten Art der daritellenden 


ur Haturgefchichte des Schaufpielers. 281 


Kunst jolhe Gunjtbezeugung viel jeltener zutheil wird als jenen Kolle- 
innen, welche das Metall ihrer Stehle ae jo geſchickte Weiſe in wirf- 
iches umzujegen verjtehen. Ein neuer Beweis, daß unjer Gejchmad 
in Kunſtfragen gegenüber denjenigen früherer Epochen entjtellt und 
irre geleitet iſt. Natürlich die große Menge, welche ihren Lieblingen 
auf der Bühne alle Unarten, jogar alle Sünden verzeiht, um jie da- 
für mit Beweien der Gunſt, wie Diejelben oben aufgezählt wurden, 
geradezu zu überjchütten! Aber der Urgrund dieſes Uebels Liegt 
anderswo. Er geht von einem Theil der Preſſe aus, welcher jeine 
Aufgabe darin erblidt, die Kunſt jelbjt unter den Künſtler herab— 
— und wie dieſen über den eigenen Werth, ſo vor allem 
as Publikum über den des letzteren zu täuſchen. Beſonders die 
großen Metropolen bilden einen — Herd für ſolche An— 
ſchauungen. Es giebt in Berlin, Wien und Paris eine ganze Reihe 
von er welche es jich zur Aufgabe gemacht, das Publikum mit 
allerhand Nachrichten zu füttern. Der Mops der Niemann - Raabe, 
der Schwan der Wolter, der Stanarienvogel der Lucca — das jind 
weltbewegende Fragen nach der Anjicht der Herren, welche mit der 
Redaktion betraut nd. Das vor allem die Schilderungen der Koſtüme, 
in denen eine Diva auftritt, wichtig erjcheinen, iſt nachgerade jelbjt- 
verjtändlich; eine jolche Kritik wird gewiſſenhafter abgefaßt als jene, 
— ſich mit dem Geiſt der Rolle beſchäftigen joll. Hier Zeilen, 
da Spalten; hier Phrajen, da Studien: das etwa ijt das Verhältniß 
wijchen beiden Arten der Abwägung. Ein Berliner Blatt, welches 
dh bejonders in diejer Hinficht hervorthut, veröffentlichte im Sommer 
ein Feuilleton, welches ſich mit der Villegiatur befannter Schaujpieler 
beichäftigte. Wir 5 gewiß im Sinne unſerer Leſer: was in aller 
Welt geht das die Menſchheit an, ob Niemann in Kiſſingen und die 
Voggenhuber in Karlsbad weilt, ob Herr Oberländer eine Entfettungs— 
kur gebraucht oder Frau Mallinger auf irgend einer Rax ihre ge— 
ſchwündenen Kadenzen und Triller wieder je gewinnen hofft! Natur: 
li) fehlen auch die Pilanterien aus der Coulifjenwelt nıht. Wenn 
es jchon mißlich genug ift, daß das Privatleben jo vieler Bühnen: 
mitglieder von demjenigen abweicht, welches ſonſt der Durchjchnitts- 
menjch führt und führen darf — warum in aller Welt eg noch in 
die Deffentlichfeit zerren und zum Zweck einer jehr zweifelhaften 
Neklame mit allerhand pifanten Zuthaten verbrämen! 

Wer die Verhältniſſe, wie jie zwijchen dem Theater und der 
Tagesprejje bejtehen, etwa beleuchtet, würde zugleich einen der böfen 
Krebsichäden bloßlegen, an welchen die letztere krankt. Ihr zumeiſt 
iſt es zu danfen, daß das Theater gejellichaftlic und literariſch ein 
Uebergewicht gewonnen, welches betrübende Ausjicht in die Zukunft 
ewährt. Der Werth) der geiltigen Produktion ijt verjchoben und ent: 
tellt worden. Lohnend erweijt ſich nachgerade nur noch diejenige n 
die Bühne. Wenigitens wird die andere in feinem Verhältniß zu der 
leteren geachtet und honorirt. Ein — Buch, welches eben 
auf den Büchermarkt gelangt, wird todt geſchwiegen, wenn nicht irgend 
welche Umſtände, die verſchiedener Natur ſein können, eine Beſprechung 
erzielen. Dafür läuft aber die Notiz, daß in ag ee oder in Teterow 
Francisca Elmenreih mit Erfolg gaſtirt hat, jofort durch ſämmtliche 


282 ur Haturgefhichte des Schaufpielers. 


—— Selbſt berühmte Namen müſſen unter dieſem Vorzug 
eiden, welchen die Tagespreſſe dem Theater einräumt. Eine Novelle 
von Hans Hopfen, ein Roman von Gottfried Keller wird gewiß jel- 
ten eine jo ergiebige Bejprechung finden, wie etwa eine Novität 
von Mojer oder Schönthan. Und wir huldigen nun einmal der An- 
ficht, daß Hopfen und Keller auf dem deutichen Parnaß denn doc) 
eine wichtigere Stellung einnehmen als die Herren von Mojer und 
von Schönthan. 

Wenn nun der eben jfizzirte Theil der Tagespreffe jchon ein 
Unrecht. begeht in der Se — der Bühnenliteratur vor der 
übrigen, jo wird Ddiejes nachgerade zur Sünde, wenn man bedenkt, 
wie die daritellende Künjtlerichaft über das Schriftitellerthum gehoben 
ericheint. Man legt eine Brejche in den eigenen Stand; man er- 
niedrigt ihn zu — — für einen andern, welcher nur ſehr 
bedingter Weiſe beſſer iſt. Er iſt es in der That in dem geſchäftlichen 
Gemeinſinn, im engen Zuſammenhalten der einzelnen Individuen zu einer 
roßen, nach außen hin abgegrenzten Körperſchaft im Vertuſchen und 
Berthelbigen der Schäden oder Schwächen, in der Bereitwilligfeit ſich 
egenjeitig zu helfen, wenn Noth oder Unglüd einmal Einkehr halten. 
Über hat etwa das Schriftitellerthum einen Verband, welcher ſich auch 
nur im entfernteiten mit Der gli der deutſchen Bühnen- 
angehörigen vergleichen Liege! Der arme —— iſt dem Pros 
fetariat ausgejegt, der Schaujpieler in gleicher Lage findet in der 
Stunde der Noth eine angemefjene — Die Errichtung 
diejer Genojjenjchaft bleibt eine That, durch welche ſich die Schau— 
jpieler Deut/chlands weit über die Schriftitellerwelt unjeres Volkes 
—— haben. Damit bewieſen ſie, daß ſie neben allem Sinn für 

eußerlichkeiten auch Thatkvaft und Umſicht beſitzen. Ueberdies muß 
man ihnen nachrühmen, daß, wenn der Stand ungerechtfertigterweiſe 
angegriffen wird, ſtets alle wie ein Mann zur Abwehr bereit ſtehen. 
Selbſt den ir mangelt nicht der Muth. Als Lilli Lehmann 
vor einigen Jahren in ungualifizirbarer Art in den Spalten eines 
Berliner Blattes, das jich Hauptjächlich vom Theaterklatſch nährt, in 
ihrer Ehre angetajtet wurde, — ſie ſich im Akte der wohl etwas 
amazonenhaften Selbſthilfe bis zu der viel beſprochenen Ohrfeige, mit 
welcher ſie die Wange ihres Angreifers bedachte. 

So finden ſich auch Lichtwellen zwiſchen die Schatten geſtreut, 
welche dieſer Stand wirft. Ueberhaupt macht uns gar mancher Zug 
auch als Menſchen die Leute lieb, — wir auf den Brettern als 
Künſtler bewundern. Niemanns echte deutſche Geſinnung, die ehe— 
liche Treue der Mallinger, die kleinbürgerliche Tüchtigkeit der großen 
Altiſtin Marianne Brand — gewiß, das ſind allerliebſte Einze ee 
welche das Publifum gern vernimmt und daran es fich freut. Räth— 
jelhaft bleibt e8 mur, wie jolche Künjtlerinnen, welche in dem Rufe 
eines mafellojen echt bürgerlichen Lebens jtehen, andererjeit3 dann doch) 
feinen Anjtand nehmen, ſich in Koſtümen photographiren zu laffen, 
au welchen ſich eine achtbare deutjche Frau, zumal für die öffent 
ihe Schaujtellung jchwerlich entichliegen würde. Doc) dies ift eben 
einer von den vielen Widerjprüchen, welche ja gerade die „Natur- 
geichichte des Schaujpielers“ ausmachen! 





An das as Schichſal. 


N \, ab mich für eines Dir, o Schidjal, danken, 
Ro] Ob auch mein Glüd [ängft ru ag bei den Tobten, 
LE % Und mich von denen, die mir Liebes boten, 

ERS = Auf ewig trennen himmelhohe Schranken. 
Ho) 32 Ob auch die Säulen meines Tempels ſanken 
| RR Und meiner Hoffnung Flämmchen drin verlohten, 


LT Mic) Riejenjchreden grauenvoll bedrohten —: 
° Du ließeſt mir der Seele Sichtgedanfen. 


Und es gab Zeiten, da ich bang gezittert 
Und tief im derzen Höllenfchauer fühlte; 
Da über mir des Wahnfinns Flug gewittert 







Und — ſein Hauch in meinen Sinnen wühlte; 
Da ih — o Dank! — erkannte, daß auf Erden 
Der. lendſte noch) elender fann werden. 


Leo Hanin. 





fa N — I TR u. 
Lynn 2m ,% ‘ ⸗ 
———— am 


sta se..sbe.äe de Ste. aber, 
3 * 


Ein vergeſſener Gaſt. 
Skizze von X. p. Winterfeld. 


— * 





— " [3 ic) in Dux ausitieg, lachten die Leute. Sie hatten 
IN ; >| wahricheinlich geglaubt, daß ich nach Karlsbad wollte 
Rs Ar und fühlten Ni num enttäufcht. 

ah „Morgen fomme ich nach Karlsbad!” jagte ich; 
FRrSET> „heute will ich hier einen — beſuchen.“ 
SI. „Sie find wohl ein Kohlenhändler?“ rief mir 
WARS * einer nad). 

> Da braufte der Zug wieder fort. Unfinn! Wenn man in 

Dur einen Freund bejucht, braucht man doch noch fein Kohlen- 
händler zu jein!..... umfjoweniger als mein Bejuch feinem lebenden, 
fondern einem todten Freunde galt, einem längjt Be torbenen, der hier 
begraben Liegt. 3 meine den Venetianer Jakob Cajanova, der jo 
Lujtig gelebt hat. Er iſt vielfach gejchmäht worden, daß er jeine Lie- 
besabenteuer jo offen erzählt. Als er es aber that, war er ein alter 
Mann geworden, und wenn jeine früheren Geliebten ſich wiedererfann- 
ten, nahmen jie es durchaus nicht übel, jondern ein heimliches Schmun— 
zeln glitt über das faltige Matronenangeficht und das alte Herz ver: 
he einige jchnellere Schläge zu machen. Und jcheint die el 
noch jo ſchön; am Ende muß jie untergeh'n. 

E3 war Zeit, daß Caſanova der Bett Ade jagte. Sie war in- 
wijchen eine andere geworden, die ihn nicht mehr veritand. So 
Sie legten gehn Jahre, die er bier als Gaſt und Bibliothekar des 
Grafen Waldſtein verlebte, mußte er jich manche Kränkung gefallen 
laſſen. Wenn einmal die alte Lebensluft über ihn fam, trat er der 
Verwaltungstochter gegenüber, um den Fandango mit ihr zu tanzen. 
Aber die täppijche Böhmin war feine dunkeläugige Signorina aus 
den Salons des leichtfertigen Italien. Früher hatte man ihn bewun— 
dert, jet lachte man ihn aus. 
& paßte nicht mehr für das neue Jahrhundert, deßhalb trat er 

ab, ala das alte bereit3 zu dämmern begann. Als die Natur wieder 
im duftigen Grün ftand, jchlief er ruhig ein, während das Jahrhuns 










Ein vergeffener Gaſt. 285 


dert einen lärmenden Abjchied nahm, der noch lange hinübergroflte in 
das neue Säkulum. 

Ich mache gern dieſe Bejuche bei Verſtorbenen und fahre nie 
wijfentlich jemand vorbei, der mein Freund gewejen, ohne daß ich ihn 
im Leben gefannt. Das find oft die Beiten, weil man fie immer in 
einer halben Verklärung ſieht. Wir lernen weniger den Meenjchen 
fennen, wie den Geift. 

Mein Koffer war das einzige Stüd, das man abgeladen hatte; 
er lag traurig und verlafjen auf dem Perron. Als ich mic ihm 
nahte, trat auch ein Menich hinzu, der ihn tragen wollte. | 

„Wohin wünjchen Euer Gnaden?“ fragte cr mid). 

„Welches ijt denn hier das bejte Hötel?“ 

„Wir haben hier die „Krone“ und das „Ro“, beide herrichaftlich.” 

Ich entichied mich für das „Roß“ und wir wanderten los. Der 
Träger mit dem Koffer vorn und ich hinterher. 

Da der Bahnhof hoch liegt, fonnte ich die Gegend ———— 
ſchauen. Im Hintergrunde — ſich der ſeltſam geformte Biliner 
Borſchee, und in ziemlich entgegengeſetzter Richtung leuchten die rothen 
Dächer des Kloſters Oſſegg aus alten Bäumen hervor. Die Hitze 
flimmerte, und unſere Schritte weckten trägen Staub aus ſeinem 
Schlaf. Er richtete ſich auf und ſenkte ſich wieder, um gleich weiter 
zu ſchlummern. 

ie Stadt iſt ein elendes Neſt, wie ich es ſeit meinem Aufent— 
halt in Polen nicht geſehen. Größtentheils einſtöckige, unſaubere 
— aus denen — Geſtalten blicken. Vor den Thüren 
uern Mädchen und Knaben, im bloßen Hemd, oft nur in einem 
Fragment deſſelben. Kleine Schweine laufen Are über den Weg, 
und manchmal bellt ein häßlicher Hund mich an, ala wollte ev fragen, 
was ich hier zu fuchen hätte. Bis jegt waren wir noch feinem Men— 
chen begegnet; Männer und Frauen waren in den Gruben und Fabri— 
fen beſchäftigt, die zurücgebliebenen alten Weiber jchliefen auf der 
Dfenbank, die Kinder jonnten jich und warfen fic) mit Sand. So 
ing's die ungepflafterte Straße immer hinab. Da fam ein zwei— 
Mb iges Haus, über dejjen Thür etwas abgebildet war, das ich für 
Taf ſchüſſel — 
„Das iſt die Krone!“ erklärte mein Führer. 
Sch war froh, daß ich dies Hötel nicht gewählt, denn eine jchlech- 
tere Spelunfe war mir jelten vorgefommen. 

„Dit das ‚Roß“ ebenjo gut?“ fragte ich. 

„Do ja! Da werden Sıe ihon zufrieden fein!“ lautete die be— 
ruhigende Antwort. 

Nach einer viertelftündigen Wanderung mündete die Straße end- 
(ich auf den Markt, an dem das Hötel zum Roß liegt. Da ich noch 
feinen rechten Muth zum Eintreten hatte, ae ich den Träger, 
ftellte meinen fleinen Koffer auf die grüne Bank, die unter einem grü— 
nen Baum jtand und jeßte * neben ihn. 

Nach einer ganzen Weile kam ein Mann heraus, der mich ver— 
wundert anſah. 

„Was wollen Sie denn hier?“ fragte er. 

Als ic ihm meinen Wunsch äußerte, hier die Nacht bleiben zur 


eine 


236 Ein ‚vergeffener Haft. 


wollen, ward er freundlich und trug meinen Koffer auf den Flur. 
Mic, jelbit nöthigte er ins Gajtzimmer, wo ich Gejelljchaft finden 
würde, Sie bejtand aus einem Herrn, der aus dem Kenfter jah und 
gar feine Notiz von mir nahm. 

„Wünſchen's auch zu jpeifen?“ fragte mich der Wirth. 

„Was haben Sie denn?“ 

„Ein recht gutes Backhähndel Fünnte ic) Ihnen empfehlen.“ 

Das hätte ich mir denken fünnen; Schnigel und Badhähndel, 
weiter giebt's in Dejterreich nichts, und noch einen Auflauf dazu; alle 
drei Speijen aber von einer Vortrefflichkeit, daß der Deutjche hr nicht 
nachzumachen veriteht. Ich beitellte alſo Badhähndel, 

„Auch Salat?“ fragte der Wirth. 

„Beriteht jich, auch Salat.“ 

„Und was wünſchen's zu trinken? Einen ausgezeichneten Melni— 
Zer könnte ich Ihnen empfehlen.“ 

„Schön! Bringen Sie a 

„Eine Halbe oder eine Ganze?“ 

„Eine nie: ſelbſtverſtändlich, bei der pie. 

Auf den Wein freute ich mic) nicht, weil ich ihn nicht kannte — 
aur von der Bühne her — aus Wallenjteins Lager. 

Der Wirth entfernte ih, und ich legte mich ins Fenſter neben den 
— der keine Notiz von mir nahm. Er that es auch noch nicht. 
(13 ich hinausſchaute, fiel mir ein Vers ein, den ich einmal geleſen: 
„Es war einmal eine Feine Stadt, 

Die einen großen Marktplatz bat.“ 


Gerade gegenüber lag ein mächtiges, gelbes Haus und daneben 
eine weiße Are. 

„Was iſt das?“ fragte ich meinen Nachbar. 

„Eine Kirche“, war die lafonijche Antwort. 

„AH! Das andere.“ 

„Ein Schloß.“ 

„Aha! Wohl dem Grafen Waldſtein gehörig.“ 

J “u 


„sa! 

‚Wo Cajanova zehn Jahre gewohnt hat.“ 

„Kenne ich nicht.“ 

„Solo! Sie find wohl weit her?“ 

„Bon Aujfig.“ 

„Weiter nicht?“ 

„Rein!“ 

„Danke! 

Ic jah ihn von der Seite an; er hatte ein langweilig, mürriſches 
in und jchien fich über mich zu ärgern. 

Mein Badhähndel ließ nicht lange auf ſig warten. Als der 
Wirth mich rief, ſtand es appetitlich neben einem Napf krauſen Salats, 
lauter Kern, nicht ſo welke, grüne Blätter wie bei uns. Auf dem 
Etikett der ar war eine jtrogende Traube abgebildet. Das Huhn 
war trefflich, der Wein auch, beinahe jchwarz, wenn man ihn ein: 
are aber gegens Licht gehalten erjchien er vom dunkelſten Roth, 
Ind wie er ſchmeckte. Da fiel mir wieder ein Vers ein: 


Ein vergeffener Gaſt. 287 


„Z'Mühlheim, in der Poſt, 
Tauſi Sappermoof! 

Giebt's da nit a gude Wi? 
Fließt er nit wie Baumöl i.“ 


Sch hatte Luft mir zum Käſe 2 nen Schoppen geben zu 
laffen; aber ich bezwang mid). it unbefannten nen muß man 
vorfichtig jein. 

Als ich fertig war, zündete ich mir eine Cigarre an und legte 
mic) wieder ins Fenſter neben meinen Freund. 

—A ahlzeit!“ ſagte ich. 

Er ſah mich a an, wahrjcheinlich weil er noch nicht gegeljen. 
So mußte es ihm allerdings geflungen haben, wie: Ich gratulire 
Ihnen zu meinem Geburtstag! 

„Kommen Sie mit ins Schlopr fragte ich, nachdem die Eigarre 
dem Erlöjchen nahe. 

Er verneinte. Ich hätte es mir denken können — jo ging ich 
denn allein, erjt auf dem Vorhof, dann in den Park. Bon der Hin- 
terfront hatte man einen weiten Blid über alte Bäume himveg in 
romantisches Land. Aber alles jtill und todt, wie entichwundene 
Größe Ich Elopfte hinten an die Scheiben, ohne daß jemand kam, 
Aha! vorm war eine Klingel, die ich in Bewegung jegte, daß jie laut 
durch den weiten Raum flötertee Nach einer Weile trat ein müder 
Mann heraus, der mich unfreundlic” anſah — wahrjcheinlich der 
Kaſtellan. 

„Was wünſchen Sie denn?“ fragte er, wie vorhin der Wirth) zum 


Ich möchte mir das Schloß anjehen.“ 
Erjt jchien er's nicht zu glauben. War ihm wahrjcheinlich noch 
nicht vorgefommen. | 

„Bitte!“ jagte er endlich mit einer Handbewegung. 

Ic trat ein und ging ziemlich gleichgiltig durch die Räume des 
Mujeums. Auf manche Gegenitände tippte der Stajtellan mit dem 
Finger und erklärte fie mir. Unter anderen auch die Bartijane, mit der 
W enſtein in Eger niedergeſtoßen wurde. Sie intereſſirte mich nicht, 
weil auf allen Wallenſteinſchen Schlöſſern Partiſanen gezeigt werden, 
mit denen in Eger der Mord begangen. Welches war alſo die rechte? 
Vielleicht keine. Von da kamen wir in die Bibliothek — ſchöne, helle 
Räume, alles ſauber gebunden und aufgeſtellt. 

„Hier war Caſanova Bibliothekar?“ ſagte ich. 

Der Kaſtellan zuckte die Achſeln. 

„Man tan es“, meinte er. 

„Wie? an jagt e8? Er iſt ja erſt 1798 geftorben, darüber 
müßte doch Gewißheit jein.“ 

Keine Antwort. Das Thema jchien ihm unangenehm. Man 
enirte fich vielleicht Heutzutage vor dem damals — geſehenen Gaſt. 

ſollte vergeſſen werden. Aber ich ließ nicht ab. 
„Sind keine Andenken mehr von ihm vorhanden?“ 
Nichts.“ 
„Die — in denen er wohnte.“ 
„Unbekannt.“ 


" 


288 Ein vergeffener Gaſt. 


„Bielleicht ein Bild von ihm?“ 

Er jchüttelte. 

Ich wußte es aber bejjer. Der Profeſſor Sonnenjchein hatte 
mir einmal bei Trarbach in der Weinjtube erzählt, daß er in der 
Bibliothek, zwiichen Gardine und Fenſter verſteckt ein Kleines Bild 
gefunden habe. Wahrjcheinlich kannte man es gar nicht im Schloß — 
es war vergeffen worden. 

Ich juchte alle Fenſter durch — richtig! — da hing es — eine 
Ichlechte Lithographie, jo groß wie ein Raſirſpiegel. 

So hatte ich) mir den jchönen Venetianer nicht gedacht. Der 
Kopf iſt im Profil dargejtellt, ein altes welfes Geſicht, mit gepuder⸗ 
ter Perrüde, das die auffallendjte Aehnlichkeit mit Friedrich dem 
Großen in jeinen jpäteren Lebensjahren hat. 

Unter dem Bilde jtehen folgende Worte: 

„Altera nune rerum facies, me quaero, nec adsum: Non sum, 
qui fueram, non putor esse qui fui. Jacob Hyeron. Casanovus, 
Venetus.“ 

Auf Deutſch: | 

„Die Dinge haben andere Geſtalt angenommen; ich fuche mich, 
aber ic) finde mich nicht. Ich bin nicht, der ich war, und man glaubt 
mir auc) nicht, daß ich jein fonnte, der ich war.“ 

Aus diefen Worten jpricht allerdings ein wehmüthiger Kummer, 
eigentlich aber nur das egoiſtiſche Bedauern, daß die Zeit des Ges 
nufjes vorüber und dem refleftirenden Alter gewichen it. Das ift 
freilih ein 2008, dem wir alle anheimfallen, da8 aber Cajanova 
jchmerzlicher empfand als viele andere, weil er das Leben mehr ges 
nojjen und daher mehr geliebt. 

Ich würde vor Caſanovas Bild mit Befriedigung fortgetreten 
fein, wenn nicht die Jahreszahl über demjelben * mit unangeneh⸗ 
men Zweifeln erfüllt hätte. LXIII. alſo 1763. Wie ſtimmte die 
Zeitangabe mit dem Porträt überein? Da Caſanova 1725 geboren 
war, ſo ſtand 1763 er in ſeinem achtunddreißigſten Lebensjahr und 
mußte alſo noch ein hübſcher vollkräftiger Mann ſein. Woher kommt 
alſo das Greiſenantlitz mit dem matten Auge? 

An einem freiſtehenden Tiſch ſtand eine Schieblade offen. Ich 
trat näher; es lagen beſchriebene Papiere darin, alles durcheinan— 
der wie Mafulatur. Ich nahm ein Blatt heraus; e& war in Quarts 
format, grobes Papier mit feiner, zierlicher Schrift bededt. Ich Tas 
Ein Brief an den Grafen Waldjtein, jeinem Gönner, in franzöfijcher 
Sprache, über kabbaliſtiſche Fragen; zulegt das Bedauern, nicht zum 
Diner gefommen zu jein, da Unwohlſein ihn verhindert. Unterjchrieben 
war der Brief Jac. Casanova de Seingalt. Da das Blatt nicht 
zufammengefaltet war, fonnte es unmöglich abgejchict jein. 

Der Kaftellan trat hinzu und verbot mir die fernere Lektüre. 
„Wiffen Sie, daß das Schriften von Cajanova find?“ fragte 
ich ihn. | 
9 ns geht's mid) an?“ war die übellaunige Antwort. Dann 
ſchob er die Lade zu und verjchloß fie. 

Freilich; was ging's ihn an? Vielleicht liegt da noch manches 
Interefjante über Cajanovas alte Tage. Die Memoiren reihen nur 


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Ein vergeffener Gaſt. 289 


bi3 zu jeinem legten Aufenthalt in Paris. Die Mittheilungen des 
Prinzen de Ligne lieferten er Ergänzungen. An der Tafel des 
venetianijchen Gelandten ſprach Caſanova mit jo empfehlender Sicher: 
heit über Kabbala und Alchimie, daß der anmwejende Graf Walditein 
ihm eine Bibliothefarjtelle auf jeinem Schlojje zu Dur anbot. Der 
endlich müde gewordene Abenteuerer nahm fie an und Jchrieb hier mit 
alter Hand und jungem Herzen jeine berühmten Memoiren. 

Vielleicht fommt einmal wieder jemand nach Dux, der die Schieb- 
lade weiter aufzieht und den Schat hebt — wenn er freigegeben wird; 
denn Caſanova müßte ja dann noch einmal mit dem Schioife zu Dur 
in Verbindung gebracht werden. 

Ich fragte er nad) dem Kirchhof, der ein ganzes Stüd vom 
age ftegt. Nebenan wohnte er Zodtengräber, der natürlic) 
feine Auskunft geben fonntee So war ich denn aufs Suchen ange- 
wiejen. Bei fatholiichen Kirchhöfen ift das nicht Io jchwer, weil Te 
nicht jo ausgedehnt jind: Man rüdt die Schläfer dichter aneinander; 
jelbjt die Familienbegräbnifje nehmen in der Regel nur wenig Raum 
ein. Ich fing beim ältejten Theil des Leichenhofes an und ſtieß bald 
auf einen Fr bverjunfenen Stein, der ausjah, als wäre er dem Grab- 
hügel zu wer gewejen. Die vertieften Buchitaben der Injchrift 
waren faum noc) lesbar. Regen und Wind hatten fie verwajchen und 
die ehemalige Vergoldung abgeledt. Es mußte im Leben etwas her- 
vorragendes gewejen jein, was jest da unten zu Erde geworden. Ich 
fragte den Staub aus noch erfennbaren Lettern. Es war Cajanova; 
einzelne zufammenhängende Buchſtaben und das Datum ſeines Todes 
liegen feinen Zweifel übrig. Vergejjen und verdorben. Wer hätte 
auch wohl jeine Ruheſtatt in Ordnung halten jollen? Die ihn ge- 
liebt, waren alle todt, und hier in Dur hatte man nur über ihn ge- 
lacht, wenn er in feidenen — durch den ſtillen —— 
ging. — wohl, Du biſt deßhalb nicht beſſer und nicht ſchlechter 
geworden. 

Auf dem Heimweg ſchlugen ſeltſame Klänge an mein Ohr, eine 
bullerende Trommel, eine ſchrille Pfeife und dann klatſchte es manch— 
mal dazwiſchen, wie ein paar Becken. 

Bald darauf begegnete ich einer elenden Seiltänzergeſellſchaft, die 
* Umzug hielt, um gu abendlichen Boritellung Bejuch zu locken. 

oran ein tappjender Bär, wie man ihn früher bei uns auf den 
Sahrmärkten jah, von einem braunen Bengel an der Kette geführt. 
Zwei andere jpielten Trommel und Pfeife, und der auf dem Bären 
hodende Affe jchnitt Gefichter und jchlug die Beden dazu. Ein Her: 
fules führte die Kleinjten an der Hand und auf einem mageren Gaul 
rıtt ein junges Mädchen, dem die engen Tricot3 zu weit waren. Unter 
der Schminfe lächelte ſie und war) Kußhändchen rechts und Links, 
aber es war ein Lächeln, ala wenn der Tod fie gefigelt. Die andern 
folgten in verblichenen Koſtümen hinterdrein. 

IH wohnte natürlich der Vorjtellung bei. Außer mir waren 
auf dem dritten Plat noch Ra er Die Uebrigen jtanden 
d’rum "rum und bezahlten nicht. 

Welche Anjtren — um eine Brodrinde zu verdienen! Die 
Kunſt in ſo tiefer Verkommenheit hat etwas tragiſches. Die ganze 

Der Salon 1887. Heft IX. Band II, 20 


290 Ein vergeflener Gaſt. 


Nacht träumte ich von diejen wehmüthigen Gejtalten, bis. mich am 
Diorgen froher Hörnerflang erwedte. 

Sch dachte erſt, mir würde ein Ständchen gebracht — mein Gott! 
— was fann einem nicht alles pajjtren? ALS ich aber aufgeitanden 
war und nach dem Kaffee geflingelt hatte, erfuhr ich, daß des Kaiſers 
Geburtstag jei, deßhalb die Morgenmufif und dann Vorbeimarſch. 

Sch zog das Rouleau auf und jah fie jtehen, lauter hübfche 
Uniformen mit grümen Hahnenfedern auf dem Hut. 

Eine Stunde jpäter brad) ich auf. Als ich ins Gajtzimmer trat, 
un meinem Öejellichafter Adieu zu jagen, lag er wieder im Fenſter 
und jah mich nicht. 

i Fr zupfte ihn am Nod und als er fi) umjah, drüdte ich ihm 
ie Hand. 

„Leben Sie recht wohl“, jagte ic); „es ijt mir jehr angenehm ge- 
wejen, Ihre werthe Bekanutſchaft gemacht zu Haben.“ 

Dieje jeltene Anhänglichkeit jchien ihn zu rühren, denn ich jah 
etwas in jeinem Auge, das einem Lächeln glich. 

Sch habe ihn nie wieder gejehen — (habe! Das wäre vielleicht 
nod) em ganz netter Menjch geworden. 








Antek.*) 
Eine polniſche Dorfgeſchichte von Boleslaus Prus. 









— Sl ntef wurde in einem Dorfe an der I —T— 
N: Dieſes Dorf lag in einem ziemlich kleinen Thale. Auf 
der Nordjeite war es von abſchüſſigen Anhöhen, welche 
= U mit einem Kiefernwald bewachjen waren, und auf der 
Südſeite von Heinen Hügeln, voll von Hajelmüfjen, 
Echlehdorn und u umgeben. Gerade auf die— 
a 9 jer Seite jangen Die * am lauteſten und die Dorf— 
)O finder Hletterten am häufigften hinauf, um die Nüfje zu pflüden 
Fe oder die Vogelneſter auszuplündern. Ä 
Wenn man in der Mitte des Dorfes ſtehen blieb, jo jchien eg, 
daß die beiden Gebirgsfetten ineinander laufen, um dort fich zu ver- 
einigen, wo des Morgens die rothe Sonne aufiteht. Aber das war 
eine Täujchung. | 


— — — 





*) Gin literariſcher self-made man in des Wortes beſter Bedeutung iſt der polniſche 
Schriftfteller, der unter dem Namen Prus fchreibt und eigentlich Alerander Glomwadi 
beißt. Er fing als Fenilletomift Warſchauer Tagesblätter feine Carriere an; vom 

euilleton ging er zum komiſchen Roman, ber Pr feine Typen von den Warfchauer 
traßen bolte, iiber, und ahmte das Genre Hadländers nad. Daneben machte er aber 
eifrige Studien und nicht zu verfenmende Fortſchritte. Während feine „Plagen ber 
Großmutter‘ 1873 noch ganz dem niedrig fomifchen Genre angehören, ftrebt er ſchon 
in „PBalaft und Ruine“ 1875 eine böhere Richtung an, die er ſeitdem unaufbörlich 
mit Eifer und Begabung verfolgt bat. Er fchildert nicht mebr bloß komiſche Typen, 
fondern die Menſchen, wie fte ibm erſcheinen; mit befonderer Vorliebe wählt ev das 
polnische Dorfleben zum Gegenftand feiner Schilderungen, wie er denn auch neben 
einen belletriftiichen Arbeiten ſich fehr eifrig mit fozialen und nationalökonomiſchen 
gen, die die Hebung des Banernftandes feiner Heimat betreffen, I beichäftigen 
pflegt. Prus ift, jomweit ihm das die ibealiftifchen Traditionen des polniſchen Romans 
und die Vorbilder, nach denen er fich gebildet, geftatten, überzeugter Realift. Dies 
berfeitet ibn jebod nie, unſchönes und grobmaturaliftiiches mit grellen Farben zu 
ſchildern. Sein Hauptgebiet ift jetzt die Novelle und die Dorfgeſchichte. Im vori- 
gen Herbſt find vier Bände feiner „Skizzen und Bilder‘ erſchienen, nad denen ibn 
die berufene Kritif in die erfte Reihe der modernen Erzäbler geftellt bat. Eine Berle 
wg Schöpfungen ift die obige Novelle durch bie rührende Einfachbeit und Wahr: 
eit der Erzäblung, durch bie liebenswürdige Art des Vortrags und die treue Scil- 
derung der Charaktere. Wir freuen uns aufrichtig, mit diefer Dorfgefchichte, die fich 
wohl den beften Arbeiten des Genres überbaupt anreibt, den begabten Schriftfteller 
zum erften Male einem beutfchen Pejepublilum vorftellen zu können! 
20* 


292 Antek. 


Weit hinter dem Dorfe dehnte ſich — —— den Gebirgen ein 
Thal aus, welches von einem kleinen Fluß durchſchnitten und mit 
grünen Wieſen bedeckt war. Dorthin führte man die Kühe und Ochſen 
aus dem Dorfe zur Weide, und dorthin kamen auch die dünnfüßigen 
Störche zur So auf die abends quafenden Srölce. 

Auf der jtjeite hatte das Dorf einen Wafjerdamm, hinter 
welchem die Weichjel flo, und Hinter der Weichjel wieder erhoben jich 
nadte Kalkhügel. 

Jedes der Bauernhäufer, mit grauem Stroh bevedt, hat ein 
Gärtlein und in dem Gärtlein ein paar Pflaumenbäume, inmitten 
welcher man den durch den Ruß jchwarz gewordenen Schornitein und 
die fleine Feuerleiter ſehen kann. Dieje Eleinen Leitern find erſt furze 
Zeit eingeführt und die Leute glauben, daß diejelben die Hütten befjer 
wie früher die Storchnejter vor Feuer jchügen werden. Und darum 
wundern jie ji) auch, wenn eines der Eleinen Häuschen von den 
Flammen — wird, aber ſie retten es nicht. 

Es iſt klar, daß es eine Fügung Gottes iſt gegen dieſen Wirth“), 
ſprechen ſie unter ſich; er iſt abgebrannt, obwohl er eine neue 
Leiter hatte und trotz der Strafe, die er für die alte, welche zer— 
brochene Stufen hatte, bezahlen mußte. 

In ſolch einem orte wurde Antek geboren. Man legte ihn in 
eine bemalte Wiege, die von jeinem verjtorbenen Bruder übriggeblieben, 
und er jchlief in derjelben zwei Jahre lang. Später fam die Schweiter 
Nofalie und da mußte er E den Pla räumen und als jchon er— 
wachjene Perjon auf die große Bank ziehen. 

Diejes ganze Jahr hindurch wiegte er jeine Schweiter, und wäh— 
rend Des nühftiolgen en ne fich in der Welt um. Cinmal fiel 
er in den Fluß, das zweite Mal befam er von einem durchfahrenden 
Fuhrmann Prügel dafür, dag ihn die Pferde fajt zertreten hätten, 
und das dritte Mal haben ihn die Hunde jo —— daß er durch 
zwei Wochen krank auf dem Ofen lag. Dafür ſchenkte ihm ſein Vater 
in ſeinem fünften Lebensjahr eine Tüchweſte mit einem Meſſingknopf, 
und die Mutter ließ ihn die kleine Schweſter auf dem Arm herum— 
tragen. 

Als er fünf Jahre alt war, gebrauchte man ihn jchon zum Hüten 
der Schweine. Aber Antek jah nicht viel auf dieſe. Er zog es vor, 
auf die andere Eeite der Weichjel hinüber zu — wo hin und 
wieder ſich etwas hohes und ſchwarzes ſeinen Augen zeigte. Das 
kroch wie aus der Erde auf der linken Seite heraus, ſtieg in die Höhe 
und fiel wieder von der rechten Seite herunter. Dem erſten folgte 
gleich ein zweites und Drittes, welche gerade jo ſchwarz und jo hoch 
waren. 

Inzwilchen frochen die Schweine nad) ihrer Gewohnheit in ‚des 
Nahbars Kartoffeln hinein. Die Mutter, als fie dies erblidte, kam 
eilig gelaufen und machte ſich jo um die Tuchweite Antefs zu jchaffen, 
dat der Junge nachher faum Athem holen konnte. Aber da er in 
ſeinem Eleinen ‚Dergen feinen Groll trug, weil er ein liebes gutes Kind 
war, fragte er die Mutter, nachdem er — ſatt geſchrieen und die Weſte 


*) So nennt man einen Bauer in Polen, der eine eigene Wirthſchaft hat. 


Antek. 293 


aus an hatte: „Mütterchen! Was ift das Schwarze, was da Hin- 
ter der Weichjel hervorgudt ?* 

Die Mutter jchaute in der Richtung, die der Finger Anteks be- 
jchrieb, verdedte die Augen mit ihrer Bar und erwiderte: 

„Dort hinter der Weichjel? Siehit Du denn nicht, daß da eine 
Windmühle geht? Und da3 zweite Mal Hüte die Schweine, ſonſt 
werde ic) Dir die Haut mit Brennnejjeln jchmieren!“ 

„Aha, eine Windmühle! Und was it das, Mütterchen?“ 

„Ei, Du biſt blöde“, erwiderte die Mutter und eilte zu ihrer 
Arbeit. Wo hatte je die Zeit und den Verſtand dazu, um Erklärung 
über die Windmühlen zu ertheilen? 

Aber die ee lieg dem Jungen feine —7 Antek ſah 
jeden Tag; er ſah ſie auch während der Nacht in ſeinem Traum. 

nd jo wuchs in dem Jungen eine jo große Neugierde, daß er ſich 
eines Tages in den Kahn, welcher die Leute auf die andere Seite des 
Dr Sinäbefüge, einſchlich und fich über die Weichjel hinüber— 
iffen lie 

Dann Eletterte er — Berg, gerade an jener Stelle, wo eine 
Inſchrift ſtand, daß das Betreten dieſes Platzes verboten ſei, und ſah 
die Windmühle. Dieſes Gebäude kam ihm wie ein Glockenthurm vor; 
nur in der Mitte war es dicker, und dort, wo am Glockenthurm ein 
— iſt, hatte es vier ſtarke Flügel, die übers Kreuz geſtellt waren. 

nfangs verſtand er gar nichts. Was iſt das und wozu iſt dag? 
Aber die Fleinen Hirten erklärten ihm bald die Sache und jo erfuhr 
er alles. Zuerſt, daß der Wind die Flügel aufbläjt und fie wie die 
Blätter herumdreht; dann, daß man in der Windmühle das Korn 
und Mehl mahle und endlich auch dies, daß bei der Windmühle ein 
Müller fige, der jeine rau prügelt und der jo Hug tft, daß er genau 
weiß, wie man die Ratten aus den Speichern herausbringt. 

Nach diefem perjpektiviichen Unterricht fam Antek auf demjelben 
Wege wie früher nah Hauje zurüd. Die Flößer verjegten ihm ein 
paar Schläge auf den Kopf, die Mutter gab ihm noch etwas auf feine 
Tuchweſte ihre bittere Arbeit, aber das hatte keine Bedeutung wei— 
ter. Antek war zufrieden, weil er ſeine Neugierde befriedigt hatte, 
und obwohl er fi ungrig jchlafen legen mußte, träumte er doch die 

anze Nacht hindurch bald von der Windmühle, die das Korn mahlt, 
ald von dem Müller, der jeine Frau prügelt und die Ratten aus den 
a hinaustreibt. 

Diejes winzige Ereigniß hatte entjchteden einen Einfluß auf das 
ganze Leben des Jungen ausgeübt. Von diefer Zeit an jchnigelte er 
mit dem Mefjer fleine Stödchen vom Aufgang bi zum Untergang 
der Sonne und legte fie kreuzweiſe übereinander. Dann machte er 
fich eine Eleine Säule, bajtelte, hobelte, jtellte die Stäbe verjchieden 
auf, bis er endlich eine Kleine Windmühle, die im Winde jich jo wie 
die hinter der Weichjel drehte, in gebaut hatte. 

Was war das für eine Freude! Jetzt fehlte dem Antek nur 
— Frau, die er prügeln könnte und er wäre ſchon ein rechter 

üller. 

Bis zu ſeinem zehnten Lebensjahr hatte er beinahe vier Meſſer 
verdorben, aber er ſchnitzelte auch ganz merkwürdige Sachen mit den— 


294 Antek, 


jelben. Er fonjtruirte Windmühlen, Leitern, Brunnen und jogar ganze 
Bauernhütten. Die Leute wunderten ſich jehr und jagten zu der 
Mutter: „Der Antek wird entweder ein großer Meijter oder ein großer 
Lump werden!“ | 

Während dieſer Zeit befam er noch einen Eleinen Bruder Wojtech, 
die Schwejter wuchs heran, und der Vater wurde im Walde durd) 
einen großen Baum erjchlagen. 

In der Hütte jelbjt war Rofalie eine große unle Im Wins 
ter fehrte das Mädchen die Stube aus, trug das Waſſer und verjtand 
jogar eine Graupenjuppe zu fochen. Im Sommer jchidte man fie 
auf die Weide zum Vieh mit Antef, weil der Junge während mit 
dem Schnigeln bejchäftigt war. Was hatte man ihn nicht zujammen- 

eprügelt, angefleht, wie oft über ihn jic ausgeweint! Ver Junge 
chrie, verjprach, weinte jogar mit der Mutter zufammen, und das 
Vieh machte immer weiteren Schaden im Felde. 

Erit als die Schweiter mit ihm zujammen das Vieh auf die 
Weide führte, wurde es bejjer. Er jchnigelte die Stödchen und fie 
hütete die Kühe. 

Manchmal, wenn die Mutter jah, dag das Mädchen, trogdem 
daß. jie 75* war, mehr Verſtand und guten Willen zur Arbeit 
zeigte wie Antek, rang ſie die Hände über den Kopf und jammerte 
vor dem alten Gevatter Andreas: 

„Was werde ic) Unglücjelige mit diefem Antef, mit diefem aus 
der Art gejchlagenen Taugenichts anfangen? Weder thut er etwas in 
der Hütte, nod) hütet er das Vieh ordentlich, fortwährend ar 
er nur die Stödchen, als ob etwas in ihn hineingefahren wäre. Mein 
lieber Andreas, aus ihm wird jehr wahr] einlid fein Wirth werden, 
nicht einmal ein Bauernfnecht, nur ein unnüger Brodeffer, allen Men— 
jchen par Geſpött!“ 

Andreas, der in ſeinen jungen Jahren dem Flöſſenſtand angehört 
und ſo viel von der Welt A her hatte, tröjtete die befünmerte 
Wittwe: 

„Freilich, wird aus ihm — kein Landwirth werden, es fehlt 
ihm ſogar der richtige Verſtand dazu. Darum müßte man zuerſt ihn 
in eine Schule geben und dann zu einem Handwerksmeiſter. Er wird 
aus dem Buche lernen, wird ein Handwerk betreiben und wenn er 
kein Lump werden wird, kann er ji ji) ruhig leben.“ 

Die Wittwe antwortete darauf, immerwährend die Hände ringend; 

„O, lieber Gevatter, was jprecht Ihr nur da. Iſt es nicht eine 
Schande fir den Sohn eines Wirthes, daß er ein Handwerk Ternen 
und für den erſten beiten auf Bejtellung arbeiten joll?“ 

Andreas blies den Rauch aus jeiner hölzernen Pfeife heraus 
und jagte: 
ee es iſt wohl eine Schande, aber e3 giebt feinen anderen 

ath.“ 
Dann wendete er ſich zu Antek und fragte: 
„Nun ſprich Du, lingel, willit Du ein Landwirth werden oder 
zu einem Handwerksmeiſter gehen?“ 

Darauf jagte Antek: 

„Sc werde Windmühlen bauen, die das Korn mahlen.“ 


Antek. 295 


Und das war immer jeine Antwort, troßdem man über ihn den 
Kopf und manchmal auch den Bejen jchüttelte. 

Er war bereit3 zehn Jahre alt, als einmal jeine Schweiter Ro- 
jalie, die damals ein achtjähriges Kınd war, jchwer erkrankte. Nach— 
dem jie jich eines Abends * ſchlafen gelegt hatte, konnte man ſie 
am andern Morgen kaum aufwecken. Sie hatte einen heißen Körper, 
irre Augen und }prad) wie von Sinnen. 

Die Mutter dachte zuerit, daß das Mädchen ſich verjtelle und gab 
ihr ein paar Rippenitöge. Aber als das nichts geholfen hatte, rieb 
fie fie mit heißem Eſſig ein und den andern Tag bekam fie Branntwein 
mit Wermuth zu trinfen. Aber dies alles taugte nichts und verjchlim- 
merte nur den Zujtand des Kindes, denn nad dem Branntwein zeig: 
ten jich blaue zslede auf dem Körper. Da ging die Wittwe in ihre 
Kammer, jchüttelte alle Lumpen, die fich nur ın ne Koffer befanden, 
durch, juchte ſechs Grojchen heraus und rief die Frau Georg, eine 
berühmte Quadjalberin, zur Rettung herbei. 

Die weije Frau befichtigte die Kranke aufmerfjam, bejpudte den 
Fußboden rings um jie her, wie es ſich gehört, jchmierte fie jogar mit 
einer Salbe eun, aber das ai nichts. | 

Dann jagte ſie zu der Mutter: 

„Sevatterin, heizt nur den Ofen, wo Yhr das Brod bädt, ein. 
Dan muß dem Mädchen gehörig zum Schwigen eingeben, da wird 
die gg weggehen.“ 

Die Wittwe heizte — im Ofen ein, ſcharrte die Kohlen 
heraus und wartete auf weitere Befehle. 

Nun jetzt“, ſagte die Quackſalberin, „muß man das Mädel auf 
ein Kiefernbrett hinlegen und diejes auf den Ofen jtellen jo lange, wie 
drei Ave Maria dauern, dann wird jie bald ganz gejund werden.“ 

Und in der That legte man die Eleine —2 auf ein Kiefern— 
brett; Antek jchyaute ſich aus der Ede des Zimmers dies neugierig an 
und ſtellte dajjelbe zuerit auf den Ofen. 

Als die Hitze das Mädchen umwehte, erwachte jie. 

„Mütterchen, was macht Ihr denn mit mir?“ jchrie fie. 

„Sei ruhig, Du dummes Ding, das wird Dich ja gejund machen.“ 

Die zwei Weiber hatten jchon das Brett bis zur Hälfte auf den 
Dfen gerüdt; das Mädchen aber fing ſich zu werfen an wie ein Fiſch 
im Reg. Sie jtieß die Quadjalberin von ſich weg, fahte die Mutter 
mit den beiden Händen um den Hals und jchrie — 

Ihr werdet mich doch wirklich verbrennen, Mütterchen!“ 

Man hatte ſie ſchon ganz hinaufgerückt, vor den Ofen ein Brett 
gelegt und die beiden Weiber fingen an die drei Gebete zu ſprechen: 
„Ave Maria, Du voll Gnade... 

„Meütterchen, mein Mütterchen“, jtöhnte das unglücliche Kind, 
„DO Mütterchen!“ 

„Der Herr ijt mit Dir, Du bijt gejegnet unter den Weibern!“ 

Jetzt lief Antek zum Ofen und ergriff die Mutter bei dem Rod, 

„Mütterchen!“ rief er weinend, „es wird jie ja dort zu Tode 
jchmerzen.“ . 

ber er erreichte nur jo viel, daß er einen Kopfſtoß befam, weil 
er das Gebet jtörte. Auch hörte die Kranke auf, an das Brett zu 


J— 


296 Antek. 


ichlagen, fich zu werfen und zu jchreien. Inzwiſchen hatten jie jchon 
die drei Ave Maria gebetet und das Brett vom Ofen weggenommen. 
Auf demfelben lag eine Leiche, mit einer rothen, hier und da kahl 
gewwordenen Haut. 


Jeſus!“ fchrie die Mutter, als fie das Mädchen, welches einem 
Menjchen nicht mehr ähnlich jah, erblidte. Und ein jo heftiger —— 
um das Kind bemächtigte ſich ihrer, daß ſie kaum der Quadjalberin 
helfen fonnte, Die Seiche auf die Pritjche zu tragen. Sie kniete ın 
der Mitte des Zimmers nieder und mit dem Kopf an die Drejchtenne 
ſchlagend, rief ſie: 

„Ach, Frau Georg, was habt Ihr da Gutes gethan?“ 

Die Quadjalberin wurde verdrießlich. 

„Eh! Möchtet Ihr lieber ſtill ſein; Ihr denkt vielleicht, daß das 
Mädel von der Hitze ſo roth geworden iſt? Das iſt die Krankheit, 
die aus ihr herausgekommen iſt, nur war es ein wenig zu plötzlich 
und ſo hat ſie das arme Ding getödtet. Das alles kommt doch von 
der Gottesmacht.“ 


Im Dorfe wußte niemand, was die Urſache des Todes der klei— 
nen Roſalie war. Das Mädel iſt geſtorben, was konnte man dazu 
thun? Sichtlich war das ſchon ſo vorher beſtimmt. Stirbt etwa 
nur ein Kind während des Jahres im Dorfe! 

Am dritten Tage legte man die kleine Roſalie in einen friſch 
ae Sarg mit einem jchwarzen Kreuzchen. Dann jtellte man 

njelben in einen Wagen, welcher jonjt zum Miftfahren dient und 
brachte ihn mit zwei Ochjen hinter das Dorf, dorthin, wo über Die 
eingefallenen — morſche Kreuze und weiße Birken wachen. 
Auf dem holperigen Weg neigte ſich der Sarg ein wenig nach der 
Seite hin und Antek der hinter dem Wagen gehend ſich an die Fal— 
ten des Rockes der Mutter hielt, dachte: „ES muß doch dem Eleinen 
Roſalchen unbequem fein, wenn fie ſich jo auf die Seite umdreht!“ 

Dann bejprengte der Geiitliche den Sarg mit Weihwajjer, vier 
Bauernfnechte ließen ihn auf vier Tüchern in das Grab hinunter, war— 
fen Erde darauf und das war alles. 

Die Hügel mit dem raujchenden Wald und die Höhen, auf wel- 
hen Nußbäume wuchjen, blieben dort, wo fie waren. Die Hirten 
jpielten wie früher auf ihren Flöten, im Thale ging das Leben weiter 
jeinen Weg, obwohl im Dorfe ein Mädchen fehlte. 

Während einer Woche jprach man von ihr, dann vergaß man fie 
und verließ das friſche Grab, über welches nur der Wind feufzte und 
die Grillen zirpten. 

Und noch ein wenig jpäter fiel der Schnee darauf und jcheuchte 
jogar die Grillen fort. 

Im Winter gingen die Kinder der Bauern in die Schule. Und 
da die Mutter von Antef feine Hilfe in der Wirthichaft erwartete, 
vielmehr nur ein Hindernig in ihm erblidte, holte fie jich bei dem 
Gevatter Andreas Rat) und beſchloß darauf den Jungen in die 
Schule zu jchiden. 

A „Und werde ich in der Schule lernen Windmühlen bauen?“ fragte 
ntef. 


Antek. 297 


„Oho! Man wird Dich lehren in der Kanzlei zu jchreiben, wenn 
Du nur willig fein wirjt.“ 

Die Witwe widelte vierzig Grojchen in den Knoten ihres Tajchen- 
tuches ein, nahm den Jungen bei der Hand und ging mit ihm zum 
© — ls ſie in das Zimmer hineintrat, traf ſie dieſen beim 
Flicken ſeines alten Pelzes an. Sie machte eine tiefe Verbeugung vor 
ihm, händigte ihm das mitgebrachte Geld ein und ſagte: 

Ich begrüße gehorſamſt den Herrn Lehrer und bitte recht ſchön, 
dag Euer Hochwohlgeboren diejen Schlingel da zum Unterricht an— 
nimmt und bitte, lajjen Ste es ſich nicht leid thun und jchonen 
= nicht Ihre Hand, nur gebrauchen Sie fie, wie ein leibhaftiger 

ater.“ 

Der hochwohlgeborene Herr, dem das Stroh aus den durchlöcher- 
ten Stiefeln herausichaute, nahın den Antek beim Kinn, blidte ihm in 
die Augen und Elopfte ihm auf die Schulter. 

„Ein hübjcher Junge“, jagte er, „und was fannit Du?“ 

„Freilich, das ijt wahr, daß er jchön iſt“, erwiderte die gefchmei- 
chelte Dlutter, „aber er wird wohl gar nichts können.“ 

„Wie iſt denn das, Ihr jeid jeine Mutter und wißt nicht, was 
er fann und was er gelernt hat?“ fragte der Lehrer. 

„Und woher joll ich denn wijjen, was er kann? Sch bin ja nur 
eine arme Frau, dieje Sachen gehen mich gar nichts an. Und was er 
gelernt hat, mein Antef, das weit ich wohl. Er hat gelernt das Vieh 
auf die Weide zu führen, das Holz zu jpalten, Waſſer aus dem Bru— 
nen zu jchöpfen und das wird wohl alles jein.“ 

n diejer Weile wurde der Junge in der Schule injtallirt. Aber 
da der Mutter die ausgegebenen vierzig Grojchen leid thaten, ſam— 
melte jie, um ſich zu beruhigen, vor ihr Haus ein paar Nachbarn und 
fragte fie, ob es gut ſei, daß Antek in die Schule gehe und daß fie 
eine jolche Ausgabe für ihn gemacht habe. 

„u!“ jagte einer von den Bauern, „es heißt wohl, daß man den 
Lehrer von der Gemeinde aus bezahlt, und folglich) wenn Ihr durd)- 
aus nicht wollt, jo Nas Ihr ihm gar nichts zu geben. Aber er 
mahnt immer und unterrichtet diejenigen, die ihm nicht bejonders zah— 
len, immer jchlechter.“ 

„Und iſt er denn ein guter Lehrer?“ 

„Run, es macht jih! Wenn man mit ihm jpricht, jcheint er 
fogar ein bischen dumm zu jein, aber er unterrichtet doch, wie es fich 
hebört. Mein Junge zum Beiſpiel geht doch erjt das dritte Jahr in 
die Schule und er fennt jchon das Alphabet, von oben nad) unten 
und von unten nach oben.“ 
pr „Eh! Was bedeutet denn das Alphabet?“ fragte ein zweiter 

auer. 

„Freilich, es bedeutet etwas“, jagte der erite. „Ihr thut jo, als 
ob > es nicht gehört hättet, was unſer Vogt jagt: „Wenn ich 
wenigitens das Alphabet könnte, würde ich von ſolch' einer Gemeinde 
en —— tauſend Rubel Einkommen haben, gerade ſo viel wie der 

reiber.“ 

Ein paar Tage darauf ging Antek zum erſten Male in die Schule. 
Sie kam ihm faſt ſo vor, wie das Zimmer in der Schänke, wo das 


298 Antek, 


Branntweinfaß jteht, und die Bänke jtanden dort fo hintereinander, 
wie in der Kirche. Nur der Ofen war gejpalten und die Thür ging 
nicht ganz zu, folglich fror er ein wenig. Die Kinder hatten rothe 
Geſichter und hielten die Hände in den Aermeln. Der Lehrer sing un 
einem Belz und mit einer Schaffellmüge auf dem Kopf herum. Und 
aus allen Winkeln gudte der weiße ot hervor und jperrte jeine 
funfelnden Augen weit auf. 

Man jegte Antek neben diejenigen, die noch feinen Buchſtaben 
fannten, und die Lektion fing an. | 

Antef, durd die Mutter feierlich ermahnt, gelobte ſich, daß er 
ſich auszeichnen werde. | 

Der Lehrer nahm die Kreide in die durch die Kälte erjtarrten 
Singer und malte auf der Tafel, die in einem trojtlofen Zujtande 
ſich befand, ein Zeichen * 

„Schaut, Kinder!“ ſagte er, „dieſer Buchſtabe iſt ſehr leicht zu 
behalten, weil er ſo * t, als ob jemand einen Koſak tanzen 
möchte und man lieſt ihn A. — Ruhig dort, Eſel! ... Wiederholt 
J : BEBRLERE, ı ee 
A...al...al... riefen im Chor die Schüler der erjten 
Abtheilung. Ihr Rufen übertönte die Stimme Anteks. Aber der 
Lehrer hatte ihn bis jeßt noch nicht beachtet. 

Der Junge war ein wenig verlegt, jein Ehrgefühl wurde gereizt. 

Der Lehrer zeichnete ein zweites Zeichen auf die Tafel. 

„Diejer Buchſtabe“, jagte er, „ijt noch leichter zu behalten, weil. 
ne wie „eine Bregel ausſieht. Habt Ihr jchon einmal eine Brekel 
gejehen ?“ 

„Der Wojtech hat jchon eins gejehen, aber wir noch nicht“, er- 
widerte einer von den Schülern. 

„Run jo denkt, dab eine Bregel dieſem Buchſtaben ähnlich ift, 
der B. heißt. Nun jagt laut be! be!“ 

Der Chor rief be! be! Aber Antek zeichnete jic) diesmal wirklich 
aus. Er ballte die beiden Hände wie eine Trompete zujammen und 
blöfte wie ein einjähriges Kalb. 

Ein jchallendes Lachen hallte in der Schulitube wieder; nur der 
Lehrer bebte vor Zorn. 

„De!“ jchrie er Antef an. Bift Du denn fo fred, dag Du aus 
der Schule einen Kälberjtall machſt? Bringt ihn nur hierher, ich 
werde ihm eine Erwärmung geben.“ 

Der Junge wurde ganz jtarr vor Verwunderung, aber bevor er 
zu jich fam, hatten ihn ſchon die beiden Stärfften aus der Schule 
bei den Armen ergriffen, zogen ihn in die Mitte des Zimmers und 
legten ihn auf die Erde. 

Antef hatte noch immer nicht recht verjtanden, um was es ich 
handele, als er plöglich ein paar tüchtige Schläge fühlte und die fol- 
gende Warnung vernahm: 

„Wirt Dur nicht mehr blöfen, Du Hallunfe? Blöke nicht 
mehr.“ 

Nun lieg man ihn los. Der Junge jchüttelte jic wie ein Hund, 
der aus dem falten Wafjer herausgeholt wird, ab und ging auf feinen 
Pla zurüd, Ä 





Antek. 299 


Der Lehrer zeichnete den dritten und vierten Buchjtaben auf, die 
Kinder riefen fie chorweije nach, und darauf folgte das Examen. 

Der erite, der antwortete, war Antef. 

„Wie heißt diefer Buchjtabe?* fragte der Lehrer. 

„A!“ erwiderte der Junge. 

„Und der zweite? 

Antek ſchwieg. 

„Der zweite heißt be. Wiederhole, Du Eſel!“ 

Antek ſchwieg beharrlich. 

„Wiederhole, Du Eſel, be!“ 

„Bin ich. denn dumm!” murmelte der Junge, der gut in der 
Erinnerung behalten hatte, daß man in der =, e nicht blöfen dürfe. 

„Was, Du Schlingel? Du bift noch frei? Bringt ihn her zur 
Erwärmung!“ ; 

Und wieder Ya ihn diejelben Kollegen, die es jchon früher 
gethan hatten, bei den Armen, legten ihn " und der Lehrer ertheilte 
ihm diejelbe Zahl von Schlägen, diesmal ſchon mit der Warnung: 

„Sei nicht frech! Hört Du, ſei nicht frech!“ 

Eine Bierteljtunde nachher fing der Unterricht der oberen Ab— 
theilung an, und die untere ging in die Küche des Lehrers. Dort 
ſchälten die einen unter der Leitung der Frau des Lehrers, die Kar: 
toffeln, die anderen trugen das Waſſer, die dritten die Nahrung für 
die Kuh und bei diefer Beichäftigung verging ihnen die Zeit bis zum 


— | 
ls Antef nad) Haufe fam, fragte ihn die Mutter: 

„Nun, was haft Du gelernt?“ 

„Sch habe gelernt!“ erwiderte der Knabe jtolz. 

„Und haft Du was befommen ?“ 

„DO! Und wie, zweimal!“ 

ir das Lernen? 

„Kein, nur eine Erwärmung.“ 

„Siehit Du, das ijt der — — wirſt Du auch für 
das Lernen bekommen“, tröſtete ihn die tter. 

Antek wurde nachdenklich und Kummer erfüllte ſeinen Geiſt. 

„Ach, da giebt es wohl keinen Rath“, ſagte er ſich im ſtillen. 
„Er ſchlägt, das iſt wohl wahr, aber er wird mir wenigſtens zeigen, 
wie man die Windmühlen baut.“ 

Seit diefer Zeit lernten die Kinder der unterjten Abteilung 
immerfort die vier eriten Buchitaben und dann gingen fie in die Küche 
und auf den Hof, um der Wirthichafterin des Lehrers bei ihren 
. behilflich zu jein. Bon den Windmühlen war jedoch feine 

ede 


Eine Tages war der Froſt draußen leichter geworden, auch das 
Herz des Schulmeijterd thaute einigermaßen auf und er wollte feinen 
jüngften Zöglingen den Nuten der Schrift erflären. 

„Schaut, Kinder“, jagte er, indem er auf der Tafel das Wort 
„Haus“ jchrieb, „was das Schreiben für eine kluge Sache iſt. Dieje 
vier Fig jind jo Klein und nehmen jo wenig las em, und Doc 
bezeichnen jie ein Haus. Wenn Du nur einen Blid auf diejes Wort 
wirfit, da ſiehſt Du gleich vor den Augen ein ganzes Gebäude, die 


300 Antek. 


Thüren, die Fenſter, den Blur, die Zimmer, die Defen, die Bänke, Die 
Bılder an den Wänden, furz gejagt, Du ſiehſt das Haus mit allem, 
was jich darin befindet.“ 

Antek rieb jich die Augen, redte jich von jeinem Plage hervor, 
jchaute ſich das auf der Tarel gejchriebene Wort genau an, aber er 
fonnte feineswegs darin ein Haus erfennen. Endlich jtieß er jeinen 
Nachbar an und fragte: 

„Siehit Du bieke Hütte, von welcher der Lehrer jpricht?“ 

„Sch jehe fie nicht“, erwiderte der Nachbar. 

„Das muß wohl eine Züge jein!“ Io Antef. 

Den legten Sag vernahm der Magiſter und jchrie: 

„Was iſt eine Lüge! Wo tft da eine Lüge!“ 

„Nämlich das, daß 116 auf der Tafel ein Haus befindet. Es iſt 
Doch nur ein wenig Kreide auf der Tafel, aber ein Haus iſt nicht zu 
jehen“, antwortete Antef naiv. 

Der Lehrer griff ihm beim Ohr und zog ihn in die Mitte des 
Zimmers. 

„Bringt ihn hierher, ic) werde ihm eine „Erwärmung“ geben!“ 
fchrie er, und nun wiederholte ſich bis auf die kleinſten Einzelheiten 
die dem Jungen jchon wohlbefannte Ceremonie. 

Als Antek nach Haufe fam, roth und verweint, fragte ihm Die 
Mutter wieder: 

„Dal Du was befommen?“ 

„Und denfit Du vielleicht, Mütterchen, nicht?“ jtöhnte der Knabe. 

not das Lernen?“ 

„Nicht für das Lernen, nur jo eine „Erwärmung“!“ 

Die Mutter machte eine Handbewegung. 

„Ja!“ jagte fie nach) einer Pauſe, „Du mußt noch warten, jo wird 
man Dir dort einmal aud) für das Lernen geben.“ 

Und ſpäter murmelte fie vor ſich, indem fie das Holz in die 
Küche legte: 

„So geht es immer einer Wittwe und einer Waiſe in diejer Welt. 
Wenn ich dem Lehrer etwa einen halben Rubel und nicht vierzig 
Groſchen geben könnte, würde er jid) gleich mit meinem Jungen * 
al Und jo jchäfert er nur mit ihm und das tft alles. 

nd Antek dachte jich, ala er diejes hörte: 

„Ru, nut Wenn er jo mit mir jchäfert, wie wird es dann noch 
werden, wenn er mit mir zu lernen anfangen wird?“ 

Zum Unglüd oder zum Glüd, jollten die Bejorgnijfe des Jungen 
ſich nie erfüllen. 

Eines Tages, es war ſchon zwei Monate, nachdem Antek in die 
Schule eingetreten, kam der Lehrer zu ſeiner Mutter und fragte ſie 
nach der üblichen Begrüßung: 

„Meine liebe Frau, was wird denn aus Eurem Jungen werden? 
Ihr habt für ihn vierzig Groſchen gegeben, aber dag war gleich am 
Anfang, und Az it ſchon der dritte Monat vorüber und ehe 
feinen Heller mehr! Das ijt doch nicht recht und billig; zahlt ſchon, 
wenn es jo jein muß, vierzig Grofchen, aber doch jeden m 

Die Wittwe antwortete darauf: 

„Woher joll ich e8 nehmen, wenn ich nichts habe. Jeder Gro- 


onat.“ 


Antek. 301 


jchen, den ich verdiene, alles geht an die Gemeinde. Es reicht jogar 
nicht einmal, um den armen Kindern irgend einen geben zu faufen.“ 

Der Lehrer erhob jic) von der Banl, jegte die Müge im Zimmer 
auf und antwortete: 

„Wenn dem jo iſt, jo braucht Antek nicht die Schule zu bejuchen. 
Sch denke nicht daran, umſonſt meine Hand für 0m anzuftrengen. So 
ein Unterricht wie meiner, it nicht für arme Kerle.“ 

Er ging hinaus, die Wittwe blickte ihm nach und dachte bei jich: 
„Freilich, das iſt wahr. So lange die Welt jteht, haben nur herr- 

ftliche Kinder die Schule bejucht. Und wie könnte ein gemeiner 
enjch das erreichen.“ 
ieder holte jie jich beim Gevatter Andreas Rath, und nun 
fingen beide an, den Jungen zu eraminiren. 

„Bas hajt Du, u durch die zwei Monate gelernt?“ 
fragte * Andreas. „Die Mutter hat ja für Dich vierzig Groſchen 
ausgegeben.“ 

— I!" fügte die Wittwe jeufgend hinzu. 

„Was ſoll ıd) dort gelernt haben!“ antwortete der Junge. „Man 
ſchält die Kartoffeln in der Schule gerade jo wie zu Haufe, man giebt 
den —— auch genau ſo zu eſſen. Nur das eine, daß ich ein 
paar Mal dem Lehrer die Stiefeln geputzt habe; aber dafür haben ſie 
mir den ganzen rg Ba diejen „Erwärmungen“ zerrijjen.“ 

„Run, und vom en haft Du nichts erhafcht?" 

„Wer wird da was erhajchen!“ jagte Antef. Wenn er mit ung 
lernt, dann lügt er. Er jchreibt fich da auf der Tafel ein Zeichen 
auf und jagt, daß das ein Haus mit Zimmern, mit einem Flur und 
mit Bildern ift. Der Menſch hat doch Augen und jieht doch, daß 
das fein Haus ift. Und wenn er uns wieder jchulmäßig lernt, da 
veriteh’ ihn der Kudud! Es jind dort ein paar ältere Schüler, die 
Ga Lieder fingen, aber die jungen fünnen zufrieden fein, wenn 
ie ein wenig fluchen lernen.“ 

„Verjuche nur noch einmal, jo garjtig zu reden, da werde ich Dir 
was geben!” mijchte jich die Mutter hinein. 

„Kun, und zur Landwirthichaft wirft Du nie Luft befommen?* 
fragte Andreas. 

Antek fühte ihm die Hand und Iagte: 

„Schidt mic) nur dahın, wo man die year uch bauen lernt.” 

Die Alten — mit den Achſeln wie auf Befehl. 

Die unglückſelige Windmühle, welche auf der anderen Seite der 
Weichſel das Korn malte, blieb ſo tief in der Seele des Jungen haf— 
ten, daß ſie keine Macht mehr daraus entfernen konnte. 

Nach einer langen Berathung beſchloß man zu warten. Und man 
wartete. 

Eine Woche — der andern, ein Monat nad) dem andern ver— 

ing, endlich wurde der Junge zwölf Jahre alt, aber in der Wirth. 
—* leiſtete er noch immer ganz unbedeutende Dienſte. Er ſchnitzelte 
ſeine Figürchen und machte ** wunderliche Figuren. Und erſt als 
das Meſſer verdorben war und die Mutter kein Geld gab, um ein 
neues zu kaufen, vermiethete er ſich zur Arbeit. Einmal hütete er die 
Pferde eines Bauern auf der Wieſe während der Nacht, die Gedanken 


302 Antek. 


ganz in den Abendnebel vertieft und in die Sterne blidend. Einem 
andern Bauer führte er die Ochjen beim Adern. Manchesmal ging er 
in den Wald Beeren oder Pilze zu juchen, und verkaufte dann eimen 
vollen Korb für ein paar Groſchen dem Schänkwirth Meordechat. 

Im der Hütte ging es inzwilchen jchlecht vonftatten. Cine 
Wirthichaft ohne Mann iſt ein Körper ohne Seele; und wir wiſſen 
ihon, daß Anteks Vater ſeit ein paar Jahren dort auf dem Hügel 
ruhte, wo durch die mit rothen Beeren bededte blühende Hede im 
Frühling die kleinen Kreuzchen herausguden. 

Die Wittwe miethete einen Bauernfnecht, damit er ihr die Meder 
in Ordnung bringe; den Reit des Geldes mußte jie ins Gemeinde: 

3 abtragen, und erft vom dem, was ihr übrig blieb, ernährte jie 
ich und die Jungen. £ 

Sie afen nur jeden Tag eine jaure Brodjuppe (Barjcht) umd 
Kartoffeln, manchmal aud) Grüße und Klöße, viel jeltener Erbjen 
und Fleiſch, höchſtens zu Oſtern. Mandymal fehlte auch dieſes im 
der Hütte, und dann flickte die Wittwe die Bauernfittel ihrer Söhne, 
da ſie nicht die Küche zu bejorgen brauchte Der Heine Wojtech 
weinte und Antef fing aus Langeweile während der Mittagszeit die 
Fliegen; nach ſolch' einem Feitmahl ging er dann wieder auf den 
3 um ſeine Leitern, Hecken, Windmühlen und Heiligen zu ſchnitzeln. 
ll — er die Heiligen freilich ohne Geſichter und Hände. 

udlich verſchaffte Gevatter Andreas, ein treuer Freund der ver— 
waijten Familie, dem Antek eine Stelle beim Schmied des benachbar- 
ten Dorfes. Eines Sonntags ging er mit der Wittive und dem Jungen 
hin. Der Schmied nahm Te leidlicd; auf. Er prüfte den Jungen in 
den — und im Kreuz, und nachdem er geſehen hatte, daß er für 
ſein Alter ziemlich ſtark, nahm er ihn zu ſich in die Lehre, ohne Be— 
zahlung und nur auf ſechs Jahre. 

Dem Jungen war es ſchrecklich und überaus traurig anzuſehen, 

wie die weinende Mutter und der alte Andreas, nachdem Sie von ihm 
und von dem Schmied Abjchied genommen hatten, hinter den Obſt— 
gärten verjchwanden, als fie nad) Haufe gingen. E3 wurde ihm noch 
trauriger zumutbe, als er die erjte Nacht unter einem fremden Dache 
jchlief, in der Scheune zwijchen den ihm unbekannten Lehrlingen des 
Schmiedes, welche jein Abendbrod aufgegefien hatten und ihm noch 
für. die Nacht ein paar Fauftichläge als Unterpfand einer guten 
Freundſchaft gaben. 
Aber als fie den andern Morgen, zugleich mit dem Sonnenauf— 
gang, ſchaarenweiſe nad) der Schmiede gingen, als fie das Feuer ſchür— 
ten, Antek anfıng in jeinen diden Blajebalg zu blajen und die an- 
deren mit ihren Hämmern das erglühte Eifen zu jchmieden begannen, 
fröhliche Lieder jingend, da erwachte in dem Jungen ein ganz neuer 
Geiſt. Der Klang des Metalls, das rhythmiſche Getöje, das Lied, wel- 
chem der Wald mit einem Echo antwortete, alles dies beraufchte den 
Jungen. Es ſchien, als ob des Himmels Engel in feinem Herzen 
neue Saiten aufgejpannt hätten, die den anderen Bauernfindern une 
befannt find, und dieſe Saiten ertönten erſt heute beim Schnauben 
des Blajebalgs, beim Schlagen der Hämmer und den aus dem Feuer 
jprühenden Funken. 


Antek. 303 


Ah, was für ein waderer Schmied wäre aus ihm geworden, und 
vielleicht nocd) etwas mehr . . . aber der Junge, obwohl ihm die neue 
nähe außerordentlich gefiel, dachte fortwährend an jeine Wind- 
mühlen. 

Der Schmied, der gegenwärtige Beſchützer Antefs, war ein nichts- 
fagender Menſch. Er —— 3 Eiſen und feilte es weder gut 
noch ſchlecht. Manchmal prügelte er die Jungen, bis jie angejchwollen 
waren, und am meiſten jorgte er dafür, daß fie nicht zu früh die 
Kunſt erlernen jollten, da jo ein Gelbfchnabel, nachdem er die Lehr— 

eit bei dem Meifter beendigt hat, gleich unter den Augen jeines leib— 
Baften Lehrmeiſters eine Schmiede anlegen und ihn zu einer jorgfäl- 
tigeren Arbeit zwingen könnte! 

Aber wir mühfen wiſſen, daß der Meiſter noch eine andere 
Sitte hatte. 

Am andern Ende des Dorfes wohnte ein intimer Freund des 
Schmiedes, der Schulze des Dorfes, der an gewöhnlichen Tagen faft 
nie. von der Arbeit fortging, aber wenn ihm etwas im Amte paffirte, 
dann warf er die Arbeit weg und ging in das Wirthshaus an der 
Schmiede vorüber. Das fam ein» oder zweimal in der Woche vor. 

Und jo geht der Schulze auch heute mit dem in jeinem Amte 
erworbenen Grojchen zu dem Küfer Schenffranz und tritt auch in die 
Schmiede ein. Ä 

„Selobt jei Jeſus Chriſtus!“ jchreit er dem Schmied zu, der hin- 
ter der Ejje jteht. 

„Selobt jet Jeſus EHriftus!* antwortet der Schmied. „Und wie 
fieht e8 auf dem Felde aus?“ 

„Es — an“, ſagte der Schulze. „Und wie geht es bei Euch in 

ie 


der a 

„Es geht an“, jagte der Schmied. „Gott jei Dank, daß Ihr doc) 
einmal aus Eurer Hütte herausgefrochen jeid.“ 

„Ach ja“, antwortete der Schulze. „sch habe mich jo in der 
Kanzlei verplaudert, daß ich mir ein wenig die Zähne ausjpülen muß. 
Vielleicht geht Ihr — aus dieſem Staub ein bißchen weg?“ 

„Es verſteht ſich, daß ich gehen werde; die Geſundheit geht über 
alles“, antwortete der Schmied, und ohne ſeine Schürze auszuziehen, 
ging er mit dem Schulzen in die Schänke. 

Wenn aber der Schmied erſt einmal er ar war, jo konnten 
die Jungen ganz beſtimmt das Feuer auslöjchen. Auch wenn die drin: 
gendite Arbeit vorhanden wäre, ja ſelbſt wenn die Welt untergehen 
würde, gingen weder der Meifter noch der Schulze vor Abend aus 
der Schänfe heraus, es ſei denn, daß ſich dem Schulzen eine amtliche 
Beſchäftigung aufdrängte. 

Erſt jpat in der Nacht kehrten jie nad) Haufe zurüd. 

Gewöhnlich führte der Schulze den Schmied unter dem Arm, 
und diejer trug die Flaſche mit dem „Spülwajjer“ auf Morgen. Den 
weiten Tag war der any volljtändig nüchtern und führte jeine 
Wirthfaft bis wieder jein Amt ihm einen Grojchen einbrachte, aber 
der Schmied guete jo lange in die mitgebrachte Flaſche hinein, bis ſich 
der Boden derjelben zeigte und in bieler Weiſe ruhte er fich auf ein- 
mal zwei Tage aus. . 


304 Antek, 


Unſer Antef aber bläſt nun jchon jeit gen Jahren die 
Blajebälge in der Schmiede auf, während der Meijter und der 
Schulze gleichfall® mit großer —— anderthalb Jahre lang 
ihre zänne bei dem Küfer Schenkkranz ausfpülen. 

a ereignete jich einmal ein Zufall 

Während der *2 mit dem Schmied in der Schänke ſaßen, 
ließ man plötzlich nad) dem erſten Halbgläschen jagen, daß jemand 
I erhängt habe, und man mußte mit Gewalt den Schulzen vom 

iſche fortziehen. Da der Schmied nun feine entjprechende Gejell- 
—* hatte, mußte auch er das Spülen unterlaſſen, aber er kaufte 
ich die unentbehrliche Flaſche und kehrte mit derſelben langſam nach 
Hauſe zurück. 

Indeſſen kam ein Bauer in die Schmiede, um ſein Pferd be— 
—55 zu laſſen. 

ls ihn die Lehrlinge erblickten, ſchrien ſie: 

„Der Meiſter iſt nicht da, er trinkt heute mit dem —— 

„Und keiner von Euch verſteht es, mir das Pferd zu beſchlagen?“ 
fragte der Bauer verdrießlich. 

„Wer wird das verſtehen!“ erwiderte der älteſte Ka 

„sch werde es Euch beichlagen“, antwortete plöglich Antek. 

Der Ertrinfende greift jelbit nad) einem Strohhalm; folglich 
ging auch der Bauer auf Anteks Vorſchlag ein, obwohl er ihm nicht 
viel zutraute, und die anderen Lehrlinge ihn auslachten und be- 
Ichimpften. 

„Schau’ ihn nur an! dieſen Burjchen!“ jagte der Aelteſte. „So 
lang er lebt, hat er nicht den Hammer in der Fauſt gehalten, er bläft 
nur und legt die Kohlen zu und heute geht er auf das Pferdes 
beichlagen los!“ 

Es ijt aber Elar, daß Antef den Hammer doc) wohl manchmal 
in der Fauſt gehalten haben muß, denn in einer verhältnigmäßig Eur- 
zen Zeit jchmiedete er ein paar Nägel und jchlug das Hufeiſen ab. 
war war das — groß und nicht ſehr gut geformt, aber die 

hrlinge machten den Mund weit auf. 

Gerade in dieſem Augenblick kam der Meiſter. Man erzählte 
ihm, was paſſirt ſei und zeigte das Hufeiſen und die Nägel. 

Der Schmied prüfte dajjelbe und rieb ſich ſogar die mit Blut 
unterlaufenen Augen. 

z —*o wo haft Du das gelernt, Du Dieb?“ fragte er darauf 
ntet. 

„sn der Schmiede“, erwiderte der Junge, den das Kompliment 
erfreut hatte. „Wenn der Herr Meijter zum „Spülen“ ging und die 
Jungen auseinander liefen, habe ich mir jo verjchiedene Sachen aus 
Blei oder Eifen gejchmiebdet.“ 

Der Meiſter war jo verlegen, daß er —— bergnB, den Antek 
wegen des Verderbens der Materialien und Geräthe durchzuprügeln. 
Er ging zu jeiner rau, um ſich mit derjelben zu berathen und bald 
darauf entfernte man den Jungen aus der Schmiede. Nun wurde er 
für die Wirthichaft bejtimmt. 

„Du biſt zu flug, mein Lieber!“ jagte ihm der Schmied. „Du 
fönntejt in drei Jahren das Handwerk erlernen und dann würdeſt 


Der Thurmfalk. 


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Antck. 305 


Du weglaufen. Und Deine Mutter hat Dich mir doc) auf jechs 
Jahre zum Dienſt übergeben.“ 

Noch ein halbes Jahr blieb Antek bei dem Schmied. Er grub 
im Garten, jätete das Unfraut aus, jpaltete das Holz, wiegte die Kin— 
der ein, aber er durfte nicht mehr die Schwelle der Schmiede über: 
treten. In diefer Hinficht beobachteten ihn alle jehr jcharf: der Mei: 
jter, jeine rau und die Lehrlinge. Sogar die eigene Mutter Anteks 
und der Gevatter Andreas, obwohl ihnen die Urjache befannt war, 
jagten nichts dagegen. | 

Nach der Verabredung und der Sitte des Dorfes gemäß, hatte 
der Junge erjt nach jechs Jahren das Recht jelbjtitändig in das 
Eiebehsubipert zu pfujchen. Daß er merkwürdig jcharfjinnig war 
und von niemandem gelernt hatte, vielmehr jelbjt das Schmiedehand- 
werf erlernte, dejto jchlimmer für ihn! 

Antek wurde aber diefe Lebensweije doch überdrüſſig. 

„Soll ich hier bloß im Garten graben und Holz jpalten, dann 
ziehe ich es jchon vor, dajjelbe bei dev Mutter zu thun.“ 

Sp dadıte er eine Woche, einen Monat lang. Er jchwantte, 
Aber endlich lief er vom Schmied weg und fehrte nach Haufe zurück. 

Dennoch find ihm aber dieje paar Jahre zugute gefommen. Der 
Junge wuchs aus, wurde mannbar, lernte ein wenig mehr Menjchen 
fennen als in jeinem Thal, und hauptjählich wurden ihm mehr 
Handwerfsgeräthe befannt. 

Jetzt, wenn er zu Haufe jaß, half er manchmal in der Wirth- 
jchaft, aber vorwiegend machte er jeine Majchinen und jchnigelte Figuü— 
ren. Er hatte nun jchon außer dem Mefjer ein Meißel, eine Feile 
und einen Bohrer und hantirte damit jo geläufig, daß jogar ſchon 
der Schänfer Mordchai manche von jeinen Produkten zu faufen anfing. 
Wozu? Antek wußte es nicht, obwohl jeine Windmühlen, Hütten, 
fünjtlichen Schachteln, Heiligen und gejchnigten Pfeifen jich in der gan: 
zen Umgegend verbreiteten. Man mwunderte fich über das Talent des 
unbefannten Autodidakten, man zahlte jogar nicht geringe Preiſe dem 
Mordechai für feine Produkte, aber niemand dachte an den Jungen, 
m um jo weniger dachte jemand daran, ihm eine heffende Hand zu 
reichen. 

Pflegt jemand etwa die Feldblumen, die wilden Birnen und Kir— 
jchen, obwohl man doch weiß, daß bei einer gewijjen Pflege man aud) 
von ihnen einen größeren Nutzen ziehen fünnte? 

Indejjen wuchs der Junge ar und die Dorfmädchen und Frauen 
gudten ihn immer freundlicher an und jprachen immer häufiger unter- 
einander: 

„Ein hübjcher Kerl iſt er, dagegen iſt nicht3 zu jagen.“ 

Und in der That, Antek war jchön. Er war gut gebaut, ziem- 
(ic) graziös und hatte eine gerade Haltung, nicht jo wie die Bauern, 
deren Achjeln herunterhängen und deren Füße vor jchwerer Arbeit 
faum vorwärtsrüden. Er hatte auch ein ganz anderes Geficht, die 
„ige waren jehr regelmäßig, der Teint friih und die Augen von 

ugem Ausdrud. Er hatte auch helle Lodige Haare, dunkle Augen: 
brauen und dunfelblaue, träumeriſche Augen. 

Die Männer wunderten ſich über Yeine Kraft und zudten mit 

Der Ealon 1887. Heft IX. Band II. 9 


306 Antek. 


den Achjeln dazu, dab er faullenzte. Aber die Frauen zogen es vor, 
in jeine Augen zu bliden. 

„Wenn der Kerl einen Bid auf den Menjchen wirft“, jagte eine 
von den ‚Frauen, „da jchaudert cs einen. Er iſt nod) ein jo junger 
Burſche und er guckt einen jchon an wie ein alter Edelmann.“ 

„Das iſt nicht wahr!“ erwiderte die zweite. „Er guckt gewöhn— 
fich wie ein Gelbjchnabel, er hat nur etwas jo ſüßes in jenen Augen, 
day es Dir in die Glieder geht. Ich veritehe das!“ 

„Sch muß das doch beijer wiljen“, enwiderte die erite, „ich habe 
ja im Edelhof gedient.“ 

Und während die Frauen jo über die Weije, wie Antek drein- 
ſchaute, hin und ber ftritten, jah er fie indejjen gar nicht an. Bei 
ihm bedeutete eine gute Feile viel mehr als die ſchönſte Frau. 

In derjelben dit hatte fich der Dorfvogt, der jchon jeine Töch— 
ter aus eriter Ehe verheiratet und zu Haufe nur noch ein paar Eleine 
Kinder aus der zweiten Ehe hatte, zum dritten Mal in das Ehejoch 
begeben. Und wie die Kahlköpfe gewöhnlich Glück haben, jo fand 
auch er ein junges, hübjches, reiches Frauchen in einem Dorfe hinter 
der Weichjel. 

Als diefes Baar vor dem Altar jtand, fingen die Leute an zu 
lachen; und der Geiitliche jelbit jchüttelte ein wenig mit dem Kopf, 
weil ſie jo gar nicht zueinander paßten. 

Der Vogt zitterte wie ein alter Bettler, der eben erit aus dem 
Krankenhaus herausgefommen iſt. Die — war dagegen wie ein 
Funke. Ein reines Zigeunermädchen, mit kirſchrothen, ein wenig geöff— 
neten Lippen, und mit ſchwarzen Augen, in welchen ihre Jugend wie 
Feuer flackerte. 

Nach der Hochzeit wurde das gewöhnlich ſtille Haus des Vogts 
lebendig, da immerwährend Gäſte ankamen. Bald der Förſter, welcher 
jetzt häufiger wie gewöhnlich Geſchäfte in der Gemeinde zu haben 
pflegte; bald der Amtsjchreiber, welcher wahrjcheinlich fich in der 
Kanzlei an der Gegenwart des Vogts nicht genug erfrent hatte und 
ihn noch zu Haufe bejuchte, bald wieder die Negierungsjäger, die man 
bis jeßt jehr jelten im Dorfe gejehen hatte. Sogar der Dorflchrer 
Dar? nachdem er feinen monatlichen Lohn befommen hatte, den alten 
Pelz in die Ede und zog fich wie ein Magnat an, jo daß manche 
von den DPorfleuten ihn als „hochwohlgeborenen Gutsbeſitzer“ titulir- 
ten. Und alle dieje Forſtbeamten, Jäger, Schreiber und Lehrer zogen 
ur Frau des Vogts, wie die Ratten in die Mühle Saum war einer 
in das Zimmer getreten, jo wartete jchon der zweite hinter der Hede, 
der dritte ſchritt ſchon vom Ende des Dorfes ber, und der vierte 
machte fich bereits um den Vogt zu thun. Die junge Frau jah jie 
alle gern bei fich, ſie lachte, unterhielt die Säfte und gab ihnen zu 
trinfen. Aber manchmal zog ſie auch einen bei den Haaren und 
prügelte ihn durch, weil die Yaune der Dorfſchönen ſich jehr Leicht 
veränderte, 

Endlich, nach der Hochzeit, die ein halbes Jahr lang gedauert 
hatte, fing es an im Haufe etwas ruhiger zu werden. Einige von 
den Gäſten befamen es über, die anderen jagte die Frau weg und 
nur der alte Lehrer, der jelbjt ſchlecht aß und feine Wirthin mit 


Antck. 307 


Hunger quälte, faufte fich für jeden monatlichen Lohn irgend etwas 
neues zu jeinem Anzug und ſaß bei der Vogtin an der Schwelle, weil 
man ihn aus dem Zimmer herausgejagt hatte, oder er fluchte und 
jeufzte in dem Gehege. 

An einem Sonntag ging Antek zur Kirche, wie gewöhnlich mit 
der Mutter und dem Bruder. In der Kirche war es jchon eng, aber 
ſie fanden doc) noc) ein Plätchen. Die Mutter kniete auf der rech- 
ten Seite zwiichen den ‚rauen, Antef und Wojtech auf der linfen 
Seite zwilchen den Bauern, und jeder betete, wie er fonnte. Zuerſt 
zu dem Heiligen am großen Altar, dann zu dem Heiligen, der über 
diejem jteht, dann zu den Heiligen auf den Altären an der Seite. 
Er betete für den Bater, den der Baum erichlagen hatte, für die 
Schweiter, von welcher die Krankheit im Ofen zu vajch ſich entfernt 
hatte und auch dafür, daß der allgütige Gott und jeine Heiligen 
von allen Altären ihm Glüd im Leben geben mögen, wenn es ıhr 
Wille jei! 

Als Antek jchon das vierte Mal in der Reihe jeine Gebete wie- 
derholte, fühlte er plöglich, daß jemand ihm auf den Fuß getreten 
war und jich jchwer auf jeinen Arm jtügte. Er hob den Kopf auf. 
Neben ihm ſtand die Frau des Vogtes, die jich durch das Gedränge 
des Bolfes durchdrücken wollte; ihr Gejicht war geröthet und jte 
feuchte vor Eile. Sie war wie eine Bäuerin gekleidet, und man konnte 
hinter dem von den Schultern herabhängenden Tuch ein Hemd aus 
an, dünner Leinwand und Ketten von Glasperlen, Bernitein und 

orallen jehen. 

Beide blickten fich in die Augen. Sie nahm noch immer nicht 
ihre Hand von jeiner Schulter weg, und er — fniete, one auf ſie 
“ wie auf eine Wundererjcheinung Hin und wagte ſich nicht zu ihren, 
damit ihm die Erjcheinung nicht verjchtwinde. 

Die Leute fingen ſchon an zu flüitern: 

„Rüct weg, Öevatter, die Frau Vogtin geht.“ 

Die Gevattern rüdten weg und die Frau Vogtin ging weiter, bis 
zum großen Altar. Auf dem Wege jtolperte jie und jchaute wieder 
auf Antek Hin, und der Junge wurde roth unter dem feurigen Blid. 
Dann jegte jie fi) in die erjte Bank und betete aus ihrem Bud), 
—— den Kopf erhebend und in die Kirche ſchauend. 

Ind als man während der Meſſe die Hoſtie und den Kelch in 
die Höhe gehoben, und es in der Stirche mäuschenjtill wurde, und die 
Frommen auf die Gejichter fielen, legte fie ihr Buch zujammen, wen— 
dete ich wieder zu Antek hin und vertiefte ihre Ölutaugen in ſein 
Geſicht. Auf ihr Sigeunergeitcht und die Glasperlenichnüre fiel vom 
Fenſter ein breiter Lichtjtrahl herein und fie erjchten in diefem Augen— 
blit dem Jungen wie eine Heilige, angejichts welcher die Menjchen 
jchweigen und zu Staub werden. 

Nach der Mejje gingen die Leute jchaarenweile nach Haufe. Die 
rau Vogtin wurde von dem Schreiber, dem Lehrer und dem Brannt— 
weinbrenner aus dem dritten Dorfe jo umringt, daß Antek fie nicht 
mehr zu jehen befam. 

In der Hütte jette die Mutter eine ausgezeichnete Graupenjuppe 
mit Milch angerichtet, und ungeheuere gefüllte Knödel mit Grüge vor 

21* 





308 Antek. 


dem Jungen hin. Aber Antek, obwohl er die Speijen jehr gerne af, 
rührte jie faum an. Dann lief er in das Gebirge, legte ſich dort 
auf den höchiten Gipfel hin umd gudte von dort aus auf die Hütte 
des Vogts. Aber er jah nur das Strohdac und den feinen bläulichen 
Rauch, welcher langjam ſich aus dem angeweißten Schornitein erhob. 
Infolge deſſen wurde ihm jo jchredlich bange, daß er jein Geficht in 
den alten Bauernfittel verſteckte und zu weinen anfing. 

Zum erſten Mal in jeinem Leben fühlte er jein großes Elend. 
Die Hütte, die ihnen gehörte, war die ärmlichite im Dorfe, und das 
Feld das jchlechteite von allen. Die Mutter, obwohl fie eine Bauern 
wirthin war, mußte doch wie eine Miethsfrau arbeiten und war fajt 
in Zumpen gekleidet. Auf ihn jelbit blicte man im Dorfe wie auf 
einen verlorenen Menfchen, der, man weiß nicht warum, den andern 
das Brod fortejje. Und was hat man ihn nicht zujammengeprügelt, 
was haben ihn nicht die Hunde zufammengebijjen! 

Nie weit ab war er vom Lehrer, von dem Branntweinbrenner 
und von dem Schreiber, welche, jo oft jie nur wollten, in die Vogts— 
hütte hineingingen und mit der ‚Frau Iprechen fonnten! Er dagegen 
hatte nichts und wünschte jo wenig. Er wollte nur, daß fie wenig- 
jtens einmal noch, das einzige und legte Mal in jeinem Leben, ihre 
Hand auf jeine Schulter legen und ihm in die Augen blicken möchte, 
jo wie heute Morgen in der Kirche! Denn in ihrem Blid flimmerte 
ihm etwas merfwürdiges, etwas wie ein Dun bet welchem ſich auf 
eine furze Weile die himmlischen Tiefen voll von Geheimnifjen ent- 
hüllen. Wenn jemand jie gut anjehen fünnte, würde er alles, was 
auf diejer Welt ift, jehen und wäre reich wie ein König. 

Antek hatte ſich freilich nicht gut angejehen, was tn den Augen 
der jungen Frau flimmerte. Cr war unvorbereitet, geblendet und I 
verlor er die glücliche Gelegenheit. Aber wenn fie noch einmal }o 
auf ihn hinjchauen wollte! Er träumte, daß er ein vorüberflichendes 
Glück gejehen habe und fühlte eine große Sehnjucht nach demjelben. 
Das jchlummernde Herz erwachte und fing an jich inmitten jeines 
Schmerzes auszuftreden. Jetzt Ichten ihm die Welt ganz andere. Das 
Thal war ihm zu eng, die Berge zu niedrig und der Himmel fam 
ihm vor, als ob er ſich herunter gelafjen hätte, denn anjtatt ihn zu 
jih aufzuziehen, fing er an ihn niederzudrüden. Der Junge jtieg 
taumelnd vom Ber —— und wußte ſelbſt nicht, wieſo er ſich am 
Ufer der Weichſel befand; aber da er in die Wellen des Fluſſes ſeinen 
Blick vertiefte, fühlte er, daß ihn etwas zu ihnen hinabziehe. 

Die Liebe, die er ja nicht einmal zu nennen verſtand, war über 
ihn wie ein Sturm gekommen und ſchürte in ſeiner Seele die Angſt, 
den Schmerz, die Verwunderung und wußte er denn, was noch alles! 

Seit jener Zeit ging er jeden Sonntag in die wur und mit 
itterndem Herzen wartete er auf Die * Vogtin, weil er dachte, 
Bak fie wie damals ihre Hand auf ihn lehnen und ihm in die Augen 
ichauen würde. Aber folche Zufälle wiederholen ſich nicht, und der 
Branntweinbrenner, ein junger und Fräftiger Bauer, der jogar vom 
dritten Dorfe zur Kirche gefahren Fam, nahm jetzt die Aufmerfjamteit 
der — Vogtin in Anſpruch. 

a kam Antek einmal ein ganz merkwürdiger Einfall. Er beſchloß, 


Antek. 309 


ein jchönes kleines Kreuz zu jchnigen und der Frau Vogtin zu widmen, 
Dann würde fie vielleicht wieder auf ihn einen Blick werfen und 
ihn von diejer ewigen Sehnjucht, die ihm das Leben aufzehrte, heilen. 

Hinter dem Dorf, auf dem Scheideweg, befand ſich ein merkwür— 
diges Kreuz. Vom Poſtament auf war es mit Winden umrankt, etwas 
höher war eine Eleine Leiter, eine Lanze und eine Dornenfrone und 
auf der Spige am linken Arm hing eine Chriſtushand; den Reit der 
Figur hatte jemand gejtohlen, wahrjcheinlich zu Zauberfuren. Diejes 
Kreuz nahm ſich Antef zum Modell. 

Er jchnigte aljo, änderte und fing immer von neuem jein Kreuze 
chen an, da er ſich Mühe gab, daß es jchön und der Frau Vogtin 
würdig jei. 

Inzwilchen fam über das Dorf ein Unglüd; die Weichjel flo 
über, rip die Dämme nieder und vernichtete die ‘Felder am Ufer; die 
Leute verloren viel, aber am meijten die Mutter Antels. In ihrer 
Hütte zeigte ſich jet der Hunger. E3 wurde nothiwendig auf Erwerb 
auszugehen; die arme Frau ging aljo jelbjt weg und auch den Woj- 
tech veriniethete jie als Hirten. Aber alles das reichte nicht aus. An— 
tef, welcher jich nicht der Landarbeit widmen wollte, wurde für fie 
eine wahre Lait. 

Der alte Andreas fing an, al3 er dies jah, auf den Knaben eine 
zudringen, daß er doc) in die Welt gehen möge. 

„Du bijt ja ein kluger Knabe, jtark, gejchiet zum Handwerk, geh’ 
aljo unter hr Stadtleute. Dort wirft Du etwas lernen und der Wut 
ter noch zur Hilfe jein. Hier aber wirft Du ihr den legten Biſſen 
Brod vom Munde wegnehmen.“ 

Antek erbleichte bei diefem Gedanken, daß er dazu fommen würde, 
das Dorf verlafjen zu müſſen, ohne noch einmal die Frau des Vogts 
zu jehen. Er begriff jedoch, daß es nicht anders jein könne und bat 
nur, daß man ihm noch einige Tage Zeit lajjen möge. 

Während diejer Zeit arbeitete er mit verdoppeltem Eifer an ſei— 
nem Sreuzchen und jchnigte es hübſch aus, mit Winden von unten, 
mit den Marterwerfzeugen und der linken Chrijtushand von oben. 
Als er aber die Arbeit vollendet hatte, fonnte er feineswegs den Muth 
finden, in die Wohnung des Vogts zu gehen und fein Gejchenf der 
Frau zu verehren. 

Inzwilchen hatte die Mutter ihm jeine Kleider geflict, von Mor— 
dechai jich einen Rubel für ihn uf den Weg — und Brod und 
Käſe für den Kober ſich verſchafft. Aber Ante 
von Tag zu Tag verſchob er ſeine Abreiſe. 

Das machte den Andreas ungeduldig. Eines Samstags rief er 
den Jungen aus der Hütte und fuhr ihn hart an: 

„Nun, wann wirjt Du endlich zur Einjicht fommen? Willit Du, 
daß die Mutter Deinetwegen vor Hunger und Arbeit zugrunde gepe? 
Sie fann nicht mit ihren alten Händen ſich und jo einen Kerl, wie Du 
bijt, der den ganzen Tag faullenzt, ernähren!“ 

Antek fiel ihm zu Füßen. 

„Sch wäre Schon fortgegangen, Lieber Andreas, aber es thut mir 
fchredlich Leid, die Meinigen zu verlajjen.“ 


zauderte fortwährend, 


310 Antek. 


Er jagte aber nicht, um wen es ihm am meisten leid that, ver- 
lajjen zu müſſen. 

„Oho!“ rief Andreas aus, „bijt Du denn noch ein Säugling, daß 
Du nicht ohne die Mutter ſein fannjt? Du biſt ein guter Junge, 
Antef, ohne ‚Frage, aber in Dir ſteckt ein jolcher Widerwille etwas zu 
thun, daß Du der Mutter noch mit grauen Haaren auf dem Hals 
bleiben möchtejt. Deswegen jage id) Dir: Morgen iſt heiliger Sonn— 
tag, wir werden alle frei jein und Dich begleiten. Nach der Mefie 
wirit Du Mittagbrod ejjen und Di auf den Weg machen. Länger 
fannst Du bier mit müßigen Händen nicht jigen, Du weißt am beiten, 
dat ıch die Wahrheit jage!“ 

Antet ging gedemüthigt in die Hütte zurüd und erklärte Elein- 
laut, daß er ſchon morgen in die Welt gehen werde, um jich Arbeit 
und eine Lehre zu juchen. Die arme ‚srau fing an, die Ihränen 
herunterjchludend, ihn für die Reife vorzubereiten. Sie gab ihm einen 
alten Kober, den einzigen in der Hütte und eine Leimwandtajche. Ju 
den Kober legte jie etwas Ejjen und in die Taſche jeine ‚Feilen, einen 
Eleinen Hammer, fleine Meißel und andere Geräthe, mit denen Antef 
jeit vielen Jahren jein Spielzeug jchnigte. 

Die Nacht nahte heran. Antek legte jich auf die harte Bank, 
aber er fonnte nicht einichlafen. Er hob den Kopf, blickte in die im 
Dfen verglühenden Kohlen, horchte auf das ferne Bellen der Hunde 
oder auf das Zirpen der Grillen in der Hütte, welche über ihn jo 
laut jangen, wie die Heupferdchen über dem verlajjenen Grab jeiner 
fleinen Schweſter Roſalie zirpten. 

Plöglich hörte er nod) cin Geräufch in einem Winfel der Stube, 
dort Ichluchzte leiſe jeine jchlafloje Mutter. 

Antef ſteckte den Kopf unter den Bauernfittel. 

Die Sonne jtand jchon hoch als er aufwachte. Die Mutter war 
bereits aufgejtanden und jtellte mit zitternden Händen das Töpfchen 
um Feuer. 

e Darauf jegten jich alle um den Tiſch zum Frühitüd, und nach: 
dem jie ein wenig gegejjen hatten, gingen jie in die Kirche. 

Antek trug auf der Brut unter dem Kittel ſein Kreuzchen. Jeden 
Augenblid drüdte er es an ſich und jah ſich unruhig um, ob nicht 
irgendwo die Vogtin zu jehen war. Mit Schreden dachte er daran, 
wie er ihr jein Geſchenk übergeben werde. 

Die Frau des Vogts war noch nicht in der Kirche. Der Junge 
fniete in der Mitte der Kirche nieder und jagte jeine Gebete mecha= 
niſch herunter, aber was er jagte, das verjtand er nicht. Die Klänge 
der Orgel, der Gejang des Chors, das Läuten der Gloden und jern 
eigenes Leid vermiſchten jich in jeiner Seele zu einem großen Sturm. 
Es ſchien ihm, als müßte die ganze Welt in ihren Fügen zittern in 
dem Augenblick, wo er das Dorf, die Kirche und alle ſeine Lieben 
verlajjen müßte. Aber die Welt blieb ruhig — nur in ihm über: 
wallte das Weh. 

Plotzlich verſtummte die Orgel und die Leute beugten ihre Häup— 
ter nieder. Antek erwachte und blickte um ſich. So wie damals wurde 
auch heute die Hoſtie und der Kelch in die Höhe gehoben und auch 
wie damals ſaß auf der Bank vor dem Altar die Vogtin. 


Antek. 311 


Da erhob ſich der Knabe von ſeinem Platz inmitten der Leute, 
lroch auf den Knien bis zu dieſer Bank und kniete zu den Füßen der 
Flau nieder. Er griff in die Bruſt und holte das Kreuzchen heraus. 
Aber da verließ ihn plötzlich der Muth und die Stimme verſagte ihm 
dermaßen, daß er auch nicht ein einziges Wort hervorbringen konnte. 
Anſtatt nun das Kreuzchen der zu geben, für die er es beſtimmt und 
monatelang geſchnitzt hatte, nahm er daſſelbe und hängte es an den 
Haken, der neben der Bank eingeſchlagen war. In dieſem Augenblick 
opferte er dem Gott am Altar das hölzerne Kreuzchen und zugleich 
mit ihm ſeine heimliche Liebe und ſeine unſichere Zukunft. 

Die Vogtin bemerkte das Geräuſch und blickte den Jungen gerade 
ſo glutäugig an wie damals. Aber er ſah nichts, weil Thraͤnen ſeine 
Augen verſchleierten. 

Nach der Meſſe kam die Mutter mit den Kindern in die Hütte 
zurück. Kaum hatten ſie die Kartoffelſuppe und die Klöße aufge— 
geſſen, erſchien Gevatter Andreas in der Stube und ſagte nach kurzer 
————— 

„Nun, Junge, mache Dich fertig!“ 

Antek umgürtete ſich den Bauernkittel mit einem Riemen und 
hängte die Taſche mit den Geräthen auf die eine Schulter und den 
Kober über die andere. Als alle ſchon zum Fortgehen bereit waren, 
tniete der Burſche Hin, ſchlug ein Kreuz und fühte den Fußboden der 
— Dann nahm ihn die Mutter an der einen Hand, ſein Bruder 

ojtech an der andern, und wie einen Bräutigam zur Trauung führ— 
ten die beiden Theuerſten ihn über die Schwelle in die Welt hinaus. 

Der alte Andreas ſchleppte ſich hinter ihnen her. 

„Hier haſt Du, Antek, einen Rubel“, ſagte die Mutter, indem ſie 
dem Burſchen das in einem Fetzen eingewickelte Kupfergeld in die 
Hand drückte. Kaufe Dir aber nicht dafür Geräthe zum Schnitzeln, 
ſondern hebe Dir dieſen Nothgroſchen für ſchlechte Zeiten auf, wenn 
Du einmal Hunger leiden wirſt. Und wenn Du Dir einmal einen 
ſolchen Groſchen ſelbſt erwerben kannſt, dann opfere ihn der heiligen 
Meſſe, damit Gott Dich ſegne.“ 

Und fie gingen jo langjam durch die Schlucht bergauf, bis ihnen 
dad Dorf aus den Augen entjchmwunden war; nur aus der Schänfe 
flang zu ihnen ein leijes Geigenpiel und ein dumpfer Trommeljchlag 
hinüber. Endlich verjtummten auch dieje, ſie jtanden auf der Anhöhe. 

„Run, fehren wir um“, jagte Andreas, „und Du, Burjche, gebe 
denjelben Weg weiter und frage nach der Stadt. Du brauchit nicht 
im Dorfe zu wohnen, jondern ın der Stadt, wo die Leute mehr Luſt 
zum Hammer wie zum der haben.“ 

Die Wittive erwiderte darauf weinend: „Oevatter Andreas, be- 
gleiten wir ihn wenigjtens zu dem Heiligenbild, wo man ihn doch wird 
jegnen können!“ . 

Und dann klagte jie fort: „Hat man das je gehört, daß eine 
leibhafte Mutter ihr eigenes Kind ins Unglüd treibt? Es iſt wahr, 
daß aus unjerm Dorfe junge Burjche zum Militär gingen, aber das 
war ein Mu. Man hat noch nie gejehen, daß jemand aus freien 
Stüden jein Dorf verlajjen hat, wo er geboren worden und wo ihn 


312 Antek. 


die Erde wieder aufnehmen joll. DO, mein Loos! Daß ich jchon den 
dritten aus meiner Hütte hinausbegleiten muß, und ſelbſt noch lebe 
auf ber Welt. Und haft Du, mein Söhnen, nur das Geld gut ver: 
wahrt?“ 

„Sch habe es verwahrt, Mütterchen.“ 

Sp kamen fie zum Heiligenbild und fingen an, Abjchied zu 
nehmen. 

„Sevatter Andreas“, jagte die Wittwe ſchluchzend, „ihr Habt doch 
jo viel von der Welt gejehen, ihr jeid von der geiitlichen Britderichaft, 
tegnet, ich bitte Euch, dieſe Waiſe, aber nur gut, dat Gott ihn jchügen 
möge.“ 

Andreas blidte zur Erde nieder, erinnerte ſich des Gebets für 

Neijende, nahm die Mütze vom Kopf und legte fie beim Heiligenbild 
nieder. Dann hob er die Hände zum Hinmel empor und als die 
Wittwe und ihre beiden Söhne niederfnieten, fing er an: O beiliger 
Gott, Bater unjer, der Dein Volk aus Aegypten und aus dem Haufe 
der Knechtſchaft geführt haft, der jedem Gejchöpf, das hier auf Erden 
ich bewegt, Nahrung giebt, der die Vögel in der Luft zu ihren alten 
tejtern zurüdführt, Dich bitten wir, jei huldreich dieſem armen und 
befiimmerten Wanderer. Beſchütze ihn, heiliger Gott, tröjte ihn in 
jedem Mißgeſchick, laß ihn genejen in jeder Krankheit, nähre * in 
Hungersnoth und rette ihn in Gefahren. Herr, ſei ihm ſo huldreich 
unter den Fremden, wie Du dem ea Be dem Tobtas warjt. Set 
ihm Bater und Mutter. Gieb ihm Deine Engel als Führer und 
wenn er das ausführen wird, was er übernommen — führe ihn glüd- 
lic in jeine Heimat und in jein Vaterhaus zurück.“ 

So betete ein Bauer in jenem Tempel, wo die Feldfräuter duf— 
teten, die Vögel jangen, wo unter ihm in breiten Windungen Die 
Weichſel floß und über ihnen das alte Kreuz jeine Arme ausbreitete. 

Antek fiel jeiner Mutter und Andreas zu Füßen, küßte den Bru- 
der — und ging des Weges weiter. 

Kaum war er ein paar Schritte gegangen, da rief die Wittwe 
hinter ihm her: „Antek!“ 

„Was, Mitterchen ?“ 

„And wenn es Dir dort unter den Fremden ſchlecht gehen jollte, 
dann fomm zu uns zurüd. Möge Dich) Gott jegnen!“ 

„Mit Gott!“ erwiderte der Knabe. 

Wieder ging er ein paar Schritte und wieder rief die Mutter ihm 
nach: „Antek, Antek!“ 

„Was, Mütterchen?“ fragte der Snabe. Seine Stimme Fang 
jchon jchwächer herüber. 

„Und vergig nicht an uns, mein Söhnchen! Möge Gott Dich 
egnen!“ 
s „Sott mit Euch!“ 

Sp ging er weiter, wie jener Junge, der jich auf den Weg machte, 
den Stein der Weijen zu juchen. Endlich verschwand er hinter dem 
Berg. Nur dem Felde hörte man noch das Schluchzen der betrübten 
Mutter. | 

Gegen Abend beho8 ji der Himmel mit Wolfen und ein dünner 
Hegen fiel nieder. Aber da die Wolfen nicht dit waren, jo drangen 





Antek. 313 


doch die Strahlen der jcheidenden Sonne durch. Es jchien, als ob 
über das graue Feld und über dem Tehmigen Weg jich ein goldenes 
Gewölbe ausbreitete, welches mit einem Trauerflor umzogen war. 

Ueber diejes graue und jtille, baumloje Feld, über den regen— 
erweichten en 308 der arme Junge langjam mit Klober und Tajche 
dahin in die Werte. Ihm war, als ſängen inmitten des tiefen Schwei- 
gens die Negentropfen die Melodie jenes Volfsliedes, das Euch gewiß 
befannt tjt und das den Abjchied von der Heimat und der Liebe jo 
ergreifend beklagt . .. 


* * 
* 


Vielleicht werdet Ihr einmal einen hübſchen Bauernburſchen tref— 
fen, der Arbeit und eine Lehre ſucht, die er unter den Seinen im 
Dorfe nicht finden konnte. Im ſeine Augen werdet Ihr wie in einen 
Widerjchein des Himmels, der fich in der Oberfläche jtiller Waſſer 
Ipiegelt, Iehen; in jeinen Gedanken werdet Ihr die naive Schlichtheit 
der Unjchuld erkennen und in jeinem Herzen eine geheime, fayt unbes 
wußte Liebe entdeden. 

Reicht dann diefem guten Knaben Eure hilfreiche Hand. Es ift 
das unjer armer Bruder Antef, dem es in jeinem Heimatsdorfe zu eng 
wurde und der jo in die Welt hinausgegangen, und ſich in den 
Schuß Gottes und guter Menjchen begeben hat. 





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Held Tenerdank oder Mazximilians Yrautfahrt. 
Von Dr. 3. Mover. 


ichter und Sänger werden nicht müde, die Romantik 
des Mittelalters, den Glanz und die Blüte des Ritter: 
thums auf Turnieren und Slreuzfahrten in ihren Lie 
dern zu preifen, und in der Ihat, jo lange noch Sinn 

— und Begeiſterung für wahre Poeſie in des Menjchen 

„s* Herzen rege jind, jo lange wird man auch in jtets 
Fe yneuen Weiſen jene jchöne Zeiten aller männlichen Tugen- 
Y den verherrlichen. Mit einer gewiljen Wehmuth hören wir 
)" die prächtigen Heldenlieder der fahrenden Sänger in den ſtrah— 
lenden Hallen verflingen, denen tapfere Fürſten und liebreizende Edel: 
damen mit Entzüden laujchten, wie leuchtende Bilder einer zauberijchen 
Fata Morgana jehen wir die jchimmernden, erzgepanzerten Gejtalten, 
wenn fie unter jchmetternden Fanfarenklängen mit eingejenkten Lanzen 
auf muthigichnaubenden Hengſten aufeinander jtürmten, von der in 
Staub gehüllten Arena verjchwinden. Teufliiche Höllenmajchinen, die 
aus ihren Feuerſchlünden Tod und Verderben jelbjt gegen die Stärf- 
jten und Tapferiten jpieen, jte machten dem Ruhm perjönlicher Ge: 
wandtheit und Waffengeübtheit ein Elägliches Ende, dahin janfen fie, 
jene fühnen Neden, deren Helme und Brünnen jett verrojtet in den 
ufeen hängen, und mit dem vernichtenden Niejenjchritt ging die Neu: 
zeit mit ihren Erfindungen und Entdedungen darüber hin. Aber noch) 
gerne verjenfen wir uns im Geiſte in jene vom Dufte ewig junger 
Poeſie umflojjenen Zeiten zurüd, gerne folgen wir den mannhaften 
Hünen in den farbenjchtimmernden Trient zum heiligen Grabe des Er: 
löjers, hören von ihren unjterblichen Thaten und erjtaunlichen Helden- 
jtreichen, wie ein Gottfried von Bouillon, ein Barbarofja und ein 
Richard Löwenherz unter Sarazenenjchaaren mähten, wie jie von den 
Wundern des Morgenlandes die laujchenden Ohren ihrer Lieben in 
der Heimat füllten und ihren erjtaunten Blicken die mitgebrachten 
Koftbarfeiten ausbreiteten. Gerne begleiten wir im Geiſte mit den 
Pagen und Knappen die minniglichen Edeldamen, wenn jie auf ihren 
jtolzen Zeltern zur Reiherbeize reiten oder wenn fie auf hohem Bal- 







Held Teuerdank oder Maximilians Brautfahrt. 315 


fone mit Elopfendem Herzen dem Ausgang des Kampfes ihrer Ritter 
zuschauen und mit jeligem Erröthen dem auserforenen Sieger den 
Fhrenpreis zuertheilen. Noch gemahnen die altersgrauen Warten und 
Binnen verfallener Schlöffer an jene jchöne Zeit — — 


„Zwar die Ritter find verſchwunden, 
Nimmer Hingen Speer und Schild, 
Doch dem Wandersmann ericheinen 
Auf den altbemooften Steinen 

Oft Geftalten zart und mild.“ 


Und jo ragt vor allem aus jener romantischen Zeit, auf der 
Grenzicheide des mittelalterlichen Ritterthums, als legte Heldengeftalt 
eines untergegangenen edlen Gejchlecht3, die jugendliche Erjcheinung 
des tapferen Kaiſers Marimilian berüber in die nivellirende Neuzeit, 
und ihm gegenüber erjcheint, von allem Liebreiz jungfränlicher Ans 
muth fuſſen das poetiſche Bild ſeiner Braut Maria von Burgund. 

Wird es in unſerer modernen Zeit in hohen und beſonders Kit, 

fichen Streifen immer ei daß ich das Herz zum Herzen Hapet 
jo berührt es um jo jympatbifcher, bet der Bermälung diejer beiden 
erlauchten Häupter, deren Bund allerdings zunächſt die Diplomatie 
eichlofjen, zuleßt bei immer wachjenden und fait unüberſteiglichen 
Sinderniffen wahre Liebe und rührende Treue mit Sieg gekrönt zu 
jehen. Darım drängt es nich, meinen Lejern und Lejerinnen heute 
etwas näheres von Kaiſer Marimiltan und jeiner Brautfahrt zu er 
zählen, jofern jie geneigt jind, mir zu folgen. 

Es giebt in der deutjchen rag rg Beitalten, an denen das 
Volk mit einer bejondern Vorliebe hängt, die es mit dem Nimbus 
der Sage und Poeſie verklärt. Sowie die Dichter nimmer miüde wer: 
den, von einem Karl und Otto dem Großen zu fingen und zu jagen, 
jowie ſich finnige Sagen und Märchen um die greife Heldengeitalt 
eines Barbaroffa, des Lieblingsfaifers aus dem edlen Stamme der 
Hohenjtaufen ranfen, jo jind es aus dem Gejchlechte dev Habsburger vor: 
— die Figuren des demüthigen Grafen Rudolf und des ritter— 
lichen Marimilian, von denen Gejchichte und Sage uns mand) jchönen 
Zu überliefern. Bleibt der fromme Graf in jeinem alten grauen 

— und ſeinem leutſeligen Weſen etwas in der bürger— 
lichen Sphäre gebannt, jo erhebt ſich der von kühnem Abenteuerdrang 
beſeelte und dem Glanze des Ritterthums umſtrahlte Maximilian, der 
Werber um die Hand der Tochter des reichen und mächtigen Bur— 
gunderkönigs, in die höheren Regionen weltlicher Pracht, iſt aber 
darum nicht minder der abgöttiſch verehrte Liebling des Volkes. Dazu 
kommt, daß uns Maximilian in ſeiner Berion zwei gewaltige Zeitalter 
vermittelt und vereinigt. Mit dem einen Fuße ſteht er noch inmitten 
des romantiichen Zaubergartens des Mittelalters, mit dem andern 
aber tritt er fühn hinüber in die ereigmigreiche Zeit der Erfindungen 
und Entdefungen, da der jtegreiche Genius jeine Triumphe über Ele: 
mente und rohe a feierte. 

Wie in einem Brennſpiegel die Strahlen des Lichtes, jo vers 
jammelt Marimilian noch einmal den verjcheidenden Glanz der unter 
gehenden Ritterherrlichkeit in feiner geharniſchten Geſtalt, doch jcheint 


316 Held Teuerdank oder Marimilians Brautfahrt. 


en muthiges Roß jchon der rojig aufjteigenden Morgenröthe der 
Neuzeit entgegenzujubeln. Und wie die Sonne im Berlöjchen am 
ſchönſten iſt, jo ericheint ung auch der „legte Nitter“ als die idealite 
Verkörperung des romantischen Mittelalters. In ihm verhaucht nicht 
nur dag Ritterthum jeinen phantaftiichen Wundergeiſt, jondern in ihm 
erjteht auch phönirartig aus der Ajche und den Ruinen der alten Yeit 
der adlergleiche Genius einer bejjeren Zukunft. Ruhmvoll und poetiſch 
zugleich bejtattet er die farbenprächtigen Gebilde des Mittelalter und 
jauchzend begrüßt er die FJanfaren und Drommeten der Neuzeit. Co 
zeigt Marimilian in jeinem ganzen Wejen und Wirken ein wunder: 
bares Gemijch von duftiger Poefie und nüchterner Proſa, luftiger 
Phantafie und praftiichem Verſtande. Dies zeigt ſich am anjchaulid) 
jten in einem jeltjamen Literaturwerf jener Beit, dem jogenannten 
„Teuerdank“, das dem Geheimjchreiber Marimilians, dem Probſte 
Melchior Pfinzing zu Nürnberg zugejchrieben wird, für dejjen wahren 
Verfaſſer man aber wohl den Kaiſer ſelbſt zu halten hat. Als In: 
halt diejes wunderlich allegorischen Gedichtes wırd in der Regel die 
„Brautfahrt Marimilians zu Maria von Burgund“ angegeben. de 
wir es unternehmen, mit der folgenden Eleinen Studie den Inhalt 
Diejes bizarren Gedichtes auf jeinen poetijchen Titel hin etwas zu 
prüfen, halten wir e3 für gut, eine kurze Säge über den hiſtoriſchen 
ei jener romantijchen Hrautfahrt aiſer Marimilians vorauszu— 
icken. 

Bekanntlich war Maximilian der Sohn jenes Kaiſer Friedrichs TIL, 
der von allen deutjchen Kaijern zum Schaden des Reiches am läng- 
jten auf dem Throne gejejjen und wegen jeiner Energielofigfeit den 
feineswegs jchmeichelhaften Beinamen „Des deutjchen Heiches Schlaf: 
mühe“ — arum fällt auch die Kindheit und erſte Jugend 
unſeres Mar, der von ſeiner Mutter, einer Portugieſin, eine ſüdlich— 
feurige Phantafie geerbt hatte, im übrigen aber ein echtdeutjches Ge— 
müth und Wejen bejaß, in eine durchaus nicht beneidenswerthe Zeit. 
Mit jugendlichen Unmut fieht er den ohnmächtigen Vater mit den 
thatkräftigen Gorvinen um den Bei der ungarischen Krone, mit dem 
eigenen Bruder um das Erbe des legten Albrechtiners ringen, ja er 
erlebte die Demüthigung, den Vater in der Wiener Hofburg von den 
eigenen Unterthanen belagert zu jehen. Wenngleich; damals noch ein 
Kınd, jo jcheinen 2 diefe Bilder einen unauslöjchlichen Eindrud 
auf jein Gemüth gemacht zu haben. Schon frühe lernte er die bitterite 
Noth Fennen, und man erzählt, wie der kleine Max oft jeinem find: 
lichen Unmuth über die ewigen Linjen= und Erbjengerichte Luft machte, 
— er ausrief, man möchte ſie doch lieber dem Feinde zu eſſen 
geben. 

Nicht minder bitter waren die Erfahrungen des prinzlichen Kna— 
ben im erſten Unterricht. Ein geiſtloſer Pedant, Peter Engelbrect 
von Bajel, war jein Erzieher, der oft die Ruthe jchwang, wenn ſich 
das lebhafte Naturell jeines Zöglings gegen jeine ——— Methode 
aufbäumte. Viel lieber hetzte der wilde Knabe ein Hausthier im 
Sole herum, denn der ausgejprochene Zäger ſtak ihm jchon früh im 

lute. Defto willfommener war ihm die Unterweiiung in allen Zeibes- 
übungen und Waffenjpielen. Seine zunehmende Körperfraft und 


Held Teuerdank oder Marimilians Srautfahrt. 317 


Gewandtheit jtachelten jeine Luft am fühnen Wagen bis zur Ver: 
—— der Gefahr. Hatte doch ſchon ein wahrſagender Jude aus 
dem Blick des jungen — prophezeit: ein allgemeiner Schrecken 
würde von ihm ausgehen. Und ſein eigener Vater, der ſich mehr mit 
Aſtrologie und Chiromantie als mit Regierungsgeſchäften abgab, hatte 
ausgeſagt: die Schickſale ſeines Sohnes würden ſich in einer Weiſe 
verwickeln, daß man „weder weiß noch ſchwarz“ unterſcheiden könne. 
So kam es denn, daß in ritterlicher Tapferkeit und kühner Abenteuerluſt 
bald weit und breit ihn niemand übertraf. Es werden uns geſchicht— 
lich, wenn gleich ſagenhaft oder poetiſch ausgeſchmückt, einige draſtiſche 
—— dieſer ſeiner ausgeſprochenen Charaktereigenthümlichkeiten über— 
iefert. 

So wird erzählt, daß einſt — einem Reichsſtage zu Worms ein 
eek fran; öfifcher Nitter, Claude de Barre, ein wahrer „Rieje 
Holiath“, höhniſch alle Deutjchen zum Zweifampfe herausforderte mit 
der Derbeitung, er wolle jich dem als Hundejungen verdingen, der 
=“ in den Sand jtrede. Lautlos und zaghaft vernahm die ganze 

erjammlung dieje prahlerijche Herausforderung und lange wollte 
niemand mit dem gewaltigen Reden in die Schranken treten. Plöß- 
lid jprengte in glänzender Waffenrüftung mit gejchlofjenem Bijir ein 
ichlanfgewachjener, anjcheinend jugendlicher Ritter heran, und nad) 
furzem Kampfe warf er den großmäuligen Riejen in den Sand. Ein 
I Berfallsiturm durchbrauite die athemlos zujchauende Menge, 
da ſchlug der unbekannte Sieger jein Viſir auf, ein Paar bligende 
blaue Augen, eine gebogene Adlernaje und ein feingejchnittener Mund 
wurden jichtbar, und voll Entzücden erfannte das begeijterte Volk in 
dem Helden jeinen Kaiferjohn. Anaftafius Grün, der die ritterlichen 
Thaten Marimilians in einem ausführlichen Balladenkranz, betitelt: 
„Der letzte Ritter“ befingt, jchildert uns das Ende des Zweilampfes 
mit folgenden Berjen: 

„So ſchlägt ein deutfcher Ritter!“ er ſprach's und fand verflärt, 

Wie Sankt Michael der Sieger mit feinem Flammenjchwert: 

„Ihr habt Euch mir ergeben als Testen Rüdenknecht!“ 

Wohlan, Ihr jollt erfahren nun meines Amtes Recht!" 

Sein Schwert nun ſchwang er dreimal: „Steht auf, mein Ritter werth! 

So ſchlägt ein deutſcher König, feid brav, wie Euer Schwert!‘ 


Auch andere Dichter, wie Mühler und v. Rappard haben dieje Helden 
that Marimilians in ſchwungvollen Balladen verherrlicht. 
Bon feinen Waidmannsabenteuern in den Wäldern Brabants, in 
den Ardennen, den Hochgebirgen Tirols und den Allgäuer, Alpen, 
wird uns mancherlei intereffantes erzählt. Das befanntejte iſt jeine 
Verfteigung auf die Martinswand und feine wunderbare Rettung. 
Am Dftermontag des Jahres 14% hatte ſich Marimilian bet der lei: 
denjchaftlichen Berfolgung eines Gemsbocks, von Klippe zu Klippe 
fletternd auf dem Zirlberg derart verjtiegen, daß er ſich plötzlich der 
ichwindelnden Höhe der Martinswand in den Tiroler Alpen gegenüber 
befand umd nicht mehr vorwärts noch rückwärts konnte. Vor ihm 
ähnte ein jäher Abgrund, wohl über 200 Klafter tief. Mit bleichem 
ntfegen gewahrten ihn jeine Waidgenojjen, die ihm aus dem Gefichte 
verloren hatten, auf diejer gefährlichen Stelle, wovon ihn niemand 


318 Held Teuerdank oder Maximilians Brautfahrt. 


beruntergeleiten zu fünnen jchien. Zwei Tage und zwei Nächte ver: 
brachte Dar auf dem Felſen und bereitete jich jchon auf den Tod vor. 
Unten las der Priejter die Mejje und hob das Allerheiligite empor, 
und oben lag der Kaiſer auf den Knieen. Da plöglich! — jo erzählt 
die fromme Sage erſchien ihm ein leuchtender Engel und führte 
ihn unverjehrt zu den beglüdten Seinen herab. In Wahrheit joll es 
aber ein fühner Gemsjäger, Oswald Zips, gewejen jein, der ihn er- 
rettete. Treuherzig reichte er dem erjtaunten Fürſten die Hand mit 
den Worten: „Gnädiger Herr, jeid getroft! Gott lebt noch und wird 
Euch aus der Gefahr erretten!” Und es gelang ihm den Kaiſer hinab: 
zuführen, wofür er ihm reichlich bejchenfte und unter dem Namen 
„Hollauer v. Hohenfels*“ in den Adelsitand erhob. Doc) lieg er ſich 
durch dieſe Gefahr die Jagdluft nicht verleiden, wie denn noch gar 
manche verwegene Watdmannsjtüclein von ihm erzählt werden, die in 
dem Gedichte „Teuerdank“ näher bejchrieben find. Much verfaßte er 
jelbjt mit eigener Hand ein Buch für Jagdfreunde, eine’ Art Anleitung 
in der Waidmannsfunft. 

- Außer der Jagd liebte aber auch Max heitere Gejelligkeit: gern 
bejuchte er die fröhlichen ‚Fejte in den Neichsitädten, wo er den Reigen 
mit einer jchönen Bürgerstochter oder Patriziersfrau eröffnete. Stein 
Wunder, wenn das Bolt von dem liebenswürdigen und leutjeligen 
Weſen jeines Kaijers entzückt war. Dabei juchte er abjichtlich allerlei 
Fährniſſe auf, jeinen Muth zu erproben und jeine Gewandtheit zu 
zeigen. Sp wird erzählt, daß er einit in Ulm den Münſterthurm be- 
jtieg und auf dem höchſten Kranze, 350 Fuß hoch, übermüthig und 
verwegen auf die jchmale Eifenitange, an der die Feuerlaterne hing, 
binaustrat und den andern Fuß in die Yuft emporhob. Es jchwin- 
delt einem jchon im Geiſte, wenn man fich nur dieſes Bild vergegen- 
wärtigt. 

Aber neben der Freude am Waidwerk und Waffenſpiel, neben 
feiner Fertigkeit in allen technifchen Arbeiten, wie er denn ein trefflicher 
„Blatver“, „Bogen und Armbrujtichifterer“ war, vertiefte er ſich auch 
ın alle Wifjenjchaften, liebte die Künſte, bejfonders die Muſik, und 
jtudirte eifrig Literatur, namentlid) Dichtung und Sage. Er jprad) 
geläufig mehrere Sprachen, wie Flanderiſch, Franzöſiſch, Engliſch, 
Italieniſch, Böhmisch, Ungarisch und Windiſch, war der alten Sprachen, 
bejonders des Lateinischen mächtig. In Genealogie und Wappenkunde 
bejaß er jeltene Kenntniſſe, vertiefte jich gern in die Geſchichte der 
Vorzeit, — in die Biographien berühmter Männer. Rech— 
nen wir zu dieſen Vorzügen des Geiſtes, zu ſeinen ritterlichen Thaten, 
zu ſeiner äußeren Schönheit, noch das echtdeutſche, offene, mittheilſame 
Gemüth, ſo erhellt aus allem, daß er zum vollendeten Ideal aller 
männlichen Tugenden heranwuchs. 

Es war wohl natürlich und billig, daß ein ſo vollendetes Bild 
echter Ritterlichkeit und männlicher Schönheit mit einer nicht minder 
jtrahlenden Zierde weiblicher Anmuth und Tugend vereint ward. 
Spricht nun auch oft jchon das Herz eines Prinzen vernehmlich, ehe 
die Politif ihm ein Ehegemal ausſucht, wie e3 denn auch von Maxi— 
milian befannt ijt, daß eine jchöne Larenburgerin, die „alt Buberin“ 
ihn gefejjelt, daß er auch jpäter von einer heihgeliebten NRofina einen 





Held Teuerdank oder Alarimilians SKrautfahrt. 319 


berzzerbrechenden Abjchied nahm und ihr unter dem Namen eines 
„Herrn Kajpar Perefhaimer“ die zärtlichiten Briefe jchrieb, jo genoß 
er den jeltenen Glüdsfall, daß er in der ihm von der Diplomatie be- 
jtimmten Braut einen wahren Inbegriff aller weiblichen Reize und 
Liebenswürdigfeit fand. Maria von Burgund, die einzige Tochter des 
ehr= und herrichjüchtigen Herzogs Karl des Kühnen, war es, die jein 
Vater Friedrich als zufünftige Erbin der reichen Niederlande jammt 
Burgund gegen Verleihung einer Königsfrone und des Reichsvikatiats 
jenjeit des Aheins für Marimilian gewinnen wollte. Unter glüdver- 
beigendeun Aufpizien wollten jich die Fürſten zur Verwirklichung ihrer 
Pläne und Berjprechungen ein Nendezvous geben. Es war im Septem- 
ber 1473, als Kaiſer Friedrich mit jeinem jugendlichen Sohne Mar 
und Gefolge in Trier eimritt. Der jchlanfe Jüngling mit den gold— 
blonden Loden, wie er jo ritterlich in kleidſamer jchwarzer Tracht 
auf jeinem muthigen braunen Hengite einherritt, erregte allgemeines 
Aufſehen. 

Seine Erſcheinung und ſein herzgewinnendes Weſen gefielen auch 
dem ehrgeizigen Herzog Karl von Burgund, deſſen finſtere, etwas 
abenteuerliche Geſtalt ſeltſam gegen den jugendlichen Prinzen abſtach. 
Gar ſchön beſchreibt Anaſtaſius Grün in ſeinem „letzten Ritter“ dieſen 
Kontraſt: 

„Der ein' iſt reich an Thaten, ein düſt'rer Held zu ſeh'n, 

Der and're friſch wie Cedern, die jung im Wuchſe ſteh'n, 

Der eine ſchien ein Herbſttag, der heim die Garben trägt, 

Der andr' ein Frühlingsmorgen, der Saaten der Hoffnung begt. 
Der glib dem moos'gen Eichbaum, an dem die Art jchon Tiegt, 
Der andere dem fchlanten Sprößling, den Gärtnerband noch biegt, 
Der jbien die Sonn im Weiten, die blutig untergebt, 

Und jener der Etern der Piebe, der läcelnd im Oſten ftebt.‘ 


Doc die vielverheigende Zuſammenkunft jollte mit einem Mip- 
flang enden. Schon der prunfvolle Aufzug des reichen burgundijchen 
Herzogs, der fabelhafte Glanz und blendende Reichthum, den er in 
Gewandung und Bewirthung entfaltete, die enorme Freigebigkeit, die 
er im Geſchenken und Gaſtmählern zeigte, erregten in dem Herzen des 
jtet3 geldarmen Kaiſers Friedrich ° anne und Beichämung und 
nicht minder Berdruß bei jeinem Gefolge, das jich mehr als in &hat- 
ten gejtellt jab. In der Kirche, wo die feierliche Krönung jtattfinden 
jollte, hatte Karl der Kühne zwölf verfilberte Apojtel ın Mannes» 
größe und außer anderen jilbernen und goldenen Bildern eine große 
mannshohe Lilie aus flarem Golde, mit Diamanten über und über 
beiegt, hinjtellen lajjen, deren Werth) man über 200,000 Kronen 
Ichägte. Das Innere der Kirche war mit koſtbaren Teppichen be= 
hängt, auf denen das Leiden Chriſti abgebildet war. 

Ebenjo waren die Wände des Audienzjaales, in den der reiche 
Herzog den armen Kaijer einführte, mit goldenen und jeidenen Teppi- 
chen behangen, auf denen Darjtellungen aus den Sagen vom trojanis 
jchen Kriege und den Argonauten prächtig abgebildet waren. Inmitten 
des Saales ſtand ein Kredenztijch von neunzehn Stufen mit lauter 
filbernem und goldenem Geſchirr bejegt und oben — drei Aufſätze 
von Gold, die allein den Werth eines Fürſtenthums repräſentirten 


320 Held Teuerdank oder Marimilians SBrautfahrt. 


Außerdem jtanden noch drei Tiſche voll lauter Silbergeichirr da, die 
allgemeines Staunen erregten. Zu den lururiöjeiten und vaffinirtejten 
Gaſtmählern gejellten jich noch Tafelfreuden der ausgejuchtejten Art, 
Muſik und Tanz, pompöje Nenn und Stechipiele. Die Heirat war 
ihon in geheimen Stonferenzen bejchlojfen worden und die Verlobten 
jollten fid gegenfeitig in Briefiwechjel ſetzen. Feierlichſt war der Her 
zog jchon mit Geldern belehnt worden, er war nunmehr Herr von 
fünf Herzogthümern, zur Sättigung feines Chrgeizes fehlte nur noch 
— die Königsfrone Da jpielte ihm das Miktrauen des deutſchen 
Kaiſers einen furchtbaren Streich. Willig lieh diefer den mißgüniti- 
gen Einflüfterungen des franzöjiichen Königs Ludwigs Al. Gehör, der 
jelbjt auf die Hand der buraundiichen Erbin für jenen Sohn jpefu- 
lirt hatte und alles aufbot, die Verbindung mit dem deutjchen Kaiſer— 
hauje zu hintertreiben. Er raunte dem argwöhnijchen alten Friedrich 
ins Ohr, es gelüjte Karl nach der deutjchen Kaiſerkrone, und plöglid) 
am Tage vor der feierlichen Krönung verjchwand derjelbe, ohne Ab- 
jchted zu nehmen. Schon prangte die Kirche in ihrem feitlichiten 
Schmude, Throne und Altäre waren errichtet und prächtig verziert, 
Krone, Scepter, Reichsapfel und das fünigliche Ornat lagen für den 
zu frönenden Herzog bereit, da hieß es, der deutjche Kaiſer jer Knall 
und Fall abgereijt. Die Enttäughung und Beſchämung waren unge 
fähr mit dem Serühfe einer — geſchmückten Braut zu vergleichen, 
die vergebens vorm Altare ihres Bräutigams harrt. Als faule Aus- 
rede hinterließ Friedrich die Entjchuldigung, Zwiſtigkeiten mit dem 
Erzbifchof von Köln riefen ihn ab, es jolle einjtweilen bei der Verab— 
redung bleiben. Wüthend jchwor der geprellte Derzog Rache, mijchte 
ſich zunächſt in die Kölner Streitigkeiten und belagerte die Stadt 
Neuß. Durch Vermittelung des päpttlichen Legaten fam zwar (1475) 
eine Ausjöhnung zuſtande, Marimilian richtete demzufolge einen Brief 
an jeine Braut, welchen dieje aufs verbindlichite erwiderte und deſſen 
Inhalt fie durch Ueberjendung eines Diamantringes befräftigte, aber 
das Schickſal des friegsluftigen Herzogs und jein jähes Ende, jo wie 
die darauffolgenden irenitfe in jeinen Landen zogen die Verwirk— 
lihung des Bundes noc lange hinaus. Bekanntlich ward Karl der 
Kühne zuerit von den Schweizer Bauern bei Granſon geichlagen, 
wobei der größte Diamant damaliger Zeit in die Hände der Feinde 
fiel. Eine noch furchtbarere Niederlage erlitt er hierauf bei Murten 
und endlich verlor er bei Nancy gegen den Herzog von Lothringen, 
welchen König Ludwig XI von Frankreich) gegen ihn aufgereizt, Sen 
und Leben. In einem leicht zugefrorenen Sumpfe blieb er ſtecken und 
wurde inmitten eines thatenreichen Lebens — er war erjt 44 Jahre 
alt — elendiglic) erichlagen (1477). 

Nun begann für die verwaiite, hilfe und rathloje Maria von 
Burgund eine Zeit jchwerer Drangjal. Sumüchkt fiel der ländergierige 
Ludwig XI. über Burgund her, riß es als erledigtes Lehen der fran- 
zöſiſchen Krone an ſich und warf auch feine begehrlichen Blicke auf die 
übrigen Länder. Zu dem Ende bewarb er ſich aufs neue um die 
Hand der nunmehr zwanzigjährigen Erbin von Burgund für jeinen 
Sohn, den damals erſt jtebenjährigen und mißgejtalteten Dauphin. 
Die hochherzige Jungfrau war in großer Noth, doch fie blieb ihrem 


Held Teuerdank oder Alarimilians SBrautfahrt. 321 


eriten Verlobten, Marimilian, treu. Am meisten machten ihr die Gen- 
ter zu schaffen, welche Ludwig durch Beitechung und Verrath gegen 
Maria aufhegte Mit Thränen und Jammern mußte fie ihre eigenen 
nr auf dem Schafotte bluten jehen. Das einzige Rettungsmittel 
für fie, als ſchwaches Weib, war, ſich baldigjt zu vermälen. Zwölf 
ungeſtüme Freier bewarben ſich um ihre Hand, darunter der rohe 
Herzog v. Cleve. Aber Maria entjchted jich für den — Erz⸗ 
herzog Max, deſſen Vater nal aufs neue feierlichit um ſie warb, 
indem er Brief und Ring der Verlobten vorwies. Die Stände in 
Löwen willigten ein, und auf den Straßen ertönte allüberall der 
Subelruf: „Kaifer und Prinz Maximilian!” Am 26. April 1477 
ward Maria dem Herzog Ludwig von Bayern, als dem Stellvertreter 
Marimilians, welcher mit der Gejandtichaft Kaifer Friedrichs nach 
Gent gefommen war, an die Hand getraut und nad) damaliger Sitic 
ein Scheinbeilager vollzogen, bei dem ein blanfes Schwert die beiden 
trennte. 

Mit Freuden begrüßte dev Kaiſer die Botjchaft, und in der zweiten 
Hälfte des wundervollen Monats Mat unternahm der ritterliche Erz: 
herzog jeine Brautfahrt von Wien über Frankfurt. Dort jchloffen 
ſich ihm eine Menge von Erzbifchöfen, Biichöfen, Fürften und Nittern 
und Abgeordneten von Städten an. 1200 Reiſige, darunter die Kur— 
fürjten von Mainz, Trier und Brandenburg, Herzog Wilhelm von 
Jülich, Herzog Albrecht von Sachſen, Markgraf Chrittof von Baden 
und ein Yandgraf von Hefjen zogen in Gent ein. Damit es nicht au 
Pracht fehlen Tote hatte die verwittiwete Herzogin, welche des Kaiſers 
Sparjamfeit fannte, ihrem Schwiegerjohne 10,000 fl. Neijegeld zu— 
gejandt. Unterwegs ward der 28 feterlihjt empfangen und mit 
Sejchenfen beehrt, bejonders in Löwen und Brüfjel. Maria jandte 
ihm 200 Reiter entgegen und ein fojtbares Stleinod zum Geſchenk. 
Am 18. Augujt erfolgte dev feitliche Einzug in Gent, begrüßt von 
der ganzen Bürgerichaft, von Fürſten, Bilchbfen, Prälaten, Grafen 
und Rittern. Freudig jubelte das Volk dem herrlichen Jüngling ent- 
gegen, wie er in jilbernem, mit Gold mufirtem Harniſch, in roth- und 
weißſammetnem Waffenrod, mit dem Diadem von Perlen und Edel- 
jteinen auf den goldenen Lodenringeln jtolz einherritt auf feinem 
braunen, Intebernben Hengite. Wohl konnte ſich feiner der damaligen 
Thronerben Europas mit diefem legten Ritter vergleichen. Mit Freu— 
denthränen in den Augen eilte Marta dem Auserfornen entgegen, füßte 
ihn inbrünftig und jprach bewegt: „Nun jet mir willtommen, Du edel: 
ſtes deutſches Blut, * dem mein Herz ſo lange ſich geſehnt!“ 

Im germaniſchen Muſeum zu Nürnberg befindet ſich eine gleich— 
zeitige ſehr feine Handzeichnung über die 9 Begegnung des jugend- 
lihen Paares mit der alten Ueberichrift: „Im dergleichen Habit hat 
Kayjer Marimilian Hoclöblicher Gedechtnus jein verlobten Gemahl, 
das Frawlein von Burgund, erſtlich beſucht.“ (Vergl. das Fakſimile 
in 2. Stacke's: „Deutſche Geſchichte“ J. p. 727.) 

Charakteriſtiſch für die damalige burgundiſche Tracht iſt die hohe 
zuckerhutförmige Kopfbedeckung (Haube) Marias, Sie ſelbſt wird uns 
als das Urbild weiblicher Grazie gejchildert, von harmoniſchem Bau, 
ſchneeweißem Teint, braunen Augen und Haarflechten, von Fleinem 

Der Salon 1887. Heft IX. Band II. 22 


322 Held Teuerdank oder Marimilians Srautfahrt. 


zierlichen Antlig, in dejjen Mitte ein Fleines Näschen und friſches 
halbgejchloffenes Miündchen dem Ganzen einen unwiderjtehlichen Rei; 
verlieh. Nicht mit Unrecht wird jie daher die „belgiiche Venus“ ge: 
nannte Mit ihrem Verlobten theilte fie den leidenjchaftlichen Hang 
zur Jagd, und oft begleitete jpäter die —— Diana“ ihren 
ſterreichiſchen Apollo“ auf der Reiherbeize. Dies ſollte für fie ver— 
hängnißvoll werden. 

2 fehren wir zum Verlauf unſerer romantischen Gejchichte 
zurüd. Am 20. Auguſt 1477 fand unter großem Pomp die feierliche 
Einjegnung durch den päpjtlichen Legaten Jultan, Biſchof zu Ditia, 
in der Hoffapelle zu Gent jtatt und das Beilager ward zu Brügge 
mit glänzenden Feitlichkeiten, Ritterjpielen und Turnieren vollzogen. 
Darauf legte Marimiltan den Eid als Landesherr ab und unternahm 
we ‚große Huldigungsreije nach Wejtflandern, Hennegau, Namur und 

rabant. 

Sp famen die blühenden, jeit hundert Jahren er Heiraten umd 
Erbichaften angewachjenen Bejigungen des Burgundiichen Neiches an 
das Haus Dejterreih, und es ward feitgejeßt, daß die Kinder aus 
dieſer glüdverheigenden Ehe als Erben eintreten jollten. Mit welchem 
Subel ward daher die Ankunft des erjten Sprößlings im folgenden 
Jahre begrüßt, der au Brügge das Licht der Welt erblidte und den 
Namen Philipp erhielt! Aber an dem reinen Himmel ehelichen Glückes 
jollten die trüben Wetterwolfen nicht ausbleiben. Mit Ingrimm hatte 
der ländergierige König von Frankreich das Fehlichlagen ſeiner Hoff: 
nungen aufgenommen; er juchte Maximilian jeine reiche burgundijche 
Ausſtattung ftreitig zu machen. Wegen jeiner Jugend verachtete er 
feinen Gegner, ja er ließ ihm, da er ſich in Brügge zum Ritter des 
goldenen Vließes hatte jchlagen lafjen, die höhniſche Herausforderung 
ufommen, er möge jet auch jelbjt jeinen perjünlichen Muth zeigen. 
ber Martmilian antwortete ihm jtolz, er wolle ihm beweijen, was 
deutjche Tapferkeit leiſten könne Bei Guinegate fam es am 7. 
August 1479 zu einer mörderiſchen Entjcheidungsichlacht, die jechs volle 
Stunden währt. Anfangs ward der erzherzogliche Reiterflügel von 
der weitüberlegenen franzöſiſchen Kavallerie ın die Flucht gejchlagen, 
aber Marimilian errang mit jeinem Fußvolf todverachtend einen bluti- 
gen Sieg. Dreimal jchwebte er jelbjt in der höchiten Lebensgefahr, 
aber die gerechte Sache triumphirte. Danferfüllt zog der Sieger in 
Gent ein, wo man ihm jein Söhnchen Philipp entgegenbrachte. Ent: 
zückt nahm es der beglüdte Vater auf den Arm, Fülhte es inbrünftig 
und eilte unter dem Jubel des Volfes der bewegten und ge: 
rührten Gattin entgegen. Als das vielgeliebte Söhnchen drei Jahre 
alt war, lie es Maximilian in Herzogenbufch feierlihjt zum Nitter 
des goldenen Vließes jchlagen. Man erzählt ſich darüber einen naiven 
Aug des neuen findlichen Ritters. Als nämlich Adolf v. Kleve das 
Schwert über ihn ſchwang, um den weihevollen Akt zu vollziehen, 
ſprang der Eleine Philipp. hHurtig auf, 309 feinen Kinderdegen und 
jegte ji) aus Mißverſtändniß — Wehr, was große Heiterkeit ver— 
urſachte. Mit Thränen der Rührung hing der älteſte Ordensrich— 
ter dem kleinen Helden die güldene Kette um, welche aus Feuerſtählen 
und Feuerſteinen beſtand, indem er ſagte: „Mein Prinz, Ihr werdet 


Held Tenerdank oder Marimilians Brautfahrt. 323 


ein jcharfer Stahl und ein harter Stein fein und viele Funken und 
Flammen in die Welt hinausſprühen!“ Auch Maria eilte zu dieſer 
ierlichkeit nach Herzogenbuſch, wäre aber beinahe verunglückt. Die 
Schaubühne nämlich auf dem Markte, auf der ſie der Huldigung bei— 
wohnen wollte, brach unter ihr zuſammen. Allgemein ſah man dies 
für eine ſchlimme Vorbedeutung an. Das nächite Unglüd, das ihr 
Glück trübte, war der Irübgeifige od ihres zweiten Sohnes, dem fie bald 
darauf das Leben gejchenft hatte. Gegen den böswilligen Ludwig XI. 
fam ein Bündniß Marimilians mit dem König Eduard von England 
Be, das durch eine Verlobung jeines Sohnes Philipp mit dejjen 
ochter Anna bejtegelt ward. 

Doc) die Tage von Marias Glück waren gezählt. Schon nährte 
pe die ſüße Hoffnung eines weiteren Sproſſen, mit dem der Himmel 
en Verluſt ihres zweiten indes erjegen zu wollen jchien, unter ihrem 
Herzen, als ein jäher Unfall die jugendliche Fürſtin in der Blüte der 
Sahre Hinwegrig. Auf einer Neiherbeize, als jie mit ihrem flinfen 
Zelter einem eis über einen Wajjergraben hinweg nachjegen wollte, 
riß der Sattelgurt und Maria ward rüdlings an den Stamm eines 
abgehauenen Baumes gejchleudert. Sie trug am Oberſchenkel eine 
— Verletzung davon, die ſie aber aus falſcher Scham verſchwieg. 
dach einer anderen Verſion hätte ſie den Zaum verloren, und das 
Roß ſei mit ihr durchgegangen; als einer ihrer Begleiter ihr zu Hilfe 
kommen wollte, habe das Pferd gebaut, die Neiterin ——— und 
ausſchlagend ihr eine ſo fatale Wunde beigebracht, daß ſie erklärte, 
lieber ſterben zu wollen, als ſich von einem fremden Arzte einen Ver— 
band anlegen zu laſſen. Infolgedeſſen verfiel ſie in ein heftiges Fie— 
ber, das nach wenigen Wochen ihren Tod herbeiführte (27. März 1482). 
Auf ihrem Sterbebette verſammelte ſie zuvor noch einmal alle Ritter des 
goldenen Vließes und nahm ihnen das feierliche Verſprechen ab, bei 
are Gemal treu auszuhalten. Marimilian war über diefen herben 

erluft untröjtlih und fonnte fi) von der Leiche jeiner geliebten 
Maria nicht trennen. Diejelbe ward unter großem Pompe in der 
Kirche „Zu unjerer lieben Frauen“ in Brügge beigejeßt, ihr Herz aber 
ward nach der Begräbnißitätte — Mutter zu Antwerpen geſandt. 
Die Stadt war über den plötzlichen Tod ihrer geliebten Erzherzogin 
aufs tiefſte ergriffen. 

Ein ar Trauerzug bewegte ſich am Begräbnißtage durch 
die Straßen Brügge. Voran gingen die Objervanzen, danach die 
Bettelmönche und höhere Geijtlichkeit der Stadt, 150 TGinaragefleibete 
Arme und fünf Herolde, dann folgte der Sarg, auf dem cin mit 
Edeljteinen gejchmüdter Erzherzogshut lag. Der Sarfophag ward 
von vier Landherrn und Grafen getragen. Hinter der Leiche jchritt 
der tiefbetrübte Erzherzog mit fünf jeiner Berwandten und ebenjoviel 
Anverwandtinnen, jede von zwei Herren geführt, denen der ganze 
Hofitaat ſammt den Bürgern nac)zog. Unermeßlich war der Schmerz 
des Erzherzogs. Ja man erzählt jich, er habe den im eruche der 
Zauberer jtehenden Abt Trithemius von Spanheim au ſich bejchieden, 
damit er ihm vermöge einer laterna magica das Bild jeiner geliebten 
Maria in ihrem gegenwärtigen Zujtande ee as jei 
denn auch geichehen, aber Max habe ſich über den Eläglichen Zuſtand 

99* 


324 Held Teuerdank oder Marimilians Srauffahrt. 


der Leiche jo entjegt, daß er voll Schauder hinweggeeilt jei. Zwei 
Kinder — ſich wie „zwei Roſenknoſpen, an einem Stamm erglüht 
iiber die Mutterroje, die 'turmentblättert verblüht“, lg und feine 
Schweiter Margaretha. Marimilian fonnte des geliebten Weibes nie 
ohne Thränen und Seufzer gedenfen, wie Anaſtaſius Grün fingt: 


„Es weinen alle Blumen, wenn Morgenrotb erglängt, 

Es Springen alle Quellen, wenn Penz ibr Ufer kränzt, 

Und immer wenn man Maren Mariens Namen genannt, 

Barg er fein Aug’, und die Thräne, die glänzend drinnen ftand.“ 


Wie nach dem blutigrothen Untergang der verglühenden Sonne 
das janfte Mondenlicht tröjtend auf ein zerriffenes Menjchenherz herab- 
icheint, jo verflärt nach Marias Tod die Freundes: und die Diener: 
treue des jeltenen Dar Kunz von der Roſen das trauernde und 
vereinjamte Herz Marimilians. Welch rührendes Bild echt germa— 
niſcher Mannentreue! Und diejes Gemiſch von Narrheit und Klug— 
heit, welch dankbare Figur für einen Dichter! So fingt Anaſtaſius 
Grün von ihm: 


„Sein Auge glänzt wie Liebe, fein Mund fcheint Spott zu fein, 
Die Stirn ift alt und runzlig, die Wange Roſenſchein, 

Cein Nam’ ift Kunz von der Roſen, bei Hofe Narr genannt, 
Doch kamen alle Klugen um Ratb zu ihm gerannt.‘ 


Gar viele Iuftige Einfälle werden uns von diefem klügſten aller 
Hofnarren berichtet, aber auch rührende Beweife von Treue und 
Opfermuth. Als Marimilian (1488) in den Niederlanden einen Land: 
tag ausfchrieb, um die unruhigen Unterthanen in Ordnung zu bringen, 
warnte ihn fein kurzweiliger Nathgeber, ſich nicht nad) Brügge zu be: 
— Der Kaiſer aber beachtete die wohlgemeinte Warnung nicht. 
Da ſagte Kunz von der Roſen: 

„Ih dent, es fei wohl beſſer, ein freier Narr zu fein, 
Als ein gefangener Meifer und König obendrein! 


und, nachdem jein Herr durd die Klatharinenpforte in Brügge einge 
ritten war, jprengte der Narr zum anderen Thore wieder hinaus. 
Und feine Ahnung hatte ihn nicht getrogen. Infolge eines Bürger: 
tumultes ward Mar vom Pferde gerifjen und in eines Würzfrämers 
Haus, die jogenannte Kranenburg gejchleppt, wo er gefangen gehalten 
wurde Mit einem anhaltiichen Prinzen und einigen anderen Mannen 
jeines Gefolges mußte er die Nacht auf der bloben Bank zubringen. 
Die Fenfter des Heinen Stübchens waren mit Eifenftäben verwahrt und 
gegenüber dräuten drei geladene Armbrüjte, allenfallfige Fluchtverjucher 
niederzufchießen. Was thut nun unjer treuer Hofnarr? Er befeftigte 
fich in der Nacht einen Schwwimmgürtel am Leibe, einen andern wollte 
er feinem gefangenen Herrn mitbringen, und jchwamm über den 
Schloßgraben zu der Kranenburg. Aber da vereitelte ein unvorher— 
ejehenes Ereigniß fein Wageftüd. Verrätheriſche Wächter, e8 waren 
eine Hunde, jondern den jchnatternden Gänſen ähnliche Gefchöpfe, die 
weiland das Kapitol — die Schwäne des Schloßgrabens fielen 
ihn wüthend mit großem Geſchrei an und bearbeiteten ihn dermaßen 


Held Teuerdank oder Marimilians Brauffahrt. 325 


mit ihren Flügeln, daß er übelzugerichtet zurückſchwimmen mußte. 
„Dieje vermaledeiten Vögel“, jagte Kunz mit trodenem Wig, „find 
jicherlich wie die Brügger Bürger franzöſiſch gefinnt.“ 

Aber er gab darum feinen Plan noch nicht auf. Zunächſt ver- 
legte er ſich auf das en und Bartjcheeren. Dann jchlich er fich 
zu dem Guardian des Franziskanerkloſters in Brügge, der dem Kaiſer 
gewogen war, und bat ihn um Beiſtand. Er lieh —— von demſelben 
eine Matte jcheeren und in eine Mönchskutte ſtecken. Dann bat er 
ihn noch um einen Klojterbruder als Begleiter. Er wollte nämlich 
als Beichtiger zu jeinem Herrn gehen, ihm gleichfalls eine Tonjur 
jcheeren, ihn dann in feine Kleidung ſtecken und mit dem begleitenden 
Bruder jtatt jeiner aus dem Gefängniß entwiſchen lafjen. Ein Schiff— 
lein mit vier Knechten und drei Prerden harrten des Kaiſers an der 
Katharinenpforte und jollten ihn nad) Meiddelburg entführen. So 
wollte der treue Kunz jtatt feines Herrn als Gefangener zurücdbleiben 
und fcheute nicht vor der Rache der hintergangenen Brügger zurüd. 
Wie eritaunte Mar als er jeinen getreuen Schalfsnarren in der 
Mönchskutte erkannte! Aber zum großen Leidwejen des opferwilligen 
Dieners hielt es der Kaiſer für unwürdig, in jolcher Verkleidung zu 
fliehen und jeinen gegebenen Eid zu brechen. Mit Thränen verlieh 
ihn der biedere Kunz und, als ihn vor dem Thore der Hauptmann 
der Wache fragte, wie er den König gefunden, antwortete er troden: 
„Fromm!“ 

Sind das nicht herrliche Züge für einen begabten Dichter? 

Ja die ganze von uns nur kurz ſtizzirte Geſchichte Maximilians 
birgt eine Fülle poetiſcher Momente, einen reichen Schatz, der unſerer 
Meinung nach noch nicht gebührend gewürdigt und gehoben iſt. 

Betrachten wir zunächſt das älteſte Literaturdenkmal, das ſich mit 
dieſem Stoffe beſchäftigt; den bereits mehrfach erwähnten „Teuerdank“ 
aus dem 16. Jahrhundert, angeblich von dem Geheimſchreiber Maxi— 
milians, dem Propſt Melchior Pfinzing aus Nürnberg, in Wahrheit 
aber wohl zum größten Theile vom Kaiſer ſelbſt verfaßt. 

Quer was bedeutet der jeltjame Titel: „Ieuerdanf.“ 

Darüber giebt und der von Melchior Pfinzing beigefügte Clavis 
(Schlüjjel) folgende Auskunft: „Tewrdank bedeut den loblichen Für: 
ften K. M. E. Z. 0. V. B. (d. h. Kaiſer Marimilian, Erzherzog zu 
Deiterreih und nn) onnd iſt darumb Tewrdankh genannt, das 
Er von jugent auf all jein gedanndhen nad) tewerlichen (d. h. abenteuer: 
lichen) Sachen gericht, die er auch vilfeltigklich über wenig ander Für- 
sten onnd Ritter, von den man gejchriben findt, mit eignem leib voll: 
bracht hat ıc. Der Inhalt des — aber ſoll ſein: „Die Braut- 
fahrt Marimilians zu Maria von Burgund“ in allegoriicher Weije 
bejungen und ijt kurz folgender: 

„Der Held Teuerdant (Marimilian) ift durch Teitament des Kö— 
nigs Romreich (Karl der Kühne von Burgund) zum Bräutigam feiner 
Tochter Erenreich (Maria) bejtimmt. Die Prinzejjin meldet dies dem 
Erzherzog nach dem Tode ihres Vaters bei Nancy. Daraufhin begiebt 
fic) Teuerdanf in Begleitung jeines treuen Dieners Erenhold auf die 
Brautreiſe. Da tritt der rn in Gejtalt eines Doktors an ihn 
heran, um ihn durch die Lehren der Zügellofigfeit, des faljchen Ehr- 


326 Held Teuerdank oder Marimilians Srautfahrt. 


geizes und des Faujtrechts zum Böſen zu verleiten. Aber Teuerdanf 
widerjteht mannbaft, wie einjt Herkules am — allen Ber: 
lodungen des Satans. Nun jendet diejer jeine drei Dienjtmannen: 
— Unfalo und Neidelhart, zu unſerem Helden, um ihn in der 
Maske von Hauptleuten der Königin von Burgund ſcheinbar zu för— 
dern, in Wahrheit aber, um ihm alle erdenklichen Hinderniſſe in den 
Weg zu legen. Wie die Namen diefer drei Höllengeijter befagen, jind 
es nur allegorijche Figuren. Fürwittig repräjentirt den „jugendlichen 
Vorwitz“, der unjern Delben oft in Lebensgefahr bringt. Er verleitet 
ihn, jeinen Fuß unter einen Schleifftein zu }teden, einem jungen Löwen 
die Zunge auszureigen, ein großes Wildjchwein mit dem Degen zu 
eritechen, einer Bärin die Jungen zu rauben und ſie dann jelbit zu 
an ji auf eine dünne Eisdede zu wagen und dergleichen mehr. 
In Brabant tritt er einem geheßten Hirſch in einem Hohlwege ent- 
gegen und durchbohrt ihm das Herz. Alle dieje Jagdabenteuer wir 
den an und für fich befjer anmuthen, wenn fie nicht an einer gewiſſen 
Monotonie litten. Sie werden immer von demjelben böjen Geifte in 
Scene gejegt, und man fennt ihren Ausgang zum voraus; manche jind 
findisch und läppifch, und Teuerdanfs mehr als gutmüthige Leicht: 
gläubigfeit jeinem Berfucher gegenüber jtellt jeinen Charakter in ein 
unvortheilhaftes Licht. In vielen Fällen freilich joll des Helden Muth) 
und Gewandtheit gepriejen werden; bejonders zeigt er ſich als uner— 
müdlicher Jäger. Kein Wetter jchredt ihn ab, feine Felswand tt ıhm 
zu hoch und zu steil, fein Schneefeld, fein herabpolternder Felsblock 
hemmt ihn in ſeiner leidenſchaftlichen Hetzzagd. Dabei kommt er oft 
in die größte Lebensgefahr. Dies erinnert an jein Abenteuer auf der 
Martinswand. Als er endlich die böſe Abjicht ann durchſchaut 
und ihn fortjagt, fällt er dem zweiten böſen Geſellen „Unfalo“ („das 
an Unfällen reiche Mannesalter“) in die Hände. Diejer bringt ihn in 
noch größere Fährlichkeiten. Nollende Felsblöde und donnernde Lawi— 
nen fallen gegen ihn; Sturmwinde werden gegen ihn entfejjelt. Im 
— Tollkühnheit ſchießt Teuerdank auf Anſtiften — von 
einem ſ — Zußſteige aus auf einen Gemsbock hoch oben auf unzugäng— 
licher Klippe. Das Thier mußte getroffen unfehlbar auf ihn herabſtür— 
zen; wie durch ein Wunder überfchlägt e3 jih im Falle an einem Steine 
und ſauſt im Bogen über den verwegenen Jäger hinaus. Aehnliche 
Gefahren bejteht Teuerdanf zur See. Mehrmals drohen ihm Pulver: 
erplojionen und Unglüdsfälle aller Art in Handhabung von Waffen. 
Schließlich überfällt ihn noc, das Fieber und was noch jchlimmer it, 
der Tod in Geitalt unwiſſender Aerzte, von deren Kunſt der Dichter 
nicht viel zu halten jcheint, jucht ihn in feine Krallen zu befommen. 
Aber Teuerdank entrinnt ihm, indem er — dem Arzt nicht folgt. Als 
fi) unſer Held endlich des falſchen Rathgebers Unfalo entledigt, fällt 
er dem dritten des jauberen Trios in die Hände, dem Neidelhart (dem 
„Reid und Haß“). Bon diefem drohen ihm Aufitand der Bürger in 
Brügge, Gefangenschaft, Meuchelmord und Bergiftung. In der That 
ſchrieb damals Marimilian insgeheim an jeinen Vater: „Sie werden 
mir Gift zu ejjen geben.“ Dann hebt Neidelhart ſechs feiner Ver— 
wandten gegen Teuerdanf, welche diefer aber alle ritterlich bejicgt. 
Endlich ereilt die drei Verräther das Verhängniß: Fürwittig wird 


Held Tenerdank oder Marimilians Grautfahrt. 327 


durchs Schwert, Unfalo durch den Strang und Neidelhart durch einen 
Sturz in die Tiefe umgebracht. 

Doc) die Vereinigung des Helden mit der anmuthigen Königin 
Ehrenreich erleidet Kohle einen Aufſchub. Die Braut wünjcht, ıhr 
Geliebter möge zuvor einen Kreuzzug gegen die Feinde der Chrijten- 
heit unternehmen. Mit der Zurütung zu diefer Heerfahrt und mit 
einer religiöjen Betrachtung wie der Menſch durch feine Vernunft allen 
andern Gejchöpfen objiege, ſchließt das Gedicht, eine Fortjegung in 
Aussicht jtellend, 

Diejelbe ijt nicht erjchienen; wohl aber giebt es eine Art Vor- 
geichichte in dem von dem Geheimjchreiber Marx Treizfauerwein vers 
faßten „Weisfunig“, welcher die Thaten Kaiſer Friedrichs III. befingt. 
Treiziauerwein gılt auch für einen Mitarbeiter des Teuerdanf, 

Im Jahre 1517 erjchien die erjte Auflage dieſes Werfes mit 
prachtvollen Holzjchnitten, theils von Albrecht Dürer jelbit, theils von 
jenen Schülern, wie Hans Schäufelin (1490 —1540), im Verlag des 
Hans Schönfperger zu Nürnberg. Lange glaubte man, der Text jet 
auch in Holz geichnitten, doch Dr. Haltaus, dem wir eine gründliche 
Ausgabe des Teuerdanf, jo wie eine ausführliche „Geſchichte des Kai— 
jers Marimilian“ verdanken, hat den Sag mit beweglichen Lettern 
überzeugend vertheidigt. Um die Mitte des 16. Jahrhunderts erfuhr 
der Teuerdank einige Umarbeitungen. Zuerſt durch den heifiichen 
Fabeldichter Burfard Waldis, welcher mitunter fürzte, mitunter zu— 
dichtete, nicht ohne Gejchik und Zujtimmung. Weniger Beifall erntete 
Mathäus Schultes (Ulm, 1679—1693) mit feiner Bearbeitung. In— 
zwijchen war der Teuerdank zu einer Kuriofität und Narität geworden, 
bis ihn Küttner in jeinen „Charakteren deutjcher Dichter und Pro— 
ſaiſten“ wieder etwas zu Ehren brachte. 

Dana) haben ſich denn noch mehrere Gelehrte, Literaturäftheti- 
fer und Dichter eingehender mit diefem merkwürdigen Literaturdenfmal 
des 16. Jahrhunderts bejchäftigt, unter anderen Uhland und neuer- 
dings Karl Goedeke. Faſt alle jtimmen in dem Urtheil überein, daß 
die Daritellung der Abenteuer Marimilians im Teuerdank troden und 
monoton, unpoetijch und durch langweilige Moralpredigten verwäſſert 
iſt. Mögen auch all die Jagdgejchichten, die hin und wieder, aber 
durch unfreiwillige Komik, an die befannten Münchhauſiaden erinnern, 
wirflich auf wahrer Begebenheit beruhen, wie uns denn der Ueber— 
arbeiter und Redacteur Melchior Pfinzing verjichert, da er von meh 
reren ſelbſt Zeuge gewejen, einen eigentlich hijtorischen Stoff giebt 
uns das Gedicht feineswegs und mit der „Brautfahrt Marimilians“* 
hat der Juhalt nichts zu thun. Ja e3 leuchtet ein, daß die Berjonen, 
außer der des Helden Teuerdank jelbit, nichts wie wejenloje Allegorien 
find und daß der Verfaſſer jich die danfbariten Perſonen feiner näch- 
jten Umgebung zu förperlojen Abstraeta verflüchtigt und noch andere 
nicht minder Ichemenhafte Figuren dazu gedichtet Hat. Da iſt zunächſt 
die „Königin Erenreich“, zu der Teuerdanf jcheinbar eine Brautfahrt 
unternimmt, nicht etwa die holdjelige Maria von Burgund, jondern 
nur eine Perjonififation der Ehre jelbjt, nach der unſer ‚Held jtrebt. 
Ferner ijt der König Nomreich nicht der kühne und mannhafte Her— 
z09 Karl von Burgund, jondern wie der Ruhm der Vater der Ehre 


328 Held Teuerdank oder Marimilians Srautfahrt. 


ift, jo tritt er nur — Vater der gleichfalls allegoriſchen 
Erenreich auf. Der getreue Diener und Begleiter Erenhold endlich 
in unſerem Gedichte iß keineswegs etwa die dankbare und durch ihre 
rührende Treue packende Figur des Schalksnarren Kunz von der 
Nojen, jondern wie der &erhüffer in jeinem pedantijchen „Schlüfjel“ 
erflärt „das gerucht und gezeügnus der warhait“. Zugegeben aud), 
daß der intellektuelle Urheber des Werkes, Marimilian, in Erinnerung 
an jeine frühverflärte, vielgeliebte erite Gattin bei dem Namen „Eren- 
reich“ an Maria von Burgund und unter dem Titel „Romreich“ an 
ihren Bater, Karl den Kühnen — hat, wie es denn auch der 
„Schlüſſel“ umſtändlich erklärt, Aehnlichkeit mit den hiſtoriſchen Ber: 
ſönlichkeiten haben ſie nicht. Völlig erfunden und ganz ohne greif— 
bare Geſtalt ſind denn ſchließlich die drei Unholde, die unſern Hel— 
den in eine Reihe lebensgefährlicher Abenteuer ſtürzen, nämlich Für— 
wittig („der jugendliche Borwig“), Unfalo (das an Unfällen reiche 
Mannesalter”) und Neidelhart („die Mißgunſt der Menſchen“). Was 
nun dieſe Abenteuer und Jagdgejchichten jelbjt betrifft, jo erjcheinen 
fie uns oft kindiſch und läppiſch, namentlich wenn der „Schlüfjel“ 
nachträglidy ihre — abſchwächt, indem er z. B. von einem 
Löwen, zu dem ſich der Held in den Käfig gewagt, naiv verſichert, der— 
ſelbe ſei zahm geweſen. 

Von anderen Geſchichten, auf die in unſerem Gedichte, wie es 
ſcheint, nur angeſpielt wird, läßt ſich der Dichter unbegreiflicherweiſe 
die wirkungsvolle Ausmalung entgehen. So von dem bekannten Aben— 
teuer auf der Martinswand. Einen wie prachtvollen Stoff bot dieſe 
legendenhaft ausgeſchmückte Erzählung von der Verſteigung des Kaiſers, 
der des Volkes, der wunderbaren Erlöſung für die Poeſie, wie 
dies bekanntlich Anaſtaſius Grün ausgebeutet hat! — Oder wollte 
der Dichter abfichtlich nicht, — wie Hormayr annimmt, — von diefem 
Abenteuer reden aus religiöjer Scheu, wie denn befannt ijt, daß der 
Kaiſer den Gedächtnißtag diejer jeiner Errettung mit frommen Buß— 
übungen in der Einjamfeit beging. Ebenſo ließ fich der Berfajjer dic 
prächtige Schilderung jeines Zweikampfes mit jenem prablerijchen Ritter 
entgehen. Endlich führen uns die letzten Schidjale des Helden in 
a Gedichte nicht in jene ereignigreiche Bei jeiner Gefangenschaft 
in Brügge, jondern find nad) Flandern verlegt und in einer Weife 
verallgemeinert, dag von den hiſtoriſchen Epifoden, namentlich von 
den Nettungsverjuchen des köſtlichſten aller Hofnarren, des unver- 
gleichlichen Kunz von der Roſen, nichts zu erfennen it. Und welch 
eine Fülle von Humor bot jich bier einem findigen Dichtergenie! 
Doch von Humor, Sarkasmus oder Satire feine Spur in a ac 
trodenen, pedantischen Moralbuch, ebenjowenig wie von farbenprächtis 
gen Detailjchilderungen aus Ritter, Hof- und Waldleben! 

Ein wie danfbarer Stoff auch in dem tragischen Tode der Lieb- 
reizenden Maria lag, das entging dem ungefähr gleichzeitig mit dem 
Propſt Melchior Pfinzing zu Nürnberg lebenden Schujter und Meifter: 
jänger Hans Sachs nicht, als er in einer „historia* von dem „wun— 
derbarlich gelicht kaiſer Marimiliani löblicher gedechtnus, von einem 
inpromanten“ erzählte. 

Einem neueren Dichter, — Anaſtaſius Grün — war es vorbe- 


Held Teuerdank oder Marimilians SKrauffahrt. 329 


halten, in einem poetifcheren Epos: „Der letzte Ritter“, den Thaten 
des Kaiſers Marimilian einen würdigeren Denkitein zu jegen. Hier 
finden wir die Nitterlichfeit und Kühnheit des Helden ins_ richtige 
Licht gejtellt, * fehlt auch nicht ganz der Humor in der köſtlichen 
Figur des Hofnarren. Doch das Gedicht leidet an Längen und einer 
gewiſſen Ermüdung durch ſein Versmaß. 

Ein wie — und wirkungsvoller Stoff die romantiſche Ge— 
ſchichte von „Maximilians Braugjahrt“ auch für die Romanform dar- 
bietet, das hat vor — Sahren recht geſchickt und Ninmg Guſtav 
v. Meyern in ſeiner „Teuerdanks Brautfahrt“ in der Gartenlaube ge— 
eigt (in E. Keil's Verlag ſeparat erſchienen 1878). Der leider zu 
dh verjtorbene Verfaſſer hat offenbar richtig gefühlt, wie wenig aus 
den allegorischen Gejtalten des „Teuerdank“ zu machen war und jic) 
fajt nur mit Andeutungen begnügt. Von den drei Unholden tritt 
nur einer („Fürwittig“) auf, und der erjcheint auch mehr als guter 
‚Freund; andere Namen wie „Erenreih“ und „Teuerdank“ gelten eigent: 
lıh nur als Incognitonamen. 

Aber auch der dramatischen Behandlung eröffnet unjere Gejichichte 
ein fruchtbares Feld. Für das Lujtjpiel hat es bekanntlich Guſtav 
ee Glüd („Die Brautfahrt oder Kunz von der Nofen“) ge— 
zeigt. Die dankbare Rolle des getreuen Hofnarren hat er mit friichem 
und urwüchſigem Humor ausgeſtattet. 

Sollte nun nıcht auch in dem jähen Tode Marias, ihrer Herauf- 
beichwörung durch den Abt Trithemius, endlich in der Gefangenjchaft 
Marimilians, in die wie heitere Lichtjtrahlen die ebenjo humorvollen 
wie rührenden Rettungsverjuche jeines — Hofnarren hineinfallen, 
ein reicher Stoff für ein wirkungsvolles Drama liegen?! — Immer 
wieder drängen ſich uns dieſe Bilder auf, doch uns fehlt die Ge— 
ſtaltungskraft. Wir konnten uns, ſo oft wir uns mit der Geſchichte 
des „letzten Ritters“ beſchäftigten, der Ueberzeugung nicht entſchlagen, 
daß hier ein reicher Schatz ruht, der, unſeres Wiſſens noch nicht ge— 
hoben, ſeines berufenen die harrt. Hierzu eine Anregung ge— 
— zu haben, würde dem Verfaſſer dieſer Studie zur Befriedigung 
gereichen. 


BIT - 





Henilleton. 
Novellijtiiche Plauderei von Marie von Wilden. 








Kı in für alle Mal, ich mag nur das Leichte vom Leben, 
»| — nur das Feuilleton! Die endlojen Spalten, in 
f denen all das ernithafte Zeug jteht, die find lang— 
| ‚eilig, äußerjt langweilig!“ 
\ Ind Baronin Thuſſa breitete den feinen Schwarzen 
Fächer vor das hübjche Geficht, wie um anzudeuten, der 
bloße Gedanke an den Ernjt des Lebens nöthige fie bereits, 
eine Amwandlung von Gähnen zu verbergen. 
„Alſo nur Feuilleton? — und wenn die Frage erlaubt it, 
was verjtehen die gnädige Frau unter dem Lebensfeutlleton?“ und der 
blonde bärtige Mann dr mit leije malitiöfem Lächeln nad) jeinem 
anziehenden Vis-Aa-vis hin. 

Thuſſa lachte. i 

„Da jieht man's, we von Kronenſtett, — Sie waren nie in 
Paris! was ijt Feuilleton?! mein Gott! Der Schaum iſt das 
Feuilleton des Champagners, das Ballet das Feuilleton des Theaters, 
der Strauß'ſche Walzer das Feuilleton des Tanzes, — Paris iſt das 
Feuilleton Europa’s! Mon Dieu, wie joll ich es beijer bezeichnen, — 
‚seuilleton iſt all das Filigran des Geiſtes, all das Bligende, Zuckende 
auf der Oberfläche der ga unit das Sie eben jo wenig fangen 
und hajchen fünnen wie das Mondlicht auf dem Wellengefräufel, — 
Feuilleton iſt dasjenige, was ung guten Deutjchen viel zu behende und 
pricelnd entjchlüpft, als daß wir's feitzuhalten und in unjer eben 
u jtreuen vermöchten, — es jet denn, dab wir zufällig in Paris waren! 
SBirfen Sie's jegt, Freiherr?“ und das übermüthige leiſe Vachen, mit 
dem jie Die Stage begleitend fich ein wenig zu ihm hinüberbog, ſtand 
dem blafrothen Munde mit den vollen Lippen überaus reizend. Herr 
von Kronenſtett verneigte ſich. 

„Sch denke, es ijt mir jo ungefähr geglückt, den Sinn Ihrer 
Worte FR fajjen. Feuilleton wäre das im Bajaderenfleide fich wie: 
ende Leben, nicht das in jchleppender Toga würdevoll einher: 
——— wie?“ 


Senilleton. 331 


„Ganz recht, und die Nachmittagsfahrt nad) Santa Catharina 
joll das Feuilleton des heutigen Tages werden, wenn anders Sie, 
Freiherr, es nicht vorziehen, diefen Zrühlingstraum des Lago maggiore 
in geweihte Studienjtunden zu überjegen! 

Er verneigte jich verbindlich. „Sch will mein Bejtes thun, Ihre 
Zufriedenheit zu erwerben, Baronin; hoffen wir, daß See und Sonnen 
glanz ſich meinen Beſtrebungen anjchliegen.“ 

„Do, das Waſſer bleibt ruhig, jehen Ste nur, wie Klar das Ufer 
von Suna aus jenem Grunde heraufwinft, und die Gondoliere ſam— 
meln jich zuſehends, — ein jicheres Zeichen, daß fie auf jchön Wetter 
und viele Fahrgäſte rechnen.“ 

Die bisher wenig bejuchte Terrajje vor dem grand Hötel de 
Pallanza belebte ſich jeßt allmählich. Die Kurgäjte fehrten von ihren 
Morgenausflügen zurüd, fie mochten ſich wohl noch ein halbes Stünd- 
en in den ausgedehnten Parkanlagen erholen, ehe die Glocde zum 
zweiten Dejeuner rief. Kg ir Bänke und Gartenſtühle im Schatten 
üppigjter Magnolien und Niejencedern aufgejtellt, boten willtommene 
Ruheplätze, und die gegenüber liegende Isola bella mit dem Berg- 
hintergrunde einen zauberhaften Ausblid. 

Bin Thuſſa spielte nachläjlig mit dem Fächer. Sie ſchien 
es nicht zu gewahren, wie oft das Auge ihres Begleiters fie juchte. 
Das ihre wurde jeßt durch eine kleine Gruppe VBorübergehender ge= 
fejjelt und gewann einen großen fragenden Blick beim Anjchauen des 
fi) bietenden Bildes. 

Im Rollſtuhle, wiſchen Decken und Kiſſen lag ein noch jugend— 
licher Mann, deſſen Hilfloſigkeit deutlich durch die Krücken dargethan 
ward, welche ihm zur Seite lehnten. Neben dem Fahrſeſſel her ſchritt 
eine Frauengeſtalt, jung und von ausnehmender Lieblichkeit. Sie 
wandte ſich zu dem lenkenden Burſchen. 

„Nur ja vorſichtig über die Brücke, daß es feinen Stoß giebt, 
Giacomo,” — dann dem danfbaren Lächeln des Leidenden begegnen), 
beugte fie jich ein wenig zu ihm hinunter, wie es jchien, mehr um 
feinem Auge zu begegnen, als um das leicht herabgleitende Plaid zu: 
recht zu rüden. Im zwei Minuten war der fleine Zug vorüber, aber 
Kronenitett jah ihm nach, mit jo leuchtendem Gejtchtsausdrud, daß 
derjelbe eine jpöttijche Bemerfung der jchönen Frau hervorrief. 

„Run, Freiherr, haben Ste eine Viſion? Sie jehen einem Ver: 
zückten gleich!“ 

Er wandte jich ihr voll zu. „Ich ſah mehr als eine Viſion, ich 
ſah entzüdende Wirklichkeit! Der Anblid eines tiefen umfaſſenden 
Glückes bewegt mir jtets die Seele, — ganz unabweislich!“ 

„Glück? mein Gott, Kronenjtett, wo entdeckten Sie Glück an dem 
aelähmten Kranken? Dieje jammervolle Exiſtenz! und das hübjche 

tädchen, jeine Frau vermuthlich — an jein elendes Dajein gefnüpft, 
gebunden für, — wer mag wiljen wie lange Zeit noch. Mich ſchau— 
derts bei dem bloßen Gedanfen an das Leben diejer beiden Menjchen!“ 

„DO, gnädige Frau,“ fiel er lebhaft ein, „war das nicht Liebe, was 
aus dem Blide des Mädchens ſprach? war das nicht volles Glücks— 
efühl, mit dem er fie betrachtete? Hang in ihrer tiefen vibrivenden 
Stimme nicht eine Welt voll Sorge nad), der Sorge um ein geliebtes 


f 


332 Feuilleton. 


Wejen? Hätten Sie die Zwei jo beobachten können, wie es mir ein 
paar Morgen hintereinander durd) Zufall vergönnt war, Sie würden 
wie ich, dem armen Strüppel von Mann jein Glüd zuerfennen, Ba: 
ronin! Hätten Sie es nur anjehen dürfen heute früh im Park! Sie 
las ihm vor, aber wahrhaftig es ijt ein Wunder zu nennen, wie jie 
das zumwege brachte, denn ihre Augen ruhten mehr auf jeinem Gefichte 
als auf den Blättern des Buches, und mit welchen Bliden! Und 
dann hielt fie den ausgeipannten Schirm über feinen Nolljejjel, daß 
die Sonnenjtrablen ihn nicht träfen, — wohl eine Stunde lang that 
fie e8, und verficherte, fie jet nicht müde, — nein, wirklich nicht im 
geringjten müde! die fleine Heuchlerin, ich jah es deutlich, wie fie ver— 
ſtohlen den ausgeitredten Arm zu jtügen verjuchte. Und als ein 
rauheres Lüftchen ſich erhob, wie bejorgt fie war, den Kranken bejjer 
einzuhüllen, wie fie auf Entdedung eines geeigneteren Plages ausging. 
Das ſüße, ernite Geficht mit jo tief wichtiger Miene jeder Himmels- 
rihtung einzeln zuwendend, die fleine weiße Hand emporgehoben, um 
nun ja unfehlbar richtig zu erforjchen, von wo der unwillkommene 
Gejelle, der Wind wohl jtröme? Und hernach, als fie dort unter den 
Bäumen frühftücten, ich verfichere Ste, gnädige Frau, die Beiden 
lachten jo rein und herzlich, jo hell, wie nur glückliche Menjchen zu 
lachen vermögen, jehr, jehr glüdliche Menjchen! Und geitern — er 
z0g ihre Hand an jeine Lippen, umd wie fie ftreichelnd über fein 
lodiges Haar fuhr, erröthete jie vor ‚Freude über die lieben Worte, 
die er ihr zuflüfterte. Ja, in Wahrheit, dieſes Glück im erniten Kleide 
mag mehr werth jein als manches andere, das in Fröhlichkeit gehüllt 
wie in Roſenwölkchen einherjchwebt.“ 

Die Lippen der Baronin Fräufelten fich ein wenig verächtlich. 

„Sie jind ein Jdealift, Kronenſtett! Heute Abend ächzt und jtöhnt 
der arme Stranfe vielleicht vor Schmerzen, und morgen und über: 
morgen und lange, lange Tage muß ev leiden und das junge, hübjche 
Kind da bleibt eingejperrt wie ein gefangener Vogel. Bewahre mid) 
der Himmel vor ſolch jentimentalem Glücde! nein, das gehört nicht 
ins Feuilleton, mich jchaudert's! Da wäre mir das Loos jener Brüfeler 
Schönheit weit lieber! Sehen Sie, da kommt jie! Dieje rothblonde 
Haarfülle jcheint nicht nur Italiener in Entzüden zu verjeßen, der 
junge ruſſiſche Diplomat hat jeine ganze würdevolle Haltung einge: 
büßt in der Nähe diefes Schimmers. Das reizvolle Gejicht erjcheint 
in der That wie „auf goldenem Grunde gemalt“ — jo leuchtend heben 
fich die blühenden Farben von dem glänzenden Geringel ab. DO, dem 
armen Attache ift jeine Carriere aus den Augen entjchwunden, pove- 
rino! oder jcheint es Ihnen, Freiherr, als befolge er in diefem Augen: 
blide Talleyrands Grundjag und benuße die Sprache, um jeine Ge- 
danken zu verbergen?“ 

Und fie lachte. „Keine jo finftere Stirn, Kronenftett, li Sie 
uns das hübjche Bild bewundern, im fatjerlichen Theater würden wir 
Beifall Eatjchen, wenn ung eine Scene jo ganz „au naturel“ vorge 
führt würde, und wie ich jchon jagte: ich übernähme lieber einen — 
in dieſem Salonſtücke als in jener Gefühlstragödie, die von Auf— 
opferung überquillt.“ 

„Sie reden nicht im Ernſte, Baronin, gewiß nicht, — ſagen Sie 


Feuilleton. 335 


„nein!“ — jenes fofette Weib, dem die eignen Kinder eine Laſt, das 
als Fremde gleichgiltig neben dem Gatten herlebt — dejjen Gejchid 
wollten Sie eher auf Ni nehmen als die durch Leid ei Noth ge: 
heiligte Liebe der Anderen? — Sagen Sie, Sie wollten es nicht! ich 
flehe Sie an, Baronin, — Thuffa! — er ſtreckte ihr in umvillfürlicher 
Bewegung die Hand hin, er beugte ſich weit vor zu ihr, jeine Augen 
trafen mit flehendem, fajt angitvollem Blide die ihren. Einen kurzen 
Moment nur, denn Thujfa Ichüttelte den Kopf. Sie jchien die aus: 
gejtredte Hand nicht zu beachten. 

„Sie jehen mich gerade jo an, Freiherr, al3 wäre nun im mir 
eine Viſion verfürpert, aber Teider — ich muß Ihren Wahn zeritören, 
lügen fann ich nicht, id) mag lieber alles, als jenen ewigen Emit, 
der mit ojtenjiver Langweile ſtets und immer nad) den gediegenen 
Tiefen des Lebens gräbt und forscht! — Ic will nichts anderes als 
Fröhlichkeit und Sonnenjchein, jtet3 etwas neues, von allem ein 
wenig, — Feuilleton!“ 

Kronenſtett war jehr bleich geworden, er hielt die Hand über 
Augen und Stirn, als beläftige ihn plöglich der Sonnenjchein, dann, 
al3 er die ſchöne Frau wiederum anblidte, war jede Spur von Er: 
regung aus feinem Geficht verwiicht. Das helle, anhaltende Läuten 
der srühjtüdsglode bot dem Freiherrn, wie es jchien, willflommenen 
Anla & einjtweiliger Verabſchiedung. Thuſſa blickte der hohen kraft: 
vollen Geſtalt nad). 

„ob ich ihn je verstehen lerne, diefen Mann? diefe unbeweglichen, 
maſſiven Anjichten, und die doch jo leicht zu eriwedenden Flammen 
in den Augen, die von feurigen Strömen zu reden wijjen — id) 
glaube, ich fand nie ein anziehenderes, pifanteres Räthjel, — ob Id) 
es [öfe: nous verrons!“ 

Der aa he el lag vollftutig über dem klaren, 
jtillen See. Die Heine Barfe, von den vajchen, geſchickt geführten 
Ruderſchlägen der Gondoliere getrieben, durchichnitt das Waſſer ohne 
die geringjte jchaufelnde Bewegung. Rechts hob fich der weiße — 
thurm des Städtchens von Pallanza maleriſch aus dem Grün, links 
zogen die reizend gelegenen Villen an den Blicken des Beſchauers 
vorüber. Die leichte, graziöfe Geitalt der Baronin Thuſſa lehnte in 
den Kiffen des zierlichen Fahrzeuges. Das tiefrothe, jeidene Gondel— 
dad) warf warmtönige Neflere auf das für gewöhnlicd) nur matt ge= 
färbte Antlig und lieg die dunfeln Augen noch bligender und ſprü— 
hender erſcheinen. 

„Run, — es iſt ja eine wahrhaft göttergleiche Ruhe und 
Stille über Sie gekommen! Ein es die Kirchengloden von Jntra, die 
die Aera des Schweigens eingeläutet?“ 

Mit zeritreutem Lächeln wandte er fich ihr zu. 

„sh muß um Vergebung bitten, Baronin, diefes Ufer nimmt 
mich gefangen, — id) liebe dieles Ufer!“ 

„a3 alles in der Welt Sie mit „Liebe” zu umfafjen vermögen, 
e3 iſt jtaunenswerth! aber natürlich dahinter ſteckt unjere Deutiche 
Gründlichkeit. Die Engländer haben ein „liking“, — die Franzoſen 
ein „faible* für irgend ein Ding, nur wir, wir müſſen gleich mit 


334 Feuilleton. 


dem vollen Gefühl hinein und davon, — wir werden arm durd) diejen 
enormen Verbrauch.“ 

„Arm? guübige rau, wie wenig. fennen Sie die Macht, von der 
Sie reden. Liebe ijt ein Feuer, das jtet3 heller, mächtiger wachiend 
emporflammt, je mehr Nahrung Sie ihm geben, — Liebe iſt das * 
unſerer Seele; je mehr Gegenitände wir ihm zuführen, dejto mehr 
umfaßt es mit Ben Blide, — Liebe —“ plöglich brach er ab, ihr 
Geſicht mit weichem, faft ſcheuem Ausdrude jtreifend. Seine Stimme 
lang leije, als er jegt ſprach. 

„Bergebung, Baronin, ic muß fürchten, eine vielleicht noch jchmer- 
zende Wunde in Ihrem Herzen berührt zu haben durch meine unbe 
dachten Worte, — wollen Ste mir verzeihen?“ 

So bittend jah er jie an. Die fajt unmerfliche Bewegung der 
Ungeduld, mit der fie die Antwort begleitete, jchien ihm zu entgehen. 

„Ste meinen, Sie weden trübe Erinnerungen? O nein, ficher 
nicht. Mein alter, armer Gemal ijt einige Wochen nad) unjerer 
Verbindung auf einer in Amtsgeichäften unternommenen Seereije ge- 
jtorben. Seine Gegenwart brachte mir Feinerlet angenehme Erheite— 
rund, jein Tod feinen Kummer, und Gott Yob blieb es mir erjpart, 
all das Graufige von Sarg und Grab in der Nähe jehen zu müſſen. 
— Neden Sie nur fort von dem, was Sie Liebe nennen, aber ic) 
warne Sie, es ift gefährlich, fich in das feurige Meer zu jtürzen, als 
welches Ihnen dies Gefühl ericheint — es fand noch Steiner den 
Grund! — Da habe ich mir's bequemer zuvechtgelegt: Liebe iſt ein 
bunter Schmetterling, den wir haſchen, — Liebe iſt eine blühende 
Roſe; wenn fie welf geworden, — wir ſie beiſeite! voilà tout!“ 

Und ſie lachte. Wieder jenes melodiſch klangvolle Lachen, das 
den reizenden Mund ſo unwiderſtehlich ſüß erſcheinen ließ. Und wieder 
zog er über des Mannes Geſicht, jener Ausdruck von Enttäuſchung 
und Pein, — wieder ſah er ſie an wie um Erbarmen flehend. 

„Dansez, dansez ma belle, dansez dansez toujours,“ trällerte 
fie, feitwärts an ihm vorüberblidend, die jchlanfe Sand über den 
Nand der Barfe in das jonnenbeglänzte Waſſer tauchend und Die 
hängen bleibenden Tropfen im Lichte funkeln lajjend. 


Baronin Thufja jaß auf der Terrafje. Die gejtrige Fahrt nach 
Santa Catharina war hübſch gewejen; wohin ſie Nic wohl heute 
rudern lafjen jollte? vielleicht kannte der Ban noch irgend einen 
bejonders malerijch gelegenen Uferpunft. Ab, da kam er des Weges, 
wie gerufen und gerade auf jie u Dieſe jtattliche Erjcheinung über: 
ragte doch die Andern alle und Thuſſa lächelte in fich hinein. Jetzt 
ftand Kronenſtett vor ihr. 

„Ich komme, um Ihnen lebewohl zu jagen, gnädige Frau, in 
einer Stunde jchiffe ic) mid) nach Arona ein, gejtatten Ste mir, mid) 
Ihrer Erinnerung bejtens zu empfehlen.“ 

„Ste wollen gehen? Ki meinte veritanden zu haben, Sie beab- 
fichtigten einen dauernden Aufenthalt in Pallanza?“ 

ine leiſe Enttäufchung lag in dem überrajchten Tone der Frage, 
und die weißen Zähne gruben ſich nachdrüdlich in die volle Unterlippe. 


Senilleton. 335 


„Wenn ich bliebe — ich ber e3 würde ein ernithaftes Kapitel 
daraus und Baronin haben Feuilleton befohlen, — nichts als Feuille— 
ton!“ Er verbeugte fich tief und ging: 

Er jah nicht mehr, wie tiefe Bläffe und helles Roth in dem 
reizenden ur big wechjelten. Aus der Gondel, die eben vom 
Ufer ſtieß, klang der Geſang einer deutjchen Studentengruppe gr 
und wehmiüthig herauf: „Sch weiß nicht, was ſoll es bedeuten, da 
ic) jo traurig bin!“ 


Die Lebensalter. 





— Sg Züngling hofft mit leichtem Muthe 
| Bon jeiner Thatenlujt Gewinn 

FF Und nimmt das Wahre, Schöne, Gute, 
‚ Das ihm begegnet, jorglos hin. 


° Der Mann läßt Ueberlegung walten, 
Er zieht allmählich feinen Kreis, 

In dem er mit Gejchid zu jchalten 
Und anderen zu nüßen weiß. 


Der Greis wirkt langjam und bedächtig, 
Klar und geläutert folgt ſein Geijt 
Der Stimme, die ihn laut und mächtia 
Zum Urquell aller Dinge weiit. 


Alfred Bod. 


— 

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N ERS * A Am Kamin. ER \ ET * 














Der diesjährige Rariſer „Halon“. 
Paris, 4. Mai 1887. 


Sehr geehrter Herr und Freund! 


ch weiß nicht, ob ich annehmen darf, daß Sie momen: 
tan an mich denken. Wohl jchwerlich! Allein, Lafjen 
Sie mir einmal das Vergnügen. Nur auf einige Mi- 
pre nuten. Gut! 
— — Sie haben aljo Ihre Poapierſcheere beurlaubt, 
FL" Ihr Tintenfaß durch einen Ajchbecher erjegt und lehnen 
ſich jet in Ihren gewiß nicht allzu unbequem gebauten Re- 
jr dactionsjejjel zurüd. Die Pantoffeln, die Ihnen gefühlvolle Ver: 
ehrerinnen geſtickt haben, drüden nicht, das Leben hört auf, eine 
Laſt für Sie zu jein. Und doch: Sie können von Ihrer Natur nicht 
fajjen. Sie find Unmenjc genug, ſich mit einem Iyrifchen Gedicht 
Ihre Eigarre anzuzünden. Leugnen Ste nicht! Ihr Papierkorb weiß 
davon zu erzählen. 

„Papierkorb? Ad, was Papierkorb! Paris! So jet die Boule- 
vards entlang zu bummeln, eine Roje im Knopfloch und einen Tau— 
jendfrancjchein ım Portemonnaie — ſchändlich!“ 

Sie brechen ab und ſtoßen Ihren Aerger in blauen Ringeln 
durchs offene Fenſter, durch welches in demſelben Augenblicke ein 
froſtiges Mailüfterl weht! Ich aber ſehe mich genöthigt, Ihrem Ge— 
fühlsausbruche zu widerſprechen. Eine Roſe mir ins Knopfloch zu 
ſtecken, habe ich noch nie übers Herz gebracht. Denn erſtens inbe 
ich das für einen jungen Menjchen ziemlich albern und zweitens würde 
mir auc) bier dieles ergnügen in diefer Jahreszeit einen Franc und 
fünfzig Centimes koſten. Allerdings mit Staniol umwidelt. Die 
Sechigkeit oder jonjt ein Augenblid, verlebt im Paradieſe, wäre frei- 
(ich) damit nicht zu theuer erfauft. Aber eine Roje? Eine Roſe Fauft 
man überhaupt nicht. Eine Roſe pflüdt man, oder läßt fie fich 
ichenfen. Was vollends den citirten DTaujendfranejchein im Porte— 
monnate anbelangt, jo werden Cie gewiß die Thräne zu würdigen 
wiſſen, die in biefem Augenblit auf meinen Brief tröpfelt. 

Nein, ich bummele zur Zeit weder die Boulevards entlang, noch) 
verjchlude ic) lebendige Kaninchen, jtopfe Seepferdchen aus, züchte 
Krofodile, jtuge Möpfe, oder treibe ähnliche Scherze. Ich bin froh, 
daß ich Paris auf einen Abend nicht mehr fühle. Seit acht Tagen 
ihon hat es mir in allen Knochen gelegen. Aber jet bin ich wieder 
in meinem Element. Ich habe mir ein hausmütterlich die Lampe an- 
geſteckt, mir mein ungemüthliches Hötelzimmer jo gemüthlich als 
möglich) gemacht, und beabjichtige num — erjchreden Sie nicht! — 
Ihnen einen Bericht über den diesjährigen „Salon“ zu jchreiben. Wenn 





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Steinmarder anf der Lauer. 





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Am Kamin. 337 


er nichts taugt, werfen Sie ihn nur getroft in Ihren Papierkorb. 
Vielleicht findet er dort Kollegen. %d) habe mir dann wenigjtens 
eine Stunde lang auf anjtändige Weile die Zeit vertrieben. 

Wie Sie bereit3 aus den naeh willen werden, fand die Er- 
öffnung des Salons wie immer jo auch in Ddiefem Jahre, am eriten 
Mai ſtatt. Ich bin jeitdem drei Mal dagewejen. Das erite Mal 
fam ich halb todt nad) Haufe, das zweite Mal ganz todt, und das 
dritte Mal überhaupt nıcht. Ich Eonnte mich bloß noc bis zum 
Tuileriengarten jchleppen, wo ich, ein Opfer der Kunſt, gefnictt wie 
eine Lilie, auf eine Bank fiel. Ich — ſie war gelb geitrichen. 
en behauptete e8 noch heute Morgen mein grauer Sommer: 
überzieher. 

Zweitaufend fünfhundert und einundzwanzig Gemälde, eintaujend 
nullhundert und dreiundvierzig Zeichnungen und eintaufend nullyundert 
und fünfundvierzig Skulpturen! Macht zujammen viertaujend jechs- 
hundert und neun Kunſtwerke. Die Zeiten des Perikles waren die 
reine Barbarei dagegen... . 

Als ich mich zum erjten Mal durch dies Labyrinth wand, war 
es mir interejjant, unſere le&te internationale Jubiläumsausſtellung 
in Berlin möglichjt oft zum Vergleich heranzuziehen. Zu meinem 
Erjtaunen machte ich daber die Entdefung, daß die Pariſer meijt den 
Kürzeren zog. Ich mu gejtehen, daß ich nicht recht darauf gefaßt 
war. — mir in Deutſchland einen ſo heilloſen Reſpekt vor 
der —“ yen Kunſt eingejagt und mir namentlich ihre zeitgenöſſiſche 
Malerei immer als ein Sol jchredliches Nonplusultra bingejtellt, 
daß ich ordentlich verwundert war, als ich jah, daß jie ein Meer, das 
in der Natur blau ausjieht, auch nur blau und einen Baum, der in 
der Natur grün ausjieht, auch nur grün zu malen weiß. Und mit 
was für einem Blau! Mit was für einem Grün! Wenn man davor 
jteht und es anfieht, genirt man jich, daß man nicht die Schwindjucht 
hat. Ich glaube, die Sprache, die die Künstler jprechen, wenn jie ſich 
unter fich glauben, nennt das, „den Schatten durch das Licht wieder: 
geben.“ Den Schatten dur den Schatten wiedergeben, wie das 
Ichnöder Weije immer noch unjere deutjchen Maler thun, halte id) 
Men für naturgemäßer. Doc) gejtehen wir, daß wir nicht fompe= 
tent jind. 

Sedenfalls hat der Pariſer Salon einen Vorzug, der ihn all 
— ausländiſchen Nebenbuhlern den Rang — läßt. Wenig— 
tens in meinen Augen. Man kann in ihm rauchen! Die Räumlich 
feiten vertragen es. Wie Sie wiſſen, befinden ſich diejelben im Palais 
de Industrie, einem folojjalen Bau, den Napoleon III. für die 
große Weltausitellung von 1855 errichten ließ. Ihm gerade gegen: 
über, nur getrennt durch Die grünen Stajtantenallen der Champs- 
Elisees, liegt das Palais de l’Elisee, die Wohnung Grévy's. Links, 
am Ende der Avenue des Champs-Elisces, bligend im Sonnenlicht, 
der Are de Triomphe, rechts die Place de la Concorde mit dem 
rothen Obelisfen von Luxor in der Mitte und dahinter der Jardin 
des 'Tuileries. Der Hauptraum der Ausjtellung befindet fich genau 
in der Mitte des Gebäudes. Ein glasgededter Saal von genau 192 
Meter Länge, 48 Meter Breite und 35 Meter Höhe. 

Der Ealon 1887, Heft IX. Band Il, 23 


P 
— 


338 Am Kamin. 


Sind Sie mit diefen Dimenfionen zufrieden? Ich hoffe. Aber 
auch die Kunstwerke, die 1 in diefem Rieſenraume Beben werden 
Sie nicht falt laſſen. Es jind die Skulpturen. Und zwar ſämmt— 
liche! Gerne geftehe ich, daß fie alle meine Erwartungen weit über: 
troffen haben. Es ijt ſelbſtverſtändlich und braucht wohl nicht erit 
betont zu werden, daß fich unter diefen 1045 Objekten nicht lauter 
Meiſterwerke befinden. Aber faum eins läßt eine — vermiſſen, 
die ſchon allein genügen würde, es bei uns in Deutſchland zu einem 
bewunderten Zugſtück zu machen. Es iſt möglich, daß ich übertreibe. 
Aber der Eindrud, den ih — und nicht blos auf Grund diejer Aus— 
jtellung — von der franzöfiichen zeitgenöfjischen Skulptur — 
habe, iſt ein ſo ungleich größerer, als der, den die gleiche Malerei 
auf mich gemacht hat, daß ich mich deſſen nicht ſchämen würde. 

Auch nur die hervorragenditen Werfe der Reihe nad) aufzuzühlen, 
erlafjen Sie mir wohl? Da Ihnen die lebendige Anfchauung fehlt, 
können Ihnen die todten Namen nicht viel nügen. Am meilten habe 
I die Thierſtücke und die Porträts bewundert. Hervorheben muß 
id) auc) die geichmadvolle Anordnung des Ganzen. Eintaujend und 
fünfundvierzig Bildwerfe in einem einzigen Raum überjichtlich zu 
gruppiren, iſt entjchieden eine Aufgabe gewejen, an deren Löſung Se 
als ein Schweißtropfen hängt. Aber dank den prächtigen Anlagen, 
die aus dieſer riefigen Halle einen grünen Garten gemacht haben, 
einen grünen Garten mit gelben Kieswegen, lebendem Rajen und 
witichernden Spaten, ijt dieſe Löjung eine vollfommene geworden. 
Der Ausblid oben von der Galerie, die in der Hälfte der göbe rund 
um den ganzen Raum läuft, ijt einzig in feiner Art. Die gelben 
Kiesftreifen, die grünen Najenjtüde, die weißen Marmorleiber, die 
bunten Bänfe und dazmijchen die diverjen taujend ſchwarzen Eylinder: 
hüte der lachend und plaudernd auf und ab promentrenden Herren, 
in — Wirkung noch verſtärkt durch die kolibrifarbenen Hüte und 
Toiletten der Damen; das alles bildet dort unten ein Enſemble, wie 
es ſchöner nicht gedacht werden kann. Es fehlen bloß noch die kleinen 
Kinder mit den nackten Knieen, die ihre rothen und blauen Luftballons 
fliegen laſſen. 

Sie würden ſich ſicher in dieſes Bild verlieben, wenn Ihre Augen 
nicht immer wieder und wieder durch die vielen Marmormütter unten 
efejjelt würden, die theils mit Beilen, theil® mit jchreienden Säug— 
ingen bewaffnet, augenjcheinlich die Abficht haben, in irgend einen 
Krieg zu ziehen. Das ijt die Kehrſeite von jeder Medaille hier. 
Nevandje, Nevandje und wieder Revanche! Die franzöfiichen Bild- 
bauer vollends jcheinen fie ernſtlich in Pacht genommen zu haben. 
Sch Eonjtatire, dat ich, ohne ertra darauf zu fahnden, mindejtens ein 
Dutzend er re in Marmor und ein halbes Dutend in 
Bronze gezählt habe. Die in Thon und Gips gar nicht zu rechnen. 
Die Berfappungen, unter denen jie auftreten, Fb oft abenteuerlich 
genug. Am amifantejten ift entjchieden die L’Avenir betitelt. Ka— 
talog 4261. Die Zukunft, las 2 verwundert. Die Zukunft? Donner: 
wetter, die mußt Du jehen! abricheinlich tit an dem betreffenden 
Bildhauer ein Philojoph verloren gegangen. Aber nein, es war nur 
ein Bolitifer. Die „Zukunft“ jtellt der betreffende Herr nämlich in 


Am Kamin, 339 


einer Gruppe von zwei weiblichen Gejtalten dar, von denen die eine, 
möglichit großfnochig gebaut und möglichit majeftätisch den Kopf zus 
rüchverfend, mit der Rechten ein Schwert, und mit der Linken die 
andere, um einen guten Kopf Fleinere Figur, energisch umfaßt hält. 
Dieje Eleinere macht ein jehr vergnügtes Geficht und jcheint im 
übrigen nicht wenig jtolz = ihren Kopfpuß zu fein. Die Bauern- 
mädchen im Eljaß tragen allerdings genau fol einen. Die „Dänge- 
fommijjion“ war zuvorfommend genug, dieſe Gruppe, die übrigens 
bereits in Bronze gegoſſen ijt, triumphirend nach Weiten jchauen zu 
lafjen. Wenn das größere von den beiden Weibsbildern jich die Mühe 
eben wiirde, ihre Najenjpige entjprechend zu verlängern, jo könnte 
He Damit gerade die Thür des Berliner Zeughauſes einſtoßen. 

Dieje unglüdliche Liebe zu Eljaß-Lothringen! Sie offenbart ſich 
hier in Paris, auch dem oberflächlichjten Beobachter, auf Schritt und 
Tritt. Erſt — Vormittag ſah ich, wie die allegoriſche Figur der 
Stadt Straßburg auf dem Concordienplat wieder über und über mit 
neuen lören, — * und Fahnen ausſtaffirt war, und am 
Abend hörte ich dann Diejelbe Leier von den Brettern eines Chan— 
men bherabflimpern. Ein Mann in Frad und Binde jtellte 

as franzöjiiche Volk vor. Neben ihm eine weißgejchminkte Dame 
in Trauer und gelben Glacées. Aber tief, tief, jehr tief ausgejchnitten. 
Das war Eljaß-Lothringen. Mourir und la patrie blutete jeder Ton, 
den jie jangen. Er Tenor, fie Alt. Das Publikum ftrampelte mit 
Händen und Füßen und fonnte nicht genug davon Friegen. Allerdings 
auch von dem Gancan nicht, den dann ſofort darauf die zwei belieb- 
teiten Bolfstänzerinnen von Paris auf offener Scene zum Beten 
aben. In der Zwiſchenpauſe rief dann ein Beitungsverfäufer die 
egte Nummer der „Revanche“ aus. Natürlich gab ich meine 5 Cen— 
times mit Vergnügen. Es war die Nummer, die über Die Sn 
des x referirte. Der Leitartifel war mit drei Zoll hohen 
Buchſtaben „A BAS L’ALLEMAGNE!“ überdrudt. „La Soirde de 
V’Eden. — Le „Lohengrin“ siffle. — Demonstration anti-allemande, 
— Manifestations sympathiques en I’honneur de la „Revanche“, — 
Le Drapeau frangais lacere ete...... Ich Habe nie vorher ge- 
wußt, daß ich ein jo guter Deuticher bin. Erjt in Paris hat man 
e3 mich gelehrt. Ich bin den Schreihäljfen hier dafür jehr dankbar. 

Doch ich komme ja ganz von meinem Thema ab. Ich wollte 
nur fonjtatiren, daß die Franzötifche Skulptur jchredlich patriotiich iſt. 
Devijen wie: „On veille!“ „Vainere ou mourir“ und ähnliche ver 
zapft fie mit Vorliebe. Die Malerei ift weit bejcheidener. Sie be- 

nügt ſich nur, Schlachtenbilder zu produciven, auf denen die deutjchen 

ruppen regelmäßig Reißaus nehmen. Allerdings producirt fie dieje 
en masse. Immerhin ift und bleibt diejes aber ein Vergnügen, dem 
man feine Harmlofigfeit ſchon gönnen darf. Nur eins läßt ſie ſich 
nicht nehmen und übertrifft darin beinahe noch ae Schweiterkunft. 
Nämlich den Helden des Tages zu feiern, den General Boulanger. 
Zu Pferde und nicht zu Pferde, mit Reitpeitjche und ohne Reitpeitjche, 
en face und en profil, von rechts und von links, von oben und von 
unten, von hinten und von vorne — fie wird es nie müde, ihm neue 
Seiten abzugewinnen. Gut, lafjen wir ihr auch das Vergnügen! der 

23% 


340 Am Kamin, 


— Chemikus Chevreul iſt ihr zweites Schooßkind. Site 
at ihn zwar nur halb ſo oft porträtirt, wie den General Boulanger, 
aber das genügt bereits, um ihn in Oel und in Paſtell, in —2 
und in Kreide, in A und in Stahlitih, in Radierung und 
in Rupferjtich zu jehen. Von den Büjten in Marmor, Thon, Gips, 
olz, — u. ſ. w. ganz abgeſehen. Sonſt kann ich mich beim 
eſten Willen nicht entſinnen, irgend ein Porträt mehr als einmal 
gelehen zu haben. Nur Boulanger, der General, und Chevreul, der 
hemifus! Wenn das nicht charakteriitiicd) it, weiß ich nicht. 

Doc halt! Ich vergejje ja ganz Madame X. Dort neben dem 
ultramarinblauen Seejtüd hängt ein wunderhübjcher Frauenkopf. Wer 
mag das jein? Schnell den Katalog her! Nr. 817? „Porträt von 
Madame X.“ Ach jo! Aber dort jene alte braune Zigeunerin mit 
dem Millionenſchmuck um den dürren Hals? „Borträt von Madame 
X.“ Und jene Eleine, niedliche Balletteufe? Roja in Roja? „Bor: 
trait von Madame X.“ Madame X. jcheint aljo denn “- am aller: 
populäriten zu jein. Trotz Boulanger und Chevreul. Vielleicht it 
das noch um eine gute Portion charakterijtischer. 

Nächſt Madame &. ift es natürlich wieder Cleopatra, der die 
Herzen der Herren Maler zugeflogen Find, Eine Kunjtausstellung 
ohne ein Cleopatrabild wird nächſtens zu den Undenkbarkeiten zählen. 
„Sleopatra einen Sklaven vergiftend”, „Cleopatra Cäjar erwartend“, 
„Sleopatra auf dem Nil jegelnd“. — ſich im Mörisſee badend“, 
De auf einer Pyramide reitend“, Cleopatra hier, Cleopatra 
da. In einem Saal eine Eleopatra wittern und in demjelben Augen— 
blick auch jchon BRD in den nächjten — war bei mir zuletzt 
ſchon ein und daſſelbe. Einen gewiſſen Reſpekt habe 7 auch vor 
der jüdiſchen Königstochter Herodias bekommen. Ich habe ſie in allen 
möglichen und unmöglichen Stellungen tanzen, in allen möglichen und 
unmö *— Koſtümen das Haupt des Täufer abjchlagen gejehen und 
war ihr jchlieglich jehr dankbar, als fie fich begnügte, ihre appetit- 
lihe Schüſſel nur ein einziges Mal zu jerviren. Wozu noch alle 
meine Leiden jchildern, die mir weiterhin die verichiedenen Ariadnen auf 
Naros, Daphnen vor re fliehend, Piychen Amor anſchmachtend, und 
wie die jtereotypen Werbsbilder ſonſt noch heißen mögen, bereitet haben? 

Jedenfalls gewann ich das Nejultat, da die franzöfiichen Maler 
vielleicht noch verliebter in die althergebracdhte Schablone find, als die 
deutſchen. Dieje find mir auch noch aus einem anderen Grunde lieber. 
Jedes ihrer Bilder, wenigitens ihrer bejjeren, erzählt mir etwas. Es 
iſt oft nichts bejonderes, genügt aber fajt immer, um mic) mit einer 
Stimmung zu erfüllen, die mir um jo lieber wird, je länger ich mid) 
in jie vertiefe. Sch erinnere nur an Knaus, Bodelmann, Mar und 
Böcklin. So verjchieden die Richtungen auch find, in denen dieſe 
Künstler fich gefallen, fie füttern nicht blof meine Augen mit Farben, 
fondern jie geben auch meinem Kopf etwas zu denken, und meinen 
Herzen etwas zu fühlen. Der Franzoſe jtellt an jeine Maler nur 
technifche Anforderungen. Er jagt: ein Bild iſt fein Buch. Freilich! 
Uber ein Bild joll ein Kunſtwerk fein. Und eine Kunft, die auf 
jede Idee von vornherein und prinzipiell Verzicht leiſtet, verdient nur, 

aß man jie wie ein Handwerk traftirt. Von diefem Gejichtspuntte 


Am Kamin. 341 


aus angejehen, darf man allerdings getrojt jeinen Hut vor ihr ziehen. 
Der —— wird vollſtändig befriedigt von ihr werden. Seine 
Verdauung wird ihm eine Promenade durch den Salon nicht ſtören. 
Er findet dort Madame X. nicht bloß bis zur Taille porträtirt und 
mit wunderbar farbigen Stoffen behangen — bis zur großen ehe 
herab präjentirt fie Na ihm! Und zwar meijtens faum mit einem 
Siegelring befleidet. Der Katalog will uns zwar einreden, da Nr. 
foundfjoviel eine „chriftliche Sklavin auf dem Markt von Maroffo“ 
vorftellen joll, aber wir wiſſen das beſſer. Es ift wieder nur Madame 
X. Auch jene „Fra“, jene „Salome“, jene „Aphrodite” — alles nur 
Madame X. Aur 10 Gentner Fleiſch noch nicht ein Quentchen dee! 
das iſt die ganze franzöjiiche Malerei. 

at jie aber einmal ausnahmsweiſe Gewijjensbiffe und jtellt fie 
fih einmal ausnahmsweije ein Problem auf, dann wirkt jie nur 
komiſch. Beweis dafür ihr neuejtes Fauftbild: „Marguerite au sab- 
bat“ betitelt. Um jeine Richtigkeit zu begreifen, muß man es gejehen 
haben. Ein bengalifch beleuchteter Operneffekt ijt wie eine win. 
delnde Tiefe dagegen. Es fann höchjteng mit der angetujchten Mo- 
mentphotographie eines entjprechenden Ballets Eonfurriren. 

Ordentlich erquidend wirken die paar Norweger, die die Aus— 
Stellung beichidt haben. Da find namentlich ein paar Landichaften, 
für die allein ich, unter Umjtänden, gerne den ganzen übrigen Krempel 
hingeben würde. Kraft, Kraft und noch einmal Sraft, das iſt es, 
was heute die nordiichen Künstler der Welt predigen. Die Maler 
genau jo wie die Dichter. Wie die Ibſen, Björnſon, Kielland ꝛc. Ich 
muß gen. daß dies Evangelium mir Lieber ijt, als das franzöſiſche. 

eben der nadten Weiblichkeit jpielt auch die drapirte Phraſe 
feine geringe Rolle in dem diesjährigen Salon. Sie 5* oft auf 
Bildertitel, die Sie unwillfürlic lächeln lajfen. „La ville de Paris 
instruisant ses enfants.“ Bitte, ftellen Sie ſich diefe Scene einmal 
vor! Aber die Herrichaft der Phraſe datirt in Frankreich nicht erit 
feit heute. Das Mujeum im Louvre wimmelt von er —— Bei⸗ 
ſpielen. Wie köſtlich nehmen ſich nicht Tiraden wie die folgenden aus: 
„Die Königin übergiebt dem großjährigen Ludwig XIII. das Steuer 
des von den Tugenden geruderten Staatsichiffes“, oder „Die Zeit be— 
freit die Wahrheit von den Angriffen des Neides und der Zwietracht“, 
oder — auf einer Quadriga den Irrthum und das Vorurtheil 
vernichtend?“ Dieſes Frankreich, das von einer Quadriga herab den 
Irrthum und das Vorurtheil vernichtet, krönt übrigens als 14 Meter 
hohe Koloſſalgruppe den Triumphbogen. Es iſt ein hübſches Ding 
um die Beſcheidenheit! 

Sehr auffallend iſt auch bei dieſem Mangel an jeder Tiefe das 
Kokettiren der Malerei mit der Wiſſenſchaft. „Une legon elinique 
a la Salpetriere“, „Au Labratoire munieipal“, Le Dr. Pean en- 
seignant sa decouverte du pincement des vaisseaux“ u. j. w. u. ſ. 
w. Natürlich find alle diefe Dinger nichts weiter als Eolorirte Mo— 
mentphotographien. Allerdings prachtvoll folorirtee Aber das ges 
nügt dem ;Franzojen. Seine Maler jollen malen fönnen. Die Morales 
philojophie gehört nicht in den Salon. Die Moralphilojophie gehört 
aufs Katheder. Punktum! 


342 Am Kamin. 


Was joll ich Ihnen weiter noch berichten? Ein Bild, daß mic) 
in innerjter Seele ergriffen, ein Bild, daß fich in mein Gedächtniß 
gegraben hat, um nie wieder draus zu verjchwinden, habe ich ver- 
eblich gejucht. Ich gebe zu, daß Bilder, wie das Knaus'ſche „Kinder 
* oder der Gabriel Max'ſche „Chriſtus, ein krankes Kind heilend“, 
unmöglich mit jeder neuen Ausjtellung von neuem auftauchen können. 
Aber ein Bild von Bedeutung jollte man doc) unter 2521 verlangen 
dürfen. Keins! Die bewundertiten, vor denen das Publikum 10 ge⸗ 
genſeitig auf die erg tritt, find nichts weiter, als liebens— 
würdige Spielereien. So Chaplins: „Dans les r&ves“, und Bougue- 
reau: „L’amour vainqur“. Beides reizende Nippfächelchen von einer 
Technik, die entzückend ijt, aber weiter auch nichts. Viel, jehr viel 
Leinwand und wenig, Iehr wenig Gemüth. 

Da lobe ich) mir die Skulptur. Ich wurde nicht müde, durch 
ihren herrlichen Garten zu jtreifen, und wenn ich vor meiner Rückkehr 
na eutjchland noch einmal das Verlangen ſpüren jollte, dem 
Salon eine Bifite abzujtatten, jo werde ich die Galerien im zweiten 
Stod jchwerlich frequentiren. Die bronzene l’Avenir-Tirade wird 
— in meiner Andacht nicht ſtören. Es muß auch ſolche Käuze 
geben. 

Noch Eins! Sie haben wahrſcheinlich ſchon gehört, daß die von 
der Ausſtellungs-Jury zurückgewieſenen Künſtler ſich hier in Paris 
jeit einigen Jahren regelmäßig zuſammenthun und ihren eigenen „Sa: 
lon“ — Im Jahre 188 en jie fi) jogar gedrangjalt ge 
übte, einen Verein zu gründen. Er benennt ſich „Societe des artistes 
ind&pendants“, Geelichaft der unabhängigen Künſtler. Wie das 
klingt! Ja, Elingen muß bier ein Ding, wenn es auf Erfolg rechnen 
will. Und auf Erfolg haben natürlich dieſe „unabhängigen“ ge 
— Er ſcheint ihnen aber noch nicht zutheil geworden zu ſein. 

eine Erfahrungen wenigjtens lafjen mir das jehr unwahrjcheinlich 
vorkommen. 

Die — fand dieſes Jahr im Pavillon de la ville de 
Paris ſtatt. Dicht hinter dem Palais de Industrie, wo der eigent— 
lihe Salon jein Quartier aufgeichlagen hat. Natürlich ließ ıch es 
mir nicht nehmen, ſie zu bejuchen. Ich hatte geglaubt, die Leute 
würden der Kuriofität halber zu Tauſenden dort hin laufen. Wer 
aber bejchreibt mein Erſtaunen, als ich fand, daß ich buchjtäblich der 
einzige Bejucher war? ALS ich mir jogar einen Katalog faufte, ließ 
mich der Galeriediener, ein alter, ehrwürdiger Herr mit einem bunten 
Käppi auf feinem grauen Kopf, gar nicht mehr aus den Augen. Er 
Ichien abjolut nicht zu wiſſen, was er aus mir a jollte. Als 
id) aber vollends Miene machte, die aufgejtapelten Kunjtwerfe, 494 
an der Zahl, einer näheren Bejichtigung zu unterwerfen, fonnte er es 
nicht mehr aushalten. Er trat an mich heran und erfundigte ſich 
theilnehmend, ob ich einer von der „Societe* wäre. Als ich das 
lächelnd verneinte und in meinem Studium nur um fo eifriger fort: 
fuhr, fonnte er nur noch die ganze geit über auf und ab gehen und 
ängjtlic; mit dem Kopfe ſchütteln. Mir machte das viel Spaß. Die 
Galerie jelbjt natürlich nn Wie joll ich es anjtellen, um Ihnen 
ein einigermaßen deutliches Bild von ihr zu geben? Denken Sie ſich 


Am Kamin. 343 


Mar und Morik in einer Nachbleibejtunde mit allen möglichen Zeichen- 
utenſilien ausjtaffirt und Ste werden ahnen, was dabei herausfommt. 

Als ich mic) aus dem Staube machte, hatte ich) noch die Genug— 
thuung, meinem bejorgten Freunde einen Nachfolger zu binterlafien, 
einen alten, dicken Pfarrer, der eben die Draperie des Eingangs paj- 
firte, als ic) den Tuilerien zuſteuerte. 

Paris! Paris im Sonnenjchein! Es wäre thöricht auch nur ein 
Wort über jeıne Schönheit zu verlieren. Vollends jetzt. Sekt, two 
der Frühling hier jeine unumjchränfte Souveränetät verfündigt hat. 
Sie läßt ſich nicht jchildern. Sie läßt fi) nur — Ein Zei—⸗ 
tungsverkäufer kreuzt meinen Weg. „Le Grelot! Le Grelot! Le 
Lohengrin de Wagner! 15 Centimes! Le Grelot! Le Grelot!“ 
Sch kaufe mir das Blatt und — meine Freude an dem jchönen Paris 
wird mir gründlid) verjalzen. Revanche, Revanche und immer wieder 
Revanche! Der arme, todte Richard Wagner! Sie fünnen — ſein 
Deutſchthum nicht vergeſſen. Die Karikatur, die mir jene Nummer 
der „Schelle“ in die Hand ſpielte, iſt zu charakteriſtiſch, als daß ich 
ſie Ihnen nicht in kurzen Strichen wiederzugeben verſuchte. 

Es iſt ein farbiges Bild, das die ganze erſte Seite des betreffen— 
den Blattes einnimmt. Durch einen dicken Strich iſt es in zwei Theile 

etheilt. Der Theil links iſt 1870 überdrudt, der Theil rechts 1887. 

Theil links: Ein giftjpeiender Zwerg (das Zerrbild Wagners) tram— 
pelt wie wahnjinnig auf einem gebrochen am Boden liegenden Weibe 
herum, und vergnügt jich damit, ihr mit einem unmöglichen Muſik— 
injtrument den Schädel zu zerichlagen. Zugleich bewirft er jie mit 
Koth. Darunter mit fetter Schrift: „Paris vaincu est outrage par 
Wagner.“ Theil rechts: Wagner auf das Schredlichite verunjtaltet 
als Bildfäule auf einem hohen PBojtament. Kreideweiß. Darunter 
der Direktor des Eden- Theaters, der demjelben Weibsbild eine Tafel 
vor die Naſe hält, auf der Wagner wieder in einer leider nicht näher 
zu definivenden Stellung porträtirt it. Das Weibsbild macht ſich 
indejjen das Vergnügen, den, wie bereits gejagt, leider nicht näher zu 
defintrenden Intentionen der Karikatur mit großem Eifer nachzukom— 
men. Darunter wieder mit fetter Schrift: „Paris leche le Lohen- 
grin de Wagner.“ „Leche mon Lohengrin!‘ Hat alle Aussicht, 
zum geflügelten Wort hier in Paris zu werden. 

Ich schreibe Ihnen alles dieſes jo ausführlich, weil ich aus eige— 
ner, und zwar jehr trüber Erfahrung weiß, daß man in Deutjchland 
allgemein der Anficht iſt, Die Revanchegelüfte wären im Volke im 
Abiterben begriffen und nur eine verichwindende Mlinorität von 
Schreiern führe das Wort Revanche unabläjjig im Munde Das tit 
ein Irrthum, gegen den anzufämpfen Pflicht jedes Wiſſenden ift. Er 
fönnte uns ſonſt noch eines Tages verhängnißvoll werden. 

Damit will ich meinen Brief jchliegen. Wundern Sie fich nicht, 
werther Freund, daß ich jo von Patriotismus überfliege. Ste wiſſen, 
daß iſt ſonſt nie meine Art gewejen. Allein, gehen Sie wie id} 
nach Paris und Sie werden mic) begreifen. 

Auf Wiederjehen in Deutichland! 
Ihr 
Arno Holz. 


ru 


344 Am Kamin. 


Wiener Brief. 
Wien, 5. Mai 1887. 

Der Frühling iſt ins Land gezogen, es ſproßt und blüht am 
Baum und Strauch. Wien zieht jein — an und beginnt ſich 
für ſeine Glanzperiode zu ſchmücken. Die Ringſtraßenbäume und die 
Stadtparkanlagen, welche in dieſem Jahre verzweifelt lange beſenartig 
zum Firmament emporragten, zeigen endlich ganz reſpektable Anſätze 
von grüner Sommergewandung und wir bedürfen nicht mehr der An— 
fündigungen verjchiedener Frühlingsfefte an unjere Anjchlagjäulen, 
auch nicht mehr der Auslagen unſerer Strohhuthändler und Konfel- 
tionäre um ung Davon zu überzeugen, daß Matenduft und Sonnen 
jchein ihr Szepter Schwingen. Die —— in der Garten— 
bougefellfchan hat auch das ihre dazu beigetragen, um uns die Ueber 
zeugung aufzudrängen, daß der Winterjchlaf in der Natur fein Ende 
erreicht. Räumlich iſt die Ausjtellung, welche uns in den Sälen der 
Gartenbaugejellichaft geboten wird, nie ungeheuer großartig, da eben 
der Pla mit dem beiten Willen nicht erweitert werden kann; aber fie 
überrajcht durch die Fülle dejjen, was fie aufweist ebenjo jehr, wie 
durch das geichmadvolle Arrangement, das mit jedem Jahre origineller 
und neuartiger fich gejtaltet. Aus Hof» und Privatgärten, jahen wir 
diejes Jahr jtaunenswerthe Rejultate, jo 3. B. Spezialitäten an Soli- 
tärpflanzen; unter diejen der Grasbaum, welchen man aus Afrika 
importirte und dejjen Harz zur Slerzenerzeugung verwendet wird. Der 
Rothſchildſche Garteninſpektor Zoly und jener des Herzogs von Cume 
berland haben an Blumenpracht erjtaunliches zu leiſten verjtanden 
und bejonders die Gruppirung des erjteren kann nicht genug lobend 
genannt werden. Aus dem Parke und den Glashäujern von Prugg, 
dem Eigenthume des Grafen von Harrad) ist ein Azaleenflor in allen 
Farben und Gattungen zu jchauen gewejen; auc) eine riefige Kollektion 
von Prachterdbeeren gehört zu der Gruppe des Grafen Harrach. Im 
übrigen iſt die Objt- und Gemüjeausjtellung diejesmal ziemlich ſchwach 
beſchickt. Adelmar von Breden brachte reife Weintrauben und der 
Pomologenverein jtellte täujchend nachgemachte Objtmodelle aus, fabri- 
zirt aus Wachs und Gips, welchen ein Leitfaden über die in Nieder: 
Öjterreich und Steiermark zu fultivirenden Objtjorten beigegeben iſt. 
Von den Gelehrten im Lande wird die Zimmerpflanzenfultur ein 
„müßiges Spielzeug“ genannt und die Bezeichnung „Spielzeug“ mag 
auch h unrichtig nicht fein, wenn wir dafjelbe auch nicht müßig finden 
fünnen, jondern im Gegentheile äußerjt jinnreich und gejchmadvoll. 
Die Zimmerfultur hat an Qualität und Quantität außerordentlich 
zugenommen gegen ap Sabre; bejonders gelungen waren die Käjten, 
wel —— Ida Teufen, Marie Stefan und Hugo Jeglinger zur 
Ausſtellung brachten. Natürlich fehlt es auch nicht an Gartenge— 
räthen, Gartenmobilien und ähnlichem Krims-Krams von mehr oder 
minder praftiichem Werthe, das man nur flüchtig bejichtigt, um wie: 
der und immer wieder zu dem Blumenflor zurüdzufehren. 

Das Ereignig des Tages it die Novität im Theater an der Wien 
„Die Wieneritadt in Wort und Bild“, eine Ausftattungspofje in drei 
Alten von Iſidor Bauer, Iſidor Fuchs und F. Zell. &r gehört une 


Am Kamin. 345 


jtreitig zu dem Beſten, was uns am a an der Wien jeit langer 
langer ge geboten wurde und ijt in Austattung, Kompofition und 
Durchführung mit vollem Rechte a als ein Haupttreffer bezeich— 
net worden. Die Handlung läßt fich leicht jkizziren; ein Wirth aus 
der Provinz hat ein großes Loos gewonnen und zieht num mit feiner 
Tochter und Nichte, jowie mit feiner alten Schweiter nad) der Metro- 
pole, weil der „Wiener Verein für Stadtinterejjen“ ihn dazu auf: 
gefordert. Die Erlebnijje, welchen dieſe Kleinjtädterfamilie nun in 
Wien begegnet, werden ung in flotten Bildern vorgeführt. Zuerſt die 
Ankunft am A, bei der Girardi den Kraftmeier aus Paj- 
fion famos wiedergiebt; dann das Rennen in der Freudenau, wo eben- 
falls Girardi einen Wiener Kavalier fopirt und zwar jo naturtreu 
und echtfarbig von den nonchalanten Bewegungen — bis zu 
der näſelnden Sprechweiſe und den im High life jo beliebten Namens— 
abfürzungen, daß man wirklich meint den leibhaftigen Grafen K. oder 
H. vor ſich zu jehen. Das ganze Treiben am Rennplage dünft uns 
nicht — ſondern in Wahrheit vorgeführt. Das dritte Bild 
ift der Senfationsjalon mit allen nur denkbaren magnetifchen und 
telephoniftijchen Inſtrumenten. Herr Zojeffy imitirt und perfiflirt da 
die eriten Kräfte a Hofbühne prächtig; Girardi präfentirt fich 
als Rara avis nämlich als „zufriedener Wiener“; gehört e3 ja doc) 
im allgemeinen zu der Eigenart unjerer Landsleute, immer über die 
eigene —5 zu ſchimpfen und an derſelben herumzunergeln. Er 
iſt der feſche Jüngling vom Brillantengrund oder irgend einem ande— 
ren Grund wie er leibt und lebt. Die Amazonen, welche auf Reit— 
jtühlen jigen, weiſen darauf hin, bis zu welcher Lächerlichfeit die herr- 
chenden Damenmoden ficd) noch ftergern fünnen. Reizend ift die 
Scene, in welcher der im Senjationsjaale anwejende Preitigiateur dem 
Publikum in einem großen Bilde den Schwarzenbergplag vorführt, 
wie er werden würde, wenn Profeſſor Tilgners Brunnenmonument 
thatfächlich in Ausführung tritt. Das vierte Bild iſt der Blumenforjo, 
und wer denjelben mitgemacht, wird ſich an deſſen treuer Wiedergabe 
freuen. Girardi giebt da als Sicherheitswachmann den fchwerfälfigen 
Gejepedanten der in Höflichfeit macht, wie er nicht bejjer vorgeführt 
werden fünnte Als legtes Bild figurirt das Bruder Lager mit ſei— 
nem prächtigen Schlußtableau „Bater Radetzky“ und unter den Klängen 
des Nadegkymarjches, der Abend für Abend von dem Jubel des Publi— 
fums beinahe übertönt wird, raujcht der Vorhang nieder. Selten ift 
in Wien auf einer Borjtadtbühne ein Stüd von ', gejundem Humor, 
jo gutmüthiger und doc) jcharfer Satire aufgeführt worden, bei dem 
alles jo trefflich ineinander gegriffen hätte wie bei dieſer neuejten 
Aug’ und Ohr erfreuenden Kompofition, zu der wir den Autoren nur 
gratuliren fünnen. Als Zukunftsmuſik befaßt man jich jest ſtark mit 
dem Plan eines Volfstheaters; ein Aftionscomite hat jich bereits ge- 
bildet und hofft auf günstige Erledigung von Seiten des Minijteriums; 
Franz von Schönthan joll jeiner Zeit die Direktion übernehmen. 
Anzengruber, Ganghofer und die wenigen jonjtigen tüchtigen Volks— 
jtüdproduzenten dürften, wenn der ‘Plan zuitande kommt, eine gläns 
zende Zukunft vor jich jehen, denn das franzöſiſche Ehebruchsdrama, 
wie jede ausländische Mache, joll gänzlich aus dem Repertoir geftrichen 


346 Am Kamin. 


und nur das deutjche Volksſtück in des Wortes bejter Deutung auf- 
genommen werden. Im Burgtheater hat das Luſtſpiel „Die Nixe“ 
von Triejch troß mancher Mängel freundliche Aufnahme gefunden, was 
nicht zum geringiten Theil dem mujtergiltigen Spiele zu danfen it, 
in welchem bejonders Fräulein a Klar und Herr Thiemig excelliv- 
ten. Im Sarltheater hat die Direktion Tatärczı früher als der Pakt 
es mit fich bringen müßte, ihr Ende erreicht und man jieht mit Span 
nung dem entgegen, was der Herbjt uns unter der Leitung des Diref- 
tor3 Steiner bringen wird; vorher aber wird noch eine englijche Ope- 
rettengejellfchaft einige Gajtvorftellungen geben. Man hat gute Urs 
fache zu vermuthen, daß ein Theil der tüchtigen Bühnenfräfte der 
———— Winterſaiſon auch in der Zukunft dem Karltheater erhals 
ten bleiben dürfte. Profejjor Gräf, deifen Name voriges Jahr in dem 
Berliner Sktandalprozejje eine jo große Rolle jpielte, hat ſich dazu 
hergegeben, in Wurjtelpraterweife auf der Ringſtraße jein jüngites 
Dpus — ausſtellen zu laſſen. Es iſt dies eine Nudität an der 
eigentlich nichts hübſch iſt als die Augen; ihre Formen ſind jedenfalls 
derart, daß man ſich unwillkürlich fragt, warum die Gute keinen Bade— 
mantel umgeworfen, anſtatt in unäſthetiſcher ei auf einem Sopha 
gu (ungern und an Rojen ' riechen. Frau Gabillon hat jegt, wo 
ie Winterjaifon jchon zur Neige geht, eine Vorleſung gehalten, welche 
uns im Intereſſe des Bublitums nur bedauern läßt, daß dies nicht 
im Herbite gejchehen, denn wir jind gewiß, daß jümmtliche Vereine 
Wiens fi) dann um das Glück gejtritten haben würden, Frau Gabil- 
[on als Borlejerin in das Programm ihrer winterlichen VBergnügungen 
aufnehmen zu dürfen — ein jolcher Genuß iſt es, ſie zu hören! 

Zu einem glänzenden militärischen Feſte zur Ehren des jechzig- 
jährigen Dienjtzubiläums des Feldmarſchalls Erzherzog Albrecht gejtal- 
tete Jich die alljährliche Frühjahrsparade auf der Schmelz, wie auch 
jonjt noch zahlreiche Ovationen dem erlauchten Feldherrn zutheil wur— 
den, der von Jugend auf ſich Eins fühlte mit der Armee und deren 
Vertretern. 

Durch die Nennen in der Freudenau fommt auch wiederum luſti— 
ges Yeben in den Prater; und zur Maifahrt hat der Himmel im Ver— 
gleich zu anderen Jahren gelächelt, wenn auch nicht gelacht; die Glanz— 
periode dieſer Maifahrten war aber doc in der Vergangenheit zu 
juchen. Einjtweilen trifft man unermüdlich großartige Vorbereitungen 
für das Frühlingsfeſt am 5. Juni, welches wie im VBorjahre unter dem 
PBroteftorate der Fürſtin Metternich abgehalten werden joll und eine 
ganze Unmenge noch nie dagewejener Herrlichfeiten bieten wird. 

Davon aber das nächte Mal, denn aus der Schule jchwägen, iſt 
gegen Plicht und Sitte. Mar v. Weißenthurn. 


Sailonbrief aus Homburg v. 6. Höhe. 


Seit das preußische Regiment in jeinem „Kehraus“ zur Zeit auch 
den grünbezogenen Altar „König Hajards“ und die Neophytenjchaar 
dejjelben in alle Winde zeritreut, galt unfer heilkräftiger Taunusort 
jahrelang als jommerliche Feitlandsdomäne der erholungsbedürftigen 
Kinder Albions. Die wundervolle Terrafje des Rurhanies, von De 


Am Kamin. 347 


aus 1) da3 Auge in das grüne Meer des Hochwaldes verjenft, glich 
oft völlig einer Kolonie Altenglands, in der man mit Verwunderung 
aud Hin und wieder einmal ein deutjches Jdiom vernehmen konnte. 

eit den unvergeplichen „Kaifertagen“ 1883 indejjen, die Hom— 
burgs Weichbild für kurze Frijt zum Mittelpunkt Europas geitalteten, 
ward die vielgenannte Taunusjtadt — nicht umſonſt gaben 
ſich hier Nationen Stelldichein, und mit Geſchick verſtanden Stadtver— 
tretung und Kurdirektion die Eindrücke des Vorhandenen und, in ge— 
gebener Veranlaſſung, Neugeſchaffenen bei ihren Gäſten zu bleibender 
Erinnerung und eigenſter — — zu verwerthen. Unter dem 
Einfluß jener Zeit nimmt ſelbſt die dauernde ORTEN von — 
bejonders norddeutjcher — Familien zu, denn auch winterlich ift in 
Homburg, wenngleich in bejcheidenerem Maßſtabe „Saifon“, und das 
nahe Frankfurt ergänzt vollauf die Anjprüche des Großſtädters, der 
dagegen an jeinem „Heim“ veine Luft und nervenjtärfende Ruhe ohne 
Dede eintaujcht. Wie Leiden, bei denen ärztlicher Rath und jelbjt 
Elimatijcher Wechjel erfolglos geblieben, durcd) bejondere Ortslage ges 
mindert rejpeftive geheilt werden, wie 5 B. hartnädige ajthmatijche 
Bejchwerden, eine der quälenditen und eben in unſerer Zeit jtarf ver: 
breiteten, eben in Homburg Beſſerung gefunden, davon fönnen mannigs 
fache hochgeſchätzte Zeugen reden, nicht zum wenigjten Schreiber dieſes, 
dem am winterlich rauhen Taunusort bejchieden, was Wiſſenſchaft, 
langer Aufenthalt in Wiesbaden und anderen Orten, was jelbjt Ita— 
lien nicht zu jchaffen vermochte: Erlöjung von Qualen, deren Dante 
in jeinem „inferno* mit Unrecht nicht Erwähnung gethan. 

Mit Anfang des Mat aber wird es im jtädtiichen Viertel, an dejjen 
Eingang ſich der freundliche Bahnhof erhebt, lebendig. In raſcher 
Folge mehren ſich die Anzügler, des erwachenden ee: ſtärken⸗ 
den Athem zu genießen. 9 ich umjonjt haben die jtattlichen Magazine 
ihre Scjaufenjter geſchmückt, die Zahl der Käufer mehrt ſich; mit 
jedem Tag vermag das weibliche Auge die Studien der neueften Mode 
in ihrem Gejchmad, vejpeftive ihrer Gejchmadsverirrung, an ihren 
Mitichweitern aus Nord und Süd zu erweitern. Die Nachmittags: 
fonzerte im Kurgarten, wo unter dem se Dal Szepter Meitter | 
Tömlichs eine treffliche Kapelle die Badewelt zu künſtleriſchem Genuß 
vereint, bieten zu dieſen Studien bejte EN aber auch) zugleich 
die Träger der hohen Namen von Angeficht zu Angeficht fennen zu 
fernen, deren Titel die Badeliſte füllen. Hier verfehrt der Prinz von 
Wales, durch jeine jtattliche Erjcheinung der Liebling der Damenwelt, 
in zwanglojer Weije, hier promenirt jchlicht und ohne Zurüchaltung 
die fronprinzliche Familie, und die gewöhnlich im Auguft erfolgende 
Ankunft der Kaiſerin bezeichnet den — der Saiſon. 

Die Spazierfahrten der hohen Frau richten ſich meiſt zu dem 
waldbegrenzten Quellengebiet, zu deren elle in prächtigitem Land— 
ee ſich Kunſt und Natur geichwilterlicd verbunden. Von 

uſik empfangen, durchfährt die kaiſerliche Equipage langjam die 
Promenaden, ehrerbietig bildet das dijtinguirte Publikum Spalier, und 
huldvoll jelbit gegen den Geringjten, erwidert Kaiſerin Augujta uner— 
müdlich die ihr gezollten Dvationen. 

Das Abenblonzert, meijt mit nachfolgender Reunion, verjammelt 


348 Am Kamin. 


aufs neue die Gejellichaft in Garten und Saal — die „bejonderen 
Abende“ aber find berühmt — denn der rajtloje Eifer des allbelieb- 
ten Kurdirektors Schulg-Leitershofen benußt die winterliche Muße, Um— 
fiht und Geſchmack in immer neuen Beranjtaltungen zu bewähren, 
die neben Kunſt und Unterhaltung, nicht zum feinsten Theil gejund- 
heitlichen Aweden gelten. So wird das neue Badehaus inmitten 
herrlichiter Anlagen, dejfen Grundftein am 90. Geburtstage des Katjers 
gelegt ward, ein hygieniſcher Pracht: und Mufterbau, nach jeiner 


Vollendung ein beredtes Zeugnig der Wirkſamkeit der heutigen Kur— 
verwaltung für dauernde Zeiten bilden. 


Homburg, im April 1887. Hermann Hirichfeld. 


Qippfaden. 

Profeſſor v. Bezold über die Wetterprognofe. Der genannte Gelebrte 
ſprach vor kurzem vor einem großen Auditorium in Berlin über die Lebre von ber 
modernen Wetterprognofe. Mit großem Aufmwande werben in vielen Ländern ſowohl 
Prognofen als Wetterfarten ausgegeben, aber die Zabl derer, melde dieſen Publika— 
tionen volles Verftändniß entgegen bringt, ift leider noch gering. Unter Berückſich— 
tigung der lokalen Wetterverbältniffe eines Ortes kann ein Kumdiger mit Hilfe dieſer 
offiziellen Angaben jehr wertbvolle und richtige Schlüffe zieben, denn die Wetterkarte 
und Prognoje find für ibn dasjenige, was ein guter Kundicafter für den Feldherrn 
ift, indem fie Drientirung geben über die „Stellung des Feindes“. Herr v. Bezold 
führte ein eflatantes Beiſpiel aus feiner eigenen Praris an. Er bielt ſich im vorigen 
Sommer am Brenner auf und befam täglich als Direktor der bayeriſchen meteoro- 
logifhen Stationen bie Wetterfarte und Prognoſe aus Münden zugejandt. Obgleich 
dieſe Beröffentlihungen ibm erft 30 Stunden nah ihrem Erſcheinen zu Geſicht 
famen, waren fie wiffenfchaftlich für ibn ſehr werthvoll. Eines Tages fragte ibn ber 
Poftvorfteber, ob das Wetter am nächften Tage jo gut fein würde, daß er fein Heu 
einfabren laſſen könnte. Profeſſor v. Bezold antwortete, daß, wenn dies bis 3, 
höchſtens 4 Uhr geicheben würde, auch feine Gefahr für die Ernte vorbanden wäre. 
Er that diefen Ausſpruch deßhalb, weil jeit einigen Tagen fteigende Neigung zur 
Gewitterbildung gemeldet war, und er felbft jeden Nachmittag bie Entjtebung einer 
Gewitterwolfe beobachtet hatte. Der Poftvorfteber bejchleunigte die Arbeit mit allen 
dieponiblen Kräften und, als joeben um 4 Uhr am nächſten Nachmittag der lette 
Wagen einfubr, brad das Unwetter los, Man kann fich vorftellen, welche Popula- 
rität unfer berühmter Gelebrter Dadurch im weiten Umkreiſe errang. Unfere Brognojen 
gelten meift nur für einen Tag und bezieben fih auf die Details der Witterung. 
Es Tann aber die Frage aufgeworfen werden, ob es nicht meteorologiiche Erſcheinungen 
giebt, welche innerhalb eines gewiſſen größeren Zeitraums periodiihen Veränderungen 
unterliegen. Wir willen in Bezug bierauf, daß die 11'/, Jahr betragende Periode 
der Sonnenfleden von einer ebenjoldhen Periodicität der Nordlichter, der Erbitrö- 
mungen und magnetijchen Erſcheinungen anderer Art begleitet wird. Im Zufammen- 
bange damit wird von vielen Seiten ein Zujammenbang ber meteorologiihen Er— 
ſcheinungen und der Sonnenfleden vermutbet. Wenn fih in der That eine ſolche 
Koinzidenz berausftellen jollte, jo wirde damit die Möglichkeit gegeben fein, über 
eine Reibe von Jahren hinaus Prognoien über den Charakter der Witterung auf- 
zuftellen. In letter Zeit ſcheinen fih in der That die Andeutungen, daß ein ber- 
artiger Zufammenbang beftebt, zu bäufen, es handelt fich bier jedenfalld um eins 
ber wichtigften Probleme der Gegenwart und damit zugleih um eine echte „Zeit und 
Streitfrage". Nach diejer Einleitung ging der VBortragende fofort in medias res ein 
und gab eine biftoriihe Darftellung der Lehre von der Wetterprognoft. Es ift ger 
riffermaßen eine vorgeſchichtliche Aera, welche die Prognofe zur Zeit der aſtrologiſchen 
Anſchauungsweiſe durchmachte; eine Periode, in der die Konftellation der Geftirne 
angeblih das Wetter beftimmte. Bis auf die Gegenwart bat fih ein Reſt dieſes 
Aberglaubens erhalten und zwar ſehen wir dies an den Angaben des fogenannten 


Am Kamin. 349 


bunbertjährigen Kalenders. Jeder Kalendermacer weiß, wie ſchwierig es heutzutage 
iſt, einen Kalender unter die Leute zu bringen, der nicht auch die Prognoſen des 
„hundertjährigen“ enthält. Die Welt will eben getäuſcht ſein! Den letztgenannten 
Umſtand hat ſich noch in dieſem Jahrhundert ein Herausgeber eines hundertjährigen 
Kalenders zu Nutzen gemacht, der ſich Dr. Tiehrhawnu nannte. Wenn man dieſen 
Namen rückwärts lieſt, fo lautet er: „Unwahrheit“. 

Eine kleine Verwechſelung. Der japaniſche Prinz Aring-Sugawa ver- 
mälte ſich nach Niederwerfung ber aufſtändiſchen Daimeos im Jahre 1869, gleichſam 
zur politiſchen Ausſöhnung der beiden feindlichen Fürſtenhäuſer, mit der Tochter des 
internirten Taikun der Prinzeſſin Sininobo, die im Alter von noch nicht 18 Jahren 
ſchon 1872 ſtarb. Dem Bruder dieſer Prinzeſſin paſſirte vor einigen Jahren in 
Paris eine komiſche Verwechſelung. Er befand ſich auf einem Balle, als ein baum— 
langer öfterreichiicher Tffizier, der ben Prinzen für eine Dame bielt, an ihn beran- 
trat und zum Tanze auffordert. Der Prinz mochte das Wiener Franzöſiſch nicht 
verftanden baben, er nidte aljo ftumm und lächelnd. Der Offizier bielt diefe Mienen- 
fprache für eine Zufage, faßte den Prinzen um die Taille und wollte loswalzen. 
Doch der verftand die Sache ſchief und ftie einen gellenden Schrei aus, jo daß bie 
Muſik verftummte und alles zufammenlief. Natürlich gelang es bald, den Prinzen 
zu beruhigen und über das Mikverftändnig aufzuklären. 

Weshalb Patienten durchaus Medizin wollen. Leider betrachten die 
meiften Menſchen die Heilwiſſenſchaſt nicht als ein wirkliches tiefbegründetes Lebr- 
gebäude, jondern als eine angelernte Kunft, die ibren faktiichen Ausdrucd durch An— 
wendung von ‚greifbarer Medizin finde. Sie können ſich eine ärztlide Behand— 
lung nicht ohne Arzneimittel denken und bemeffen deren Wertb oftmals nur nad) 
ber SHeftigfeit ihrer Wirkung: ihnen ift eine Kur gleichbedeutend mit Pillen, Pulvern 
und Mirturen; nimmt man ihnen dieſe, jo ſchwindet Die gebeime Scheu und das 
Vertrauen. Sie glauben nicht an eine, wenn auch noch jo durchdachte und geicdhidte 
Behandlung, wenn mit ihr nicht die herkömmlichen Flaſchen und Schachteln verbuu— 
den find, fo daß die Aerzte praftiich gezwungen find, den Patienten ein fichtbarcs 
Glaubensobjeft in Geftalt einer Arznei zu bieten, welche im gegebenen Falle höchſtens 
eine ganz untergeordnete Bedeutung bat. Es ift auffallend, wie tief dieſe Anficht 
fogar bei den Gebildeten eingewurzelt ift, und die Welt wird den Glauben an Die- 
dizin als Symbol einer Kur nur febr langſam aufgeben. Die ängftlich bejorgte 
Umgebung des Patienten will mebr tbun, als ibn nur den Anordnungen des Arztes 
gemäß „pflegen“, weil ja dabei eine Wirkung nicht fo in die Augen füllt; die Hoff- 
nung auf Genefung bat bier nichts pofttives, an das fie fih Mammern kann. 

Deßhalb ift es nothwendig, die Welt zu dem Bertrauen in die Heilfunft ohne 
Arznei zu erziehen, die darin ibre Macht und Kraft befigt, daß fie die gewöhnlichen 
Yebenszuftände und ermwiejenen phyſiologiſchen Thatſachen als Heilmittel benutt; bie 
das ganze Peben umfaßt und feine Gewohnheiten und Ginzelheiten mit wifjenfchajt- 
licher Beſtimmtheit in den Heilplan einfchlieft. Die täglichen ärztlichen Erfahrungen 
erweifen es, wie biejes fo verbreitete Mißverſtehen des modernen Geiftes ber Heil- 
wiſſenſchaft jelbft die ſchüchternſten Verſuche einer mehr wiſſenſchaftlichen Behandlung 
bemmt. Abermals ijt es notbwendig, das allgemeine Berftändnig dafür zu mweden, 
wie mächtig die verjchiedenen im Organismus fih abwidelnden Vorgänge durch oft 
fleine Aenberungen in ben Verhältniſſen des gewöhnlichen Lebens günftig beeinflußt 
werben lönnen. 


Salon-Büder- und Bildertifd. 


Schatten. Novelliftiide Studien von John Henry Maday. Leipzig, 
Eugen Peterfon, 1887. Schatten des Lebens find es, die uns bier entgegentreten, 
nicht mit eindringlichen, überzeugenden, nahbrüdlichen "Mahnworten, fondern in faft 
alltäglichen, einfach-ſchlichten, aber herzergreifenden Tönen. Wir leunen ſie alle, die 
Geftalten, glauben fie ſelbſt alle ſchon geſehen und ihre rührenden Geſchichten ichon 
oft gehört, vielleicht erlebt zu haben. Da ift feine funftvolle Interpretation nöthig, 
ale wahr empfinden wir alles, lebenswahr ift alles, was wir lefen, lebenswahr — 
aber unendlich traurig! Dr. 3. ©. 


350 Am Kamin. 


Grlebtes und Werwebtes. Aus der Schreibmappe eines Malers. Von 
Lorenz Elafen. Leipzig, Eugen Peterfon, 1887. Es ift eine eigenartige Sache 
um ben Gegenjag zwiichen Lebenswahrbeit und Erfindung. Mag die Phantafie fi 
nod fo ſehr bemüben, Situationen zu erfinnen und fonderbare, dem Leben ſcheinbar 
treu nachgebildete Dinge zu erzäblen, wir bören es doch fofort beraus, wo und wann 
wahres Leben gefcildert wird, wo es nicht nötbig iſt, das Eigenartige der Verbält- 
niffe, wie e8 eben nur die Thatjächlichkeit des wirklichen Geſchehens bietet, durch er» 
dachte Umftände zu erböben. Daß wir es bier zum größten Theil (da® allegoriiche 
Märchen: „Myſtiſches Hoffen‘ jelbftredend ausgenommen) mit wahrhaft Erlebtem zu 
tbun haben, das lefen wir aus jeder ie beraus. Wo der Berfafjer das Erlebte 
zu verweben für nötbig fand, da gefchab es, wie wir vermutben, nur zum geringften 
Theil unter Zubilfenabme der Phantafie: Das Intereffe, welches der Stoff jhon an 
und fir fih in Anfpruch nimmt, bat dies durchaus nicht nötbig. Doppelt ift aber 
darum ber Reiz, der uns an dieſes Buch feffelt, und wir wünſchen aufrichtig, daß 
der Berfaffer eine Fortfegung dieſer zwangloſen Skizzen folgen laffen möge. Ri 

Dr. J. ©. 


Dr. Herman Semmig, „Die Jungfrau von Orleans und ihre Zeit: 
genofien. Mit Berückfichtigung ihrer Bedeutung für die Gegenwart”. 
2. Aufl. Leipzig, Eugen Beterfon, 1887. Es ift am Ende fein Mangel an Bio 
grapbien und Fritifhen Unterfuhungen iiber das wunderbare Mädchen aus Domremy. 
Das vorliegende Buch darf aber aus zwei Urſachen als ein wejentliher Beitrag zu 
dem Studium über die Jungfrau und als ein wirklicher Fortſchritt in bemfelben 
angefeben werben. Einmal gewinnt die ganze Schilderung und Beleuchtung ber 
Iofalen Berbältniffe dadurch ein ganz bedeutend intenfiveres Intereffe, daß ber Ber- 
faffer die in Frage lommenden Ortichaften und Gegenden aus eigener Anfchauung 
ganz genau kennen zu lernen Gelegenbeit gehabt batte und uns infolge beffen ganz 
neue und intereflante Momente an die Hand zu geben imftande ifl. Sodann legt 
aber der Berfaffer auch im anderer Beziehung eine wejentlih neue und wabhrbaft 
fritifche Beurtbeilung an: So wird zum erften Mal bier in einem beutichen Wert 
auf Grund der neneften Forfhungen das Leben der Agnes Sorel erzählt und bie 
jelbe als Buhlerin entlarot (während Schiller befanntlich dieſelbe werberrlicht, die 
fledenlofe Johanna aber ſchuldig werden läßt). — Die Studie foll nad bes Ber- 
faſſers Anficht auch eine politifhe Bedeutung haben: Aus der Gefhichte der Junge 
frau ſelbſt bemeijen wir den Franzofen das Unrecht, das fie an Deutjchland begangen 
baben, und wenn die Partei der Revanche an Jeanne b’Arc als angebliche Fothrin- 
gerin appellirt, um in ihrem Namen Eljaß- Lothringen zurüdzuverlangen, fo zeigen 
wir, daß Jeanne d'Are gar nicht Lothringerin geweſen if. — Weiterhin ſoll aber 
aub aus der Gejchichte der Jungfrau als einer Borläuferin bes proteftantifchen 
Prinzips das Recht der Gewiffensfreibeit gegenüber dem Klerikalismus begrinbet 
werden. Wir müffen gefteben, daß e8 der Verfaſſer verfteht, diefe weitgehenden Ge— 
danken mit großem Geſchick durch- und auszuführen. Wir können das Werk jedem 
Gebildeten als höchſt feffelnde und belehrende Leltitre empfehlen. Dr. 3. ©. 


Bon Günther Wallings Gedichten „Won Lenz zu Herbſt“, deren wir 
feiner Zeit mit aufrichtigem Lobe bier gedachten, liegt jett eine zweite, vielfach ver- 
änderte und verbeflerte Auflage vor. (Leipzig, Wilhelm Friedrid.) Viele Stücke, 
bie die Freude an ber erften Auflage noch beeinträchtigten, feblen in biefer zweiten, 
welche andererjeits durch manches ſchöne neue Gedicht zu ihrem Vortheil bereichert 
wurde. 


„Guropäifche Wanderbilder.“ Berlag von Drell, Füßli & Comp. 
in Zürid. Nr. 114, 115, 116: Lugano. (Mit 2 Illuftrationen.) Wer von ben 
Zaufenden, welche der Weg durch den Gotthard an den Südhang der Alpen binliber- 
führt, kennt Pugano nicht, dieſe Perle der italienifhen Schweiz, ja ber ganzen Ge 
end an und zwifchen ben brei oberitalienifhen Seen? Wer erinnert ſich nicht mit 
Entzüden des Anblides der Meinen Stadt, bei dem uns nach den Bildern der ftrengen 
Alpenwelt im Reuß- und Teffinthale, die wir noch in ber Seele tragen, füdliche 


Am Kamin. 351 


Natur mit einem Schlage und mit zwingender Entichiedenbeit zum erften Mal ent- 
gegentritt? Wir führen dem geneigten Leſer zwei Bilder aus der Iuganefiichen Ge- 
gend vor: Lugano von der Vorftadt Paradifo aus, über welcher fich der Monte San 
Salvatore in mächtigem Aufbau maleriſch erbebt. An der blauen Seebucht debnt 
fih die Stadt aus mit ihren Billen und Gärten, auf den Anböben bauen fib in 
reihem Kranze freundliche Dörfer auf und über die Felſen des Saffo grande bliden 
bie firnbededten Höben des Monte Camogbe berein. Das zweite Bild führt ums 
auf die Höhe über Menaggio bin, die wir von Lugano aus nach Tieblicher Seefabrt 
bis Parleppa und von dort mit der Schmalipurbabhn, die nur die drei Seen ver- 
bindet, erreihen. Bor uns feben wir ben mittlern Theil des Comerfees, die Spite 
von Bellagio, den Eingang des Seearmes von Pecco mit den berrliben Bergen, bie 
fib in demſelben fpiegeln. Wir entnehmen die Bilder einem der neueren Hefte der 
berühmten Sammlung der „Europäifhen Wanderbilder". In Bild und Wort wird 
uns in bemjelben die Gegend an ben drei Seen vor Augen geführt, die Berge, 
melde fie umfteben, das Thälergewirr, das dort ausläuft, die Peute, die dort wohnen, 
ber fünftleriiche Sinn, der fie befeelt, die eigentbiimliche Gejchichte dieſes italieniſch— 
ſchweizeriſchen Gebietes, die Weingrotten an den Felshängen des Seeufers, alles wird 
uns in jo reizender Weife gefchildert, daß wir gleich unjer Biindel ſchnüren und nad) 
Lugano aufbreden möchten. 

Bei dieſem Anlaffe fei e8 uns vergönnt, über die Sammlung der „Euro- 
päifhen Wanbderbilder“ der rührigen Züricher Firma Orell, Füßli & Comp. 
einige Worte hinzuzufügen. 

Unter den vielen Monographien ber Reijeliteratur zeichnen fich dieſe „Wander- 
bilder“ bejonders aus und erlangen von Jahr zu Jahr größere Bedeutung. Die 
Zahl der Nummern dieſer zierlihen, unter bejcheidenem Aeußern gediegenen Inbalt 
bergenden Reiſebücher iſt bereits auf 125 Nummern angeftiegen. Wenn wir die 
bandlihen Büchlein aufichlagen und in denjelben blättern, jo find wir freudig über— 
rafcht beim Anblick der reihen Zabl treffliher Landichaftsbilder. Sie find das Werf 
eines Künſtlers, defjen Name in aller Welt fih einen guten Klang erworben bat; es 
ift dies der Zeichner der „Wanderbilder” I. Weber. So ſehr man über die aufßer- 
ordentliche Produktivität dieſes Künftlers ftaunen muß, jo ſehr ftaunt man auch iiber 
das Talent deſſelben, durch die einfachften Mittel den Tandichaftlichen Charakter einer 
Gegend zu firiren und bie ftille Größe der Alpenwelt, die Pieblichkeit der Hügelland- 
fchaft, ven Glanz des ſüdlichen Himmels, den Ernft des Waldes wiederzugeben: es 
ift, al® ob wir auf der Reife wären, alles lebt und atbmet und trefflich ift der Text des 
Buches. Die Autoren müben ſich nicht ab, uns von Ort zu Ort, von Gaffe zu Gaffe, von 
Hötel zu Hötel zu begleiten und uns fchulmeifternd zur Seite zu ftehen. Wir wer- 
den mit allzuvielen Zablen, mit Preifen und Tarifen, mit Fibrertaren 2c. verichont, 
man läßt uns wandern und genießen und kümmert fich nicht allzuſehr um unjer 
Portemonnaie, die Sorge um daſſelbe uns felbft ütberlaffend. Dagegen macht man 
uns mit Sand und Leuten vertraut, greift, obme mit uns ängſtlich Gejchichte zu trei- 
ben, in die Vergangenheit zurüd. In der Neijeliteratur werden die „Europäiſchen 
Wanderbilder”, die jedes Jahr um mehrere Nummern fih mebren, ftets eine ber- 
vorragende Stelle einnebmen. 


Farbenftudien. (Mit Illuftration.) Es ift eine reizende Leberrafchung, 
welche die beiden vierbeinigen Schelme auf unferm Bilde ihrem Herrn und Meifter 
vorbereiten. Noch nicht lange der nährenden Mutterbruft entwachſen, befinden fie 
fih noch in dem Alter der Allotria und tollen Yugendftreihe. Da wird an ber 
Erbe fein Schub, kein Beſen, fein Knäuel unbeachtet gelaffen; alles muß attafirt 
und mit allem berumgetollt, -gefpielt und »gezerrt werben. Wehe dem Gegenftande, 
das in die Klauen des edlen Briüderpaares Kaftor und PBollur fällt. Hier find es 
nun gar bie gebeiligten Mal-Utenfilien des Thier- und Hundemalers Amacani, melde 
den beiden ungezogenen Tollpatfchen zum Opfer fallen. Höchſt blasphemiſch fett 

ch Kaftor auf die farbenberiebene Palette, während Pollur über den Farbenkaſten 
ch hergemacht bat, die Farbenbeutel attafırt und ſich das Furiofe Zeug gelegentlich 
um bie Obren ſchlägt. Da fiebt es denn fchlieglih buntfarbig und abenteuerlich 
genug aus, denn Kaftor und Pollux malen nicht allein vierbändig, veip. achthändig, 
aud der ftruppige Schwanz und bie ſchwarze Schnauze müffen ihre Mithilfe zu den 


352 Am Kamin, 


Farbenſtudien leiften. Es ift eine glänzende Farbenſympbonie, fo glutvoll und blen- 
dend, wie jelbft Meifter Mafart fie nie auf die Leinwand gezaubert bat. 

"Herr Amacani ift bei feiner Nachhauſelunft zunächſt ganz entfett über ben ge 
nialen Unfug, ben jeine Pieblinge ihm bereitet haben, aber fchließlich fiegt doch der 
Humor und zulett macht Herr Amacani gar bie Nubanwendung aus dem Abenteuer: 
er verewigt daſſelbe in einem feiner reizendſten und heiterſten Bilder. 


Der Thurmfalt (mit Illuſtration) zeigt einen Vogel aus dem edlen Falten- 
Gefchlechte, welchem Brehm in feinem klaſſiſch geichriebenen „Thierleben“ bie erfte 
Stelle unter den Raubvögeln einräumt. Gr ftellt e8 ben Geiervögeln (dem Adlern) 
gleich, weil es das Gepräge der Raubvögel am vollflommenften zeigt. Unſer Thurm- 
falt, auch Mauer, Kird-, Roth- und Rüttelfalt (Tinnunculus alaudarius), ift ein 
ſehr ſchmucker Vogel von 12%, Zoll Länge und 27 Zoll Breite, deſſen Bit 9, 
und beilen Schwanz 6'/, Zoll mißt. Beim ausgefärbten Männchen nd Kopf, 
Naden und der Schranz mit Ausnahme der blau-jchwarzen, weiß geläumten End» 
binden aſchgrau; der Mantel ift ſchön roftroth, jede Feder mit breiedigem Spiten- 
fled, die Unterjeite an der Kehle weißlichgelb, auf Bruft und Bauch ſchön rothgrau 
oder blaßgelb, die einzelne Feder mit ſchwarzem Längsfled. Die Schwungfedern find 
ſchwarz mit ſechs bis zwölf weißlichen oder roftrothen breiedigen Fleden an ber 
Innenfahne, an der Spitze lichter gefäumt. Der Augenftern ift dunfelbraun, ber 
Schnabel bornbraun, bie Wachshaut und die nadte Stelle ums Auge finb g rünlich⸗ 
gelb, der Fuß iſt citronengelb. Ein Badenftreifen ift vorhanden. Das alte Weibchen 
iſt auf dem ganzen Oberkörper rötbelrotb bis zum Oberrüden mit ſchwärzlichen 
Längsfleden, von bier an aber mit Querfleden auf den Federn; fein Schwanz ift 
auf grauröthlihem Grunde an der Spite breit und außerdem fchmal gebänbert; nur 
der Bürzel ift aſchgrau. Auf der Unterfeite gleicht die Färbung der bes Männchens. 
Die Jungen ähneln der Mutter. 

Bon Yappland an bis Südſpanien und von den Amurländern an bis zur Weft- 
füfte Europas ſcheint der Thurmfalf nirgends zu fehlen, am allerwenigften in ge- 
birgigen Gegenden, gleichviel ob dieſelben bewaldet find oter nicht: denn er ift eben— 
jowohl Feljen-, wie Waldbewohner. Im Süden unſeres Erbtbeils ift er häufiger 
als im Norden, in den Steppen gemein. Auch ift er Sommervogel, welder in je 
dem Winter große Reifen unternimmt. Er erſcheint bei uns im Dlärz, oft ſchon im 
Februar und verläßt uns im September wieder. Aeußerſt jelten iiberwintert einer 
bei une. Das eigentliche Wohngebiet bildet ein Feltgebölz ober aud ein größerer 
Wald, wo auf einem ber höchſten Bäume der Horft ftebt, ebenſohäufig aber eine 
Felswand und, zumal in füblichen Gegenden, ein altes Gebäude. Den verfallenen 
Kitterburgen fehlt der Thurmfall felten; auch die meiften größeren Städte geben 
ihm regelmäßig Herberge. Die flahe Mulde des Horftes, welder fih von bem an- 
derer Raubvögel wenig unterjcheidet, wird mit einzelnen Wurzeln, Stoppeln, Moos 
und Thierbaaren ausgelleivet. Das Gelege beſteht aus vier bis ficben runbfichen, 
auf weißem oder roftgelbem Grunde überall braunroth gefledten und gepunfteten 
Eiern, welde vom Weibchen allein gebrütet werben. 

Die Nahrung ift gemifchter Art. Mäufe und Kerbtbiere liefern ben Haupttbeil 
ber Mahlzeiten bes Thurmfallen; nebenbei nimmt er wobl auch eine Eidecbfe, einen 
Frofh und unter Umſtänden einen jungen Vogel weg. Er wird aber niemals ei- 
gentlih ſchädlich; denn er vertilgt weit mehr Ungeziefer als nügliche Thiere. 





Neueſte Moden. 


Nr. 1, Frühjahrshut. 


Der Kopf des Hutes ift aus ſchwarzem Phantaſieſtroh angefertigt. Der breite 
Rand deffelben ift an ben Seiten flach anliegend, bildet hinten eine hochgebende 





* een. 


Spige und ift born breit und ausgebogen durch eine innen angebrachte Bandſchleife 
mit Enden nach dem Kopf zurüdgebogen. Der äußere Rand ift mit Surah bededt 
und ber Kopf mit einem moosfarbigen Band, welches hinten eine Schleife bildet, 
umgeben. Mebrere ſchöne moosfarbige Federn find auf dem Kopfe des Hutes an- 
gebradht und neigen fi vorn nach der emporflebenden Krempe. 

Ter Salon 1887, Heft IX. Banb II. 24 


354 Uenefte Moden. 


Ar. 2. Iadiet „Gilberte“. 

Das aus leichtem beigefarbigem Phantaſietuch angefertigte Jader ift vom 
Hals bis zur Bruft berzförmig offen und hat einen unten abgerundeten Ueberjchlag- 
fragen, welcher dort endigt, wo das Jadet vermitteld Paſſementſpangen geſchloſſen 
wird. Nah unten bin ftebt baffelbe offen und hat an jeder Seite eine Heine Tajche. 
Die Aermel find ziemlich weit und unten mit einem abgerundeten Aufſchlag ver- 
feben. Alle Ränder find abgefteppt. Eine Wefte aus maronenfarbigem geripptem 
Sammet mit beigefarbenen Pafjement » Berzierungen vervollftändigt das Jacket. 
Daffelbe wird zu jedem Anzug getragen und in ſchwarz, marinebfau 2c. für junge 


Mädchen angefertigt. ; 
Ar. 3. Blouſe für Kinder. 
Diefe Bloufe ift aus Surah zc. zu Morgenanzügen fehr praftifh angefertigt. 


— —— 





Nr. 2. Jacket „Gilberte“. 


Dieſelbe iſt im Rücken oben am Kragen mehrfach zuſammengereiht. Die Achſeln 
find glatt und mit einer Sammetpatte verziert. Die Vordertheile hingegen find an 
den Achſeln vielfach eingereibt und fteben vorn bis weit herab offen. Der Rand ift 
an beiden Seiten breit mit Sammet bejett. Der Ueberichlagfragen ift ebenfalls von 
Sammet. Unter diefer offenftebenden Blouſe befindet fich ein glattes, hinten gefchlof- 
jenes Leibchen mit einem Stehlragen von Sammet. Die oben eingereihten Aermel 
find im Handgelenk in einen ziemlich breiten Sammetbund gefaßt. ber Taille ift 
die Bloufe an einem Gürtel befeftigt und füllt baufchig auf ben Rod. Diefer Rod 
befteht aus einer breiten Spitenfalbel. 


Ar. 4. Anzug für Kleine Anaben. 


Der Rod und die Beinlleider find aus leichtem, geripptem Tuch angefertigt. 
—— offenſtehenden Vordertheilen befindet ſich ein Faltenhemd aus éerufarbener 
urah. 


Neueſte Moden. 355 


Ar. 5. Bilite-Promenaden -Anzug. 


Der erfte Rod aus einfarbigem fchieferblauem Diagonal bat nur am NRüden- 
tbeil einige Falten. Der Doppelrod „Marcelle'' ift aus fchieferblauem und grau— 
farrirtem Wollenftoff angefertigt und bildet vorn zwei Spißen. An den Hüften ift 
derſelbe hoch emporgerafft und wird dort durch lang herabhängende Perlenquaften 
gehalten. Die Viſite aus gepreftem, grau in grau getöntem Tuch bat unten zuge 
ſpitzte, anliegende Vordertheile. Die Aermel find pelerinenartig brapirt und mit 
einem Streifen gepreßtem Sammet bejett. Der anliegende Rücken bildet hinten 
vieredige Schößchen, weldhe an beiden Seiten mit Sammetpatten befegt find. Am 
Taillenihluß im Rüden find die Aermel faltig zufammengefaßt. Ein breites Kragen- 
tbeil von Sammet befindet fih oben am Hals anfer einem Stehlragen vom Stoff 
ber Bifite. Born herab find Verzierungen von Paſſementen. Die fhieferblaue Ca- 
pote von Tüll ift mit filbergrauem Band und cremefarbigen Blumen verziert. 





Nr. 3. Bloufe für Kinder. 


Ar. 6. Mantel „Lucienne“ für Mädden von 8 Jahren. 


Der aus beigefarbigem, mit fchottifhem Karo durchzogene Mantel aus Wollen- 
ftoff iſt ſehr praktiich für jede Jahreszeit. Die anliegenden Vordertheile gehen glatt 
berab unb bilden hinten Rodfalten. Die Pelerine hat nach innen zurüdgejchlagene 
Aermel, welche mit blauer Seide, wie ber ganze Mantel, gefüttert find. Der Mantel 
wird am Hals mit einem Ueberjchlaglragen - verfeben und durch Schnuren und 
Quaften zufammengebalten. Der braunrotbe Strobhut ift mit braunrotben und 


blauen Schlupfen befekt. 
Ar. 7. Geſellſchaftskleid. 

Der erfie Rod zu biefem Spitzenkleid ift auf bem Vordertheile mit zwei 
breiten beftidten Spitenfalbein bededt. Die hinteren Rodtheile fallen glatt herab 
und find im Gürtel eingereibt. Die Spitentunifa ift am Rand mit einer breiten 
Falbel umgeben, welche an den Seiten im Gürtel mit eingereibt find und, fächerartig 
berabfallend, unten auf dem erften Rod eine Spige bilden. In der hinteren Mitte 

24* 


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358 Heucfte Moden. 


ift der Stoff erhoben und bie Falbeln, welche an beffen Rand angebracht find, 
fallen in Windungen an beiden Seiten herab. Die Vordertheile der Taille find am 
Hals bis zur Bruft offen, dort werben beide Theile iiber dem in Falten gezogenen 
Latztheile durch eine Bandjchleife, Blumen zc. zufammengefaßt und ftehen dann weit 


auseinander. Der faltige Lat bauſcht ſich am Gürtel. Von dieſem Gürtel fallen 


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— * 


Nr. 7. Geſellſchaftékleid. 


fange ſchmale Bandſchlupſen und Enden auf die obere, etwas breitere Spitzenfalbel 
des Rodes. Unter dieſer Falbel find mieder über die ganze vordere Breite bes 
Rodes ebenfolhe Tange Bandſchlupfen und Enden, melde wieder auf bie unterfte 
Spitenfalbel fallen, aufgenäbt. Die Falten der Tunika find bin und wieder durch 
Bandroſetten befeſtigt. Die Seitentheile ſind glatt und die Rückentheile, welche 
ebenſo wie bie Vordertheile vom Hals aus offen find, werben oben an ber Schulter, 


Neueſte Moden. 359 


doch diefe freilaffend, in Falten zufammengefaßt und die unteren Seiten ber Taille eben- 
falls glatt bebedend, in der Mitte derſelben feft zufammengereibt; von da aus laufend 
bilden die Falten den Schoof, unter welchem ebenfalls, wie auf dem Vordertheile 
des Rodes, Bandihlupfen und Enden berabfallen. Die Aermel find oben leicht ein- 
gereiht und reichen bis über bie Ellbogen, wo fie im einer dichten Falbel endigen. 





— ET EN 
— — —— —— —— 


SA 2 — 


Nr. 8. Blouſentaille für junge Damen. 


Ar. 8. Bloufentaille für junge Damen. 

Diefe Bloufe befteht aus einem malvenfarbigen Sammetcoller, welcher an ben 
Vordertheilen einfah duch Knöpfe gefchloffen ift und mit einem ziemlich breiten, 
ebenfalls durch einen Knopf geſchloſſenen Stehlragen von Sammet verjehen ift. An 
diefem Coller find bie Vordertheile der Bloufe aus roſa Surah dicht eingereiht an- 
gejetst; Diefeiven werben in ber Taiffe ringsum fünfmal eingereibt, jo daß vier Heine 


360 Ueueſte Moden. 


Bäuſche entftehen. Den unterften Reibfalten ift ein glattes boppeltes Theil in bich- 
ten Falten angefügt, welches —* um die Taille einen Schooß bildet. Vorn theilt 
ſich die Blouſe und läßt ein, in kleine Bäuſchchen gezogenes Latztheil frei. Die 
glatten Aermel aus roſa Surah reihen bis zum Ellbogen und haben dort als Ber- 
zierung eine breite Sammetjpange, mit einem Knopf verziert. Unterhalb biejer 
Spange endigen die Aermel mit einer Spitenfalbel. Eine ebenjolhe Kraufe be- 
grenzt ben Stehfragen. 





Nr. 9. Strohhut für Damen. Nr. 10. Hoher Hut. 


Nr. 9. Girohfut für Damen. 


Die Capote aus Phantafieftroh bat einen fcharflantigen, oben etwas ein- 
gebrüdten Kopf und an den Seiten breite, vorn eine Spite bildende und nad oben 


aufgefchlagene Krempen. 
Nr, 10. Hoher Hut, 


Diefer Hut mit bobem Kopf hat eine, an einer Seite gerade, auf ber andern 
Seite und hinten bochaufgebogene, eine Spitze bildende Krempe. 





Nr. 11, Hut aus durchbrochenem Strobgeflchht. Nr. 12. Toque aus Phantafeftrob. 


Ar. 11. Hut aus durchbrochenem Strohgeſlecht. 


Der bobe Kopf dieſes Hutes ift durchbrochen. Der breite Rand befielben 
neigt fih auf ber einen Seite und ift auf der andern etwas breiter und nach oben 
gebogen. Der Rand ringsum ift mit einer Strobhrüfche bejetst. 


Nr. 12. Toque aus Phantafieflrof,. 
Der Kopf ift oben etwas eingebogen. Die umgeſchlagene Krempe bes Hutes 
it vorn eingebogen und bat eine ſpitze Erhöhung. 


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Redaction, Berlag une Trud von A. H. Payne in Reudtnit bei Leipzig. 


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,Ruſſiſche Fiſcher auf einer Eisſcholle ins Kaſpiſche Meer getrieben. 














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DEE EEE ED EEE ET BE EN EEE RE EEE 


Kapitän Fieramoscas Berlegendeiten. 
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FE, u bift unzweifelhaft, Lieber Lefer, jo gut wie jeder andere 
BE o| in diejer reijeluitigen a einmal in Venedig gewejen. 
FB Du wirit =. an den herrlichen Bildern erfreut — 
IFA die fic) dort dem Auge überall bieten, haſt gewiß vom 
or Lido aus den Sonnenuntergang bewundert, fojtbare 
Fr > Stunden in einer Gondel verträumt, haft die Tauben 
auf dem age gefüttert und gewartet, bis die bron- 
zenen Mohren die Stunde anjchlagen. 
Du haft jedenfalls in den wenigen engen Gaffen nach byzan- 
tinijchen Weberreften gejucht, haft müßig auf den fleinen Bänken 
eitanden oder an den Stufen, wo die Fruchtfähne ihre Ladung 
16) en und haft da die Myriaden von Funken des grünlichen Elaren 
Waſſers beobachtet, die an den düjteren Mauern der Häujer empor: 
rißen. 
» es das haft Du gethan und wahrjcheinlich noch mehr, — 
biſt Du aber doch niemals dazu gekommen, einmal im Campiello 
Nuovo herumzuſchweifen. Wie dieſer zu ſeinem Namen gekommen, iſt 
ſchwer zu ſagen, denn etwas neues vermag kein Menſch an * zu 
finden. Früher diente er, wie eine Inſchrift an der Mauer erkennen 
läßt, als Friedhof und wurde als ſolcher erſt en verhältnigmäßig 
neuerer det aufgelafjen. Noch jchwebt über ihm etwas von dem 
melancholischen Hauche feiner früheren Bejtimmung, und obwohl viel- 
fach angenagt vom Zahn der Zeit, wirft er auf den Bejchauer noc) 
immer mit malerischem Reiz. 
An der andern Seite — der am beiten erhaltenen und am wenig- 
jten anziehenden — erhebt jich ein weißes Haus mit rothem Bad- 
jteinfims, Hinter dem die Afazien eines freundlichen Gartens gerade 
noch über der hohen Umfafjungsmauer zu ya ind. Ihm gegen- 
über liegt ein Gewirr unregelmäßiger Gebäude, deren moosbededte 
Wände und Haffende Spalten hier und da wucherndes Unkraut mit 
jeinen grünen eben verhüllt. Die meiſten Fenſter find ge— 
Ichlojjen; wo deren Läden offen jtehen, hängen dieje gewöhnlich nur 
an einem Haſpen. 
Der Salon 1897. Heft X. Band II. 25 


362 Kapitän Fieramoscas Berlegenheiten. 


Bor dem einen Haufe ſpringt eine Eleine Terrafje vor, die zum 
Theil von Schlingpflanzen überdedt und mit Blumentöpfen bejegt iſt 
und von jchwachen Marmorjäulen getragen wird. Ueberall, oben und 
unten, aber ohne regelmäßige Anordnung, befinden fich jchmale Fen— 
jter, welche augenjcheinlich zu niedrigen Zimmern gehören. Vor einer 
andern Reihe von Wohnräumen läuft eine niedrige Mauer hin und 
in der Mitte diejer befindet fich eine Eleine, geheimnißvoll ausjehende 
Thür, welche ebenjo gut den Eingang zum Haufe eines Ritters Blau— 
bart hätte bilden fünnen. 

Eine Wafferträgerin, welche eben die Bronzeeimer von den Schul- 
tern genommen bat, Elingelt an der Thür; von unfichtbarer Hand be: 
wegt, öffnet ſich dieſe geräufchlos; ein flüchtiger Blid zeigt uns 
dahinter einen engen, mit Steinen belegten Borhof mit vielen Blumen- 
töpfen, und dann verjchiwindet die Waſſerträgerin, vielleicht die Ueber- 
bringerin einer geheimen Nachricht für hen und begrüßt im In— 
nern mit ihrem weichen venetianischen Dialekt eine verborgene Freundin. 

In dieſe Eleine Welt romantischer Träume und drohenden Ber: 
falls trat plöglich gleich einem leuchtenden Meteor der Kapitän Fiera— 
mosca. Er erjchten eines Miorgens auf dem grasdurchwachjenen 
Steinboden, und auf feine goldenen Epaulettes und den martialiſchen 
Schnurrbart ftarrten die ihm Begegnenden ebenjo, wie die Tauben 
auf den Straßen vor ihm erjchredten; den erjteren freilich war er eine 
hochwillfommene Erjcheinung, denn ganz Venedig durchzitterte damals 
noch das Befreiungsfieber von langer Use ale ii Bei den ge 
ringfügigiten Anläſſen mußte die Trifolore als zeitgemäßer Schmud 
dienen; von den Kanälen hallte überall die Garibaldihymne wieder 
und die Stinder jprangen hochauf vor Freude über die jchmuden Ber: 
jaglieri, wenn dieje mit wehenden Federn und rajchen Schrittes daher: 
gezogen Famen. 

Da der Offizier hier offenbar nad) jemand juchte, fand ſich 
natürlich gleich ein Dutend Leute, die ihm ihre Dienjte anboten. 
„Meinten Sie die Signora Elena? Nein, die Signora Maria! Ecco! 
Hier, links Hin!“ 

Und als er danı durch die kleine grüne Thür fchritt — welche 
mit dem Eingang zum Schlojje Blaubarts bei näherer Betrachtung 
freilich gar nichts zu thun hatte — folgte ihm ein ganzer Haufe dienſt⸗ 
beflifjener Perjonen, die den jungen Mann in ihren Uebereifer jet 
hier und dann dorthin wiejen. 

Die Perjonen, welche Fieramosca fuchte, waren dem Anjchein 
nad) drei Schweitern, zweit bejahrte Jungfrauen und eine Wittwe, 
welche zujammen zwei Treppen hoch wohnten. Als er den ihm be: 
zeichneten Vorſaal erreichte, eilte ein junges brünettes Mädchen, das 
an einer Thür ftand, noch ehe er jelbit ein Wort jprechen Eonnte, 
zurück und rief: 

„Signora Marta! Signora Maria!” 

Auf ihren Aufjchrei erjchien auch jofort eine große, nicht eben 
hübjche Frau, — mehr aufſeufzte, als daß fie ausrief: „Mi fio, 
mi fio!“ damit warf fie ſich auch on dem bejtürgten Offizier in die 
ee? und drückte ihn in feineswegs mehr liebenswürdiger Weiſe 
an Sich. 


Kapitän Fieramoscas Berlegenheiten. 363: 


Kapitän Fieramosca wich zurüd jo gut er konnte, die Dame that 
dDafjelbe und nun erſt Fam es zu einer Reihe haftiger Erklärungen, 
aus welchen hervorging, daß unſer Held anfänglich mit dem Sohne 
der Wittwe verwechjelt worden war. 

„Das Mädchen hatte fich geirrt, dazu kam der halbdunkle Vorſaal 
und die Uniform” Sie für ihren Theil war übrigens gar nicht 
traurig, wenigjtens dieje gefüht zu haben. „Ohne Zweifel verjtche der 
Herr Kapitän ihre Gefühle“, jagte die Mutter, der das Herz noch 
höher Elopfte. 

Er verjtand fie volljtändig und als höchjt weichherziger Krieger 
vergab er ihr den Jrrthum gern und fühlte jogar eine gewifje a 
nahme für fie in jeiner Bruft erwachen. Als er dann in das Eleine 
Wohnzimmer getreten und zwei ziemlich nacjläjjig gefleideten lachen— 
den Damen angelährt worden war, nahm er den ihm angebotenen 
Pla und entledigte N) jeines von Marias Sohn übernommenen 
Auftrags in jo freumdichaftlichen Worten, als ob das Trio jchon 
jahrelang miteinander befannt gewejen jet. 

Einem jcharfen Beobachter würde es nichtsdeitoweniger aufgefallen 
fein, warum der Kapitän Fieramosca, als das erite — des Ge— 
ſprächs ſchon ſtark verloſch, ſich gar nicht verabſchiedete; ebenſo mußte 
derſelbe bemerkt haben, wie ſeine Augen ſich immer und immer wieder 
nach einer gewiſſen Thüre richteten, ſo daß der Grund ſeines Ver— 
weilens wohl hier zu ſuchen ſein mochte. 

Denn in dieſer Thür hatte der junge Offizier bei ſeinem Eintritt 
einen Moment ein blaſſes pa ejtcht gejehen, mit großen dunk— 
len Augen und einer Fülle goldenen Haares. Es war ein etiwas 
unordentlic, ausjehender kleiner, aber ein jo hübjcher Kopf, wie Fiera— 
mosca je einen vor Augen gehabt. Und da er ein ſchwaches Geräuſch 
hinter der Thür den eiligen Bemühungen zufjchrieb, die allgemeine 
Erjcheinung jenes jungen Mädchens zu verbejjern, jo ka, er ſich 
unwillfürlich durch den Schnurrbart und wurde zwar jeden Augenblick 
einfilbiger, aber auch entjchlofjener nicht von der Schwelle zu weichen. 

Seine Geduld jollte wenigitens — werden; denn einen 
Schleier über dem Kopfe, ein Gebetbuch in der Hand und die Augen 
beſcheiden nieder —— trippelte die Viſion jetzt ins Zimmer. 

„Meine Tochter Clelia“, ſagte die Wittwe und ſetzte gleich in faſt 
jpöttiichem vorwurfsvollem Tone Hinzu: „Was heift das? Haft Du 
Dich allein jo angekleidet?“ 

„Kun, gehen wir denn nicht zur heiligen Meſſe?“ fragte Elelia 
mit dem Ausdrud der umjchuldigiten Ueberraſchung dagegen. 

„Heut iſt es doch zu jpät, Kind. Und Du weißt ja...“ Die 
legten Worte jprach fie jchon mit jehr gedämpfter Stimme. 

Das „Kind“ hatte wahrjcheinlic, gewußt, was fie meinte, ließ fich 
aber nicht herbei es einzugejtehen. Jedenfalls war ihr Zweck, als fie 
ſich jo ſchön anfleidete, erreicht, denn Kapitän Fieramosca war jchon 
fadentief in fie verliebt. Seit den Tagen Romeos in dem benach- 
barten Verona war vielleicht feine Leidenjchaft jo jchnell auf den 
eriten Blick emporgewachſen wie dieſe. In Wahrheit hatte unfer 
Dffizier freilich jchon vorher von Clelia gehört. Ihr Bruder, jein 

25* 


364 Kapitän Fieramoscas Berlegenheiten. 


Buſenfreund Enrico, hatte ihm ihr Bild gezeigt, und ihm etwas von 
ihr erzählt, was feiner ritterlichen Neigung befonbere entſprach. 
Wenn Fieramosca lebhafter wurde, nachdem Clelia erſchienen war, 
verfiel deren Mutter dagegen mehr und mehr in Schweigen und ihr 
Geſicht nahm einen faſt len Ausdrud an. Auch Elelia jelbit 
fühlte vielleicht, obwohl ſie deßwegen noch immer bezaubernd ausjah, 
die Kälte im Benehmen ihrer Mutter und blieb ziemlich jtumm, wenig: 
jtens was die Zunge anging, während ihre Augen eine recht [ebhafte 
Sprache redeten, als der Gajt unerwartet zu einer begeiiterten Schil— 
derung des letzten Feldzuges überging: Es war eine ziemlich jaure 
Arbeit für den Kapıtän Fieramosca, dieſe einjeitige Unterhaltung mit 
wei ältlichen Damen, welche nicht viel anderes als „Herr mein 
Hott!“ oder „Nein, follte man’3 glauben!“ zu antworten wußten. 


Als er, ſich endlich zum Fortgehen erhob, ergriff doch Tante 
Terefa, die jüngite, aber auch die weichjte und demüthigite der Schwe- 
jtern, welche nichts begann, ohne erſt ein Stoßgebet zu jprechen und 
nach allen Seiten für ihre Gejundheit zu jorgen, die Initiative und 
fragte ihn, ob er nicht einmal wiederfommen wolle. 

„Mit dem größten Vergnügen“, verficherte der junge Mann raſch. 
„Vielleicht ift e8 mir auch gejtattet, die Damen einmal außerhalb des 
Haujes zu treffen? Etwa auf der Piazza gegen Abend.“ 

„Bir gehen kaum jemals aus“, antwortete Signora Maria fühl. 

„Kur des Sonntags, aber dann jtets“, ſetzte Clelia berichtigend 

hinzu. 
2 Fieramosca bejaß genug re dieje willfommene Nachricht 
icheinbar nicht zu hören; er beugte f aber jehr tief über die Fleine, 
zum Abjchied ausgejtredte Hand. Da gleichzeitig das Hausmädchen 
mit einer Meldung für Signora Maria eintrat, wurde deren Auf: 
merfjamfeit jo weit abgelenkt, daß er dem jungen Mädchen heimlich 
zuflüjtern konnte: 

„Enrico bittet Sie, ihm zu vertrauen und ihm durch mich zu 
jchreiben.“ 

„Du würdejt bejjer thun, diejen Staat abzulegen“, begann Sig— 
nora Maria zu we Tochter, als das letzte Klirren von Fieramoscas 
Säbel auf der Treppe verklungen war, „und ich möchte eigentlich 
wiſſen, was Dein Geſicht wie eine Kürbisſchnitte gefärbt hat.“ 

„Es ift die erjte Leidenschaft!" murmelte die gutmüthige behäbige 
Tereja vor Nic bin, die auch bemerkt hatte, daß der Offizier heimlich 
etwas zu der Nichte jprach, ohne jedoc) die Worte verjtehen gu können, 
und welche es nicht weniger fürchtete als Clelia jelbit, daß deren 
Mutter e8 gar jelbjt beobachtet haben könnte. 

In unferen Tagen der billigen Poſt und der bequemen Briefkäften 
mag es auffallend erjcheinen, daß Clelias Bruder diejen Verſuch ge: 
macht — ſollte, ihm durch Vermittelung ſeines Freundes zu ſchrei— 
ben. Unſere arme kleine Heldin war aber ein italieniſches Mädchen 
aus mittlerer Geſellſchaftsklaſſe. Das zwangloſe Auftreten unſerer 
jungen Damen war ihr ebenſo unbekannt wie die Kunſt auf dem 
Seile zu tanzen. Sie ſchlief mit ihrer Mutter in einer Kammer, ſtand 
zugleich mit ihr auf, ging mit ihr aus und mit ihr zu Bett und hatte 


Kapitän Fieramoscas Berlegenheiten. 365 


überdies in der ganzen Welt feinen Pfennig, über den fie frei ver: 
fügen konnte, 

Ehe ans Schreiben zu denken war, hätte jie jich den Mugen ihrer 
Mutter und den der mit weniger wachjamen Tante Giujtina müſſen 
entziehen fünnen. Ehe ein Brief zur Poſt kam, hätte fie ſich auf 
Umwegen den Eleinen Betrag des Portos verijchaffen müfjen, und eine 
etwaige Autwort Eonnte jie auch nur auf geheime Weije erhalten. 
Es drängte jie jedoch gar zu jehr, ihrem Bruder zu jchreiben, denn 
außer der Tante Terela, die zu unentjchieden in ihrem Thun und 
Laſſen und aljo nicht viel zählte, war jener das einzige Belen, auf 
dejjen Theilnahme und Sitte fie rechnen fonnte. 

Die Signora Maria hegte für — Sohn eine ſo große Vor— 
liebe, daß in ihrem Herzen für die Tochter kaum noch Raum war. 
In der Abſicht aber, wenigſtens materiell für das Mädchen beſtens 
zu forgen und ohne das Licht wahrer Zärtlichkeit, um wirklich deren 
beites klar zu erfennen, hatte fie bejchlofjen, daß Clelia einen gut 
jituirten, freilich vierzig Jahre älteren Rechtsanwalt heiraten jollte. 
Giujtina, die gleich ihrer älteren Schwejter das Geld mit der Leiden— 
ſchaft liebte, welche durch Engherzigfeit und ein kümmerliches langes 
a jo leicht erzeugt wird, unterjtüßte diefes Vorhaben mit aller 

rme. 

Enrico hätte trotz ſeines Wohlwollens für die Schweſter und aus 
freiem Antriebe doch kaum unternommen, ſeiner Mutter entgegenzu— 
treten oder ſich zum Vermittler in einer, ſo ausſchließlich jener zu— 
ehörenden Frage wie die der Entſcheidung über die Zukunft einer 
ochter aufgeworfen, wenn Clelia ihn bei ſeiner letzten Anweſenheit 
zu Hauſe nicht durch ihre Thränen und Bitten beſiegt hätte. 

„An wen ſoll ich ſie denn verheiraten, wenn nicht an den Sig— 
nor Biagio?“ fragte ſeine Mutter ärgerlich, als er eines Tages einen 
jchüchternen Einwand dagegen wagte. 

Enrico drehte ich verlegen den Schnurrbart, offenbar mußte 
Clelia mit jemand verheiratet werden; jie war viel zu hübjch, um zu— 
zugeben, daß fie einmal ebenjo zur alten Jungfer vertrodnete wie 
Tante Giujtina, oder jo fett und weinerlic) wurde wie Tante Tereja. 

„Ste bejitt feine Meitgift, die nur nennenswerth wäre, und wer 
würde fie ohne eine jolcye zur Frau nehmen?“ fuhr Signora Maria 
erregt fort. | 

„Kun, irgend ein uninterejjirter junger Mann“, gab der arme 
Enrico nur halblaut zur Antwort. 

„Sud, doc) einen folchen“, erwiderte fie furz und ungläubig. 

Da jtand plöglich ein verlodendes Bild vor Enricos Augen — 
eine glänzende Uniform, —— Augen, weiße Zähne, alles vereinigt 
in einem tapferen, ae entjchlofjfenen Mann. 

„Da ift zum Berjpiel Fieramosca“, erwiderte er, die Stimme vor— 
jihtig dämpfend, damit Clelia ihn nicht hören jollte. 

„Doch ein Leichtfuß mit mehr Gold auf dem Node als in der 
Tajche?“ meinte Signora Maria. 

„Was den Leichttuß betrifft, jo gleicht er vollkommen mir“, ent= 
gegnete der beleidigte Lieutenant. 

„Das wäre ja ein ander Ding“, murmelte jeine Mutter. „Immer— 


Pr 


366 Kapitän Sieramoscas Berlegenheiten. 


hin hat es feinen Zweck davon zu reden, Enrico, Kein Mädchen mit 
gejundem Meenjchenverjtand würde es abjchlagen, den Signor Biagio 
zu heiraten. Er ift reich und jehr angefehen; und obwohl er freilic) 
etwas älter ijt, jo macht ihn das nur vertrauenerwedender, und jtatt 
daß er binnen ein oder zwei Jahren Clelias Herz damit bräche, dat; 
er anderen nachläuft, jo wird er gut für jie jorgen und immer zu 
Haufe fein.“ 

„Arme Clelia“, dachte der junge Mann; am nächiten Tage, als 
er ic) wieder zum Regiment begeben mußte, flüfterte ev der weinen— 
den — aber doch einige Worte der Tröſtung und Hoffnung 
ins Ohr. 


II. 


Fieramosca beabjichtigte drei Tage zu warten, ehe er in dem 
Haufe Hinter der grünen Thür einen erneuten Bejuch abjtattete. Im 
der That wartete er aber nur zwei, und ging dahin unter dem Vor— 
wande, daß er eben an Enrico jchreiben lie „Hätte die Signora 
ihm vielleicht eine Nachricht zu geben?“ 

Die Signora war ihm jehr verbunden, hatte aber feine Mitthei— 
fung zu machen, da fie erjt ganz kürzlich jelbjt geichrieben. Dabei 
ſaß ii jteif und aufrecht in ihrem Stuhle und wies immer die Fleinen 
‚Fühler in der freundjchaftlichen Unterhaltung, welche der unglüdliche 
Krieger anzujpinnen verjuchte, vorfichtig zurüd. 

Er erfundigte ſich nach der Signorina; man jagte ihm, fie jei 
nicht vecht wohl, und wirklich blieb deven Thür unerbittlich gejchlojfen. 

„sch werde morgen... ab... jchiden, um nad) ihrem Befin- 
den fragen zu lajjen“, jtammelte Fieramosca. (Er hatte jagen wollen 
„wieder vorjprechen“, Homers Gorgo mag aber gewöhnlich wohl ein 
einladenderes Geſicht gemacht haben, als die Signora Maria in diejer 
Minute.) 

„Wir gehen morgen einige Tage aufs Land“, erwiderte die Dame. 
Der Bejucher fühlte heraus, daß das nur eine kühne Ausrede war. Vier 
Berjonen mit einem Einfommen, das in anderen Ländern kaum für 
den nöthigiten Unterhalt hingereicht hätte, Fonnten nicht im Hand— 
umdrehen daran denken, längere Ausflüge zu unternehmen. | 

Fieramosca erhob ſich um aufzubrechen mit einer Ruhe und 
Würde, welche jein verlettes Gefühl Yügen jtraften. Ueber das faure 
Heficht von Enricos Mutter flog ein Schein von Neue, als fie ihm 
Lebewohl jagte; aber fie wollte feine anderen Saiten aufziehen. Schon 
beim erſten Bejuche hatten die Augen des Offiziers zu viel gejagt 
und Clelia war jeitdem höchſt widerſpenſtig geworden, jo daß jie jogar 
den Signor Biagio ziemlid) abjtogend behandelte. 

Der arme Fieramosca ging höchſt entmuthigt die Treppe hinab. 
Als die grüne Thür fich hinter ihm ſchloß, blickte er noch einmal mit 
Bedauern nad) den Fenſtern des zweiten Stodwerfs hinauf. Da 
öffnete fich eines derjelben und Clelias blondes Köpfchen erjchien 
darin. Scheinbar ohne den tiefniedergejchlagenen Anbeter zu bemerken, 
deffen Benchmen jchon die halbe Nachbarichaft in fein Geheimniß 
eingeweiht hatte, lockte jie eine Heerde Tauben, welche während der 


Kapitän Sieramoscas Berlegenheiten. 367 


— Stunden auf der ſchattigen Bruſtwehr eines Nebenhauſes 
aßen. 

Dieſe flogen ſofort zu ihr hin, und eine, die zahmite, ad ſich 
‚gar auf des Mädchens Schulter. Sie nahm das Thierchen, ſtreichelte 
e3 freundlich und warf dann eine Hand voll Körner jo hinaus, daß 
jie meijt vor die Füße des jungen Mannes fielen; dann ließ fie die 
zahme Taube fliegen, um die Körner — Die ganze Heerde 
folgte und Clelia ſchloß wieder das Fenſter. 

Als die Tauben aber ſich dicht vor ihm hin und her drängten, 
ſah er unter dem einen Flügel der zahmſten etwas weißes hervorlugen. 
Sofort kam ihm der Gedanke, das Thierchen, zu fangen, und im näch— 
ſten Augenblicke ſah er ſich ſchon im glücklichen Beſitz der Botſchaft, 
die jene wider Willen mit heruntergebracht hatte. 

Immerhin beſaß er noch ſo viel Klugheit, mit dem Leſen des 
Zettelchens zu warten, bis er um die nächſte Ecke gekommen war; doc) 
während er fich höchſt befriedigt fühlte über dieſen heroijchen Ent: 
ichluß, bemerkte er aud) ſchon mit koßen Mißvergnügen, daß all ſein 
Treiben beobachtet worden war. Auf einem Balkon in der Nähe, der 
einen Blick über die Akazien hinweg geſtattete, ſaß eine Dame, die 
ihm lächelnd zuſchaute. Sie war jung und wirklich hübſch. Wäre 
Fieramosca nicht verliebt geweſen, ſo hätte er ſie ſogar ſchön gefun— 
den. Unter den jetzigen Umſtänden wünſchte er ſie freilich dahin, wo 
der Pfeffer wächſt und lief blutroth im Geſicht davon. 

Zwei Minuten ſpäter den Zettel aufſchlagend, fand er, ein paar 
in Eile und Beſtürzung niedergeſchriebene Zeilen, aus denen hervor— 
ging, daß Clelia jetzt der Verzweiflung ſehr nahe war. Ihre Mutter 
uͤberwachte ſie ſtrenger denn je und ſprach nur mit ihr, um fie zu 
jchelten. Tante Giuſtina predigte ihr vom Morgen bis zum Abend 
etwas vor und — das Schlimmjte von allem — Signor Biagio er: 
flärte, nicht länger warten zu wollen. Wenn Enrico jeßt nicht ein= 
jchritt, würde die nächjte Woche den Ehekontrakt vollzogen jehen und 
ihr nichts übrig bleiben, als ins Waſſer zu jpringen. 

Der gefühlvolle Lejer a ſich freundlichjt jelbjt ausmalen, in 
welchen Seelenzujtand diefe Mittheilung Fieramosca verjegte An 
Enrico jendete er ein Telegramm und gleichzeitig einen Brief; dann 
jchwanfte er zwiſchen toller Wuth und ſchwerer Melancholie hin und 
her, als jede Minute ihn mehr und mehr aufflärte, wie er jelbjt aller 
Hilfsmittel entbehrte, das Weib, das er liebte, zu retten. Mit dem 
in * Lage gewöhnlichen Spürſinne verwendete er jede Mußeſtunde 
dazu, ———— die Umgebung des Hauſes, in das der Eintritt ihm 
unerbittlich verſagt war, ſcharf zu überwachen. Freilich gewährte ihm 
das nur ſehr mageren Troſt, denn Clelia verbrachte jetzt den ganzen 
Tag weinend auf ihrem Bette und hatte jogar aufgehört, die Tauben 
zu füttern. 

Des Anbeters bitterer Kelch lief aber über, als Enrico, der vor- 
an jeine Mutter ernftlich gejchrieben, jeine Ankunft binnen wenigen 

agen angezeigt und gebeten hatte, Feinen entjcheidenden Schritt ohne 
ihn zu thun, telegraphijch meldete, jein Regiment habe dringende 
Marichordre erhalten, gegen die NRäuberbanden, welche das Yand be- 
unruhigten, auszuziehen. Damit wurde die Yage der armen Clelia 


368 Kapitän Sieramoscas Berlegenheiten. 


noch jchlimmer als bisher, denn Signora Maria, die der Meberzeugung 
war, daß ihr Sohn bei diefem Zuge umkommen werde, Schwamm nicht 
allein ar in Thränen, jondern ergoß auch die Schalen ihres Zor- 
ned und ihrer Verzweiflung über die Häupter ihrer ganzen Umgebung. 

„Das S idial jpielt mir graufam genug mit, in allem aber, was 
ich einmal bejchloffen, joll e8 mich doch — beſiegen“, erklärte ſie. 
Und mit der Sonne aufſtehend, um ihre Trauer bis Mitternacht 
beſtens zu nähren und zu pflegen, ae und nähte fie mit einer 
von Sec erzeugten Hajt und beeilte überhaupt die Vorbereitungen 
zur Hochzeit. | 

Ach nein, ich kann nichts für Sie thun! Nichts, nichts!“ feufzte 
die arme Terefa, welche Fieramosca eben auf dem Heimwege von der 
Frühmeſſe begleitete. „Sch glaube, meine Schweiter ijt halb von Sin- 
nen und wir anderen find wie Wachs in ihrer Hand.“ 

Das bejtürzte, wohlbeleibte alte Weſen, ſchon erjchredt durch den 
Gedanten, daß fie jemand mit dem unglüdlichen Liebhaber fprechen 
Ban fönnte, war völlig außeritande, zu Pelfen oder zu rathen. „Wenn 
Glelia nım der Heirat ruhig zuftimmen wollte!” jammerte fie in dem— 
jelben Bugs: wo Fieramosca erklärte, daß er das nicht überleben 
würde. 8 Zwiegeſpräch glich ganz einem Bühnenduett, in dem 
zwei Leute, die der Schuh an gleicher Stelle drüdt, doch einander 
ganz widerjprechende Worte fingen. 

„Sagen Sie ihr wenigitens, ich wiſſe, daß heut ihr Geburtstag 
it; geben Sie ihr diefe Blumen mit der Verficherung, daß ich jie 
niemals vergejjen werde, jo lang ich lebe“, rief Fieramosca flehent- 
lich, da er ſich jeßt zu elend fühlte, um noch zürnen zu können.“ 

„Ja, ja“, verficherte Tereja, die den Strauß frampfhaft padte, 
„ich bin gern erbötig, alles zu jagen was Sie wünjchen, aber bitte, 
lajien Sie das Kind nur ruhig heiraten.” Mit diejen charakteriftiichen 
Worten entfloh fie dem jungen Soldaten. 

Da der zweifelhafte Troft, den er etwa aus diefem Geſpräch ge: 
ichöpft, bald verrann, ſtand Fieramosca am Abend dejjelben Tages 
immer noch einmal vor der graufamen grünen Thür. Es war heller 
Mondicein, und die Blumen alle, die Venedig befigt, ftrömten ihren 
beraujchenden Duft aus in die laue Luft; der arme Fieramosca aber 
wanderte halb von Sinnen auf und ab. 

Ein ärmlicher alter PBriejter, der ji auf dem Wege von der 
nahen Kirche Santa Stefano zur Signora Maria befand, um mit 
diefer und ihren Schweftern eine unfchuldige Bartie Whiſt zu jpielen, 
wich in den Schatten zurüd, als er des Offiziers anfichtig wurde und 
beobachtete heimlich beiien Thun und Treiben. 

Eine kurze Zeit lang waren die beiden Männer die einzigen leben- 
den Wejen an der einfamen Stelle. Vom großen Ranate ber, auf 
dem fich heute befonders viele Gondeln wiegten, tünten die Schwachen 
Klänge verjchiedener Serenaden. Plötzlich, als hätte fich ihr Ton von 
dem entfernten Meere der Harmonien abgelöft, hörte man das leichte 
Erflingen von Öuitarrenjaiten, das näher und näher zu fommen jchien. 
Die Muftfer — drei an Zahl — erjchienen wirklich, jtiegen die Stu- 
jen nach dem Campiello empor und nahmen unter Elelias Fenster Auf- 
ſtellung. Nun denke man ſich die eiferfüchtige Wuth Fieramoscas, 


Kapitän Fieramoscas Berlegenheiten. 373 


Was und an wen Mrs. Walford geglaubt und rd hatte, fam 
nicht über ihre Lippen. Wahrjcheinlich —* ſie ſich Lan überlegt, 
es nicht auszusprechen. Jedenfalls hätte fie dazu auch feine Gelegen- 
heit gehabt, denn eben wurde die Thüre geöffnet und der Eleine Geijt- 
lihe von St. Stefano trat in den Salon. Fieramosca fannte ihn 
nicht, er aber kannte ja den Offizier und zwinkte bedeutjam mit den 
Augen, als er Ddiefen hier vorfand, Er war gekommen, um mit 
Mrs. Walford über verjchiedene on zu jprechen, welche fie den 
Armen zugedacht hatte; der junge Mann erhob ſich aljo zum Weg- 
gehen. 

„Sc muß Sie morgen —— ſagte die Wittwe in gedämpf— 
tem, aber dringendem Tone. ‚„Verlieren She den Muth nicht. Wir 
werden jchon einen Ausweg finden. Schwierigkeiten können mich nur 
reizen — —“ 

! Am folgenden Nachmittag bemerkte Signora Maria wie ganz bei- 
läufig gegen ihre eigene Tochter: ‚3% dacht’ es doch immer, daß der 
udringliche Freund Enricos in der Nachbarjchaft nicht umfonjt um: 
erjchweife.“ 

Clelia entfärbte fich ein wenig. Sollte Tante Tereja von dem 
Blumengeichent zu ihrem Geburtstage geplaudert haben? dachte fie. 

Ein — Moment verſtrich, während Signora Maria eine 
Arbeit, die ſie eben in der Hand hielt, aufmerkſam prüfte. Sie nahm 
eine oder zwei Stecknadeln zwiſchen die Lippen und fuhr dann fort: 
„Er wird die reiche Wittwe dort uns gegenüber heiraten.“ 

„Das iſt nicht wahr“, rief Elelia leidenschaftlich, der fich dieje 
ichnelle VBerneinung aus Verwunderung und Schmerz entrang. 

Die Signora Maria war eigentlich gewöhnt, —* einen ſolchen 
glatten Widerſpruch nicht gefallen zu laſſen; jetzt erwiderte ſie darauf 
aber nur leichthin: „Glaubſt Du das nicht? Weßhalb nicht?“ 

Ja freilich, weßhalb? Clelia, der es im Kopfe wirbelte und das _ 
Herz laut jchlug, blieb jtumm. 

„sch denfe, es muß doc) wahr jein, da ich e$ von Don Giacomo 
gehört habe, und der ift, wie Du weißt, immer einmal bei der Eng- 
änderin. Fieramosca hält jich täglich jtundenlang bei ihr auf, und 
zwar ganz allein; und kürzlich des Abends — ja, wann war's denn? 
— chi am Abend Deines Geburtstages — traf er fie, natürlich 
nach Verabredung, als fie drüben am Traghetto ihre Gondel verließ, 
und hat fie von da aus nad) Haufe begleitet.“ 

Signora Maria hatte jet die Nadeln aus dem Munde genom- 
men und befejtigte jie in ihrer Arbeit, ji) wohl bewußt, daß jie dem 
itternden Herzen der Tochter durch ihre Mittheilungen eben}o viele 

olchſtiche verjegte. Clelia fiel weder in Ohnmacht noch weinte jie 
laut, ri als jie ihr Glück jo in Ruinen zerbrödeln jah, fam ne das 
unbeftimmte Gefühl, daß fie das nicht jo ruhig hinnehmen werde, 

Da erjcholl die mn an der Thür, das Hausmädchen gr fie 
zu Öffnen und kam fogleich faſt verwirrt zurück mit der Meldung: 
„Eine Dame!“ 

„Sch hoffe nicht zu jehr zu jtören“, jagte Mrs. Walford Tächelnd, 
während jie ſich vor beiden verbindlich verneigte, aber vorzüglich 
Elelia einen freundlichen Blick zuwarf. Das Mädchen hatte ſich er: 


374 Kapitän Sieramoscas Berlegenheiten. 


hoben und jtand jteif wie eine Statue; fie wußte ja recht gut, wer 
die Fremde war. 

Signora Maria, die gar nicht in der Laune war, Gäjte zu empfan— 
gen, fühlte fi im Innern empört, jie bemeifterte jich jedoch und es 
gelang ihr, jich erträglich in die peinliche Situation zu finden. Statt 
der widerwärtigen engliichen Begrüßung „womit kann ich dienen?“ 
verjicherte fie, erfreut zu fein, die Fremde zu ſehen, als habe fie dieje 
ſchon von jeher gekannt. 

„Ich komme zu Ihnen“, fagte die Witte, „weil ich gehört habe, 
dab Sie im Beſitz foftbarer Spigen wären, die Sie, wenn Sie dafür 
Liebhaber finden, vielleicht us würden. Don Giacomo bat mir 
das mitgetheilt. Bin ich recht berichtet?“ 

„Gewiß“, antwortete die Signora, „wenigjtens in jo weit, als ic) 
bis vor furzem willens war, die Spiten zu verfaufen; jet habe id) 
fie meiner Tochter zugedacht, welche ſich verheiraten wird.“ 

‚Wirklich?“ wendete Mrs. Walford ſich an Clelia. „Wird die 
Signorina ſich bald vermälen?“ 

Statt dieſe Frage zu beantworten, jtellte das junge Mädchen mit 
wachsbleichen Lippen und zitternd aber vollfommen gefaßt die andere 
Frage: „Kennen Sie wohl den Kapitän Fieramosca?“ 

„Madonna mia! Was fommt dem Kinde in den Sinn!“ rief ihre 
Mutter heimlich für fich. 

Mrs. Walford erröthete umvillfürlic), zum Theil wegen der 
Miſſion, der jie ji unterzogen, zum Theil wohl auch wegen der Er- 
vegung, welche Clelia verrieth. 

„sa“, antwortete ſie, ch fenne Kapitän Fieramosca Id: gut. 
Haben — haben Sie mir vielleicht etwas an ihn aufzutragen?“ 

Dieſe Röthe und das zügernde ihrer Sprache jagten Clelia ge: 
nug; fie wußte nun, daß Don Giacomo die Wahrheit gejprochen. 

„Sie künnen ihm gelegentlich mittheilen, daß ich mid) in kürzeſter 
Zeit und mit meiner vollen Zujtimmung verheiraten werde. Sollte 
er an meinen Bruder jchreiben, jo bäte ich, diejen davon zu benach— 
tichtigen.“ Damit drehte fie ſich ſchon um und verließ rajchen Schrit- 
te3 das Zimmer. 

Mrs. Walford war jprad)los vor Verwunderung. 

„Was hat das zu bedeuten?“ fragte fie fich. "Son ic) die eben 
gehörten Worte buchjtäblich nehmen oder enthalten fie eine geheime 
Warnung, die Enrico durd) Fieramosca zugehen joll? Dieje Frage 
beichäftigte fie jo ausjchlieglich, daß fie gar nicht hörte, wie Signora 
Maria —9— in größter Verlegenheit ſtammelte: „Ach, ſolche Mäd— 
chen find manchmal räthſelhaft!“ — „Elelia war gerade ſehr aufge— 
regt“, „ihre bevorjtehende Heirat iſt eine jehr gute“ ıc. xc. Tie 
aus allem aber eine befriedigende Yöjung nicht erkannte, erhob fie ſich 
endlich zu gehen, ohne den zehnten Theil von dem ausgeführt zu 
haben, was ſie ſich vorgenommen hatte. 

Signora Maria ergriff die erjte Gelegenheit ihre Tochter wegen 
ihrer Aeußerung auf die Probe zu Stellen; zu ihrem Erjtaunen erwies 
ſich Clelia janpt wie ein Yamm. Sie wiſſe gar nicht, was ihre Mut- 
ter wolle, erklärte fie, und ſei ja bereit, den Signor Biagio zu jeder 


Kapitän Fieramoscas Berlegenheiten. 375 


Stunde, wenn gewünjcht würde, die Hand zu reichen. Was verlange 
man von ihr noch mehr? 

Diejelbe jteinerne Ruhe bewahrte fie auch weiter, während der 
Bräutigam von jeinem Glück benachrichtigt und alles zur Beſchleuni— 
gung der — vorbereitet wurde. 

Signora Maria konnte kaum an dieſe unerwartet günſtige Wen— 
dung glauben, ſie ſtrahlte aber vor Freude; und was ihrem Glück 
die Krone aufſetzte, war ein Brief Enricos mit der Nachricht, daß * 
ſchon auf dem Marſche befindliches Ye Gegenbefehl erhalten 


„sm Fall er nun morgen ankommt, fann der Ehefontraft am 
nächjtfolgenden Tage unterzeichnet werden und die Hochzeit am darauf: 
folgenden Tage ftattfinden“, jagte die Mutter. 

„any wie es Euch beliebt“, erwiderte Clelia ger — 

Als Enrico eintraf, veränderte ſich ſein —38— Geſicht nicht 
ei bei der Mittheilung, daß er gerade noch rechtzeitig zur Hoc): 
zeit komme. 

„ber Glelia, was hat das zu bedeuten? Biſt Du wirklich ent: 
jchlojjen den alten — jenen Biagio zu heiraten?“ 

„Wie Du jiehit, ja“, bejtätigte das Mädchen. 

Der Bruder legte zärtlich die Hand auf ihre Schulter. 

„Iſt das auc Dein eigener innerjter Wunſch, mein Herz? Sprid) 
offen zu mir, ehe es zu jpat iſt.“ 

Seine warme Theilnahme, jeine liebevollen Worte drängten ihr 
die —— in die Augen. In der gegenwärtigen Lage erſchien ihr 
ein Märtyrerthum 2 als eine Art Erleichterung und fie machte 
ſich ein graujames — daraus, den eignen Schmerz nur noch 
zu vergrößern. Mit abgewandtem Kopfe wiederholte ſie: Ich ſagte 

ir, daß ich im Begriff ſtehe, ihn zu heiraten. Kannſt Du damit 
nicht zufrieden ſein?“ 
. Wenn man Dich ſieht und Hört, Enrico, könnte einer denken, ich 
wollte das Kind zwingen“, bemerkte die Mutter vorwurfsvoll. Und 
ſeine Aufmerkſamkeit abzulenken, und deren ausgeſprochenen Entſchluß 
noch einmal zu ſtärken, fügte ſie hinzu: „Unſer Fieramosca wird 
eine reiche Engländerin heiraten, welche übrigens hier gegenüberwohnt.“ 
Sie wies hierbei nach dem par mit den Afazien. 

„Der Schändlihe! Und davon hat er mir nie etwas gejagt!“ 
rief Enrico ungläubig lachend. „Wer ıjt fie? Wie heiht fie?“ 

„Balfora ... VBalfona ... Glaubt Du, ich wäre imjtande ihren 
Namen auszusprechen? Kannſt Du’s vielleicht, Tereja?“ 

Tante Tereja vermochte das ebenjowenig, jagte aber: „Enrico 
muß ihn doch wohl kennen, denn nad) Don Giacomos Ausjage muß 
die Gejchichte jchon lange jpielen und die Dame iſt Schwägerin des 
Dberiten Fieramoscas.“ 

„0! rief Enrico und jprang auf die Füße, daß die ganze Stube 
zitterte. 

„Bei alle en! Biſt Du von Sinnen?“ rief feine Mutter. 

„Was jagit Du, Tante Tereſa? Cag’s noch einmal — verhehle 


376 Kapitän Fierramoscas Berlegenheiten. 


mir nichts! Schnell!“ fuhr der junge Mann fort, der alle Faſſung 
verloren zu haben jchien. 

Tereſa fam jeinem Wunfche, jo weit fie es vor Schred Eonnte, 
nach; dann fragte jie fajt jchüchtern: „Was fann das alles aber Dich) 
berühren?“ 

„Deich berühren?” antwortete Enrico. „DO, nicht im mindejten; 
im Gegentheil, ich bin jehr erfreut darüber, nur verwundert, das läßt 
ſich wohl begreifen.“ Und damit jchritt er in dem engen Zimmer auf 
und ab in einer ee die, wenn jie nur jeiner VBerwunderung ent— 
Ihrang, wenigitens für die Energie derjelben glänzendes Zeugniß 
ablegte. 

Clelia konnte es nicht länger ertragen. Alle dieje ragen, dieje 
Erregung fielen auf die offenen Wunden ihres Schmerzes wie ebenjo 
viele Tropfen Bitriol. Unbemerkt, wenigjtens unangerufen von ihrem 
Bruder erhob fie ſich und jchlich hinaus, um in der Einjamfeit und 
Stille einigen Trojt zu juchen. 

Kaum war diefelbe verichwunden, als Tante Tereſa — mit jener, 
beſchränkten Geijtern jo oft anhangenden Sucht, Del in die Flamme 
u gießen, ohne daß jte es mit Ueberlegung thun — bemerkte: „Mir 
Üpehnt, Fieramosca fann nicht eben ein junger Mann von guten 
Grundſätzen jein.“ 

„Barum nicht?“ fragte Enrico, der jich über den Schnurrbart 
jtrich und verjtört ins Weite jtarrte. 

z „Run, er jteht jelbjt im Begriffe zu heiraten und weiß auch von 
SIelia .. .* 

„Was jollte er wijjen und von wen?“ unterbrad) jie Signora 
Maria verdadhtichöpfend. 

„Natürlich wird ihm Enrico davon gejprochen haben“, erwiderte 
Tereja ohne Zögern und br dann fort: „Es iſt jchon jo, wie ic) 
jagte, und doc) hät er ſich nicht, trogdem Clelia heimlich den Hof 
u machen.” 

e ‚Was willit Du damit jagen?“ fuhr Enrico a 

Mit weniger Ausſchmückung erzählte ihm Tereja nun von dem 
Blumengejchent zum Geburtstage und berichtete den etwas Leidenjchaft- 
lichen Gruß, der dajjelbe begleitet hatte. 

„Er wagte es, uns in jolcher Weife zu beleidigen!“ rief der Lieu— 
tenant, und bevor die durch jeine Heftigkeit erfchreitte Mutter ein 
bejänftigendes Wort einlegen konnte, polterte er wie ein Zug Artillerie 
ichon die Treppen hinunter. cr 

Auf der Straße angelangt, begann er doch ſich die Sache zu 
überlegen. Vielleicht beruhten Don Giacomos Meldungen troß allem 
nur auf einem Irrthume. Fieramosca hatte ihm ſtets gejchrieben, daß 
er Elelia liebe, und nur dieje allein; eigentlich hatten in ja nur dieje 
Briefe des Freundes veranlaßt, jet nad) Venedig zu kommen. An— 
dererjeit3 war dem bejahrten Gerftlichen nicht zuzutrauen, daß jeine 
Mittheilungen rein erfunden jeien, und wenn nur eine derjelben auf 
Wahrheit beruhte, was ſonſt als Liebe hätte Fieramosca ſo an 
Mrs. Walford feſſeln können? Die Anſicht, daß irgend jemand fünf 
Minuten lang mit diefer Dame umgehen könne, ohne fie mindejtens 
bewundern zu lernen, fonnte bet dem unglüdlichen Träumer feinen 


Kapitän Fieramoscas Berlegenheiten. 377 


Eingang finden. Den peinlichjten Gedanken. in ermüdender Wieder: 
holung nachhängend, jchritt er vor den Fenſtern der Wittwe auf und 
ab, immer mit dem Verlangen, zu ihr hinauf zu gehen, während er 
das doch aus gewiljen anderen Gründen nicht wagte Da... wer 
trat jebt aus dem, ihn jo jehr interefjirenden Haufe? Wahrhaftig — 
Fieramosca! Und um es noch jchlimmer zu machen, — gleich- 
jeitig Mrs. Walford auf dem Balkon ihrer Wohnung. Der Kapitän 
lite zu ihr hinauf, jie zu ihm herunter; beide wechjelten ein Lächeln 
und winften jich mit der Hand. „Heut! Abend aljo!* rief Mrs. Wal- 
ford noc) halblaut herunter und verſchwand — verſchwand ohne den 
anderen jungen Dann zu jehen, der jetzt mit erbleichtem Gejicht und 
flammenden Augen dem verwunderten Fieramosea entgegentrat. 

„Enrico!“ rief der letztere und wollte nach tale Sitte den 
Freund umarmen. Enrico jtand aber jtill wie jein Commendatore 
und erjchten durch ein nichts gutes bedeutendes Kopfniden dieſer Per: 
jönlichfett nur noch ähnlicher. | 

„sa, der bin ıch!” antwortete er mit faum unterdrüdter Wuth. 

„Kerr des Himmels!“ rief Fieramosca. „Was ijt geichehen? 
— Du ſo erſchreckend aus? Iſt Deine Schweſter etwa 
erkrankt?“ 

„Du wirſt mich verbinden, dieſer nicht zu erwähnen“, erwiderte 
der andere, „und wenn's Dich nach weiterer Aufklärung verlangt, jo 
lat mic) ausjprechen, daß ich Dich für einen — Elenden halte. Natür— 
lich bin ich zu jeder Satisfaktion für meine Offenheit gern bereit, 
Doc) nicht cher als nach drei Tagen, wenn ein bevorjtehendes Fami— 
lienereigniß, das meine Gegenwart fordert, vorüber ijt.“ 

Mit dem ceremoniellen Gruße eines Untergeordneten gegen jeinen 
Vorgejegten, drehte fich Enrico auf der Stelle um und ging davon, 
während Fieramosca jtarr vor Erjtaunen umd erregt über die erlittene 
Beihimpfung ihm nachſah. 


Am folgenden Abend veranjtaltete Signora Maria für Signor 
Biagio und die weiteren Zeugen vor Vollziehung des Ehefontraftes 
ein fleines Souper. Beſonders lebhaft ging's dabei freilich nicht zu, 
wenn aud) der Bräutigam in hoffnungsrofiger Stimmung war. Clelia 
erichten bleich) wie ein Gejpenit und verhielt jich jtumm; Enrico war 
jehr nachdenflich, die zen Maria voll banger Ahnung. Auch 
Tereja und Giuſtina überliegen ſich einer Art zuricdblidender Melan— 
cholie, denn die Erjcheinung ihrer Nichte unter diejen Umjtänden und 
deren fejtliche Kleidung erinnerten jie an unerfüllte Träume aus der 
verjchwundenen Jugendzeit. j 
Signor Biagio ließ fich deßhalb aber durch nichts jtören, und 
als nad) Unterzeichnung des Kontrakts ſich alle herandrängten, ihre 
Glückwünſche darzubringen, da ging er jogar ſoweit, die Kleine bleiche 
Braut auf die Stine füfjen zu wollen. Zu jeinem größten Mißver— 
nügen wie zum Erſtaunen aller wehrte fie ihn mit einem Ausruf der 
Entrüftung von ich ab. 

„Diavolo!* jagte Signor Biagio in größter — 

„Sie iſt nervös!” meinte ein Zeuge, der zwiſchen Willfährigkeit 
und Mitleid ſchwankte, bejchwichtigend. 


Der Ealen 1887. Heft X. Band IL 236 


378 Kapitän Fieramoscas Berlegenheiten. 


Signora Maria jah ihre Tochter zürmend an, hatte aber den 
Takt zu jchweigen. Signora Giuſtina konnte ſich freilich nicht jo 
jehr bemeistern. Der Anblid des Widerjtrebens ihrer Nichte machte 
fie etwas biffig, und fie jagte jtreng: „Set doch fein Kind!“ Damit 
drängte ſie Glelia wieder vorwärts, um fie zu Auingen. ſich die ihr 
widerwärtige Liebfojung gefallen zu lajjen. Mit Leidenjchaftlicher 
Erregung und einem eritidten Seufzer, der aber noch) deutlicher jprach 
als der frühere Aufjchrei, wand ſich das arme Kind los, jtürzte in 
das Nebenzimmer und jchloß die Thür gegen ihre Peiniger ab. 

Ebendahin begab ſich durch einen andern Eingang auch fchon 
Eignora Maria und machte ihrer Tochter ernite Vorwürfe. 

„Laß mich gehen“, ſchluchzte Clelia, die ſich in der Dunkelheit 
auf dem Sopha jchmerzlich wand, „la mir nur eine Zeit lang Ruhe 
und ich will dann thun, was Ihr wünjcht.“ 

„Komm, lab fie, Mutter“, rief Enrico befehleriich von der 
Thür aus, 

„Und Signor Biagio?" entgegnete verwirrt die Frau, welche die 

ände rang, weil fie ſich theils um ihrer jelbit, teils, jeßt wo ihre 
Hoffnungen der Erfüllung jo nahe waren, um ihres Kindes willen 
als eine Beute der Verzweiflung fühlte. 

„Denn Du nod ein Wort über den alten erbärmlichen Thoren 
Iprichit, verjichere ich Dir, daß ich ihn durchs Fenster in den Kanal 
werfe“, erwiderte Enrico ärgerlid) und zog jeine Mutter mit Gewalt 
mit jich fort. 

Sid) jelbjt überlaffen und durch ihr Frampfhaftes Schluchzen 
endlich etwas beruhigt, erhob jich Clelia und begann nun erjt über 
se Lage nachzudenken. Wenn jie jich jtandhaft weigerte, den alten 
Nechtsanwalt zu heiraten, welches Leben würde fie dann zu Haufe 
führen? Und wenn ſie ihm die Hand reichte, was wiirde dann aus 
ihrem Glüd werden? Wie als Antwort vernahm fie das aus dem 
Nebenzimmer, jeine widerliche Stimme, die ihr nur neuen Abjcheu ein- 
flößte. Sie fonnte es nicht ertragen und wollte entfliehen. Sie er- 
innerte ſich eines unfernen Kloſters, wo fie für die Nacht Schuß und 
Zuflucht finden konnte, Signor Biagto würde fie nach einem jolchen 
Schritte, den er nicht mißverſtehen fonnte, nicht rd heiraten wollen, 
und im Fall ihre Mutter fich nicht darüber zufrie 
entjchlojjen, überhaupt Nonne zu werden. 

Schnell fuchte jie nach) einem Shawl, fand einen folchen, verhüllte 
ſich den Kopf und jchlüpfte geräufchlos aus dem Zimmer. Mit der 
Vorsicht, die Thür zu verjchliegen und den Schlüfjel zu m u ſtecken, 
um wenigjtens eine Zeit lang die Meinung zu erhalten, daß fie ſich 
eingeriegelt habe, jchlich fie wie ein Geift die Treppen hinunter und 
jah bald die jchweigjamen Sterne über ihrem Haupte funfeln. 

Es war noch nicht jpät am Abend; in Venedig find die Straßen 
aber jchon zeitig ziemlich verlaſſen, und Clelia, die gleich einem Schat- 
ten dahineilte, erwedte kaum die Aufmerkſamkeit der wenigen Vorüber- 
gehenden. Zuletzt jtarrte fie doch ein Mann etwas neugierig an, und 
um diejem zu entgehen, ſtieg fie die Stufen einer Heinen Brüde hin- 
auf. Hier rajtete jie in der willfommenen Dunfelheit der benachbarten 
Häufer, denn eben Hatte fie jich zu nicht geringem Schreden erinnert, 


en gäbe, war jie 


Kapitän Sieramoscas Berlegenheiten. 379 


daß ihr der Weg nach jenem Kloſter doch nicht genau befannt war. 
Sich in das Labyrinth der Gaſſen Venedigs auf gut Glüd hin zu 
wagen, war nicht eben leicht, und Geld, um eine Gondel zu miethen, 
bejaß fie nicht. So jtand fie unentſchloſſen da, fühlte jchon eine Art 
Reaktion nad) der vorherge — Aufregung und dankte Gott wenig— 
ſtens für die geheimnißvolle Ruhe der venetianiſchen Nacht. 

Unter ihr floß geräuſchlos das Waſſer hin, dunkel unter den 
Brücken und kaum heller, wo ſich die Sterne darin ſpiegelten; nur 
dann und wann leuchtete der Schein einer Bootslaterne darüber hin. 
Eine jchattenhafte Gejtalt überjchritt die Brüde in entgegengejegter 
Richtung und tauchte eigentlich nur aus dem Düſter der nahen engen 
ealle auf, um ebenjo jchmell wieder zu verjchwinden. Clelias Augen 
füllten jich mit Thränen, während jie den Kopf auf die gefreuzten 
Arme ſinken ließ, es waren aber Thränen der Dankbarkeit für die 
dürftige Wohlthat der Einſamkeit und Freiheit. Plötzlich richtete fie 
fi) bei dem Schalle ihr bekannt erjcheinender Laute empor. Gejpen- 
—38* und unhörbar glitt eine Gondel unter einer Brücke, auf der 
ſie ſtand, dahin. Drei, nur ſchwach ſichtbare Perſonen befanden 
darin, und zwei derſelben, ein Herr und eine Dame, waren im Ge— 
ſpräch mit einander. Gerade da — als hätte es das Schickſal beſon— 
ders gewollt — mußte es dem Herrn einfallen, eine Cigarre anzu— 
zünden. Die kleine Flamme des Streichhölzchens ſchien zuerſt auf die 
goldenen Epaulettes und dann auf das ſchöne Geſicht — Fieramos— 
cas. Er warf das Hölzchen zwar ſchnell weg; die eiferſüchtigen Augen 
der armen jungen Beobachterin hatten aber doch ſchon in der graziö⸗ 
ſen Dame an —— Seite die Mrs. Walford erkannt, und als bedürfe 
es noch weiterer Beſtätigung hörte Clelia die beiden gar von — ihr 
ſelbſt ſprechen! Vielleicht — dachte ſie mit der thoͤrichten Selbſt— 
quälerei der Liebe — wurde ſie von ihnen verſpottet und verlacht, 
und ſtill und mechaniſch ging ſie die Stufen wieder hinunter, ae 
zu wifjen, wohin ſie jich wenden jollte, nur gehorjam dem Triebe des 
unbezwinglichen Schmerzes in ihrer Bruft. Plötzlich hemmte fie die 
Schritte bei der Wahrnehmung, daß fie fic wieder ganz in der Nähe 
der eignen Wohnung befand. Gedrängt von der Angſt, entdedt und 
verfolgt zu werden, flüchtete jie in den Kreuzgang eines verlafjenen 
Augustinerflofters, das nur noch zum Theil als Gaferne benußt wurde. 
Hier führten durch ein niedriges rundes Thor marmorne Stufen hin— 
unter nach dem Wajjer. Nach diefen Stufen wendete jich, ihrer Sinne 
faum mächtig, die arme Clelia. 

Sie beugte ſich hinaus, blidte den Kanal hinauf und hinab — 
feine Gondel war jichtbar. Zwei oder drei Perſonen gingen über 
ihr, längs des Campo Sant’ Angelo vorüber. Ste wartete bis dieſe 
verjchwanden, bis der Yaut ihrer Stimmen und ihr jorglojes Geläd)- 
ter verflungen waren. Noch einen Augenblid zögerte fie, weil aus 
der Tiefe ıhres ſchmerzlich gequälten Serzens ein heißes Gebet um 
Verzeihung und Gnade emporquoll. Dann jtieg fie, zitternd aber ent: 
ichloffen, zur unteriten Stufe hinab, preite die Hände über die bren: 
nenden Augen und jtürzte jich in die jchweigende Flut. 

„Was war das?“ rief erichredt ein Offizier, der allein in einer 
eben in Sicht fommenden Gondel jah. 

26* 


380 Kapitän Fieramoscas Berlegenheiten. 


Die Gondoliere waren gleich der Anficht, e8 ſei ein Weib in den 
Kanal gefallen. 

„Der Strömung nach muß fie da unten wieder auftauchen. Um 
des Himmels willen, eilt, eilt!” rief der junge Mann ſchon den Waffen: 
rock ablegend; und als Clelias jchlanfe Geitalt und helles Haar kaum 
wieder jichtbar wurden, jprang er ins Wajjer und erfaßte jene, nach— 
* er ein paar Mal kräftig ausgeſtrichen, an der kleinen, zuckenden 

and. 
Was fie dabei gefühlt, konnte ſie ſpäter nimmer ſagen; bei allem 
Summer und allen Freuden des Tpäteren Lebens ftand davon nur 
ein Moment in unverblichener Lebhaftigfeit vor ihren Augen, der 
nämlich, als fie beim Scheine einer Laterne von ihrem Lager auf dem 
Boden der Gondel aufblidte und den verwunderten, Liebeglühenden 
Augen des veriteinerten Fieramosca begegnete. 

Er brachte fie zu Mrs. Walford, welche, nachdem fie ſich an ihrer 
Thür faum vor einer Viertelftunde von ihm verabjchiedet, ganz un— 
vorbereitet war ihn nod) dazu triefend von Waſſer und ein zitterndes 
halbes Kind in den Armen tragend, wiederzujchen. Es erichien ihr, 
wie fie jpäter äußerte, ganz jo, als habe er den Waflerniren einen 
zufälligen Beſuch abgeitattet und eine von diejen als Gefangene ent— 
führt. Sie nahın jedoch die bereuende, bebende und doch wunderbar 
getröftete Clelia mit größter Freundlichkeit auf, brachte fie zu Bett, 
flüfterte ihr noc) einige Worte ins Chr und jeßte je dann, die 
Farbe etwas wechjelnd, nieder, um an Enrico zu jchreiben. 

Ohne in Einzelheiten einzugehen oder gar des verjuchten Selbit- 
mordes zu erwähnen, theilte ſie ihm mit, daß jeine Schweiter, feſt ent- 
ichlojjen, den Signor Biagio nicht zu heiraten, fich in ihrem Haufe 
befinde und dajelbjt bleiben wolle, bis eine endgiltige Entſcheidung 
— ihrer Lage gefällt ſei. Daneben erſuchte ſie den Signor 
Enrico Renier höflich, ſie zeitig am folgenden Morgen, und womöglich 
allein, zu beſuchen. 

Das kleine Billet erreichte ſeine Beſtimmung in kürzeſter Zeit. 
Signor Biagio war, erzürnt über Clelias beleidigende Fernhaltung, 
ſchon davongegangen und Signora Maria zurückgekehrt, um vergeblich 
an die verſchloſſenen Thüren zu donnern. 

„Nein, ein jo eigenſinniges, undankbares, dickköpfiges Ding“, pol— 
terte ſie eben hervor, als Enrico, auffällig blaß ausſehend, einen ihm 
eben überbrachten Brief zuſammenfaltete und ſie unterbrach mit den 
Worten: 

„Es iſt nutzlos, Mutter, nach Clelia zu rufen. Sie hat ſich un— 
ſerer Obhut entzogen und bei Mrs. Walford 3 geſucht.“ 

Seine Mutter brauchte einige Minuten, die Bedeutung ſeiner 
Worte völlig zu begreifen. Als dieſe ihr klar wurde, ſank fie in dem 
nächſten Stuhle zujammen und jtarrte ihn jprachlos an. Auch Gius 
jtina und Tereja gaben durch ihre Gejten den jtärkiten Mißmuth zu 
erfennen. Das dauerte fort, bis alle die Herrichaft über ihre Zungen 
wiederfanden und ſich nun im maßlojejten Tadel ergingen. Mrs. Wal: 
ford befam natürlich ihr gehöriges Theil, bis Enrico, wie aus dem 
— erwachend, kurz ſagte: 

„Wir haben dafür niemand zu danken als ung ſelbſt. Das arme 


Kapitän Fieramoscas Berlegenheiten. 381 


Kind it Durch finnloje Verfolgung weggetrieben worden und hat fic) 
gewiß glücklich geichäßt, eine SE Vembde mit mehr Einficht und Wohl- 
wollen, als ihrer Familie von Natur zutheil wurde, gefunden zu 


haben.“ 

AL Mrs. Walford am folgenden Morgen fichtlic) erregt in ihrem 
Salon auf und abging, hatte fie nicht viele Minuten über die be= 
ftimmte Stunde zu warten, bis die Thür geöffnet wurde und Enrico . 
etwas verjtört eintrat. Mit bedeutjamem Ernite fam er einige Schritte 
näher und verneigte jich mit ſteifer Förmlichkeit. Mrs. Walford ließ 
die Schon ausgeftredte, zitternde fleine Hand wieder niederjinfen, ihre 
Lippen jtammelten etwas für jich hin, jie bot ihm aber höflich einen 
— J Er legte zwar die Hand auf deſſen Lehne, ſetzte ſich aber 
nicht nieder. 

Die ſich unverkennbar herausgefordert fühlende junge Wittwe 
theilte ihm nun Clelias Selbſtmordverſuch weit ſchneller, als ſie es 
eigentlich beabſichtigt, mit. 

„Jetzt können Sie Ihre Schweſter nicht ſehen; ſie ſchläft noch“, 
fügte ſie hinzu, als Enrico erſchrocken und verwirrt nach der Thür 
des Zimmers eilte, in dem Clelia jich befinden jolltee „Sobald fie 
ſich hinlänglich erholt hat, werde ich nad) Ihnen jenden; aber Sie 
müſſen entweder ohne Ihre Mutter kommen oder dieje in verjühnlicher 
Stimmung mitbringen. Die Sitten Italiens find mir noch immer 
etwas fremd; wir in England aber würden fein genügend hartes 
Wort gefunden haben zur Bezeichnung der Art und Beife in welcher 
Ihre bedauernswerthe Schweiter behandelt worden tjt.“ 

Pe Mrs. Walford durch dieſen auch ihren Gaſt treffenden 
Tadel gehofft, diejen zum Sprechen von ſich ſelbſt zu bewegen, jo 
täufchte jie jic) jehr. Enrico erklärte nur jehr kalt, daß er ganz der- 
jelben Meinung jei und die — Verehelichung mit Signor Bia- 
gi als abgethan betrachte; übrigens werde er nichts unterlajjen, feine 

utter zu beruhigen und auszujöhnen. Außerdem bleibe ihm nichts 
übrig, als der Signora für die bewiejene Freundlichkeit zu danken 
und ihre Erlaubniß, jeine Schweiter zu jehen und zu ſprechen, abzu= 
warten.“ 

„Sie wollen aljo gehen?“ rief da die Wittwe im Tone naiviter 
Enttäujchung. „Früher, Signor Renier, hatten Sie das nicht fo eilig.“ 

„rüber lagen die Verhältnifje anders“, lautete die räthjelhafte 
Antwort, die er mit — Ausdrucke gab. 

‚Laſſen Sie uns einen Augenblick auf dieſe frühere Zeit zurück— 
fommen“, jagte fie, mehr und mehr erbleichend. „Sie baten einjt um 
meine Hand, und ich jchlug Ihnen diefe nur aus dem Grunde ab, weil 
jonjt nach dem Tejtament meines verjtorbenen Gatten jeder Pfennig, den 
ich bejaß, verloren gegangen, eine Verbindung zwijchen uns dann aber 
nur — Entbehrung gewejen wäre.“ 

Enrico verbeugte ſich zuſtimmend. 

„Wir jchieden damals von einander, doch mit gegenfeitiger Be— 
dingung. Entjinnen Ste ſich wohl derjelben ?“ 

„Gewig“, jagte er, jeine Erregung mühjam verbergend; „wir ver: 
ſprachen einander Treue zu bewahren und einer dem andern mitzu= 
theilen, wenn ſich die Verhältnifje eines von uns jemals änderten.“ 


382 Kapitän Fieramoscas Berlegenheiten. 


„Nun?“ ſagte Mrs. Walford, die heftig zu zittern begann. 

Enrico, der immer mehr den ſtolzen Hidalgo jpielte, erklärte, er 
wiffe recht gut, daß und wie ihre Berhältniffe ſich geändert hätten. 

„Sa wohl“, bejtätigte fie, „ich bin jet reicher als früher.“ 

Er erbebte, als ob jedes Wort ein Dolchitich gewejen wäre. 
Diefe Neuigkeit chien ihn — und zwar nicht angenehm — zu über: 


raſchen. 

„Mein alter Onkel iſt geſtorben“, fuhr Mrs. Walford fort, „und 
ende mir ein ebenjo großes Vermögen wie das, welches ich durch 

erheiratung zu verlieren hatte.“ 

Sie brad) gb Worte mit einem leifen Seufzer ab und jah ihn, 
mit Thränen ın den Mugen, lächelnd an. 

„War das der Grund, wehhalb Sie gejtern nach mir ſchickten?“ 
fragte er, jedes Wort Silbe für Silbe ſich abquälend. 

mo Theil“, antwortete fie, in liebliher Scham erröthend. „Es 
liegt aber nod) etwas vor, was ich gern mit anbringen würde, wenn 
Sie mir — dazu helfen wollen.“ 

„Shre Abſicht, ji zu vermälen?“ jagte Enrico jteinern. 

Sie gab feine Antwort, jondern wendete nur den Kopf ab. 

„Sc bringe Ihnen meine beiten Wünjche, Madame“, fagte der 
Dffizier und feste mit gedämpfter Stimme hinzu: „und ic) Hof, Sie 
werden fich itets glücklich fühlen.“ 

Mrs. Walford itarrte ihn mit unverhohlener Berwunderung an. 

„Was in aller Welt wollen Sie damit jagen?“ 

„Sch dächte, meine Worte ließen an Klarheit nichts zu wünſchen 
Ft antwortete Enrico bitter. „Sie konnten früheres vergeſſen, und 
ich, der ich nicht jo glüdlich bin, Liebe Sie doc) noc) zu warm, um 
Shnen Vorwürfe zu machen.“ 

„Wie“, rief fie dagegen dringend, „wen glauben Sie den, den ich 
heiraten jollte?“ 

„Ben? Nun, — 

„Fieramosca! Ihren Freund, meinen Sie? Ih — ich glaubte, 
Sie wühten es beſſer — Sie Thörichter!“ rief fie. nn lagerte fich 
eine reizende alte des Unmuths auf ihre Stirn und die feſtgeſchloſſe— 
nen, erichrotten Lippen deuteten an, dab fie über diejes —8— ein 
weiteres Wort ſprechen wollte. 

Während der Zeit zwiſchen zwei Herzſchlägen ſtand Enrico ſchwei— 

— da, ganz ſchwindelig von dem berauſchenden Blicke auf die 
Zukunft. 
Su „O, dann vergeben Sie mir!“ rief er und ſchloß fie jo zärtlich 
und ſtürmiſch in jeine Arme, daß ihr jchon feine andere Wahl blieb, als 
ihr — erröthendes, liebreizendes Geſicht an ſeiner Schulter 
zu bergen. 

In dieſer intereſſanten Haltung wurden ſie von 
ieramosca ſelbſt überraſcht, der bei ſeiner ängſtlichen Sorge um 
SIelia wie eine Bombe in den Salon eindrang. Er war, wie ſich 
leicht denken läßt, nicht wenig erjtaunt und benahm fich auch, als ihm 
der Zujammenhang mitgetheilt worden war, in Erinnerung an jein 
letztes jeindliches Slate: mit Enrico, nicht jo Freunbfchaftlich 
wie ehedem. 


Kapitän FSieramoscas Berlegenheiten. 383 


Der Lieutenant gedachte bald jeines verlegenden Auftretens gegen 
ihn und bat ihn freimüthig um Entjchuldigung, während Mrs. Wal- 
ford, die jchon ein Hinter der Scene lauerndes Duell ahnte, durch 
einen Schredensjchrei jeinen Worten Nachdrud verlieh. 

„Es iſt wohl leicht genug gejagt „verzeihe!”, erwiderte Fieramosca, 
der um der Ehre willen noch zu zürnen verjuchte, „aber ſag mir auch, 
wie kamſt Du auf jenen lächerlichen Gedanken, da meine Briefe Dich 
doch hinlänglich unterrichtet haben mußten?“ 

a kam's denn an den — daß bei dem Hin- und Hermar— 
ſchiren Enricos die letzten Briefe des Freundes ihn gar nicht erreicht 
hatten, ein Umſtand, der Fieramosca natürlich ſchnell wegen des Miß— 
verſtändniſſes beſchwichtigte, ſo daß er, als Clelia endlich erwachte, 
deren Bruder verſöhnt in die Arme ſchloß. 

Auf Enricos Mittheilungen gegen ſeine Mutter zeigte ſich dieſe 
zuerſt erſchrocken, dann höchſt — und erklärte —2 Clelia 
müſſe trotz alledem den Signor Biagio heiraten. Als Enrico dagegen 
aber einwendete, daß er in dieſem Falle auch Mrs. Walford nicht als 
Gattin heimführen könne, da dieje gelobt habe, feinen andern als 
Fieramosca zum Schwager haben zu wollen, da ſtrich Signora Maria 
unverzüglich die Flagge. 

us vollem en verzieh ſie inde niemals ihrer Tochter, welche 
infolge dejjen den größten Theil ihrer Zeit bei Mrs. Walford zu- 
brachte. In dem verfeinernden und anregenden Umgange mit dieler 
Dame entwidelte jie jic) dann dem Geijte und Charakter nach deito 
ſchöner und vollfommener, wodurch Fieramosca mit jedem Tage mehr 
an jie gebannt wurde, bis ein glücliches Ehebündniß den Leiden und 
Prüfungen des jchönen tapfern Kriegsmannes ein Ende jeßte. 


* 





—— — EZ BEE mn ED En ODE LENZ ET EEE TE a —— — 





Zrankreid im FTichte feiner Literatur. 
Kritiiche Ejjays von Charles Fuiter. 
Autoriſirte Ueberjegung von Ewald Paul. 







II. 
— JZules Vallès. 
sh, ules Valles, der Aufrührer, iſt einer der ſeltſamſten 
— und perſönlichſten literariſchen Typen geweſen, die man 
MN) el bisher beobachten konnte. Er hat im modernen Roman 
IF eine Idee gefunden, eine Betrachtung der Menſchen 
FF und Dinge, die ihm allein eigen iſt. Balzac und Flau— 
fe bert, — der erjte vor allem in jeiner Come&die humaine, 


ouvard & Pecuchet, — Balzac und Flaubert haben 

das einfältige Leben, das Leben ohne Ausdrud, das eintönige und 

läftige Leben vor Augen gehabt. Hola und die Naturalijten jahen 

das traurige, ſchmutzige, latterhafte Leben. Octave Feuillet und jene 

Schule jahen das romanhafte Leben. Paul Bourget jieht das ver- 

bängnißjchwere Leben. Jules Vallès hat injonderheit das unge- 
rechte Leben erblidt. 

Er bat die Bitterfeit jenes Zigeunerthums fennen gelernt, das 
Murger troß feiner blendenden Luſtigkeit halb und halb kennen lernte, 
das er aber nicht malen wollte. Jules Valles, der jpäter nach dem 
— älter gewordenen Paris kam, hat diejes Elend im Frack, das das 
ſchlimmſte unter allen ijt, erduldet. Er ijt mit genug Talenten in 
Berührung —— die im Begriffe waren, fi zu verlieren, mit 
genug Charakteren, die den Weg zu ihrem Untergange pilgerten. Er 
iſt mit den Fleinen großen Politikern des Quartier Latin und den 
kleinen großen Künstlern des Montmartre intim gewejen. Er hat die 
Wuthſchreie und beigenden Spöttereien, die niedrigen Scherze der Ber: 
fommenen, Bejchäftigungslojen, derer mit verfehltem Beruf angehört 
— und er hat davon Aa Ba unheilbaren Melancholie einen ge: 
häſſigen Widerwillen gegen Emporfümmlinge, einen fremdartigen Zorn 
gegen die Städtchen zurücbehalten. Und die Verbummelten jelbit 
haben vor jeinen Augen feine Gnade gefunden: er hat fie lächerlich 
gemacht, indem er jie bedauerte. So erklärt ſich dieſes gallige, über- 


Y der zweite in Madame Bovary, der Education sentimen- 
[: tale und 


Srankreid im Lichte feiner £iteratur. 385 


triebene, verzweifelte Werf, in dem die Sonnenjtrahlen jelten find und 
das eintönig und langweilig wie ein grauer Himmel bleibt. 

Das ungerechte Gehen — das ijt das Leben, welches Balles ge: 
jehen hat. Aus ihm kommen dieje revolutionären Ideen, daher kommt 
dieje Bitterfeit des Ausdruds, diejes kalte und jchlechte Geſpött. Valleès 
hat verlorene Menjchen ein wenig durch das Leben und viel aus ihnen 
jelbjt fennen gelernt. Er hat ıhr Theil der VBerantwortlichfeit an 
diejem langjamen Fallen nicht verjtanden oder nicht veritehen wollen. 
Er hat nur die Graufamfeit des Geſchickes veritanden, die Falſchheit 
der Erziehung, die Lajter und aaa aa einer halb aufge- 
flärten, einer halb intelligenten Stlajje Und das war es, das ihn 
damals bewegte, als er jeinen Bachelier allen denen widmete, „die, mit 
Griechiſch und Latein ernährt, des Hungertodes gejtorben find.“ Eben das 
war es, das ihn veranlafte, die Widerjpenstigen zu verherrlichen und alle 
blutenden Wunden mit mächtiger, aber theatralischer Geberde bloßzulegen. 

Das, was er nicht gejehen hat, iſt, daß das Leben keineswegs 
allein an diejem ndloken Zodesringen jchuld it, welches jo viele Un: 
glüdliche erpadt. Das Leben hat jein Theil Ungerechtigkeit: es beobachtet 
mit verbundenen Augen und es ijt der Zufall, mit dem es das Wenige 
jpendet, welches es überhaupt jpendet. Aber viele diefer Berfommenen 
find freiwillige Opfer und die meiſten diejer Todeskämpfe find Selbit- 
morde. Wieviele unverjtandene Boeten giebt es, die niemals Poeten 
waren und dennoch die Chattertons jpielen! Wieviele Männer der 
Politif, die ihren Freunden in dem Staffeefneipen ein Langes und 
Breites vorreden und Studenten des zehnten Jahrganges jind! Wie— 
viele Pſeudo-Maler, die die Zeit vertändelnd und mit allerlei Ber: 
leumdungen in den Ausjtellungen herumlaufen, ohne den Muth zu 
haben, in ihre Dachfammer zurüdzufchren, die Pinjel zu nehmen und 
auf die Leinwand zu werfen, was jie gerade im Herzen oder vor den 
Augen haben! Sind alle dieje Leute zu beklagen? Zu beflagen, ja, 
aber jelten zu entjchuldigen und niemals zu lobpreiien. Das find 
feine Opfer des Lebens, das find Opfer aus eigener Schuld. Das 
Leben iſt nicht jchändlich ihnen gegenüber, — fie jind vielmehr un- 
dankbar in Anjehung des Lebens. 

Zu Anfang der Refractaires findet ſich eine jehr ſchöne Seite, 
auf der VBalles dieje modernen —— dieſe Armee im Frack, 
dieſe Lumpen in weißer Krawatte mit den —— zu Beginn 
dieſes Jahrhunderts vergleicht, mit den Dorfmenſchen, die den größen 
Metzeleien des —— entflohen, um in der Einſamkeit zu leben, 
verſteckt im Geſtrüpp und Dickicht, in den Thälern oder Gebirgen, 
mit einer Flinte als Gefährten und dem freien Himmel als Wohnung. 
Der Vergleich it großartig, er macht Eindrud, er — — aber 
daß er falſch iſt, läßt ſich bald erkennen! Unſere Widerſpenſtigen 
haben nicht wie dieſe Bauernſöhne das Recht, Widerſpenſtige zu ſein. 
Man verlangt von ihnen nicht, daß ſie zur Schlachtbank gehen und 
ſich einfältig und gleich Wilden tödten: man — von ihnen, daß 
ſie ihre Noll hienteden jpielen, arbeiten wie die übrigen und leiden 
mit der großen Menge. Das Leben iſt fein Feldzug mit Rußland, 
eine ungeheure Schlacht im Sonnenglanz oder bei Nacht: das Leben 
ift überaus eintönig und es handelt fich eben darum, daß man dieje 


386 Frankreich; im Lichte feiner £iteratur. 


Einförmigfeit muthig und ruhig ertrage. Es liegt mehr Größe darin, 
jo zu leben als jich zu erichieken oder ein Feuer anzufachen. 

Und das ift der Grund, warum die Aufrührer von Jules Valles 
nicht groß find. Wieviel größer find zum Beijpiel diejenigen, die Leon 
Gladel vorführt! Das find feine Faullenzer und faden Spötter, nein, 
das find die echten Yandjtreicher, die wirklichen verlorenen Kinder, die 
echten Parias. Dieſe machen feine Phrajen und jchönen Worte, — 
fie mühen ſich und dulden; fie träumen nicht von geheimen Gejell- 
Ichaften, — fie haben, wenn ihnen der en. gekommen jcheint, 
jenen wahnjinnigen Heldenmuth, auf die Barrifaden zu jteigen; ſie 
verichleudern das Leben nicht, — fie verwünjchen es vielleicht, aber 
jie —— es herzhaft dahin. Man möge uns erlauben, daß wir 
den Vergleich all se VBalles und Cladel noch weiter führen. Das 
find zwei gleichermaßen ungejtüme Gejtalten, deren Ungeitüm nur beim 
äußeren Anſehen ſich verichieden zeig. Vallè s — das iſt Jacques 
Bingtras, Junggejell und Flaneur, tar, der fich in jeine Unthätigkeit 
fügt und die Menfchen und Dinge haft, weil er ſich nicht zu der Höhe 
er Menjchen und über die Dinge emporzujchwingen vermochte. Cladel 
andererjeits ijt der ungejchliffene, rohe und bisweilen ger Kämpfer- 
Ompdrailles. Der eine lacht, aber er wird gelb beim Lachen, — der 
andere, roth, jchreit, brauft auf, jtreitet ſich. Walles ijt gallig, Cladel 
nervös. und dieſe Verjchiedenheit der Temperamente macht aus dem 
einen einen alltäglichen Unzufriedenen, ein Lebewejen, das mit dem 
Leben jchmollt, und aus dem anderen einen jtörriichen und mächtigen 
Aufrührer, einen Revolutionär im volliten Sinne des Wortes. Und 
jind dieſe Bauern Cladels, dieje Ausgehungerten der großen Heer— 
ftraßen, dieje alten Soldaten der Republik oder des Kaijerreiches nicht 
ihöner als Balles’ Verbummelte, dieje Ausreiger der banalen Kämpfe 
des Lebens? Und jteht das erbitterte Elend nicht höher als das faullen= 
ende? Iſt das flache und herzzerreigende Dajein Kerkadec's nicht den 
 eöurebneriichen, wohlflingenden Phrajen des „Injurgenten“ vorzus 
ziehen? Injurgenten find beide, Cladel jogut als Valles, aber jener 
iſt es beſſer und tiefer al8 der andere. Der Pulvergerud) zieht durch 
jein Buch und es ijt fait, als höre man die Kugeln pfeifen. Diejes 
Bud iſt wie eine große epijche Vifion, ein Stüd blutigen Bildes, von 
fühner Hand entjchleiert, ein Schmerzensjchrei eines jterbenden Men— 
hen; das Werk von Balles Hingegen ijt nur eine lange traurige 
Poſſe, ein ſchriftlicher Antrag, in dem die Leidenſchaft blind iſt, die 
Spöttereien erkältend wirken, und eine garſtige Ironie das aufrichtige 
— verdeckt. Und wäre nicht die Form, die bewundernswürdig 
bleibt, dieſes Werk von Valles, jo ſolid es auch aufgebaut ijt, wäre 
ſchon längſt zuſammengeſtürzt. 

Aber die Form rettet dieſe paradoxen und troſtloſen Seiten, auf 
denen der Schmerz, durch ein cyniches Lachen erſtickt, uns nicht zu 
bewegen vermag. Die Form derjelben iſt ausgezeichnet, ſtellenweiſe 
nicht abgejchliffen, aber immer —— immer geiſtreich und ſtark bei 
ihrer Einfachheit. Die Phraſen ſind mit außerordentlicher Kunſt je 
vorgebradht: bald Leuchten jie in einer Funkengarbe empor, bald fallen 
jie hart hernieder wie ebenjoviele Hammerjchläge. Die Idee tritt darin 
gänzlich; und allein zu Tage. Niemals Füllwerf, niemals Schwer: 


Frankreich im Lichte feiner Literatur. 387 


fälligfeiten noch Banalitäten: alles ift furz, Elar und fejt. Die Farben 
find blendend, aber mit Gejchmad durch einen vollendeten Kolorijten 
vertheilt. Zuweilen erleuchtet ein Winfel Lujtigfeit die graue Tönung 
und ein herzhaftes Lachen, eine echt altfranzöfiiche Redensart, ein recht 
pridelnder Vergleich jind da, und beruhigen das Herz und die Augen. 
Päufg trifft Jich über Montaigne und etliche Male über Boltaire 
eine Quinteſſenz franzöfiichen Scharfſinns. Der Weg von diejem ein- 
fachen Stil zu Der ——— und auf das Aeußerſte angeſpannten 
Sprache Cladels iſt weit. Cladel ſieht ſeinerſeits zu hoch: dieſer Poet 
in Proſa häuft die ungeheuerlichen und manchmal nicht zuſammen— 
ſtimmenden Worte, die ſchlagenden Epitheta, die Farben, welche ab— 
ſtechen, um zuſammengeſtellt zu ſein; er zieht ſeine Phraſen über alle 
Maßen in die Länge, er vervielfacht die Parentheſen und Interjektionen 
— er hat immer redekünſtleriſche Arbeit. Vallè s im Gegentheil — 
und darin liegt ſein Reiz — —5*— begeiſterte Dinge nüchtern, er 
ſtellt eine klare und freimüthige Sprache in den Dienſt der erſtaun— 
lichſten Paradoxe, er ſcheint, ſo ſehr iſt ſein Stil vollendet, nicht ein— 
mal um Stil ſich gekümmert zu haben. Von dieſem Standpunkte 
allein würden die Refractaires und V’Enfant den Namen Meiſterwerke 
verdienen. 

Der Mann, der unlängjt geitorben, mag eine eigene Schriftiteller- 
ſchule hervorgerufen haben. Seine Arbeit ltegt darın, daß er ſich in 
das troſtloſeſte Zigeunerthum vertiefte, jenes Zigeunerthum, welches 
feine Rudolphs, ſeine Schannard, jeine Colline hat, aber verdummte 
Rudolphs, Schannards ohne Genie und faullenzende Golline. Er 
wird zwar die revolutionäre Literatur begründet haben und feine 
Schöpfung intereffant für die Gelehrten bleiben, aber die Nachwelt 
wird mit ihm jcharf ins Gericht gehen, weil fie gegen feine Helden 
strenge war. Man liebt an den Empörern den Heroismus der Em— 
pörung und nicht die fataliftiiche Unterwerfung der Verbummelten 
ohne Größe. 


III. 
KMarc- Monnier. 


Die wahren Franzofen ſind nicht alle in Frankreich. Franzoſe 
jein, Gallier jein, das heißt Spötter jein ohne Gemeinheit, luſtig ohne 
Narretheien, beigend ohne Grauſamkeit — das bedeutet Geiſt zu haben, 
Geist, der fich leicht giebt, aber unter feiner frivolen Masfe dennoch 
tief ijt, bei feinem ſteptiſchen Neußeren dennoch menschlich empfindet, 
Und dieſer Geift, diefer franzöfijche Geiſt, der die höchite Gabe unjerer 
Raſſe ist, hat jich oft auch auf einer andern Erde als der franzöfiichen 
entfaltet. Heine, das Hamburger Kind, war Franzoſe. Und was 
für ein Franzoſe! Spötter und ın feiner Rede bald hierhin, bald dort— 
hin fpringend, leidenschaftlich jelbjt in jeinen blafirtejten Scherzen, luſtig 
um eim nichts, traurig wegen eines Lächelns, und ſich unter Thränen 
mofirend. Und Marce-Monnier, diejer Italiener zu Genf, der ein 
wenig Südländer und Heide und doch wieder — jo obenhin — von 
hugenotticher Strenge berührt war, ijt einer jener Franzoſen gewejen, 
die am beiten Frankreich lieben und verſtehen lehnen. 

E3 iſt alfo wahr, daß Frankreich nicht völlig in Frankreich jei. 


388 Frankreich im Lichte feiner Literatur, 


Man behauptet von uns, daß wir fein Eolonijatorisches Geſchick haben. 
Freilich verjtehen wir es nicht, den Völkern durch die rohe Gewalt 
unfere Ideen und unfere Geſetze aufzudringen. Wir beobachten einen Groß- 
mutb, der uns verkleinert, und eine gewiſſe Öleichgiltigfeit, die uns in 
die Gefahr des Unterganges bringt. Aber wie jehr erwärmt Frank— 
veich, ohne das Anjehen haben zu wollen, als ob es jein Gente und 
jeine Kraft verichtvende, alles mit jeiner Begabung und wie jehr er: 
füllt es alles mit feinem Lebensjaft! Niemals hat eine Raſſe einen 
10 leicht fic) anderen mittheilenden Enthujiasmus, eine jo allgemein 
hochgeſchätzte Lebhaftigkeit, eine jo anſteckende Luftigkeit bejejjen! Kaum 
ift es nöthig, zum Beweiſe nod) die Revolution er diejen 
Lavajtrom, der, in Paris hervorbreihend, langjam und jtufenweije 
Europa und die übrige Welt in Flammen jet. Nirgends zeigt ſich 
in der Gejchichte der Raſſen eine pa Erpanjionsfraft, eine der: 
artige Macht als die erwähnte. Und wenn wir von den großen poli— 
tiichen und jozialen Jdeen auf den Einfluß des täglichen und allge: 
meinen Lebens herniederjteigen, jo erbliden wir — ſeltſamere Reſultate. 
Der ———— Geiſt hat die Welt viel ſchneller und viel ſicherer 
erobert als die Betrachtungen unſerer Philoſophen oder die Träume 
unſerer Utopiſten. Der franzöjiiche Geiſt theilt ſich leicht und gern 
mit; als ein leichtes Ding fliegt er, wohin ihn der Wind weht, läßt 
ſich dort nieder und gleichviel, ob der Boden gut oder ſchlecht vor— 
bereitet, beginnt er zu keimen — gleich jenen ausdauernden Samen: 
— die bei geringer Nahrung beſtehen und ein langes Leben 
haben. 

Und dergeſtalt hat man auch in Genf, im alten calviniſtiſchen 
Genf, einen remdlänbifchen Franzoſen beobachten fünnen als einen 
Pariſer wie jeden andern diejer Stadt und als einen Gallier wie die 
beiten diejes Stammes. Italiener von Geburt, bewahrte er in jeinem 
leuchtenden Talent den ganzen Reiz des italienijchen Himmels. Den 
Poeten jeines Heimatlandes hatte er Die Liebe ai ſchönen Worten umd 
lebhaften ei entlichen. Seine harmoniſchen Phraſen, feine er— 
ſtaunliche Leichtigkeit der Improvijation, feine unverjiegbare Einbil- 
dungsfraft, alle jeine äußeren Eigenjchaften famen ihm aus Italien. 
Mit diefem Einfluß verband jich, objchon in jehr geringem Maße, der 
Einfluß jenes Kreiſes, jener umgebenden Atmofphäre, jener ——— 
in der Mare-Monnier gelebt hat. Dieſer Spötter, der ſo vortrefflich 

eſchaffen war, um Boccaccio zu verſtehen und Leopardi zu verehren, 

tte in der täglichen Se mit Menjchen und Dingen etwas 
hriftliche Zurüdhaltung, ja jelbjt ein wenig von hugenottiſchem Exnit 
erworben. Schließlich aber und hauptjächli” war er durch feine 
Geijtesrichtung, durch jeine Vorlefungen und feine Pariſer Beziehungen 
Franzoſe geworden, — und zwar mehr Franzoje, als man wohl den- 
fen möchte, und fajt ebenjo jehr als Heine, der ein jo vortrefflicher 
Kranzofe gewejen it! Marce-Monnier hat zuweilen die Ader der 

oulevard:Plauderer. Wenn die Uebertreibungen der naturaliftiichen 
Schule ins Lächerliche zieht, wenn er über die Stompilatoren jpottet 
und die jchwerfälligen Gelehrten aufzieht, wenn er die alltäglichen 
Verbummelten geißelt, jo weiß er dies mit joviel augenjcheinlicher 
Gutmüthigfeit, mit jo durchtriebenem Lächeln anzustellen, daß es — 


Frankreich im Lichte feiner Kiteratur. 389 


man wolle oder wolle nicht — zum Herzen geht und einen durch- 
ichlagenden Erfolg hat. Und dabei niemals ein Wort, das jich härter 
anhört als das andere, nicht eine einzige Trivialität, niemals eines 
diefer plumpen Epitheta, die der Ohnmacht ein faljches Ausjehen von 
Kraft geben. Der Stil ift immer einfach und glänzend, der Ideen— 
gang Kar zu Tage tretend, die Vergleiche unerwartete und glückliche, 
die Späße aufgeräumt und die Worte gerecht. Das ift Franzöſiſch 
der guten Schule, klaſſiſches Franzöſiſch. 

Ind es iſt zu einer Zeit, da die Klaſſiker jo jchlechtes Spiel 
haben, nicht übel, klaſſiſch zu fein. Man wird jagen, daß wir für 
unjere Art reden, als Reaktionär des Gedanfens und in gie 
Feſthalten an das alte, als ein Menjchentind, das den Geiit Des 
Widerjpru weit von fich ſtößt. Aber find die wahren Genies nicht 
alle klaſſiſch auf ihre Weiſe natürlich — klaſſiſch ohne irgend welchen 
Bezug vom Klafjizismus, ohne Formenzwang und ohne Langeweile. 
Niemand hat gleich Muſſet die Panzöfilche —* rein und klar ge— 
ſchrieben. Die Sprache Mérimées iſt glänzend und flüſſig, alſo — 
und ſogar bewundernswerth klaſſiſch. Leconte de Lisle hat mit ſeinen 
ehernen Strophen, mit ſeinen Verſen, die alle durch eine Form ge— 
goſſen find, eine neue Klaſſiker-Schule aufgebracht. Renan iſt klaſſiſch, 
wie man es ſein kann, wenn man ſich von allen le und 
allen Hinderniſſen fret gemacht umd einen verjüngten und verjchieden- 
artigen Stil gejchaffen hat, der bald Liebenswürdig und lächelnd er- 
icheınt, bald gleich einer Wehklage bedrüdt, bald gewaltig und groß— 
artig ift wie die Gedanken eines Marc-Aurel. Gujtav — iſt 
klaſſiſch. Er vergötterte gewiſſe Phraſen Boſſuets. Dieſe helltönenden 
und melodiſchen Phraſen, dieſe langgezogenen Trompetentöne, die noch 
nach Verlauf zweier Jahrhunderte wiederhallen! Und auch er hat eine 
harmoniſche Einheit, einen machtvollen Rhythmus, eine feſte und dauer— 
hafte — gefunden. 

ir wollen noch weiter gehen und Zola eitiren. Man hat oft 
geſagt, daß Zola romantiſch ſei, obſchon er ſich dagegen ig 
und er iſt romantisch; nichts iſt wahrer als das, jedoch er iſt auch 
klaſſiſch, wenn es, um auch klaſſiſch zu jein, genügt, daß man eine 
forrefte und kräftige Sprache jpreche und daraus alles, was fie zu 
bieten vermag, herauslode. In Une Page d’amour befinden fich ge: 
wiſſe Schilderungen, die nad) hundert Jahren in den Schulen aus: 
wendig gelernt werden dürften, und Thereje Raquin, diejer langjame 
Todeskampf zweier durch Gewiſſensbiſſe gepeinigter Verbrecher, * 
die düſtere grauſige Hoheit einer Tragödie des Aeſchylos: es findet 
ſich darin die ſtrenge Idee vom Geſchick, das die Schuldigen verfolgt 
— eine wieder aufgefriſchte, neubelebte, moderniſirte Idee freilich, aber 
eine ſolche, die auch in ihrer neuen Faſſung alles aufweiſt, was ſie an 
Unwandelbarem und Menſchlichem beſitzt. 

Ebenſo wie Muſſet, wie Mérimée, wie Leconte de Lisle, Renan, 
Flaubert und Zola war Mare-Monnier klaſſiſch. Leicht, einfach, 
niemals geziert und felten zu geiftreich, hat jein Stil den vom Liebens— 
würdigen und Natürlichen gejchaffenen Reiz. Er läßt mit einem Wurfe 
immer dafjelbe hingleiten, aber ohne Monotonie. E3 iſt dem geneigten 
Lefer gewiß zuweilen begegnet, daß er im Verlauf eines Sommer- 


AM u 


3% Frankreich im Lichte feiner Literatur. 


Spazierganges, wenn die Felder grau vom Staube find, die Kirchdächer 
glänzen und die Erde dampft, plöglich unter einer Baumgruppe eines 
dieſer murmelnden Rinnjale entdedt, welche, indem fie die Gräfer beivegen 
und die Erdichollen losipiülen, eine unmerkliche Muſik machen, die man 
nicht hört, die man faum erräth und die dennoch köjtlich friſch und be— 
rubigend ift. So verhält es fi) mit dem Stil Marc-Monnier. Nicht 
als vb er unjchmadhaft wäre wie klares Waſſer oder die Einförmig- 
feit eines ununterbrochenen Zuges habe! Im Bache befinden jich 
Kieſel und ebenjo hat auch dieſer jo flüſſige Stil Schwierigkeiten, 
Worte, welche befremden, unerwartete fühne Sprünge oder Verborgen— 
heiten, über die man erjtaunt. Die Kieſel geben der Quelle jenes 
tleine Geräufch, das ihren Reiz ausmacht — und das, was den Reiz 
des Marc-Monnter'ichen Stiles ausmacht, das > gerade Dieje feinen 
Abjtufungen, diefe unantajtbaren Mängel, diefe zarten Flecken, über 
die jich zu beflagen niemandem einfällt. Zuviel Reinheit würde jchaden, 
Fi die Quellen gewinnen dadurch, daß fie nicht ewig ruhig dahin- 
ießen. 

Die Arbeiten Marc-Monniers find buntfarbig und wir können 
nicht daran denken, hier ihre Analyje vorzunehmen. Es giebt eben 
Dinge, die 9 der Analyſe entziehen, ſelbſt dadurch, daß ſie ſo be— 
zaubernd und ungreifbar ſind. Ueberall, in ſeinen geſchichtlichen Eſſays 
wie im ſeinen literariſchen Studien, in ſeinen Spottromanen, in ſeinen 
„Comedies de Marionnettes“ hat Marc-Monnier eine ſeltſame An— 
muth — einen gemäßigten Skeptizismus, Gefühlsſchauer, 
tauſend ver — beinahe paradoxe — — welche wie ein 
Räthſel die Kritik zu allen ab irre fuhren. Wandelbarer Seele 
und gefügigen, verjchtedenen Geijtes war er ebenjo wie Victor Hugo 
die Erzjäule, die einen Ton giebt, wenn man jie anjchlägt und Die 
durch bie Verſchiedenheit der empfangenen Schläge aud) eine Verſchie— 
denheit der Töne erwirbt, jo daß fie vielfältig zu fein fcheint wie alle 
die Bewegungen, die in ihr vibriren. 

Wenn in irgend einem Theile des Werkes von Marce-Monnier 
dieje — augenſcheinlich zu Tage tritt, ſo ſind das ſeine Poeſien. 
Sie ſind in Frankreich wenig bekannt, was für uns nur zu bedauern 
iſt. Vielleicht iſt kein franzöſiſcher Poet Heine ſo nahe gekommen. 
Die Nachahmung iſt darin etwas, aber nicht viel. Jedoch welche 
ausgezeichnete Erfindung im Ausdrud, welche tiefe Humanität im Ge: 
fühl, welche Eigenart im Wohlflang und Rang! Einige diefer Minia: 
turgemälde find mujftergiltige Schöpfungen. Man wird uns einwenden, 
daß das eben nur Kleingemälde jind, die der Künftler geduldig und 
mühſam, vielleicht auch mit außergewöhnlichem Geſchick hergeitellt De: 
daß er aber darum nicht minder ein untergeordneter Künſtler bleibe. 
Wir glauben nicht daran. Gewiß liebt niemand mehr als wir die 
großartige Poeſie, die — die ins Weite und Erhabene geht, die 
Harmonie, die ſich nach allen Seiten ausbreitet, die in ihrer Macht 
unermeßlichen Verſe, wie ſie Vigny, Muſſet und Leconte de Lisle ge— 
funden haben. Aber wenn wir einen Trompetenſtoß bewundern und 
um einen Donnerſchlag erzittern, ſollte dann eine Thräne, eine ein— 
fache Thräne, die zitternd, ſich verbergend, gleichſam mit Scham nieder— 
Fällt nicht auch werth jein, durch die Seelen aufgenommen zu werden! 


* 


Frankreidy im Lichte feiner Literatur. 391 


Es jcheint uns, daß Fleine Dinge zuweilen am meijten in Wallung 
bringen und daß dieſen Fleinen Dingen auch ein Kleiner Rahmen ge— 
— Vorausgeſetzt, daß der Gegenſtand neu und der Rahmen voll 
ommen ijt, hat der Künſtler jein Werk vollendet und zwar ein Werf, 
welches Ausjicht auf Beitand at weil die Zeit, die große Monumente 
vernichtet, indem fie ſie an der Baſis, dort, wo ein Stein fehlt, angreift, 
weil Die Zeit — vermag an einem kleinen, echten, gediegen Hulp: 
tirten, bi8 zum Grunde vollendeten Marmorfigürchen. 

Die Koefien Mare-Monnierd find ebenjoviele Leichte Geſtalten, 
entzückende Arabesfen und liebenswürdige Einfälle. Indem man ſie 
liejt, lieft man nicht ein Buch — nein, man lieſt ein Herz und einen 
Geift. Der Menjch läßt fich darin völlig erkennen, jchwanfend, zu= 
rückweichend, gejtern melancholiich, — Spötter, morgen heiter wie 
der Vogel, der ein Neſt gefunden hat. Und man fühlt beim Leſen 
dieſer kleinen, allezeit hüpfenden Strophen, wie ſehr dieſe echt biedere, 
echt menſchliche Natur Veränderung erlitten hat und ungleichartigen 
Eindrücken, widerſpruchsvollen Lockungen unterworfen war. 

Denn ſo iſt das Leben. Man will Doktrinen haben, man acceptirt 
Formeln, man macht ſich Prinzipien — und dann wechſeln die Dok— 
trinen mit den Sen und man verläßt eine Formel nad) der anderen 
und macht furzen Prozeß mit den alten Prinzipien, um ſchließlich die 
neuen nicht beffer u behandeln. Mannigfaltigfeit — das war jchon 
der Wahliprud; Montaignes und alles in allem genommen it fie es 
heute noch, gleichviel, ob wir es gejtehen wollen oder nicht. Alles 
verändert fich und wir verändern uns auch. Nur die Natur bringt 
Jahrhunderte zur Veränderung — während wir uns hingegen jeden 
Tag verändern als ein Opfer eines flüchtigen Eindruckes oder eines 
Gedankens, der nicht einmal der unſerige iſt. Wir dürfen noch glück— 
lich ſein, wenn wir wie Mare-Monnier unangreifbare Empfindungen 
für immer feſtzuhalten vermögen, auch in der Seele einiges wieder 
aufleben laſſen können, was unſere Seele einen Augenblick in ſich 


lebend gefühlt hat. 
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ur sea. abe. Aber abe se ae ae WE 
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Die Yaumeifter in der Thierwelt. 


Von Hermann Yılz. 

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F Mutter Natur hat weiſe dafür geſorgt, daß ihren 
⸗Geſchöpfen auf Erden eine große Anzahl von verſchie— 
denartigiten Logis offen jteht, in denen fie ihr Quartier 
SL aufichlagen können, ohne Furcht vor einer Steigerung 
> Im Miethzins, oder einer ungeahnten Kündigung von: 

*ſeiten eines unbarmberzigen Hauswirthes. Sıe hat viel 
Wohnungen bereitet, die nur theilweije bezogen find, und 
| eine gleicht nicht der andern unter ihnen. Da ift die ge: 
" räumige, dunkle Höhle, in der Meijter Braun feine Bärenträume 
verträumt, da jind ausgehöhlte Bäume, die einen traulichen Schlupf: 
winfel bilden, in dem der Uhu vor der leuchtenden Sonne entflieht, 
da iſt das Schilfdidicht, in dem das plumpe Flußpferd jeine „gute 
Stube“ ſich einrichtet, das dichte, weiche Steppenaras, in dem Elephant 
und Tapir „zu Haufe“ ijt, und die einfache Vertiefung im heißen 
Wüſtenſande, in der der Strauß jeine „Kinderjtube” etablirt. Sie 
ind großentheils vecht primitiver Art diefe natürlichen Wohnungen, 
und doc) fühlen jich ihre Inſaſſen behaglich darin, und denfen „wie 
lieblich) jind deine Wohnungen, Herr Zebaoth“. Freilich nicht allen 
ijt mit Felſenklüften und ausgehöhlten Baumriefen gedient, nicht alle 
begnügen ſich mit dem Gejtrüpp der Berge und den Schollen der ‚Felder 
zu ihrem Tuskulum, eine große Schaar der Thierwelt jchafft ſich mit 
großer technifcher Fertigkeit ein eigenes Heim, in dem es nad) jeinem 
Geſchmack, nach jeinen Lebensgewohnheiten behaglich und bequem 
logiren fann. Das find die Bautechnifer, die Architekten der Thier- 
welt, deren Gejchidlichkeit ebenjo verjchieden ift, wie die der menjch- 
lihen Baumeifter. Auch die Architekten der Thierwelt haben ihre 
verjchiedenen Bauftile, auch fie bauen lururiös und einfach, und aud) 
jie „verbauen“ fich zuweilen bei ihrer Arbeit jo gründlich, daß ſie den 
Bau einjtellen, abbrechen und unter Benugung des alten Baumaterials 
einen neuen Bau aufführen, wie wir e8 3. B. mehrmals bei den wil— 
den Kaninchen beobachtet haben. Die Thierwelt aber, vom Säugethier 
an, bei dem ja die technifch begabten Vertreter nur wenige find, bis 






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Die Saumeifter in der Thierwelt. 393 


herunter zu den winzigen Spinnen, in ihrer Arbeit beim Bauen zu 
beobachten, iſt eine der herrlichiten Freuden, die uns die Natur bietet, 
und bewundernd bleibt man oft vor der eminenten Sunjtfertigfeit 
jtehen, mit welcher ſich diejelben ihr Heim zu bauen wijjen. Die 
Thiere haben zwei bejtimmte Bauftile, den Stil der Erd: und Baum: 
höhlungen, und den edleren Stil der Nejter und Gewebe. Der erite 
Stil herrſcht bei den Säugethieren, der letztere bei den Vögeln vor, 
jedoch läßt jich eine jcharfe Grenze feinesivegs ziehen, denn wir wer— 
den ſogar unter den Fischen Neitbauer finden. Die Erbhöhlen führen 
die technische Bezeichnung „Bau“, während das Net von Adolf Müller 
glüdlich als ein vielgejtaltiger, meift fugelig oder halbrund geformter, 
von Gras, Laub, Moos, Erde und ähnlichen Stoffen verfertigter Woh— 
nungsbehälter definirt wird. 

Wenden wir uns num zunächſt der Klaſſe der Säugethiere zu, 
unter denen, wie jchon erwähnt, die technische Kunſt ich feiner bejon- 
dern Gunjt erfreut, jo wird es uns auffällig erjcheinen, daß gerade 
die Familie, die an Leibesgeitalt ung Menjchen am nächiten fommt, 
die Familie der Affen und affenartigen Thiere, Wohnungsbauer nicht 
jind. Die Kronen der üppigen Urwaldbäume mit ihren weitverzweig- 
ten kräftigen Aejten find ihr Palaſt, das Blätterdad) derjelben ihr 
Schutz gegen die goldenen Strahlen der Sonne, wie gegen den Regen. 
Die Erzählung von „Affendörfern“, die fi) in manchen Natur: 
geichichten Älteren Datums nod) vorfindet, hat jich als Fabel erwieſen, 
und nur zwei Affen aus der Familie der Waldmenfchen, der Orang— 
Utang und der Schimpanſe, fünnen ſich unter die zoologiſchen Archı- 
teften rechnen. Der Orangelltang, der böje „Waldmenjch”, von dem 
icon Plinius Fabelhaftes erzählt, und der feine Heimat auf der Injel 
Borneo hat, baut ſich in der That an den dazu am beiten geeigneten 
Bäumen ein Nejt, das fich mit dem Adlerhorit vergleichen läßt, und 
in einer Höhe von 12—20 Fuß über der Erde auf den Baum ge: 
baut wird. Der —— biegt zu dieſem Zwecke mehrere Aeſte 
zuſammen und verbindet ſie durch feſte Schlingkräuter und biegſame 
Farren. Hierauf holt er Blätter und Moos und ſchichtet ein bequemes 
Lager auf, in dem er übrigens liegend wie ein Menſch ſchläft, im Ge— 
— zu ſeinen Kollegen, die hockend ins Reich der Träume gehen. 
In derſelben Weiſe baut der Schimpanſe, der jedoch ſein 
noch etwas höher anlegt und auch mehr in Geſelligkeit baut. Auch 
vom Gorilla behaupten viele, daß er ſich kunſtvolle Lauben baue, was 
jedoch der Amerikaner Du Chaillu, der ſich beſonders der Gorillas 
angenommen, aufs beſtimmteſte in Abrede ſtellt. Bei den Krallen— 
thieren ſind die Techniker ſchon zahlreicher, als bei den Handthieren. 
Fuchs und Dachs, Reinecke und Grimmbart, präſentiren ſich hier als 
Oberbaumeiſter im Erdhöhlenſtil beſonders geſchicklich. Der Fuchs, 
der Diplomat der Thierwelt, baut — wenn er muß und keine 
Gelegenheit hat, einen Kaninchen- oder Dachsbau zu uſurpiren. Mit 
ziemlicher Schnelligkeit gräbt er dann mit Läufen und Schnauze eine 
Erdhöhle, die in einen Hauptbau und mehrere Nebenbaue zerfällt, ſo— 
genannte Nothbaue, in die er bei plötzlicher Gefahr —*3 um den 
Ort ſeines Hauptbaues nicht zu verrathen. Zum Hauptbau führen 
viele Gänge und Röhren, die ſich kreuzen und mit einander in Ver— 

Der Salon 1887. Heft X. Band II 97 


394 Die Saumeifter in der Zhierwelt. 


bindung jtehen, und an ganz verjchiedenen Orten an der Erdoberfläche 
münden. gun eigentlichen Kejjel führt eine einzige Röhre und der 
Keſſel jelbit ift nicht bejonders groß und behaglich eingerichtet. Der 
Fuchsbau, die Veſte Malpartus, ijt ein Liebling der Thierfabel, und 
wer fennte ihre Schilderung nicht in Goethes herrlichen Thierepos 
„Keinede Fuchs“? Die Eisfüchje legen a Baue in diefer Weife im 
Schnee der PBolarfelder an. Freilich Jein Vetter Grimmbart, der Dachs, 
und belle Verwandter, der ojtindiiche Stinkdachs, jind weit fleißigere 
und gejchidtere Architekten. Unjer Dachs legt jeine Wohnung zumeist 
de en Mittag oder Morgen gerichtet an, und zwar in einer beträcht- 
vo Tiefe und weiten VBerzweigung. Die Röhren des Dachsbaues 
jind gewunden, und neben den eigentlichen Gängen für den Berfehr 
vergißt er auch nicht dünnere Röhren zur Ventilation anzulegen. Die 
Hauptjache ijt der Kejjel, eine rundlic) ausgehöhlte Stelle, von welcher 
aus immer mehrere Röhren, oft 25 bis 30 und mehr Fuß lang auf: 
wärts zutage in verjchiedenen Krümmungen jteigen. Der Keſſel liegt 
zuweilen 20 Fuß tief in der Erde und iſt die Kinderftube der Dächfin, 
die mit allem Komfort eingerichtet wird. Sogar den Abort vergikt 
der reinliche Dachs 2 anzulegen. Bei jeinem Bauen gräbt er mit 
den Vorderbeinen die Erde aus und jchleudert jie mit dem Hinter: 
beinen fort. Dem Ausbau des Keſſels jchenft er bejondere Aufmerk— 
ſamkeit, Moos, Laub und Farrenwedel werden herbeigejchafft, bis ein 
weiches Boljter erzielt ift, wie e8 der mürriſche Einfiedler, dem freſſen 
und jchlafen die Hauptjache it, braucht. Selten verläßt er jeine Burg, 
aus der ihn jein Vetter Reinede dadurch zu vertreiben fucht, daß er 
ihm an die Portale feiner reinlichen Wohnung einen Haufen Unrath 
legt, was ihn zur Verzweiflung treiben kann. 

Gleiche Erdhöhlen baut der gel, der jedoch nur 1 bis 2 Fuß 
tief in die Erde geht und nur zwei Gänge, einen nad) Mittag und 
einen nach Mitternacht anlegt, die er abwechjelnd da verjtopft, wo der 
Wind herfommt. Wirdig Ichließt ſich bier auch die Gejellichaft der 
muthigen Spitmäuje an, deren Bau wir wiederholt unterfucht haben. 
Die Spitmaus, ein Thierchen von höchſtens 3 Zoll Länge, gräbt fich 
mit dem fleinen Rüjjel und den zarten Vorderpfötchen mehrere Gänge, 
an deren einem Ende das Nejt gebaut wird. Sie formt es von Gras, 
Kräutern und Moos, und giebt ihm eine Fugelige Form mit mehreren 
Eingangslöchern. Das Seit iſt jehr fejt gebaut und das Material 
dazu weiß die Spitzmaus geſchickt durch ihren Speichel an einander zu 
fügen, jo daß man die Nejtwand nur mit Mühe zerreigen fann. Gern 
jucht die Spitzmaus auch einen verlajjenen Maulwurfsbau auf. Der 
Maulwurf, einſt ein arg verfolgter armer Wicht, defjen eng 
man jet einjehen gelernt hat, hat eine noch umfangreichere Woh— 
nung, als die vorgenannten Thiere, obwohl er jammt jenem —— 
chen kaum 6 Zoll lang iſt. Blaſius giebt von der Maulwurfshöhle 
eine jehr Iebendige Schilderung. „Unter allen —— unter⸗ 
irdiſchen Thieren“, ſagt er, „bereitet ſich der gemeine Maulwurf am 
mühſamſten ſeine — Wohnungen und Gänge. Er hat nicht 
allein für die ee jeiner lebhaften Freßluſt, jondern auch für 
die Einrichtung jeiner Wohnung und Gänge, für Sicherheit gegen 
Gefahr mancherlei Art zu jorgen. Am Eunjtreichiten und ſorgſamſten 


Die Saumeifter in der Thierwell. 395 


iſt feine eigentliche Wohnung, jein Lager eingerichtet. Gewöhnlich) be 
findet es jih an einer Stelle, die ‚von außen jchwer zugänglich ift, 
unter Baummwurzeln, unter Mauern und dergleichen und meiſt weit 
entfernt von dem täglichen Jagdgebiet. Mit legterem, in welchem die 
ſich täglich vermehrenden Nahrungsröhren ſich mannigfaltig verzweigen 
und freuzen, ift die Wohnung durch eine lange, mei ziemlich gerade 
Laufröhre verbunden. Unter diejen Röhren werden nod) eigenthim- 
liche Gänge in der Fortpflanzungszeit angelegt. Die eigentliche Be— 
haujung zeichnet ſich an der Oberfläche meiſt durch einen gewölbten 
Erdhaufen von auffallender Größe aus. Sie bejteht im Innern aus 
einer rumdlichen, 3 Zoll weiten Kammer, welche zum Zagerplag dient, 
und aus zwei Freisförmigen Gängen, von denen der größere in gleicher 
Höhe mit der Kammer, diefelbe ringsum in einer Entfernung von uns 
efähr 6 bis 10 Boll einjchliekt, und der kleinere etwas oberhalb 
er Kanımer, mit dem größeren Tag parallel verläuft. Aus der 
Kammer gehen gewöhnlich drei Röhren Gräg nad) oben in die Elei- 
nere Kreisröhre, und aus diejer, ohne Ausnahme abwechjelnd mit den 
vorhergehenden Verbindungsröhren, fünf bis jechs Röhren ſchräg ab- 
wärts ın Die Bag Kreisröhre. Von leßterer aus jtreden jich jtrah- 
—— und ziemlich wagrechte nach außen, und ebenfalls wieder 
abwechſelnd mit den zuletzt genannten — — etwa 8 bis 
10 einfache oder verzweigte Gänge nad) allen Richtungen Hin, die 
aber in einiger Entfernung meiſt bogenförmig nad) der gemeinjamen 
Laufröhre umbiegen. Auch aus der Kammer abwärts en eine 
Sicherheitsröhre ın einem wieder aufjteigenden Bogen in dieje Lauf- 
röhre. Die Wände der Kammer und der zur Wohnung gehörigen 
Röhren jind I dicht, feſt zufammen gejtampft und glatt gedrüdt. 
Die Kammer jelbit iſt zum Lager ausgepoljtert mit — lättern 
von Gräſern, meiſt jungen Getreidepf — Laub, Moos, Stroh, 
Miſt oder zarten Wurzeln, welche der Maulwurf größtentheils von 
der Oberfläche der Erde Ba N Kommt ihm Gefahr von oben, 
jo jchiebt er das weiche Lagerpoliter zur Seite und fällt nach unten, 
Sieht er fic) von unten oder von der Seite bedrängt, jo bleiben ihm 
die Verbindungsröhren zu der Eleineren Kreisröhre theilwerje offen. 
Die Wohnung bietet ihm zu Schlaf und Ruhe unter allen Umjtänden 
Sicherheit und iſt deßhalb auch jein gewöhnlicher Aufenthalt, wenn 
er nicht auf Nahrung ausgeht. Sie liegt 1 bis 2 Fuß unter der 
Erdoberfläche. Die Laufröhre ift weiter als die Körperdide, jo daß 
das Thier schnell und bequem vorwärts kommen fann; auch in ihr 
find die Wände durch) Zufammenprejjen und Feſtdrücken von auf: 
falfender Feftigfeit und Dichtigfeit. Aeußerlich zeichnet fie ſich nicht, 
wie die übrigen Gänge durch aufgeworfene Haufen aus, indem bei 
der —— die Erde nur zur Seite gepreßt wird. Sie dient bloß 
ai einer möglichjt rajchen und bequemen Berbindung mit dem täg- 
ihen Sagdgebiete und wird nicht felten von anderen unterirdijchen 
Thieren, Spitmäujen, Mäufen und Kröten benußt, die fich aber jehr 
zu hüten haben, dem Maulwurf nicht zu begegnen. Bon außen fann 
man fie daran erfennen, daß die Gewächje über derjelben verdorren 
und der Boden über ihr fi) etwas ſenkt. Solche Laufröhren jind 
nicht jelten 100 bis 150 Fuß lang. Das Jagdgebiet liegt meift weit 
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396 Die SBaumeifter in der Thierwelt. 


von der Wohnung ab und wird tagtäglid, Sommer und Winter in 
den verjchiedenjten Richtungen durchwühlt und durchſtampft. Die 
Gänge in ihm find bloß für den zeitweiligen Bejuch zum Auffuchen 
der Nahrung gegraben und werden nicht befejtigt, jo daß die Erde 
von Strede zu Strede haufenweife an die Oberfläche der Erde ge- 
worfen wird und auf dieje Weije die Richtung der Röhren bezeichnet. 
Die Maulwürfe bejuchen ihr Jagdgebiet gewöhnlich drei Dal des 
Tages, morgens früh, mittags und abends. Sie haben daher in der 
Hegel ſechs Mal täglich von ihrer Wohnung aus und wieder zurüd 
die Laufröhre zu durchlaufen und können bei dieſer Gelegenheit, jo: 
bald diejes Rohr aufgefunden ift, mit Sicherheit in Zeit von wenigen 
Stunden gefangen werden.“ Bei jeiner Arbeit fommen dem Maul: 
wurf jeine breiten Schaufelhände gut zuitatten. Mit der ſpitzigen 
Schnauze gräbt er fi) in die Erde ein und jchaufelt nun die lockere 
Erde mit enormer Geſchwindigkeit fort, bis er ſie ſchließlich an der 
Oberfläche in einem Eleinen Berg auswirft. Neben jener eigentlichen 
Wohnung richtet er übrigens eine Kinderjtube in derjelben Weije ein, 
in der fich das Weibchen aufzuhalten hat und die Jungen erzicht. 
Die Familie der Nager iſt unter den Baumeiſtern durch unſer 
rothbraunes Eihhörndyen würdig vertreten. Man jieht es dem flinfen, 
fivelen Burjchen gar nicht an, daß ihm die Natur Fähigkeiten zum 
Nejtarchitekten verliehen hat, und doc) zeigt es ſich in Dieter Hinfiche 
als ein gejchicter Arbeiter. Das Eichhörnchen baut jein Nejt in den 
höchſten Gipfeln der Bäume, aber möglichjt feit an den Hauptitamm 
an. Der Untergrund iſt genau wie der eines VBogelnejtes gebaut, und 
ih) habe oftmala gefunden, daß ſich jogar Stüde von wirklichen 
Vogelnejtern mit vorfanden, die der rothbraune mad zu jeinen 
Zweden herbeigejchleppt hatte. Ueber das eigentliche Neſt baut ich 
jedocd) das Eichhörnchen aus Reifig, das es wie ein Korbmacher zu 
tlechten verfteht, ein jchügendes Dad), das eine fegelartige Form hat. 
Im Innern it das Neſt mit weichem Moos ausgepolitert. In das 
Heiligthum führt eine Pforte, gewöhnlich nad) Morgen gerichtet, wäh: 
vend die Noththüre, die gewöhnlid) auch mit etwas Laubmoos ver- 
jtopft ift, jich hart am Stamm befindet. Man behauptet, daß jedes 
ordentliche Eichhörnchen außer diejer Familienwohnung noch etwa 3 
Eleinere Logis habe, in denen e3 jich vorübergehend aufhält. een 
ſtattet es auch im Strähennejte einen Befud) ab, wirft die Inſaſſen 
heraus und richtet fic darin jein Moosbett ein. Ein eleganter Ber: 
wandter jeiner Familie tft das bunte amertfanische Erdeichhorn, dejjen 
Pelz oben bräunlichgrau und mit 5 jchwarzen und 2 blaßgelben 
Streifen oder Binden der Länge nad) geztert A während die Bauch— 
jeite weiß erglänzt. Das Erdeichhorn ehnt ſich jedod) nicht wie fein 
luftiger Bruder himmelan, jondern gräbt ſich jeine Wohnung im 
Schoße der Erde. Unter einem alten Baume gräbt es erjt jenfrecht 
3 Fuß tief in das Erdreich und geht dann im leichten Biegungen 
wieder aufivärts, bis es eine geeignete Stelle findet, wo es den Haupt— 
bau anlegt. Derjelbe bejteht in einer Kinderjtube für das Weibchen, 
die bejonders behaglich mit Blättern ausgelegt und mit einem halb» 
fugeligen Nejte verjehen wird, zu dem ebenfalls Blätter dienen, Die mit 
Grashalmen gejchiet dDurchflochten werden. Ein fleiner Gang verbindet 


Die Saumeilter in der Thierwelt. 397 


die Kinderjtube mit der Wohnung des zärtlichen Gemals, der nichts 
jo jehr fürchtet, ala das jchlanfe Wiejel, daß der böjejte Feind feiner 
Familie ijt. Aehnlich wie das Erdeichhorn legt der gemeine Zieſel 
jeinen Bau in der Erde an. Das zierliche, — e Thier richtet 
ſein Palais nur weit tiefer ein, und namentlich zum Bau des Weib— 
chens, das übrigens merkwürdigerweiſe weniger —* als das 
nen üt, —* oft eine 6 bis 8 Fuß lange ſenkrechte Röhre. 
Männchen und Weibchen richten fich übrigens ihren eignen Bau ein, 
und das Männchen jtattet nur zuweilen Bıliten im Damenfabinett ab. 
Zu jedem Bau gehören Nebenfammern, in denen für den Winter Ge— 
treide, Wurzeln, Gemüſe und Beeren aufgejpeichert werden. Zwiſchen 
dem Zieſel und dem Murmelthier, deſſen wir gleich werden zu geden- 
fen haben, jteht ein Thier, dem der Name des Hundes beigelegt wor: 
den ijt, weil es genau wie unjer Phylax bellt, obwohl es ſonſt ein 
echter Nager und naher Vetter des Murmelthieres ift, nämlich der 
Präriehund. Dieſer wachjame Gejelle, der ſich hauptjächlich in den 
fruchtbaren Wiejen Nordamerikas vorfindet, arbeitet ſich zunächſt einen 
Schacht jchräg 5 bis 6 Fuß tief in die Erde, wendet fic) dann hori= 
zontal und gräbt ſich eimen Bau aus, von dejjen Größe man ſich 
leicht eine Borjtellung machen kann, wenn man bedenkt, dag der Hau— 
fen Erde, welchen der Präriehund durch den Schacht herausarbeitet, 
und zu einem —— am Eingang aufthürmt, eine ganze Wagenladung 
ausmacht. Eine Menge ſolcher Baue liegen in den Prärien neben— 
einander, und ſind durch ausgetretene Gänge miteinander verbunden, 
auf denen die Präriehunde * gegenſeitig Beſuche zollen. Man hat 
dieſe Anſiedelungen „Dörfer“ genannt, und Balduin Möllhauſen ſagt: 
„Su welcher unglaublichen Ausdehnung die Anſiedlungen dieſer fried— 
lihen Erdbewohner herangewachjen jind, davon kann man jid) am 
beiten überzeugen, wenn man ununterbrochen tagelang zwiſchen Eleinen 
Hügeln hinzieht, deren jede eine Wohnung zweier oder mehrerer jol- 
cher Thiere bezeichnet.” In die friedlichen Hütten dringen nur zwei 
böfe Feinde ein, die Höhleneule und die Klapperſchlange, deren leb- 
tere Schon ganze Dörfer entvölfert hat. 

Und nun zum Murmelthier, dem trauten Gefährten der Savoyar- 
denfnaben, die einit in nod) romantischeren Zeiten mit ihm gen Nor: 
den „ind PBommerland“ zogen, um * Kunſtſtücke in den Dörfern 
ſehen zu laſſen. Das kleine plumpe Thier, das wie eine Ente ſchwer— 
fällig angewackelt kommt, und doch ſo prächtig zum Takt der Muſik 
tanzen lernt, baut ſich hoch oben auf den Gletſchern der Alpen, der 
Pyrenäen und Karpathen ſein unterirdiſches Gefängniß. Das Mur— 
melthier hat Winterreſidenz und Villa, nur die erſtere jedoch iſt be— 
ſonders bequem und behaglich gebaut. „Gegen den Herbſt zu“, ſagt 
Tſchudi, „graben ſie ſich ihre eigene, tiefer im Gebirge liegende Win— 
terwohnung, die jedoch ſelten mehr als 4 Fuß tief unter dem Raſen 
liegt. Sie iſt immer niedriger im Gebirge gelegen, als die Sommer 
wohnung, welche oft ſogar 8000 Fuß über dem Meere liegt, während 
die Winterwohnung in der Regel in dem Gürtel der oberiten Alpen— 
weiden, oft aber auch tief unter der Baumgrenze liegt. Dieſe nun ift 
für die ganze Familie, die aus 5 bis 15 Stück bejteht, berechnet, und 
daher jehr geräumig. Der Jäger erfennt die bewohnte Winterhöhle 


398 Die Saumeifter in der Thierwelt. 


jowohl an dem Heu, das vor ihr zerjtreut liegt, als aud) an der gut 
mit Heu, Erde und Steinen von innen veritopften aber bloß faujt- 
großen Mündung der Höhleneingänge, während die Röhren der Some 
merwohnung immer offen find. Nimmt man den Baujtoff aus der 
NRöhrenmündung weg, jo findet man zuerjt einen aus Erde, Sand 
und Steinen — mehrere Fuß — Eingang. Verfolgt 
man nun dieſen ſogenannten „Zapfen“ einige Ellen weit, jo ſtößt man 
bald auf einen Scheideweg, von wo aus zwei Gänge fich fortjegen. 
Der eine führt nicht weit und dient den Thieren zum Abort, während 
der andere jich allmählich erhöht, und jchlieklich oft 4 bis 5 Klaftern 
weit aufwärts in einen geräumigen Kejjel mündet. Er bildet metit 
eine eirunde, badofenförmige Höhle mit kurzem, weichem, dürrem, ge— 
wöhnlich röthlichbraunem 5 angefüllt, das zum Theil jährlich er- 
neuert wird.“ Einige Naturforjcher behaupten, daß es bei der Fahrt 
ins Heu, die die Murmelthiere unternehmen, jehr praftiich zuginge, 
indem nämlich eins der Bürjchchen fich auf den Rüden legt, vol Heu 
laden läßt, und nun am Schwanze eng Winterwohnung gezogen 
wird. Es jcheint freilich, als ob * ma da etwas wenig ſteptiſch 
verfahren wäre, und die alte Fabel des Plinius allzubefliſſen weiter 
expedirt hätte. 

Ein weiterer Repräſentant derſelben Thiergattung iſt die kana— 
diſche Taſchenratte, die im Aeußern vieles vom Maulwurf an ſich 2 
Ihre — iſt Amerika, wo ſie auch den Namen Goffer führt. Wie 
beim Maulwurf zeigen zahlreiche Hügel das Feld ihrer Thätigkeit an, 
die Gänge aber, die jie unterirdiſch anlegt, find horizontal von einer 
jolchen immenjen Länge, daß an ein Ausgraben des Thieres gar nicht 
zu denfen iit. Der — legt etwa einen Fuß unter der Erde 
und von ihm aus laufen un pi] ige Seitengänge theils tief in Die 
Erde, theils nad) der Erdoberfläche hinauf. An irgend einer pafjen- 
den Stelle erweitert ſich nun der Haup ang zu einem freisrunden 
Zimmer, dejjen Durchmeſſer ungefähr 8 Zoll beträgt, und dieſes ijt 
von trodnen Kräutern und Gräjern und einem Poljter von Pelzfloden, 
welche NR dag Weibchen nach der Weiſe unjeres Kaninchens ausrupft, 
gebaut. In diefem Kinderzimmer, von dem Gänge nad) allen Seiten 
ig wird das Nejt eingerichtet, und Anfang April ertönt denn 
ald ein fröhliches Piepen der 5 bis 7 Jungen, die das Weibchen zur 
Welt bringt. Won der Kinderjtube führt außerdem noch ein bequemer 
Gang zu einer größern Höhlung, der Vorrathskammer, deren Bände 
feitgemauert find, und die reich mit Wurzeln, Sämereien, vor allem 
aber Kartoffeln angefüllt ift. 

Ein reichverzweigtes Geſchlecht unter der Raſſe aber find die 
Mäuje, von denen wir jedoch nur einzelne hier zu berücjichtigen 
aben, da bei dem gewöhnlichen Maujeloch unferer Bald-, Feld⸗ und 

usmäufe von einer eigentlichen bautechnijchen Fertigkeit nicht die 

ede jein kann. Anders iſt das bei der Zwergmaus, dem gejchidte- 
ſten Thierchen unter der Mausfamilie, die,o wohl fie nur 2 Zoll lang 
it, doc) im Klettern, Schwimmen und Tauchen wohl bewundernswerth 
ericheint. Sie ift im Nejtbauen geradezu eine vollendete Künjtlerin. 
„Sie baut ein Neit“, jagt Brehm, „das an Schönheit alle anderen Säuge- 
thierneiter weit übertrifft. Als hätte fie es einem Rohrſänger oder 


Die Saumciſter in der Thierwelt. 399 


Stufenſchwanz abgejehen, jo eigenthümlich wird der niedliche Bau an- 
geregt Das fugelrunde Nejt, welches etwa faujtgroß tft, jteht näm— 
ich, je nad) des Ortes ne entweder auf 20 bis 30 Ried- 
grasblättern, deren Spigen geichliffen, und jo durcheinander geflochten 
ind, daß fie das eigentliche Neſt von allen Seiten umjchliegen, oder 
es hängt zwijchen 2 oder 3 Fuß hoch über der Erde frei an den 
Zweigen eines Bujches, an einem Schilfitengel und dergleichen, jo daß 
e3 aussieht, als jchwebe es in der Luft. Das Innere ijt mit Rohr: 
ähren, mit Kolbenwolle, mit Kätchen und Blütenrifpen aller Art 
ausgefüttert. Eine fleine Deffnung rührt von einer Seite hinein und 
wenn man da hindurch in das Innere greift, fühlt jich das Ganze 
oben wie unten gleichmäßig geglättet, und überaus weich und zart an.“ 
Merkwürdig iſt mir dabet immer geweſen, daß der Schlaumeier Zwerg- 
maus zur Äußenwand jeines Nejtcheng, das wie ein Tönnchen ausfieht, 
nur die Pflanzen verbaut, die in nächiter Umgebung jtehen, damit es 
ſich ja durch jeine Färbung nicht von ihnen unterjcheidet. 

Ein geſchickter Kollege iſt aud) die Spigmaus, die freilich nur 
baut, wenn jie nicht jchon ein bequemes Mauſeloch oder auch einen 
verlajjenen Maulwurfsbau vorfinde. Das Thierchen mit dem glän= 
zenden, röthlichichwarzen Pelz, das übrigens ſtark nach Moſchus duf- 
tet, weßhalb die Kae von diefem Braten nichts wiſſen will, gräbt 
ji mit jeinen Vorderpfötchen im loderen Erdboden unter Zuhilfe— 
nahme des langen Rüſſels, einen längeren Gang, an dejjen Ende das 
Neſt von trodenem Gras, Kräutern und Moos geformt iſt. Daffelbe 
hat ebenfalls fugelige Form und iſt mit mehreren Eingangslöchern 
ausitaffirt. „Das ganze Gefüge“, bemerkt Adolf Müller, „und der 
—— die zarte Auspolſterung des Innern mit Thier⸗ und 

flanzenwolle oder anderen weichen Materialien ijt nett und in einer 
Weije gebaut, daß angenommen werden kann, das Thierchen gebrauche 
den Speichel als bindenden Kitt beim Bau. Nur mit einer gewifjen 
Gewalt zerreißt ji das Gefüge und das Ausjehen des verwendeten 
Mooſes, jowie der Blätter, jcheint unjere Vermuthung über Anwen— 
dung des Speichels zu bejtätigen, denn das Moos, in feiten Bäll- 
chen aneinander gereiht, und die dürren Blätter, öfters Buchen- und 
Eichenlaub, zeigen an den übrigen Materialien eine jolche Anheftung, wie 
jie dies loſe Gerüjte in natürlichem Zujtande nie und nimmer bejigt.“ 
Einen originellen Bau, wie wir ihn noch bei anderen Thieren finden 
werden, legt die Waſſerſpitzmaus ar. 

Das Heine Raubthier mit jeinem ſchwarzglänzenden Pelz bewohnt 
vorzugsweile die Gewäſſer in Gebirgsgegenden, und ein laujchiger 
klarer Gebirgsbadh ijt jein Tuskulum In das Ufer gräbt es num 
unterhalb des Wafjers einen Gang hinein, der jchließlich zu einem 
— ſich erweitert, wo das unregelmäßig und loſe gebildete 
Neſt aufgeſchlagen iſt. Ein zweiter Gang führt auf das freie Land 
inaus. Die Bafferipikmans ift der Tiger der Gewäſſer, Fiſche, 
— Käfer, alles, was in dem naſſen Element ſich vorfindet, fällt 
nr zur Beute, während jie jelbit wenig Nachitellungen ausgejegt iſt. 
Kur der jchlaue Hecht verjchlingt fie troß ihres — es mit 
Wohlbehagen. In ganz derſelben Weiſe baut auch die Waſſerratte 
ihre Wohnung, nur daß die von ihr aus dem Waſſer in das Ufer 


* 


400 Die Saumeifter in der Thiermelt. 


angelegte Röhre, ſowie der Stejjel, in den dieje mündet, bei weitem 
größer jind. Die Röhre iſt oft 3 bis 5 Fuß lang, und der Keſſel iſt 
jorgiam mit Binjen, zarten Grashalmen und Moos jo ausgepolitert, 
daß ein völlig halbkugeliges Neſt entiteht. 

Mit dem Mäufegejchlecht verwandt iſt auch der Hamiter, der 
geizige, gefräßige Gejelle, der zu den jchädlichiten und boshaftejten 
jeiner Familie gehört, und den Getreidefeldern unwillkommene Bejuche 
abjtattet. Der Bau des Hamfters ijt ziemlich kunſtreich. Ein ſenk— 
rechter Eingangsjchacht führt etwa 3 bis 6 Fuß tief in das geräumige 
Wohnzimmer, während aus demjelben wieder ein jchräg angelegter 
Gang als Ausgang dient. Aus und Eingangslod, jind etwa 6 bis 
12 Fuß weit von einander entfernt. Mit dem Wohnzimmer durch 
horizontale Gänge find die berüchtigten Vorrathstammern verbunden, 
in denen der übrigens außerordentlich reinliche Hamſter jeine Winter: 
vorräthe aufjpeichert. Aeltere Hamjter haben oft 3 bis 5 jolcher Bor- 
vathsfammern, in die fie mit ihren Badentajchen die Körner zu Tau— 
jenden herbeijchleppen. Wenn man im Herbjt einen jolchen Hamjterbau 
aufgräbt, jo findet man nicht ſelten 60 Pfund Getreide darin jauber 
aufgefchichtet. Mean kann ſich aljo einen Begriff vom Fleiße des 
fleinen QTajchendiebes machen. In allen Gängen des Hamijterpalats 
herrſcht peinliche NReinlichkeit, und die Wände find elegant polirt. In 
dem jenfrechten Fallloch, etwa in der Mitte geht ein horizontaler 
Gang ab, der nad) dem Apartement der Hamjterfamilie führt. Da 
die Bauern dem Diebe eifrig nachjpüren, kann man ihmen nicht ver- 
denfen, denn manches Bäuerlein würde froh jein, wenn er im Winter 
jo gut ſituirt wäre, wie der Hamjter, der in jeinen Feldern Logirt, 
und jich mit enormer Schnelligkeit vermehrt. Lenz erzählt denn aud), 
daß 3. B. vom Jahre 1817 bis 1828 in der Stadtflur von Gotha 
allein eine Biertelmillion Hamster gefangen und an die Stadtbehörde 
abgeliefert worden jeien, die einen Preis auf das Haupt diejes großen 
Raͤubers geſetzt hatte. 

Die ſkandinaviſche Halbinſel beſitzt ein Thier aus der Familie 
der Mäuſe, das im Alterthum vielfach mit einem mythiſchen Nimbus 
umgeben worden iſt, den norwegiſchen Lemming, deſſen Geſammtlänge, 
inkluſive des °/, Bol langen Schwanzes, 6 Zoll beträgt. Olaus 
Magnus, der alte Biichof von Upjala, glaubt, daß er von fernen 
Injeln herangejchwenmt, oder unter Donner und Blitz vom Himmel 
erzeugt jer, und Wormius läßt ihn 1580 und 1648 geradezu aus den 
Wolfen herunterfallen. An diefen wunderfamen Hiſtorien aber tt 
nichts weiter Schuld, als der fortwährende Wandertrieb des Lemmings, 
der e3 mit ſich bringt, daß die Heerde mit einem Male in Menge an 
einem Ort auftaucht und ebenjo ſchnell wieder verichwunden iſt. Der 
große Naturforicher Linne jagt darüber folgendes: „Das Allermerf- 
wiürdigjte bei dieſen Thieren tjt ihre Wanderung, denn zu gewijjen 
Zeiten, gewöhnlich binnen zehn und zwanzig Jahren ziehen fie in 
jolcher Menge fort, daß man darüber ſtaunen muß, bei QTaujenden 
hintereinander. Sie graben zuleßt förmliche Pfade in den Boden ein, 
ein paar ‚Finger wa und einen halben breit. Dieje Pfade liegen meh: 
rere Ellen voneinander entfernt und gehen jämmtlich Schnurgerade fort. 
Unterwegs freffen die Lemminge das Gras und die Wurzeln ab, welche 


Die Saumeifter in der Thierwelt, 401 


hervorragen; wie man jagt werfen fie oft unterwegs und tragen dann 
ein Junges im Maul und das andere auf dem Rücken fort. Auf 
unferer Seite gehen fie vom Gebirge herunter nach dem botnijchen 
Meerbujen, fommen aber jelten jo weit, jondern werden zerjtreut und 
gehen unterwegs zugrunde. Kommt ihnen ein Menjc in den Strich), 
jo weichen fie nicht, jondern juchen ihm zwijchen den Beinen durchzu- 
fommen, oder jegen ſich auf die Hinterfühe und beißen in den Stod, 
wenn er ihnen denjelben vorhält. Um einen Heujchober gehen fie 
nicht herum, ſondern — und freſſen ſich durch. Um einen großen 
Stein laufen ſie im Kreiſe und gehen dann wieder in gerader Linie 
fort. Sie ſchwimmen über die größten Teiche, und wenn ſie an einen 
Nachen kommen, ſpringen ſie hinein und werfen ſich auf der anderen 
Seite wieder in das Waſſer. Vor einem brauſenden Strom ſcheuen 
ſie ſich nicht, ſondern ſtürzen ſich hinein und wenn auch alle dabei 
ihr Leben puheten ſollten.“ Uns intereſſirt das eigenthümliche Thier, 
welches viel Aehnlichkeit mit dem Hamſter hat, hier nur wegen ſeiner 
Neſterbauten. Im Sommer bauen ſie ſich nur kleine Höhlen, in denen 
jie nachts jicd) aufhalten, dem Winter über wird im Schnee ein ordent: 
liches Neft angelegt. Der Lemming gräbt einen Gang tief in den 
Schnee hinein, erweitert ihn am Ende zu einem Eleinen Keffel, den er 
num mit einer diden Wand von zerbijienem Gras, Blättern und 
Moos tapeziert. Bon dem Neit aus führen nun wieder mehrere 
Gänge im Schnee fort nach der Oberflähe und auch abwärts bis auf 
den Grund, wo unter der Schneedede Moos und Gras im Winter- 
traum liegt, und dem Lemming nun zur Nahrung in den fargen 
Wochen wird. Nicht minder. wunderlicdhes wie von den Lemmingen 
berichten die alten Naturforjcher, wie Klaus Magnus, von dem Biber, 
der leider bei uns in Deutjchland heutzutage fait ausgerottet iſt. Er 
legt jeine Wohnung mit ganz bejonderem Fleiße an. Zunächſt jucht 
er ſich einen Fluß oder Bach, von dem er glaubt, daß in feiner Nähe 
genug Nahrung zu finden, und fein Ufer günjtig zu bearbeiten ift. 
F gräbt ſich nun der Biber vom Waſſer aus eine Röhre in das 
fer, die ſich zu einer geräumigen Wohnung erweitert, und für ge— 
wöhnlich zu ſeinem Aufenthalte dient. Die Röhre mündet jedöch 
4 Fuß tief unter dem Wajjerjpiegel ind Wajjer, damit, wenn der 
Froſt auch noch jo jtark wird, die Eisdede ihm den Ausgang nicht 
mit verjperrt. Nicht weit von diejer Höhlenwohnung nun, oft aber 
auch mitten im Strom auf einer rojtartigen Unterlage, baut der fleißige 
Biber ſeine „Burg“. Der Biber ſchichtet zu dieſem Zwecke einen 8 bis 
10 Fuß hohen, 10 bis 12 Fuß im Durchmeſſer enthaltenden backofen— 
artigen Hügel mit ſehr dicken Wänden auf. Der Hügel beſteht aus 
abgeſchälten Holzſtücken, die unregelmäßig zuſammengeworfen und mit 
Sand und Schlamm vermauert ſind. An diejem Hügel befindet ſich 
ein Burgverlieg mit einem Kuppelgewölbe und einem aus Holzipänen 
hergeitellten Parfettfußboden, und eine Vorrathsfammer, in welcher 
die Nahrungsmittel, hauptiächlich junge Wurzeln und das Lieblings: 
gericht, Seerojen, aufgejpeichert Tiegen. Die Wände find auffallend 
latt und man behauptet, dat der Biber zur Polirung jeinen 1 Fuß 
(augen Schwanz benuße, was en Gartwright verneint, der vielmehr 
behauptet, daß der Biber die Glättung lediglich mit feinen Füßen ber: 


402 Die Saumeifter in der Thierwelt, 


vorbringe. Den Bauftoff holt ſich der Biber durch jein immens jchar- 
fes Gebiß, mit dem er nad) und nad) Bäume von Fußdicke zu fällen 
imſtande ift. Die Burgen dienen übrigens dem Biber nicht zur eigent- 
lihen Wohnung, jondern bilden mehr jeine Rettungsjtätte, wenn der 
jteigende Wafferftand fie aus ihren Erdhöhlen vertreibt. Beiläufig 
wollen wir noc erwähnen, daß der Biber früher als ein richähnlichen 
Thier galt, und deßhalb von den en Mönchen aud in 
— — Ben werden durfte. Biberjchwanz iſt befanntlich eine 
ohe Delikateſſe. 

Den Beſchluß der Krallenthiere macht die Familie der —— aus 
welcher jedoch nur das Kaninchen in den Rahmen unſerer Betrachtung 
ehört. Das Kaninchen ſucht ſich für ſeinen Bau meiſt jandige, 
Bünelige Gegenden aus, und jtedelt ſich hier zu Taufenden an, jo daß 
e3 den Bauern nicht geringen Schaden zufügt. — arbeitet es 
eine Röhre, nicht weiter als ſein Umfang Kran in das Erdreich hinein, 
läßt diefe dann wieder aufwärts fteigen und erweitert fie jchließlich zu 
einem Keſſel, der al3 Familienwohnung dient. Eine Kinderjtube baut 
diejes Thier ertra und e8 tft intereffant, dat die Kaninchenmutter aus 
ihrem Pelz die Haare rupft, um für ihre Jungen das Neſt möglichjt 
weich zu poljten. Bon der Familienwohnung führen nun mehrere 
Röhren ins Freie, oft auch zu anderen Bauten hinüber, da dag Ka— 
ninchen auch gejellig lebt. Hiermit können wir die Gruppe der Nager 
verlajjen, und uns den Scharrthieren, an erjter Stelle darunter dem 
Gürtelthier zuwenden. Die verjchiedenen Arten, welche hierher ge— 
hören, das Riejengürtelthier, der Schildwurf ıc. graben jich ſämmtlich 
unterirdiiche Gänge wie der Maulwurf und zeigen, obwohl jte jonjt 
plump find, zum Graben eine bejondere Gejchiklichkeit. Die Baue 
eritreden jich gewöhnlich etwa 13 bis 14 Fuß in die Länge, neigen 
ih dann plöglih in abſchüſſiger Richtung ungefähr 3 bis 4 Fuß 
und machen —— Biegung, indem ſanft anſteigen. Sehr 
gern werden dieſe Baue unter Ameiſen- und Termitenbauen angelegt, 
damit das Gürtelthier, das ſeinen Bau nur nachts verläßt, recht be— 
quem die Ameiſen und Termiten verſpeiſen kann. Daß das Thier ſich 
ſchnell einen Bau hen weiß, iſt natürlid), da ihm dabei feine 
Knochenjtüde und das Gebiß, das M bis 100 Zähne aufweiit, jehr 
uftatten fommen. Auf die Termitenburgen hat es ein anderer Amei— 
Pen arrer rl mehr abgejehen, nämlich das fapijche Erdferfel, das 
die Ebenen Südafrikas, bejonders das Kapland bewohnt, und ſich mit 
jeinen Vorderpfoten die vier, und Hinterpfoten, die fünf jtarfe Zehen 
befigen, mit ungeheurer Schnelligkeit in den Boden einzugraben ver: 
iteht, jo daß es in wenigen Minuten vor den Augen jeiner Verfolger 
verjchwindet. 

Unter den Säugethieren finden wir auch bei dem Schnabelthier eine 
außerordentliche Befähigung für die Baufunft. Erjt dem englijchen 
Naturforicher Bennett iſt es geglüdt, authentische Nachrichten über 
das Schnabelthier, von dem man früher behauptete, daß es Eier lege 
und ausbrüte, zutage zu fürdern. Das Schnabelthier hält ſich haupt- 
jählih am Waſſer auf, und legt jeine Wohnung infolge dejjen am 
Ufer eines jtillen Stromes an. Es gräbt zwei Röhren ing Ufer eine 
vom Waſſer aus und eine über dem Wajjer, welch' legtere jorgfältig 


Die Saumeifter in der Thiermelt. 403 


hinter Gewächſen und Hängepflanzen veritedt wird. „Die erſte Rich— 
tung“, jagt Adolf Müller, „geht vom Wafjer aufwärts, windet fich in 
gi längeltem Lauf und erjtredt — bis zu einer Länge von 
bis 30, ja ſogar zuweilen bis zu uß, in welch' letzterem Falle 
die Verfolgung des Thieres die eifrigjten Gräber ermüdet.“ Das 
Neit, das y‘ am obern Ende der Röhre befindet, hat eirunde Form, 
und ijt mit Gras und Kräutern — Hier hätten wir die große 
Klaſſe der Säugethiere erſchöpft, denn die noch mangelnden Hufthiere 
und Seeſäugethiere bieten in veing He den Nejtbau nichts intereffan- 
tes, und nur des fogenannten „E abo e3“ ſei hier noch in Kürze ge: 
dacht. Das Elenthier in Nordamerika, in Polen und Rußland baut 
ſich nämlich im Winter, wenn der Schnee jo hoc) liegt, daß es bei 
jedem Schritt und Tritt, wenn es jeinen Berfolgern entgehen wollte, 
verjinfen würde, eine Winterwohnung, in der es fich beitändig aufs 
hält. Sie iſt jehr primitiver Art, denn jie bejteht aus einem großen 
(ag, in_dem der Schnee jo niedergejtampft und feitgetreten ift, daß 
} a3 Thier bequem darauf bewegen kann. Won diefem Plate aus 
ührt nun ein wahres Brugg von unendlichen Schneegängen kreuz 
und quer herum, in denen der Elch vor allen Verfolgungen jicher iſt. 
Man wei von einem jolchen Elchhof, daß er beinahe eine Meile im 
Durchmeſſer enthielt. In diefer Elchburg, feiner Feſtung, weiß ſich 
der Eich vor den Wölfen am ficheriten, die fich nicht in die Gänge 
herunterwagen, und nur der Jäger weiß ihn auch hier in feiner Veſte 
mit der Kugel zu erreichen. Dieje Art des Hofbauens findet ſich 
übrigens aud) bei den Wapitihirjchen vor. 





Auf Amwegen. 


Novelle von Hermann Birkenfeld. 


— Sf us vier friichen, Fräftigen Jünglingskehlen —— das 
J bend⸗ 
ſtille eines der erſten warmen Frühlingstage, welche 
die Bewohner des Städtchens Rhedern ins Freie ge— 
lockt hatten. 

Der Wirth in Derenſtein war eine Art Phönix unter 
N 9 den Wirthen der Gegend. Selbſt wenig von der Kultur 
ei) befect, bot zwar auch fein Lofal nicht viel von den ſich mehr 
und mehr auch in Kneipen dritten und vierten Ranges einbürgern- 
den Heinen Lururiofitäten; jchlichte Eichentijche, weiß getünchte 
Wände, ziemlich dürftige Hängelampen übten aber auch viel weniger 
Anziehungskraft auf das promenierende Publiftum des Städtchens aus 
als der ausgezeichnete Kaffee der jauberen Frau Wirtbin. Dazu kam, 
daß das Haus etwas abjeits vom Wege jo laujchig verjtedt lag und es 
fic gar zu hübjch träumen ließ in den zahlreichen Lauben des weiten 
Gartens, welcher vor hundert Jahren vielleicht der — der adligen 
Gutsherrſchaft, heute nur noch Spuren vergangenen Glanzes zeigte, 
einen mächtigen Hainbuchen-Laubgang, Fragmente von etlichen Göttin— 
nen, eine in ſich ſelbſt verſunkene ſteinerne Sonnenuhr und ein paar 
Urnen, welche auf halb zerbröckeltem Sockel Mutter Natur allmählich 
mit grünem Moos und üppig wucherndem Mauerpfeffer reichlich be— 
fränzt hatte. Schloß Derenſtein — ſolch ſtolzen Namen führte der 
unförmliche vieredige Steinkajten, das Wohnhaus des Pächters, immer 
noch) — war aljo weit entfernt, irgend nennenswerthen Anfprüchen 
auf Komfort entgegenzufommen, aber man fand jich behaglich dort, 
und das Lofal war einmal immer das von der „guten Welt“ des 
Städtchens — geweſen. Ich kenne einen Wirth, der ſo grob 
iſt, daß er ſeinen Gäſten, ſelbſt denen des Stammtiſches, die größten 
Unzweideutigkeiten ins Geſicht jagt, deſſen Lokal eines der dumpfeſten, 
düſterſten in der Stadt iſt, deſſen Speiſekarte ſpärlich, deſſen Wein— 
karte noch geringer iſt, und der dennoch jahraus, jahrein ſeine Zimmer 
mit Gäſten aus den erſten Kreiſen der Stadt gefüllt ſieht. Woher 
kommt das? Was der Mann verabreicht, iſt gut, doch bildet dieſer 





Auf Ummwegen. 405 


Umjtand nicht die Hauptanziehungsfraft. Dieje liegt anderswo: das 
Lokal ijt fajhionable — das iit alles. 

Sp war e3 auch mit Derenftein, und deshalb hatte heute Mittag 
bei Tiſch die Tante Betty noc einmal zu einem gemeinſchaftlichen 
Ausfluge dahin gerathen. 

„Es iſt der legte Tag heute, daß Fritz bei uns ift, und den wollen 
wir bei jo wunderjchönem Wetter doch nicht ganz zu Haufe ver- 
trauern.” 

„ber Fritzens Sachen find ja noch nicht jänmtlich gepadt“, hatte 
Tante Fanny jchüchtern eingewandt. Doc Tante Betty war die ent: 
— — der beiden Schweſtern und hielt entſchieden das Scepter 
in Händen. 

„Ach was“, erwiderte ſie, „die paar Kleinigkeiten kann ich ihm 
morgen früh noch — Und Hildegard, das arme Kind, 
geht auch gern 'mal in die köſtliche Luft hinaus; fie iſt ohnehin ganz 
angegriffen von dem ewigen Stubenhoden.“ 

Das „arme Kind“, welches in der That ziemlich trübe drein 
ſchaute, war die elternloje Nichte der beiden ältlichen Jungfern, ein 
allerliebites Mädchen von nahezu ſiebzehn Jahren, deren rojiges Ge- 
jihtchen von einer Fülle blonder Haarloden umrahmt, ſonſt ebenjo 
froh und unbefangen zu lachen gewohnt war, wie es heute auf den 
erjten Blick eine Befangenheit verrieth, welche durch die Worte der 
Tante bis zu tiefem Erröthen gejteigert wurde. Gegen einen Ausflug 
hatte weder jte noch jelbitverjtändlich Frig Waldau etwas einzumwen: 
den, der glüdliche Gymnaftalabiturient, welchen die beiden Damen des 
Haufes mehr aus Nüdficht auf jeine Verwandten als des Gewinnes 
wegen vor acht Jahren bei ſich aufgenommen und jeitdem wahrhaft 
mütterlich verjorgt hatten. So war man denn eine Stunde jpäter nad) 
Derenjtein hinausgewandert und hatte fich bet bejcheidenen Geſprächen 
föjtlich vergnügt. Hildegard bewog ein paar Freundinnen, Fritz drei 
jeiner Bekannten zur Theilnahme an der Kleinen Erfurfion, und vier 
Abiturienten und ebenjoviele Lebensfrohe, friihe Mäpdchenblüten in 
jenem Alter, welches allein jchon dem Körper Reiz und Anmuth genug 
verleiht, und in welchem der empfängliche weibliche Geiſt am ehejten 
geneigt iſt, jich für Schönes zu begeiitern, Edles mitzuempfinden, und 
in welchem das Auge noch jo keck und zuverfichtlich in die Welt hinein- 
blickt, al3 jet nie em füher Traum zerjtört, nie eine grünende Hoff: 
nung zu Örabe getragen — vier jolcher Paare, jage id), und was 
braucht'3 mehr, um ſich Himmlisch zu amüfiren! Allenfalls etwas 
goldenen Sonnenschein, ein wenig würziger Waldesduft, ein Himmels- 
blau und am Abend die — mächtige Dekoration des Sternen— 
heeres an der tiefblauen Domkuppel, welche ſich über Wald und Flur, 
Dorf und Stadt ſpannt, als bildeten dieſe alle nur das Pflaſter im 
Boden einer byzantiniſchen Moſchee. 

In dem Alter, in welchem ſich die vier jugendlichen Paare be— 
fanden, iſt unter ſolchen Nebenbedingungen gewöhnlich bis zu Anflügen 
— Schwärmerei kein weiter Weg. Und vollends heute, wo die 
eiden „Sinder“, d. h. Fritz Waldau und ak ohnehin elegiich 
geitimmt waren! Felix Dllner, der Sohn des biederen Kreisphyſikus 
in Nhedern, Hatte, um einem längeren, ihm etwas zu traurigen 


406 Auf Umwegen. 


Schweigen ein Ende zu machen, ein Lied vorgejchlagen, und jo ging 
3 num jingend den Beinamen weiter. 


‚Andre Städichen fommen freilic, 
Andre Mädchen zu Geficht: 
Ad, wohl find es andre Mädchen, 
Doch die Eine ift es nicht.“ 


Der Gejang verjtummte „Wo it Waldau geblieben?“ rief plößlich 
Karl Strenger, welcher den Fleinen & beichloß, und 

„Sa du mein Gott, Betty, wo ſind die Kinder?“ ertönte die be- 
jorgte Stimme der Tante Fanny. 

„Sch glaube, Hildegard ift mit Herrn Waldau vorausgegangen“, 
beeilte ſich Fräulein Hedwig, ein niedliches, etwas Fofettes Barth n, 
einzumwerfen, und ihr Begleiter Ollner verfehlte nicht, einen gewiſſen 
ichnippiichen Ausdrud in ihrer Stimme wahrzunehmen. 

„Aber das iſt ja nicht möglich!” rief Tante Fanny zurüd. „Ich 
habe die beiden vor furzem nod) hinter mir gehört.“ 

„So laß uns einen Augenblid warten; fie werden uns bald ein- 
geholt haben“, erwiderte Tante Betty. 

Doch man harrte längere Zeit vergebens, ein Moment, welches 
Karl Strenger Gelegenheit gab, jeiner für einige Schwärmerei nicht 
unempfindlichen hübjchen Nachbarin einige der dummſten Dinge zu 
jagen, welche k über feine Lippen gekommen waren, ch ante 
— ihrer Beſorgniß wiederholt Ausdruck gab und ſelbſt Tante 
Betty ein wenig den Muth ſinken ließ. 

„Die beiden ſind vielleicht den Seitenweg gegangen, der am Ein— 
gange des Gehölzes auf den Hauptweg mündet, auf welchem wir uns 
befinden“, wagte endlich Ollner zu bemerken. Allerdings war die 
Wahrſcheinlichkeit ſeiner Behauptung ziemlich groß, wenn auch Tante 
Fanny nicht umhin konnte, einigen ee auszudrüden, und ich 
dephalb nur mit ſchwerem Herzen entichloß, der Aufforderung ihrer 
Schweiter zur Fortjegung des Seimmenes Folge zu leiſten. 

„Entweder erwarten ſie uns am Cingange des Waldes, oder wir 
treffen fie , vor der Stadt.“ Damit bohrte die entichlofjenere der 
beiden alten Damen energijch die Spitze ihres Regenjchirmes wie zur 
Bekräftigung ihrer Rede ın den Sand. „Und die Kinder werden dh 
erfälten, wenn wir noch länger verweilen“, fügte jie als letzten Beweg— 
grund hinzu. 

Sp jegte fi) denn die Fleine Karawane wieder in Bewegung, 
allfeitig gejpannt, wo man die Vermißten wiederfinden werde. Am 
Ende fam man bis zum Ausgange des Wäldchens, und — richtig — 
da promenirte ein jugendliches Paar auf und ab. 

„Siehjt Du wohl, Fanny, daß fie warteten?“ rief Tante Betty 
mit dem Ausdrude einer glüdlichen Stegerin. 

„Bott jei Dank, daß Ihr wieder da jeid, Kinder“, feufzte die 
Schweiter. „Welche Sorge haben wir Euretwegen gehabt!“ 

„Und uns Habt Ihr dafür hier eine halbe Stunde warten laſſen“, 
vier Fritz Waldau übermüthig. 

„sa, aber wie kamt Ihr denn in aller Welt dazu, einen anderen 
Weg zu gehen als wir?“ fragte jetzt Tante Betty, während fie ihren 


Auf Umwegen. 407 


forjchenden Blid von einem zur anderen fahren ließ. Hätte der Mond 
etwas heller geleuchtet, das tiefe Roth, von dem die Wangen der 
Nichte übergofjen wurden, wirde den Augen der Fragftellerin wohl 
nicht entgangen jein. 

„ir — — waren ein wenig langjamer gegangen als Ihr, d. h. 
wir — hatten Euch aus dem Geſichte verloren“, erwiderte Hildegard 
zögernd, „und — —“ 

„Ja, wir konnten unmöglich wijjen, daß Ihr alle durch den tiefen 
Sand des Weges da waten würdet und glaubten nicht anders, als 
dat Ihr Euch) vor uns befändet, als wir den GSeitenpfad durchs Ge- 
büjch nahmen“, ergriff Waldau das Wort. „Ihr müßt auch jehr 
jchnell marjchirt jein; denn ganz plößlic) waret Ihr unjern Bliden 
entihwunden.“ 

„Sa, wirklich ganz plöylich, Tante“, beftätigte die Nichte an 
Fritzens Seite. „Ic jagte gleich —“ 

„Kun, die Hauptjache ıjt, daß Ihr wieder da jeid“, unterbrac) 
Tante Betty den Satz. Jetzt müſſen wir eilen, jonjt kommen wir 
jämmtlic, zu jpät nad) Haufe. Aljo vorwärts marſch, und hübſch bei 
einander geblieben!“ 

Weder Fri Waldau noch jeine Begleiterin hatten den Geiten- 
weg, welchen ſie zujammen eingejchlagen, bereut, im Gegentheil — 
— Tante Fanny Kr vor Angit um die vermißten Schußbefoh- 
lenen verging, hatten dieje die ſüßeſte Stunde verlebt, die Seligfeit 
des Geftändnijjes einer Liebe empfunden, welche fie ſchon lange halb 
unbewußt zu einander hingezogen hatte So jelten es in der That 
vorkommt, daß Perjonen, welche mit einander aufgewachien find, ein 
mehr al3 freundlich-gejchwifterliches Verhältniß zu einander eingehen, 
jo hatte doch der jegt fait zwanzigjährige Fri Baldau in den lebten 
Jahren etwas mehr als Brüder ichfeit für die reizende Hildegard 
Römer gezeigt. Die alten Tanten hatten zwijchen den „Kindern“ ent- 
weder feine andere Neigung als die aus ſolch langjährigem Zujam- 
menleben leicht entjpringende Gejchwilterfreundjchaft bemerkt, oder fie 
betrachteten gar Fritz, der ohnehin ihr erflärter Liebling war, als eine 
demmächitige günjtige Partie für die Nichte, wenn dieje auch etwas 
lange würde harren müjjen, bis ihr blondlodiges Köpfchen ſich unter 
dem Myrthenkranze neigte. Jedenfalls hatte man die zwei gewähren 
ler und aus ihrer Sinderfreundichaft erblühte zulegt die zarteite 
beiderfeitige Liebe. Der Optimismus iſt ja ein Vorrecht der Jugend, 
und in Fritz Waldaus Innern war es längjt feititehende Thattache 
daß er nach höchſtens jeihs Jahren ſich eine geficherte Exiſtenz als 
Arzt erringen und dann jeine Eleine Auserwählte heimführen werde. 
Auch er war elternlos, aber weder Onkel nod) Tante, noch die ganze 
vornehme one jeiner mütterlichen Verwandtſchaft erjchienen ihm als 
Hinderniß an der Verwirklichung jeiner Pläne. Daß er feinen Pfennig 
jein eigen nannte, wußte er jehr wohl, hielt es aber für Pflicht des 
reichen Einderlofen Oheims in Gellheim, den er ohmehin jpäter einmal 
beerben würde, für feine Erziehung Sorge zu tragen. 

a hatte aljo längit gefühlt, day jein ganzes Denken mit ihr 
verwebt jet, und heute Abend, wo die laue Luft, die Umgebung, die 
morgen bevorjtehende Trennung ihn ohnehin weicher jtimmten, als es 


408 Auf Umwegen, 


fonjt jeine Art war, heute mußte er zu Hildegard reden und ihr fein 
Herz öffnen, Nachdem jie beide eine Weile langjam nebeneinander 
hergejchritten waren, bemerkte Hildegard mit einem Male, daß fie die 
übrige Gejellichaft völlig aus dem Auge verloren hatten, und erjchredt 
wollte jie ihre Schritte bejchleunigen. 

„Bielleicht jind jie in den Seitenweg dort eingebogen“, jagte er, 
indem er auf einen rechts vom Wege ab tiefer in das Gehölz führen- 
den Pfad deutete. „Du weißt ja, daß diefer Weg jpäter wieder in 
den anderen einmündet. Er verjchwieg, was er jehr wohl wußte, 
nämlich), daß die Gejellichaft längſt an dem Seitenpfade vorüberge- 
gangen war, als er die Umriſſe der einzelnen Perjonen noch vor Augen 
gehabt hatte. Sie dagegen folgte ihm zaghaft in das Gehölz. Sie 
redete jet wieder feine Silbe, jte fühlte nur, daß jie an jeinem Arme 
bing, daß fie allein war mit ihm, jenem Schuge anvertraut. Ihr 
Herz Elopfte zum Zerjpringen, während er ihre Linfe zwijchen jeine 
Hände nahm und leije einen Kuß darauf zu drüden wagte, aber jie 
ließ ihn gewähren — fie fühlte, dat fie völlıg willenlos war, fie jchritt 
neben ihm hin wie in einem jeligen Traume. 

Er beugte ſich zu ihr nieder und ſah, wie zwei große Tropfen 
auf ihren Wangen erglänzten. „Hildegard“, rief er in freudigen, 
Schred, „jo ijt e8 wahr, daß Du mid) Liebjt? jag’ es mir nur ein 
einziges Mal, ein einziges leiſes „ja“, und ich bin der glüdlichjte 
Menſch auf Erden!“ 

Statt zu antworten jank fie ihm weinend an die Brut. Er 
richtete ihr Köpfchen auf, und ihre Lippen vereinigten ſich in einem 
langen erjten Kuſſe. — — 

„Wenn Du nur nicht morgen reiſen müßteſt!“ klagte ſie nach 
einer Pauſe zwiſchen Weinen und Lachen. 

„Bir müſſen uns in das Unvermeidliche finden“, erwiderte er, 
indem er janft jeinen Arm um ihre zierliche Taille legte. „Und dann, 
weißt Du, werde ich anfangen zu arbeiten, um jchnell zum Ziele zu 
fommen.“ Und er entwidelte ihr alle jeine Pläne. 

„Aber id) höre oft von Dir, ja? — — Doch nein“, fügte fie 
nachdenklich hinzu, „wir wollen Lieber nicht zu eifrig Eorrejpondiren, 
damit Du nicht von Deinen Arbeiten abgehalten wirt. Warte einmal 
— zwei Briefe im Monat! Bin ich un eiheiden?" Lächelnd jah fie 
zu ihm empor, indem ihre Eindlich hellen großen blauen Augen ihn jo 
aufrichtig, jo vertrauend anglänzten! 

„Nein, Schatz, alle vierzehn Tage muß ich mindejtens von Dir 
hören. DO, e8 wird jedesmal ein Feittag für mid) jein, wenn ein Brief 
von Dir mir immer wieder von neuem jagt, was für ein glüdlicher, 
beneidenswerther Menſch ich bin!“ 

„And ich werde jedesmal die Stunden von einem Briefe bis zum 
andern zählen, und je länger die Briefe, dejto lieber wird es mir jein.“ 

Unter jolchen —— waren ſie aus dem Gehölz heraus— 
getreten, fanden aber noch keine Spur von den Tanten und deren 
Begleitung, weßhalb Waldau richtig vorausſetzte, daß die anderen viel— 
leicht noch weiter zurückgeblieben ſeien, aber bald nachkommen würden. 
So blieben die beiden am Wege ſtehen, um die Geſellſchaft zu er— 
warten. 


Auf Umwegen. 409 


Am folgenden Morgen gab es in dem weitläuftigen hochgieb- 
ligen Hauje am Markt zu Rhedern vier rothgeweinte Augenpaare; 
denn bei der allgemeinen Abjchiedsthränenjchleufenöffnung fonnte 
Kathrine, die alte Magd, unmöglich unthätig bleiben; auch fie hatte 
„den jungen Herrn Fritz“ mit jeinem feden, offenen Wejen während 
der acht Jahr, die er ja zum Theil auch unter ihrer Pflege zugebracht 
Fre ganz in ihr Herz geichlofjen und konnte jet, als er zum Ab- 
chied ıhre harte Hand drüdte, nur ein verftümmeltes „dann behüt' 
Sie Gott, Herr Fritz“ über die Lippen bringen, um im nächjten Augen- 
blide ihr Geficht in der großen blauen Küchenjchürze zu verbergen. 
Die beiden alten Jungfern entliegen ihren Pflegefohn mit einer Menge 
guter Ermahnungen, und Tante Fanny wurde nicht müde, ihn zu er- 
Innern, daß er nur B recht vorfichtig jet auf der Reife und — ſein 
Gepäck acht habe. Endlich fuhr der Poſtwagen vor — Rhedern war 
noch nicht Bahnſtation — der Schwager blies ſein Liedchen, und Fritz 
ſollte einſteigen. Hildegard ließ ſich nicht ſehen. „Wo nur das Kind 
ſtecken mag!” meinte Tante Fanny. 

„Ich — habe ſchon — — Abjchied von ihr genommen“, brachte 
der angehende Student gepreit heraus — jeßt wurde auch ihm immer 
jchwerer ums Herz. "Seiben jie Hildegard nod) einmal, Tante Betty, 
— Und auch den alten Doktor Dllner. Webers Jahr fomme ic) 
wieder!“ 

Der Poſtillon mahnte zur Eile, er befürchtete die Eiſenbahn nicht 
rechtzeitig zu erreichen — die Pferde zogen an, noch einen Blick jandte 
Fritz Waldau hinauf zu dem Erferfenjter oben im Haufe, wo hinter 
den weißen Gardinen ein Mädchenfopf fichtbar wurde. Ein weihes 
Tuch wehte hinter den Scheiben — Fritz verjtand den Gruß und gab 
ihn zurüd. Dann ging's hinein in den thaufrifchen, goldig jchimmern- 
den Frühlingsmorgen. 

Waldau, der einzige Paſſagier im Wagen, griff wiederholt vor: 
jiotig nad) feiner Wejtentajche, bis endlich die Pferde die legten Häufer 

er Stadt Hinter ſich gelafjen A Dann zog er ein Eleines Leder: 

Etui hervor und öffnete daſſelbe. Es enthielt einen jchlichten dünnen 
Goldreif, der aber einen werthvollen Smaragd trug. Sie hatte ihm 
das Kleinod — es war ein Ring ihrer verjtorbenen Mutter, welchen 
jie jelbjt nicht zu tragen wagte — beim Abjchied in die Hand ge— 
drücdt, doch hatte er verjprechen müſſen, das Käjtchen nicht cher zu 
öffnen, bis er Rhedern verlafjen habe. 

„Es enthält ein Andenken, das Dich an mich erinnern joll“, hatte 
fie unter Thränen lächelnd ihm zugeflüſtert. 

„Wie gut Du —*8 Hildegard! Und ich — ich habe gar nichts 
für Di —“ 

„Brauche ich) denn ein Erinnerungszeichen an Dich?“ Hatte fie 
erwidert unter einem Blide jo voll fröhlicher Zuverficht, voll Ver: 
trauen und Hoffnung. 

„So wird dies mein Talisman fein, der mich vor Böſem ſchützt 
und zur Pflichterfüllung antreibt.” Das hatte er ihr feierlich ver- 
jprochen, und das war auch jett jein Gedanke, als er den Reif am 
Singer Füßte und dahinfuhr einer goldenen Freiheit entgegen, jo herzlich 

Der Salon 1887. Heft X. Banp II. 28 


410 Auf Ummwegen. . 


froh, die Feſſeln des Schullebens abgeftreift zu haben und doch — jo 


ganz anders gejtimmt als er es ſich früher für einen jolchen Reiſetag 


ausgemalt hatte. * 





Die Geſellſchaft der „Bären“ auf der Hochſchule, wo Fritz Wal- — 


dau ſeit mehr als zwei Jahren der Wiſſenſchaft oblag, bildete neben 


ein paar Corps die haute volée der Studentenſchaft. Sie trug .. 


feine Farben und hatte außer dem Prinzip, den jplendiden väterlichen 


Wechſel mit möglichiter Virtuofität durchzubringen, feine feiten ges 


jelligen Grundjäge Dafür genojjen ihre Mitglieder unter den Kom— 


militonen nur ein bedingtes Anfehen, d. h. fie wurden hie und da bes 


neidet, ohne der Generojität wegen, mit ‘welcher fie ihr Geld unter 
die Leute brachten, befondere Achtung zu geniegen. Auf befjerem 
Fuße jtand die Gejellichaft mit dem Of iefgcorpa und mit einiger 
wenigen der eriten Familien der guten Stadt, welche den einen oder 


anderen von den „Bären“ als Schwiegerjohn nicht nn willlommen - 


geheißen hätten. Das Kneip- oder bejfer Klublofal der meist der 
Ariitofratie angehörenden Gejellichaft befand ſich in einem der erjten 
Reftaurants der Stadt, und anjtatt mit commentüblichem leichtem Biere 


füllte man den gewaltigen vergoldeten Stiefelhumpen mit Vorliebe 


mit perfendem Veuve Cliquot. 

E3 war offizieller Abend der Gejellichaft, und da die Uhr über 
der Thür bereit3 auf halb zwölf zeigte, befanden fich die Anwejenden 
in theilweife recht animirter Stimmung. 

„Brofit Waldsed!“ rief der an der Spibe der Tafel ſitzende junge 
Agronome, ein Graf Torſten, jeinem Vis-A-vis zu, einem noch jehr 
ju — Geſichte, welchem der recht ſpärlich keimende weiche Flaum 
auf der Oberlippe, der ſanft ins röthliche ſpielende reine Teint ſowie 
die treuherzig offen dreinſchauenden, großen blauen Augen etwas uns 
gemein YZutrauen erweckendes verliehen. 

Der Angeredete beeilte jic) nicht jehr, der Aufforderung des erſteren 
nachzufommen. — füllte er ſein Glas, um nach bene 
das ihm vorgetrunfene Quantum feinem a Fan darzubringen, mit 
welchem er in eifriger Unterhaltung begriffen ſchien. 

„Was die beiden da unten nur mit einander haben!“ rief Lieutenant 
MWellheim, ein in der Gejellichaft oft gejehener Gaft. „Die Herren 
haben entjchieden etwas Dekan auf dem Korn, worüber fie jo an- 

elegentlich konferiren. A — Torſten, kennen Sie die famoſe 
Gefchichte, die Liſſen neulich über Helleritein mitbrachte? Sein Ver: 
mögen war befanntlid) am Rande, der Onfel wollte aud) nicht mit 
dem Wechſel herausrüden, da ift er eines Tages auf und davon ges 
gangen.” 

"Wohin denn?“ riefen drei, vier Stimmen zu gleicher Zeit, und 
auch der Junge Baron von Waldseck wurde aufmerfjam. 

„Wohin? Mein Gott, dahin, wohin fie alle jegeln, wenn fie in 
der alten Welt auf dem Boden ihrer Weisheit und ıhrer Kaſſe ange— 
fommen find, nad) New-York, San Francisco, was weiß ich! Jeden— 
falls nad; Amerika. Liſſen hat die Sache aus bejter Quelle — die 
kleine Hulda Bellermann vom *theater in Berlin, bei welcher er 
Nachfolger des diden Hellerjtein geworden ijt, hat's ihm ſelbſt erzählt.“ 


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Auf Ummwegen. 411 


„Schade um den guten Kerl! Kurt Helleritein war eigentlich ein 
famojer "Gejellichafter und höchſtens ein. bißchen Teichtjinnig“, rief 
Waldsed. „Sie haben ihn wohl nicht perjönlic) gekannt, Herr Wal: 

dau?“ wandte er fich dann an jeinen Nachbar. 
„perjönlich nicht; wohl erinnere ich mich, Herrn von Hellerjtein 
zuweilen gejehen zu haben“, erwiderte der Angeredete. 

„WBar:wirflid) bei allen dummen Streichen, die er machte, ein in- 
tereffanter Mann und eine treue Seele Allerdings jegte er beim 
Studium hier und in Berlin in drei Jahren fait jein ganzes Erbe zu, 
aber — na, das war am Ende auch nicht weit her, höchitens vierzig- 
taujend Thaler, aber — gute Familie. Hätte doc) nicht geglaubt, daß 
die Seinigen ihn jo har: hilflos fiten liegen. Wer weiß, wo der 
arme Teufel jett ſteckt! Wir hätten ihm gern geholfen, aber das war 
ein Tropfen Wajjer auf einen heigen Stein; jeine Schulden jollen 
ſich auf mehr als Sünfzigtaufend belaufen haben.“ 

„Was jtudirte denn der Herr?“ warf Waldau ein. 

„Kein Gott, was man jo jtudiren nennt! Eigentlich Jus, worin 
er am Ende noc) hätte Garriere machen fünnen. Nebenbei aber war 
er famojer Reiter und hatte ein paar Säule! 'ne Schande, denfen zu 
müſſen, daß jet irgend ein Bengel aus dem Comptoir einen davon 
in der Auktion eriteigert hat und nun damit paradirt. 

„Run, die Thiere find noch mit genauer Noth in beſſere Hände 
gekommen!“ rief der Lieutenant. „Liſſen jcheint fich völlig zum Erben 
des Abgejegelten aufgeworfen zu haben — er fand die Gäule zufällig 
bei einem Händler in Berlin und hat fie von diefem für einen Spott: 
preis eritanden.“ 

„Allo die Ehre wäre gerettet”, lächelte Fritz Waldau, indem er 
den Nachdrud * das Wörtchen „die“ legte. 

„Was machen wir morgen nach Tiſch?“ rief jetzt Torſten. 

„Ich für meinen Theil muß auf alles verzichten“, erwiderte 
Waldseck. „Meine Mama nebſt Fräulein Schweſter haben mir geſtern 
ihren Beſuch für morgen angekündigt.“ 

„Aber Ihr anderen ſeid doch e⸗ 

„Dirkſtein will morgen Nachmittag abjolut ins chemiſche Labora— 
torium; er jagt, er müſſe jet die Chemie durd) eigenes Erperimentiren 
fennen lernen.“ 

„Nicht Schlecht! Alle Wetter, Dirkitein, ift das Dein Ernit? 
Chemie durch eigene Experimente zu erlernen iſt ein famojer Gedante! 
Willit Du wirflih ins Laboratorium, Mann?“ 

„Leider. Ich muß doch 'mal thun, als ob ich meine chemijchen 
Kenntnijje erweitern wollte! Ihr wißt ja, der alte Profeſſor dort ijt 
ein Freund meines Vaters und hat mid) en in jein Haus ein- 

eladen. Da muß ich doch auch jene Wiſſenſchaft einmal beehren. 
nangenehm ijt mir nur, daß ich mich jo ganz allein zwijchen all’ den 
Strebern bewegen joll.“ 

„Wenn's Ihnen recht ift, Herr von Dirkjtein, jo gehen wir zus 
jammen; ich bejuche die chemijchen Praftifa letzthin ziemlich vegel- 
mäßig, erbot fich der junge Waldan. 

orjten war verjtimmt. „Der eine friegt Beſuch, der andere will 
durchaus in die Giftbude 'rein, da ſoll fic) der Teufel amüfiren! Uns 
28* 


«“ 


412 Auf Umwegen. 


anderen bleibt dann natürlich nichts übrig als unjere ordinäre Spazier- 
fahrt morgen Nachmittag, und dazu bedarf es freilich Feiner Vorbe— 
rathungen. Aber morgen Abend jehen wir uns im Theater, was? 
Und nachher fommt Ihr in meine Wohnung. Ich Hoffe, Sie erfreuen 
mic aud) durch Ihren Beſuch, Herr Waldau“, wandte er jich höflich 
an den Gaft. „Ueberhaupt jollen Sie ung willfommen fein, wenn Sie 
jih uns anjchliegen wollen.“ 

Der Angeredete dankte. „Ich fürchte, daß mir mein Studium zu 
wenig Zeit läßt, nach Wunſch von Ihrem freundlichen Anerbieten Ö ⸗ 
— zu machen. Morgen Abend werde ich Ihrer Einladung Folge 
eiſten.“ 

„Soll mid) Ka Herr Waldau. Alſo auf Wiederjehen morgen 
Abend! Ich mu heim. Damit griff Torften nad) Hut und Stod 
und jchritt der Thür zu, und aud) Waldau und Dirkitein verab- 
ichiedeten ſich. 

Draußen mwehte eine fühle Nachtluft. Frig Waldau trennte ſich 
bald von jeinen Begleitern und juchte den Weg nad) jeiner Studenten: 
wohnung. Das erite, worauf hier jein Blick fiel, war ein a mit 
dem Boitjtempel „Bonn“, Er kannte die Handfchrift, und ſchnell zer— 
riß er das Couvert, um von dejjen Inhalt Kenntniß zu nehmen. Es 
waren mehrere eng bejchriebene Bogen, die er aufmerkſam durchlas. 
Dann warf er die Blätter auf den Tiſch, jtügte den Kopf in die 
Hände und jtarrte eine Weile nachdenklich auf das Papier hın. 

„Sa, ja, Felix, Du bift ein guter Slerl, ich wußte es und — id) 
wollte, ich könnte Dir's danken“, Karte er. 

Nicht oft hatte Fritz Waldau in der Gejellichaft verfehrt, in 
welcher wir ihn heute angetroffen — es war vielmehr erjt, jeitdem er 
ſich von jeinem Freunde Dllner getrennt hatte, daß er, von Waldsed 
eingeladen, mit dieſem hier und da im — mit den „Bären“ ge— 
ſehen wurde. Sein reichlicher Wechſel erlaubte ihm manche die ge— 
woͤhnlichen Mittel eines Studenten überſchreitende Ausgaben, und ſein 
elegantes geſellſchaftliches Benehmen ließ ihn den jungen Lebemännern 
als eine ganz gute Acquiſition erſcheinen. Aber er wußte ſehr wohl, 
daß ihm die Mittel nicht zu Gebote ſtanden, um alle — der 
reichen Elegants mitzumachen, und zudem erlaubte ihm ſeine Zeit nicht, 
ſich enger an dieſe anzuſchließen. Sein Hauptgedanke und die Trieb— 
feder ſeines Fleißes — und er hatte wirklich mehr gearbeitet als ſein 
Freund Felix, welcher um ſein ganzes Geheimniß mit Hildegard Römer 
wußte — war unaufhörlich „jie 5 der er beim Scheiden gelobt 
hatte, ihr gemeinſchaftliches Glück zu fördern und ihr zu zeigen, daß 
er ein Mann ſei. Wie ſtolz hatte ſeine Bruſt ſich — bei dem 
Gedanken, daß fie verſprochen hatte, ſein eigen zu werden, daß er ſein 
Schickſal in Händen hätte und fein Glück ſelbſt jchmieden und modeln 
fönnte, bis es glänzend genug jein würde, um fie aufzufordern, es mit 
sl zu theilen; wie jehnlich hatte er während der erjten Semeſter ihre 
Briefe erwartet und wie gewifjenhaft ihre Findlich frommen Ermah— 
nungen, in welchen er den guten Kern jo leicht herausfühlte, zu be— 
folgen gejucht! Und jet? Jetzt ſaß er da und las den Brief des 
Freundes, der ihm von ıhr erzählte und ihm Vorwürfe machte wegen 


Auf Ummwegen. 413 


jeines Verhaltens gegen jeine „Braut“, wie er felbjt fie früher jo gern 
genannt hatte. 

„Du weißt“, jchrieb Felix Ollner, „dat ich kürzlich ein paar Tage 
u Haufe war, und fannit Dir denken, daß ich nicht umhin fonnte, 
ihre Tante und fie zu bejuchen. Pait Du wirklich jo lange nichts 
von Dir hören lafjen, Fri? Fräulein Römer fam mir mit derjelben 
Herzlichkeit entgegen wie früher, jie ijt überhaupt in mancher Hinficht 
diejelbe geblieben, und jedenfalls hat fie fich nicht zu ihrem Nachtheil 
verändert, doc) jchien fie, mir — ernſter als ehemals und, wäh— 
rend ſie mit mir ſprach, nicht ganz frei von Befangenheit. Als wir 
einen Augenblick ungeſtört waren, klärte ſich mir den Grund derſelben 
auf. Wie zufällig brachte ich das Geſpräch auf Deine Perſon, und 
ich ſah, wie ſie erröthete. „Sie ſtehen gewiß mit sch nod) in leb- 
haftem Briefwechſel?“ meinte jie nach einer nachdenklichen Eleinen 
Pauje Ich jagte ihr, daß Du nie ein bejonders eifriger Correſpon— 
dent gewejen wärejt, und e3 war, als ob diefe Antwort ihr gewiſſe 
Erleichterung geboten hätte.“ 

Raben te fürzlich von ihm gehört?“ fragte fie mich. 

„Seit er wieder zur Univerjität gereift ijt, nicht“, erwiderte ich; 
„Sein leßter Brief datirt aus Gellheim.” 

„So jcheint er auf der Univerjität wohl os Arbeit zu haben, 
um — an anderes zu denfen. — O, Herr Ollner“, brach jie plöglich 
hervor, „glauben Sie, dag — daß —“ fie zügerte. 

„Dar was, Fräulein Römer?“ 

„Daß Fritz leichtjinnig werden könnte?“ 

Du darfit mir glauben, daß ich mit voller Kraft für Dich eintrat. 

„Aber denken &e ſich: ſonſt jchrieb er mindejtens jede Woche, 
und num iſt jchon mehr als ein Monat vergangen, feit ich nicht die 

eringite Nachricht von ihm habe. D, wenn er wühte, wie viel trübe 
tunden er mir durch jein Schweigen bereitet, er würde die Zeit fin- 
den, mir wenigitens ein paar Worte, einen Gruß zu jenden!“ 

Ich erinnerte fie daran, dag Du möglichertweite in der That mit 
einer größeren Arbeit beſ Abe jeiejt, daß ein Brief verloren gehen 
fünnte — bei diejer Entjchuldigung jah I mich groß an. „Ein 
Brief mag verloren gehen, aber nicht vier, fünf Briete“ 

„So haben Sie ihm gejchrieben ?“ 

„Wiederholt habe ich es gethan, aber ohne Erfolg, ohne auch nur 
eine Zeile, eine Sılbe ala Antwort. Jetzt 5 — werde ich warten, 
bis er ſchreibt. — Herr Ollner, ich bitte Sie, ſchaffen Sie mir Licht 
in dieſes Dunkel! Lieber die gräßlichſte Gewißheit als dieſes un— 
gewiſſe Bangen! Hat man mich bei ihm verleumdet? Iſt er krank? 
D Gott, — will Ihnen ewig danken, wenn Sie mir Auftlärung geben; 
denn Sie find ja fein Freund, und Ihnen muß es möglich jein!“ 

Ic habe verjprochen, mein möglichjtes zu thun, und ich bin ge— 
fonnen mein Wort einzulöjfen. Namens unjerer alten Freundjchaft 
fordere ich; Dich de&halb auf, Dein Benehmen gegen fie zu rechtfertigen. 
Sn diefem Stadium des Zweifels kann fie nicht länger bleiben, fie 
reibt ich dabei auf. Denn fie hat Dich nie inniger geliebt als gerade 
jest, wo Du aus Gründen, welche mir jelbjtverjtandlich unbekannt 
ſein müſſen, jie jo jehr vernachläjjigit. Sollte jemand Dir Schlechtes 


Pr 


414 Auf Umwegen. 


über fie berichtet haben, hr iit es Verleumdung, gegen die ich bereit 
bin einzutreten, und ich bitte Dich deßhalb dringend, mir den Grund 
Deines Schweigens mitzutheilen; ich glaube gewiß, daß ich Rath 
Ichaffen fann.“ 

Bweimal hatte uns Waldau das Schreiben durchgelejen, und 
wieder verjanf er in jein düſteres Brüten. wußte, das Ollner mit 
feinen Vorwürfen recht hatte, und ein Gefühl tiefer Beſchämung über: 
fam ihn beim Leſen der offenen Freundesrede; denn er hatte nicht 
unabfichtlic; den Briefwechjel mit Hildegard abgebrochen, jo jchwer 
ihm das geworden war, und die vier Briefe, in welchen fie ihn an— 
fangs ein zulegt im Tone beleidigten Mädchenjtolzes bat, 
jein Schweigen zu brechen, waren jicher in jeine Hände gelangt. 
fühlte, wie jchr er an ıhr hing, wie ein ganzes Denfen mit ihr ver: 
Inüpft war, aber — dennod) war jeine Liebe ihm eine Feſſel, die ihm 
anfangs golden und wonnig, dann immer fchwerer erjchıen. 

Seine Anfichten hatten jich geändert: nachdem fein Beritand das 
Uebergewicht über das Herz gewonnen, hatte er von dem titanenhaften 
Sdealismus, welcher ihn vor wenigen Jahren noch bejeelte, wenig nur 

erettet. Was würde am Ende der Ausgang jeines Verhältniſſes zu 
Hildegard fein? Jahrelang würden jie beide harren müjjen, bis er 
feine im abjolvirt, und dann — wie färglich vielleicht ſein Aus— 
fommen, wie el bemefjen würden die Freuden fein in einem mit 
jo geringen Mittel betriebenen Haushalte! Sollte er darum jahres 
(ang angeitrengt arbeiten, anjtatt wie andere fic) auch einmal den 
Freuden des Studentenlebens hinzugeben, darum ebenjolange ſich jehnen 
nach einem ſchließlich doch nur geträumten Glück, um zulegt, in den 
Hafen eines fümmerlichen Eheſtandes einzulaufen, angefettet an fein 
leines Hauswejen, die Schinderei und Pladerei eines Familienvaters 
auf jich zu laden, wie er deren jo manchen und zum Theil gerade 
unter den Öliedern des Gelehrtenftandes fand? — Fritz Waldau hatte 
die beiten Anlagen zum Lebemann; er wollte auch einmal genießen, 
und um jich jeine Zukunft behaglich zu geitalten, war ihm feine eigene 
Freiheit erjte Bedingung. So hatte er geglaubt, ev werde dadurd), 
daß er den Berfehr mit der Geliebten abbrach, dieſe allmählich an den 
Gedanken gewöhnen, er habe fie vergeffen, wie er jelbit fie wirklich 
vergejfen wollte. Zwar wußte er, dab er fie jobald nicht werde aus 
feinem Denken bannen fünnen, doc) meinte er, alles werde fich von 
jelbjt machen, wenn er nur erjt frei ſei. Daher jein Schweigen. Und 
jegt verlangte der Freund unnachlichtlich Aufklärung über daſſelbe, 
entweder gegen ihn jelbjt oder gegen Hildegard. Aufklärung! „Ja, 
ja, er joll jte haben“, murmelte er, al3 er langjam aus feinem Träus 
men erwachte, „aber nicht heute, nicht morgen! Ich muß erjt mit mir 
jelbjt zu Mathe gehen, ehe ich —“ er vollendete den Sat nicht, fein 
Blid_fiel auf den Ring, welchen er am Finger trug, den Smaragd, 
den jie ihm einjt gejchenft. Die Farbe der Hoffnung! Auf was 
hoffte er jetzt? 





Es war fpät, als Frig Waldau am andern Morgen aus unruhi— 
gem Schlummer erwachte, Der Kopf war ihm ſchwer, von dem be— 
raujchenden Weine des vergangenen Abends jowohl als von dem 


Auf Ummwegen. 415 


ernüchternden Briefe feines Freundes. Langſam fleidete er fich an. 
Ins Kolleg zu gehen blieb m jegt faum nod * ſodaß er ſich 
entſchloß, einen Bekannten aufzuſuchen — die Ent etdung über die 
een a 3 mit Hildegard wollte er zumächit aufſchieben; was er 
jegt wünjchte, war Zerſtreuung, mit Gewalt wollte er feinen Gedanten 
eine andere Richtung geben. 

Er traf jeinen Kollegen Stephan Knorr, der nicht gerade zu den 
ſtrebſamſten, wohl aber zu den biederjten jeiner Bekanntichaft zählte, 
wie faum anders zu erwarten war, zu Hauſe. 

Studioſus Knorr hatte heute jenen jchlechten Tag — denn nicht 
nur Männer in Amt und Würden, jondern aud) Studtofi, Leichtherzig 
und leichtlebig, haben ihre jchlechten Tage. Auf Waldaus Klopfen 
antwortete deßhalb ein keineswegs freundliches „Herein“, und der 
ee oder vielmehr diesmal jehr trübjelige Bewohner der in genialer 

nordnung jich befindenden Gargonwohnung empfing jeinen Bejucher 
in Hemdsärmeln, —— er in der einen Hand die Spiritus ſche, 
in der anderen die Kaffeemaſchine hielt, welche er in Thätigkeit zu 
ai im Begriff war. Als er jeinen Bejucher erfannte, Hellte ſich 
eine Miene etwas auf, ohne daß er aber von dem Gruße des anderen 
überhaupt Notiz nahm. 

„Setz' Did, Schon gefrühftüdt?" Die Worte wurden mehr 
herausgegurgelt als gejprochen. 

„Danke jchön, Knorr. Habe feinen Appetit mehr, da ich joeben 
erjt von Haufe und aus den Federn komme.“ 

„Ra, meinethalben auch!” Damit ließ fic) der dide Bewohner 
des Zimmers unter einem Krach, welcher den Sprungfedern des alten 
Stanapees einen jämmerlich jtöhnenden Yaut entlodte, in die Sopha— 
ee fallen. 

„Du ſcheinſt ja heute wenig aufgelegt zu jein“, beganı Waldau 
das Geſpräch, indem er ihm gegenüber Platz nahm. 

„Aufgelegt! Hat ſich was!” knurrte fein Vis-A-vis „Der Teufel 
hole dieje infame Kaffeewirthichaft! „Menjch, ärgere Dich nicht“ kann 
der dummſte Bauer jagen, aber was zuviel iſt, ift zuviel. Erjtens habe 
ich einen Katenjammer und eine ganze Tracht Aerger von gejtern 
Abend mit nad) Haufe gerad, dann bleibt mir heute Morgen der 
Stiefelfuchs aus, während er mich weden jollte — fein Zeug gereinigt, 
die Kaffeemajchine — das Ding da — nicht in Ordnung, Dafür eine 
Schneiderrechnung und Die lie age Mahnung meiner Haus— 
wirthin, entweder heute die paar Mark Miethzins, welche ich ihr noch 
ichulde, umverzüglich zu zahlen oder zu gewärtigen, daß jie mic) zum 
Haufe heraus —* Infames Pack das! Nicht für zwei Pfennige 
Vertrauen l t das in einen honorigen Studenten! Und zu alledem 
nod) der Wi *— da!“ rief er dann in allergrimmigſtem Tone. — ‚Menſch, 
ic) werde entweder binnen vierundzwanzig Stunden verrücdt oder ic) 
bin vor Aerger eine Leiche!” Und im Ucbermaß jeiner Wuth jchlug 
er jo heftig auf den Tiich, daß der Spiritus aus dem offenen Bes 
hälter, in welchem er brannte, zum Theil Hinausgejchleudert wurde 
und luſtig auf dem Tijchtuch weiterfladerte. „Meinetwegen mag die 
ganze verräucherte Bude in Flammen —— und ich ſelbſt mit. 


ann chikanirt man mich wenigſtens nicht länger.“ 


416 Auf Ummwegen. 


ri Waldau war jchnell herzugeiprungen und hatte mit einem 
Zipfel der Tijchdede einer Eleinen Fenersbrunft vorgebeugt. 

„Aber was jegt Dich denn nur in jolche Aufregung, Knorr?“ 

„Menſch, biit Du taub, oder haft Du jonjt wo einen Sinn zu 
wenig?“ jchrie diefer. „Sage ich's denn nicht eben: der Kater, der 
Stietelfuche, der Kaffee, die Miethe, der Schneider — kurz alles, und 
diefer Yappen Papier nicht am wenigsten!“ Damit jchlug er heftig 
auf einen auf dem Tiſche liegenden erbrochenen Brief. 

„An Kater und Stiefelfuchs fann ich freilich wenig helfen, was 
aber die Manichäer angeht, jo läßt jich da am Ende Rath jchaffen. 
Wieviel Geld wirft Du nöthig haben, Stephan?“ 

„Laß jehen! — Na, mit Tehsunbbreifig Thalern wird’s wohl ge— 
macht jein“, erwiderte der andere. „Wenn Du mir den Bettel pumpen 
willjt, jo werde ich Dir’s am erjten mit Dank zurücgeben.“ 

Waldau hatte zwar auf einen geringeren Betrag gerechnet, Doc) 
verjeßte er rubig: I werde Dir das Geld heute Nachmittag noch) 
bringen; augenblidlich habe ich nicht mehr joviel bei mir.“ 

„Heute Nachmittag! Das iſt's ja gerade! Da, lies den Wild) 
der Frau Tante: 

Theurer Neffe! 


Auf der Reife nach Berlin begriffen, wohin ich) meinem Gemal, 
Deinem Oheim zu folgen gedenfe, fann ich mir nicht verjagen, einige 
Stunden in Deiner Nähe zu verweilen, bitte Dich aljo, much morgen 
Nachmittag um drei Uhr am Bahnbofe zu empfangen und für meine 
Hulda und mic ein anjtändiges Logis au bejorgen. 

Bis dahin jei verjichert der Liebe Deiner — Tante 

Mathilde Regebauer, verw. von Rallsberg, 
eb. Freiin v. Karpfenſee-Dillenberg.“ 

„Ja, aber was hat die Ankunft Deiner Frau Tante mit Deinen 
pekuniären Berhältniffen zu ſchaffen?“ 

„as jie damit zu Jchaffen Hat, iſt doch wahrlich klar genug!“ 
rief Knorr ärgerlid. „Zunächjt muß ich mein Zimmer in einen ganz 
anderen Zuftand jegen als der ijt, in welchem es jich jet befindet. 
Dann mu meine Wirthin bezahlt werden, jonjt fommt jie und benußt 
die Gelegenheit, um meiner Tante zu erzählen, jeit wann ich meine 
Miethe ſchuldig geblieben bin; und daß fie eg dabei nicht bewenden 
läßt, jondern auch noch haarklein die ganze Gejchichte von meinen 
letzten Menjuren an den Mann, oder bejjer gejagt, an die Frau bringt, 
veriteht ſich von jelbjt.“ 

Waldau jah jich im Zimmer um. „Die paar Bücher fünnen wir 
doch bald in Reih und Glied jtellen! Und das Geld kannſt Du jelbit- 
verjtändfich ebenjo gut ſogleich haben, vorausgejegt, daß Du Dich mit 
mir zu meiner Wohnung bemühen willſt.“ Damit gab er ſich daran, 
die in der That nicht ſehr zahlreichen Bände in das an der Wand 
lehnende Repojitorium einzurangiren, was wenig Zeit erforderte. 

„Waldau, Du biit ein Goldmenſch!“ rief plöglich Knorr enthus 
ſiaſtiſch aus. „Zu Stubenmädchen wollen wir uns aber nicht degradiven 
— lab deshalb den Reſt den alten Drachen von unten jelbjt beſorgen.“ 
Er klingelte. „Wo nur die infame Kreatur von einem Stiefelhuhs 
heut’ Morgen bleibt! Am Ende muß ic) noch jelbjt hingehen und ihn 


Auf Ummegen. 417 
damit er noch die lette Hand anlegt an das Ordnen des 


immers. „Die Philöje Frau Behling jcheint harthörig zu ſein.“ Er 
zog jo heftig am Schellenzuge, dat diejer abriß. 

Jetzt vernahm man Schritte auf dem Korridor, und die Gerufene 
trat eilig ins Zimmer, mit zorngeröthetem Geficht und einem Paar 
Augen, die keineswegs friedlich unter dem etwas zerzauften Haar her: 
DOT lipten, welches um die ſchmutzig-weiße Morgenhaube herumbing. 

„Leber, Herr Knorr, ic) muß entjchieden darauf beitehen, daß Ste 
jich in eimem anftändigen Hauſe auch anjtändig aufführen! Doc) 
Undank it der Welt Lohn, und wer jelbjt nichts ijt, meint, er könne 
anderen am meiſten bieten. Ehe Sie ſich geberden als wären Sie ein 
Kröjus, der über taujend jchwarze Negerjklaven zu commandiren hat, 
jollten Ste lieber Ihre Miethe bezahlen! Ja, ich genire mich gar 
nicht mehr vor Ihnen und auch nicht vor dem fremden Herrn da — 
erjt bezahlen Sie Ihre Schulden an mic), dann fünnen Site wieder 
Elingeln; aber jo lange das nicht gejchehen tft, wird Ihnen nichts mehr 
gereicht. Ich bin eine gebildete Serion. und —“ 

„Himmeldonnerwetter, ich weis längjt, was Sie jind! Hören Sie 
nun bald mit Ihrem Gejchwafel auf und lajjen Sie vernünftige Leute 
auch zu Worte fommen? Sonſt will ich einen Dienjtmann holen, 
der Ihnen jo lange zubört.“ 

„Behalten Ste Ihre paar Prennige, wenn Sie noch welche haben, 
licber in der Tajche, Herr Knorr, und hören Ste nur jelbit zu. Da 
den Schellenzug haben Sie nun auch wieder ruinirt — nichts iſt 
Ihnen heilig. Aber ich wollte noch von nichts "was jagen, wenn Sic 
nur die Miethe —“ 

„Schwerenoth, Sie jollen Ihre Miethe haben, Drache von einer 
—— heute noch, in dieſer Stunde noch! Aber ich mache die 
Bedingung, daß Sie zu gleicher Zeit mein Zimmer hier in durchaus 
noblen Zuſtand verſetzen, oder ich ziehe am erſten aus. Verſtanden?“ 

Ungläubig ſah die Angeredete ihren Miether und danach deſſen 
Freund an. „Sa, wenn ich wüßte, daß —“ 

„Wenn Sie was wüßten, alte Schachtel?“ 

„Daß — daß Sie nachher — id) glaube Ste jagten in einer 
Stunde — bei Kaſſe jein würden.“ 

„Jetzt glaubt die Berjon mir nicht einmal auf mein Wort! Nein, 
e3 iſt zu viel. Verhandle Du mit ihr, Fritz!“ 

‚Sie jollen noch in diefer Stunde Ihr Geld haben, rau Beh: 
ling, dafür bürge auch ich Ihnen. Mein Freund aber verlangt, daf; 
Sie in derjelben Zeit feine Wohnung in einen Schmudfajten ver- 
wandeln; veritehen Sie? Er befommt heute Nachmittag Beſuch, und 
zwar vornehmen.“ 

„Sa du mein Gott, wenn's denn wahr iſt und die Herren mir 
mein Geld zahlen wollen, jo will ich ja gern die Zimmer in Stand 
jegen, jodah fein Graf ſich jchämen jollte, darın zu wohnen. O du 
liebe get, Frau Behling weis auch wohl, was jich für eine ordent- 
liche Wirthin ſchickt! Wie der Herr, jo 's Gejcherr, pflegte mein 
Seliger zu jagen, und wie man in den Wald hinein ruft, jo jchallt's 
heraus. Ko ordentlich gezahlt wird, iſt auch die Bedienung ordentlich. 
Sch will nur ſchnell laufen und jehen, day friiche Gardinen an Die 


An 


418 Auf Ummegen. 


Stangen fommen — die da find ganz gelb von Tabafsraud. Und 
dann will ich zum Ölajer ſchicken, daß er ſchnell die eine Fenſterſcheibe 
dort neu einjegt, wenn's Ihnen recht ijt, Herr Knorr; und dann —“ 

„Sa, ja, Schon gut. Sorgen Sie nur, daß die Bude in halbwegs 
anjtändige Verfaſſung fommt; Ihr Geld joll in einer halben Stunde 
hier fein.“ Damit jchob Knorr die redjelige und jo plößlid) umge— 
jtimmte Wittwe aus dem Zimmer, welches er bald nachher mit jeinem 
Helfer in der Noth verlieh. 

„Seht wird Dein Zimmer aller Wahrjcheinlichkeit nach) ſchon mehr 
fürftlich eingerichtet jein, wenn die Damen e3 injpiziren werden“, jagte 
der — auf der Straße zu ihm. 

„sit auch gerade, was ic) wünſche; denn ſolche Aeußerlichkeiten 
find das einzige, womit 2 Perjonen wie meiner hochgeborenen Frau 
Tante imponiren kann. Die Leute, und bejonders Damen aus jenen 
Kreifen, haben nun einmal feinen Sinn für — geniale Unordnung. 
Meine Coujine würde einfach ihr Näschen rümpfen und denfen, wie 
froh fie jein kann, daß fie ihren adligen Lieutenant mir Staffern vor: 
gezogen hat.“ 

„Ah jo! Alſo Du haft Dich ihr einmal angetragen?“ 

„Ingetragen? Nein Menjd), angetragen nicht. Aber Dumme 
heiten habe ich ihr gejagt einst, wie ich noch ein viel größeres Kalb 
war als ich jegt eine Art Ochs repräjentire.“ 

„Kun — indisfret will ich nicht jein“, erwiderte Waldau zurüd- 
altend. 
9 „Sudisfret? Na, viel zu verheimlichen iſt bei der Sache nicht. 
Meine Coujine war ein hübjcher Backfiſch — als fie noch jünger war 
nämlich, jegt hat jie die einundzwanzig hinter jich, aber hübſch ijt jie 
immer noch — aljo jie war ein netter Backfiſch von vierzehn Jahren, 
id) Primaner — ewige Liebe gejchworen zc. u. Nach zwei Jahren 
fam jie aus der Benlion, und jehs Monate jpäter verlobte jie jich, 
um jegt in ein paar Wochen mit ihrem Vaterlandsvertheidiger in den 
Stand der heiligen Ehe zu treten. Aljo weiter nichts! Sie fühlt ſich 
jehr wohl, und ich thue desgleichen, ab und zu jagen wir uns eine 
fleine Grobheit, fommen aber jonjt gut miteinander aus. Kurz — 
es iſt ein Fall, wie jie zu Hunderten vorfommen und, Gott jet Danf, 
meiſt mit demjelben Verlauf. Ihre Mama nimmt dagegen ein ziem— 
liches Intereffe an mir, indem ſie ab und zu ſich nac) meinem Bes 
tragen erkundigt und, wenn die Genjur diejes gut ausgefallen iſt, ſich 
nicht abgeneigt zeigt, dem väterlichen Wechjel eine Kleinigkeit hinzu— 
ufügen. Da wäre e8 mir denn ziemlic) ungelegen gefommen, wenn 
Frau Behling ihr das Blaue vom Himmel heruntergejchwagt hätte 
über meine wirklichen und umvirklichen Schandthaten, was unfehlbar 
geichehen wäre, hätteſt Du Did) nicht eben bereit erflärt, mir zu 
helfen.“ 

Mittlerweile hatten die beiden Waldaus Wohnung erreicht, wo 
Knorr das verjprochene Geld von dem Freunde empfing, um ſich dann 
zu jeinem — dem „Stiefelfuchs“ zu bemühen. 

Fritz Waldau blieb nachdenklich zurüd, aber ein Gefühl der Er— 
leichterung war durch des anderen Rede über ihn gekommen. Hatte 
der Fall zwiſchen Knorr und ſeiner Couſine nicht ſehr viel Aehnlich— 


Auf Ummegen. 419 


feit mit dem feinen? Und augenscheinlich) war es dort beiden Theilen 
nicht jchwer geworden, ſich zu trennen und ein Verhältniß zu löſen, 
über welches fie fich heute höchjtens amüfirten. PBennälerliebe, weiter 
nichts! ürde Hildegard nicht auch in kurzer Zeit ſich in ihr Ge— 
jchie fügen und — ſich freuen, nicht an ihn gebunden geblieben 
zu ſein, wenn ſie auch heute noch in ihm ihr einziges Glück zu finden 
wähnte? Bah! So etwas konnte man ſich einbilden! Erleichtert 
würden ſie beide aufathmen, je am Ende würde jie es ihm jpäter 
noch) einmal Dank wijjen, weil er zuerjt die Seile anlegte, um eine 
Kette zu zerichneiden, die ihnen doc) nur drücdend gewejen wäre! Was 
hatten fie auch imgrunde von einer Liebe, die fie vor jedermann 
verheimlichen mußten! Seit nahezu einem Jahre hatte er fie nicht mehr 
gejehen, und ein halbes Jahr mindejtens würde vergehen, big er fie 
wiederjehen würde. Solche Liebe par distance war nicht mehr nad) 
jeinem Sinne — aber dennod) zögerte er, den entjcheidenden Schritt 
zu thun. Es war fajt Mittag geworden; er zündete jich eine Pfeife 
an und — ein Buch zur Hand. Doch mit der nl wollte 
es nicht gehen, er griff deßhalb nad) einem Band Gedichte Es war 
Zedlitz, einer jeiner Lieblingslyriker, den er durchblätterte. Zufällig 
fiel ſein Blick auf die Berje: 

„Zei ruhig und trodne Dein Thränchen, 

Ich weiß, daß Dein Herzchen nicht bricht. 

Heiß Blut und achtzehn Jahre — 

Mein Mädchen, Du ftirbft noch nicht.“ 


* aix 
* 


Die Korreſpondenz eines — Mädchens dreht ſich ſelten um 
Dinge, welche für andere Sterbliche der Beachtung werth ſind. Und 
dennoch, wie ungeheuer wichtig erſcheinen alle die kleinen Nichtigkeiten 
in der Regel der Empfängerin jener zierlichen, zartbeſchriebenen Couverts, 
deren Aufſchriften der alte Briefbote in Rhedern meiſt mit einem 
mitleidigen Lächeln lieſt, als wollte er jagen: „Das iſt auch "mal 
wieder 'ne Art zu adrejjiren! Ganz gegen alles Reglement.“ Doc) 
er weiß, daß er gerade mit jolchen Briefen am liebſten gejehen wird, 
und jo wei er denn auch heute, daß aus dem Erferfenjter des uns 
befannten hochgiebligen Haujes am Marft ein blonder Locdenfopf 
ſchon nad) ihm ausſpäht, lange ehe es feinen alten Augen möglich iſt, 
ihn zu erfennen. Nur zu oft hat der Alte in leßter Zeit an dem 
fragenden Blick der Stleinen da oben Eopfichüttelnd oder achjelzudend 
vorüber gehen müjjen, und wenn er auc) hie und da einen Brief für 
fie aus jeiner bir Van Ledertaſche hervorholte, jo mußte es doch wohl 
der rechte nicht fein; denn der alte Weegener fannte Fräulein Hilde: 
gard gerad’ jo lange, als ie ſich ihres Dajeins freute, und da entgingen 
ihm die Spuren von Niedergeicjhlagenheit oder gar Thränen in ihrem 
Geſichtchen nicht. 

„Der ae von einem Studenten verdiente auch nicht, daß 
ſo'n Engelsmädel jich die Augen roth weint jeinetwegen“, fnurrte er, 
indem er, einen wohlbeleibten Brief in modernitem Couvert in der 
Hand, die Glode zog. Noch waren ihm die legten Worte des Sapes 


420 Auf Umwegen. 


zwifchen den Lippen, als von innen geöffnet wurde und Hildegard 
den Brief in Empfang nahm. 

„Wird wohl ein fleines Pflajter auf ihren Liebeskummer jein“, 
murmelte der weißbärtige Jünger Stephans im Weitergehen. — Man 
jieht, Ahedern war feine Beltitadt — die zwei Pojtboten dort hatten 
noch Zeit, die Phyliognomien der Empfängerinnen und Empfänger 
ihrer Briefe zu jtudiren, und da man es mit fiinfundvierzig Jahren 
darin zu ziemlicher Fertigkeit bringt, jo wußte der alte Weegener bei 
denjenigen der jungen Damen, an deren Wohl und Wehe er ein mehr 
als amtliches Intereſſe nahm, jo ziemlich, was ungefähr in den Bot— 
ichaften geitanden hatte, die er zulegt überbrachte. Eine heimliche 
Liebe blieb ihm nicht jo leicht verborgen, wennjchon er die Diskretion, 
welche jein Amt ihm auferlegte, in jo vollem Umfange aufrecht erhielt, 
daß auch nicht die Leijejte Andeutung feine Gedanken verrieth. Wenn 
er übrigens glaubte, diesmal mit einer —— und deßhalb will— 
kommenen Kunde für Fräulein Hildegard gekommen zu ſein, ſo irrte 
er. Erſehnt, ja! So ſehnſüchtig erwartet war ſelten ein Brief wie der, 
welchen Fräulein Römer jetzt vorſichtig unter ihrer Morgenſchürze 
verbarg, als ſie die Treppe hinauf in ihr Stübchen eilte. In Haſt 
verriegelte ſie die Thür und erbrach das Couvert. Ein Freudenſchein 
glitt uͤber ihr Geſicht, als ſie die geliebten — ſah, und eifrig 
begann ſie zu leſen. Doch ſchon nach dem erſten Satze wurden ihre 
Zuͤge ernſter, ließ ſich auf einen niedrigen Seſſel ſinken und las 
mit fliegender Bruſt die Zeilen zu Ende. 

Das konnte ja gar nicht möglich ſein, was da ſtand! Er wollte 
ſie aufgeben, weil nicht abzuſehen ſei, wann er einmal ſelbſtſtändig 
genug ſein würde, ſie heimzuführen? Und weil dann das Loos, wel— 
ches ihrer an ſeiner Seite harrte, wenig beneidenswerth ſein werde? 
Und — o Gott, hatte er ſie denn je geliebt? — er hoffte, ſie würde 
es machen wie er und zu vergeſſen ſuchen, was „auch ihm bisher als 
das höchſte Ziel erſchienen ſei, nach welchem er ſtreben könne!“ War 
das die — Studentenliebe, wie ſie ſich noch vor 
wenigen onaten in der flammenden Leidenſchaft ſeiner Briefe gezeigt 
hatte? Sie fand keine Thränen, ſtarr hielt ſie den Blick 9 die 
kleinen Blätter geheftet, von deren Inhalt ſie ſich ſo ganz anderes 
verſprochen hatte. Sie fühlte, es werde ihr unmöglich ſein, ihn zu 
vergeſſen — wie ſie ſich an den Gedanken gewöhnen werde, die ganze 
himmelblaue Herrlichkeit mit ihrem erträumten Glück ſolle nun ein 
Ende haben, das war ihr nicht klar. Konnte Fritz überhaupt in 
ſolchem Tone ſchreiben, ohne daß ein äußerer Anlaß ihn trieb? Das 
war ja gar nicht denkbar! Wie von einer inneren Erleuchtung glitt 
es über ihr —* ſie mußte auf irgend eine Weiſe verleumdet ſein, 
und Fritz glaubte jo am jchonenditen das Band, welches ihn mit ihr 
verfnüpfte, zu zerreigen, indem er die Hauptjchuld auf jich jelbjt nahm. 
Ia, das war jeiner würdig! Aber — jah ihm das ähnlich? Sollte 
der leidenjchaftliche Liebhaber nicht anders, in heftigen Worten, ge 
jchrieben haben? Es fiel ihr nicht ein, daran zu denken; fie hatte die 
Erklärung gefunden, welche ihr die liebjte war, und nun Elammerte 
jte ji) an die einmal gefahte Zdee mit der ganzen Hingebung ihrer 
reinen Weiblichkeit, mit dem fejten Glauben eines findlichen Gemüths. 


Auf Ummegen. 421 


Sie hatte zu ihm emporgejehen wie zu einem jungen Gott, ihr 
Vertrauen zu ihm, zu feiner Tüchtigfeit, —— Edelmuth, ihr unbe: 
grenzter Rejpeft vor ihrem gelehrten „Herrn Doktor“, wie jie ihn gern 
in ihren Briefen genannt hatte, fannten feine Grenzen. Sid) jelbit 
war fie geneigt, für ein ihm tief untergeordnetes Beten zu halten, jo 
jehr fie auc anderen Männern gegenüber jenen Stolz herausfehrte, 
welcher jede wirkliche Dame, auch die unjcheinbarjte, unnahbar macht 
jelbjt für den zudringlichiten und unverfroreniten unter den Männern. 
Sicherli war er jo viel bejjer als te, die fie gewiß irgend einen 
Fehler begangen hatte, wegen dejjen er mit Recht zürnen durfte! Am 
Ende hatte ſie der — gegenüber, welche ſie bei den Feſtlich— 
keiten der beſſeren Geſellſchaft —*2*8 umgab, Verſtöße gemacht, 
welche ihm zu Ohren gekommen waren und die er nicht ungeſtraft 
wollte Ara lajjen! Sie jann nad. — Gewiß, hatte der junge 
Lieutenant vom Wachteommando, der einzige degenbewehrte Vertreter 
der Armee im Städtchen, ihr auf den legten Bällen auffallend die 
Cour gemacht, fie nicht nur nach denjelben nach Haufe begleitet, jon- 
dern auch auf der jüngiten Schlittenpartie ſich zu ihrem ipeziellen Ritter 
aufgeworfen? Konnte dadurch die Redeluſt der Leute, welche ohnehin 
in Rhedern jtet3 neue Stoffe zur Entwidlung ihrer Fähigkeiten juchte, 
nicht erregt worden jein? Sie erröthete bei dem Gedanken daran, 
daß man ihre Perſon in den kleinlichen Stadtklatſch hineinziehen 
fünnte und begann den unglüdlichen Lieutenant, der ihr wahrlich voll- 
fommen gleichgiltig gewejen war, fajt zu haſſen; aber jie war noch 
zu fehr Kind, als daß fie nicht mit einiger ihr wie den meiſten Eva- 
töchtern verliehenen Kombinationsgabe einen Faden fand, welcher ihr 
aus dem Wirrwarr heranjtürmender Gedanken heraushalf. An jeine 
Treue glaubte fie au unmandelbar, als daß ſie auch nur im ent— 
ferntejten an die Möglichkeit gedacht hätte, er fünnte feine Neigung 
— haben. Eine andere an ihrer Stelle hätte vielleicht dem Ge— 
iebten gegenüber die Beleidigte herausgekehrt und ſich mit Stolz 
hinter einer Mauer von Schweigſamkeit verſteckt. Sie dachte, nachdem 
ſie einmal glaubte, einen richtigen Gedanken gefaßt zu haben, nicht 
daran, ihn zu verbergen, und nach kurzem Beſinnen ſetzte ſie ſich hin, 
um ſeinen Brief ſofort zu beantworten. 

Ob ſie es wohl Pan: durfte, ihm wegen jeiner ra chi 
Borwürfe zu machen? Und wer mochte ihm die jchändliche Verleum— 
dung Hinterbracht haben? Sie jchrieb und jchrieb, ohne daß ſie be— 
merkte, wie ihre Finger in dem noch ungeheizten Zimmer vor Kälte 
jteif wurden, fie überhörte auch einen Ruf von Tante Betty, welche 
zuleßt fräftig an ihre Zimmerthür pochte. Haſtig verbarg fie den 
vollendeten Brief in einem Buche und öffnete. 

„ber liebes Kind, Du wirjt Dich gewiß erfälten!“ jagte die Tante 
vorwurfsvoll, als jie das Zimmer betrat. „Was in aller Welt machjt 
Du denn den halben Morgen hier auf dem falten Zimmer, während 
ih Dich unten allerorten Nude? Jetzt ift jogar Beſuch da — der 
Lieutenant von Roer will jid) von uns verabjchieden, und Du weißt 
ja, daß Tante Fanny heut’ wieder unpäßlich iſt.“ Die Tante jagte 
das ohne jeden jtrengen Ausdrud, während dennoc, ein forjchender 
Blick über die liebliche Nichte Hinwegglitt, welche nicht ohne Kleine 


422 Auf Ummwegen, 


Berlegenheit ihr Schreibzeug beijeite räumte und ihren Anzug ord- 
nete, um gleich) darauf der alten Dame nad) unten zu folgen. 

Der Lieutenant von Roer war als eine Art Meteor in dem 
Städtchen erjchtenen, welches jich einer Gefangenanjtalt wegen ſtets 
einer mobilen Armee von dreigig tapferen Infanteriften erfreute. Der 
legte commandirende Offizier diejer Kleinen Truppe war ein im Dienit 
jeine® Königs halb ergrauter Lieutenant geweſen, an deſſen Späte 
und geijtreiche Bemerkungen die Damenwelt Rhederns ſich mit der 
vn ebenjo gewöhnt hatte wie an jeinen ſtark wattirten Waffenrod, 
eine fupferrothe Naſe, welche von der Langen! Figur mit den unglaub- 
lich dünnen Beinen wie ein Leuchtthurm ihren Schimmer herabjandte, 
und an die Anwejenheit des Herrn Lieutenant überhaupt. Nicht jo 
war es mit jeinem Nachfolger. Der königliche Sefondelieutenant 
von Roer war eine durchaus impojante, männliche Erjcheinung, und 
wenn er aud) vielleicht hier und da etwas zuviel von dem arijtofrati- 
ſchen Commandotone erklingen ließ, welcher jich beim Militär jo Teicht 
lernt, jo fonnte man von ihm doch Feineswegs jagen, daß er durch 
fleinliche Weußerlichkeiten jeiner Würde etwas habe zujeßen wollen. 
Hildegard Römer hatte er in Geſellſchaft nicht jelten mit jeinen Ein- 
fällen — unterhalten, und er ſelbſt hatte ſich dem Zauber des 
jungen Mädchens nicht ganz entziehen können. Heute Morgen aber 
hätte fie ihn am liebſten über alle Berge gewünſcht und mußte ge— 
waltjam nad) Faſſung ringen, um die Thränen zurüdzuhalten, welche 
ihr ind Auge zu, ſchießen drohten, als fie an der Seite der Tante 
dem jungen Offizier entgegentrat. 

„Alto läht mich mein Glückſtern doch noch einmal die Ehre Ihrer 
Gegenwart genießen, Fräulein Römer!” begrüßte dieſer die Eintretende. 
„Freilich ſo'n bischen antichambriren muß man als gewöhnlicher Sterb- 
licher in den Kauf nehmen. Doc) — wie gern wartet man auf einen 
Blid aus Schönen Augen — ſelbſt wenn es nur ein Abjchiedsblid iſt!“ 

Hildegard fühlte, jie müjje irgend etwas jagen. „So — wollen 
Sie Rhedern verlaffen ?“ 

„Leider ja. Mein Nachfolger iſt bereits hier eingetroffen, und 
ihon morgen früh ſoll ich mid) wieder in meiner Garnijon melden. 
Heute jcherd’ ich, morgen wandr' ih — das ijt Soldatenloos.“ 

„Und Ihr jetiges bedauern Ste doc) nicht im Ernſte, Herr Lieute— 
nant?“ wandte Tante Betty ein. „Das Leben in einer größeren 
Stadt hat für junge Herren doch ganz andere Neize als — arm⸗ 
ſeliges Rhedern. Sn M. werden Sie das Antiquitätenkabinett, wie 
Ihr Herr Vorgänger unjere arme Stadt zu benennen pflegte, bald 
wieder vergejjen haben.“ 

„Slauben Sie das nicht, kr Fräulein. Es iſt mein voller 
Ernſt, wenn ic) jage, daß mir der Abjchted von Ihrem lieben Städt- 
chen jchwer wird. Wo man joviel Wohlwollen, joviel freundliches 
Entgegenfommen in den Kreifen findet, auf deren Verkehr man an- 
gewieſen tft, und wenn man jich gewöhnt hat, ein jolches Kleinod einer 
Stadt als jeine Heimat zu betrachten, dann iſt der Gedanfe nicht ver- 
(odend, ji nun aus jo anmuthenden Berhältnifjen herausreißen zu 
müſſen, um in die jchroff gejtedten Grenzen des Lebens im NRegimente 
wieder einzutreten, wo es imgrunde viel einfürmiger hergeht als hier 


Auf YUmmegen. 423 


im gemüthlich-familiären Umgang mit Menjchen, die wir nicht nur 
von außen fennen lernen, jondern in deren Inneres uns auch nicht 
jelten ein interefianter Einblid vergönnt tft.“ 

„Ei, ei, pr Lieutenant! Wenn unjere jungen Damen wühten, 
dat Sie glauben, in ihre Herzen gejchaut zu haben! Ich glaube, man 
Iperrte Sie hier ein.“ 

„Das wäre ja dann für mich fein Unglüd. Wie gern läßt man 
fi) fejfeln, wo man gern bleibt!” jcherzte Aoer. „Wie die Dinge 
liegen, kann ich freilich nur bitten, dag man mich in gutem Andenken 
behalten möge, bis ein gütiges Geſchick mich jpäter einmal in Ihre 
Gegend führt und ich alte Freunde wieder heimjuchen darf.“ 

„Um als alter Freund aufgenommen zu werden? Nun, an einem 
herzlichen Empfang würde es gewiß nicht Velen; mic) wundert ohne- 
bin, daß unjere jungen Mädchen Ihnen nicht zum Abjchied einen be- 
fonderen Gruß darbringen. Aber die Sache fam aud) zu plötzlich; 
es hätte ſich von vorgeſiern Abend bis heute nicht einmal ein kleiner 
the dansant in Scene ſetzen lajjen.“ 

„Und deshalb muß ich auf das Vergnügen verzichten, noch ein 
mal mit Ihrer Fräulein Nichte durd) den Saal zu ſchweben“, erwiderte 
der junge Mann lachend. 

In dieſem Augenblide Elopfte Kathrine, der würdige Küchengetit, 
an die Thür und bat Tante Betty heraus, da draußen jemand fte zu 
jprechen wünſchte. Roer wollte jich empfehlen, wurde aber von der 
Tante zum Bleiben genöthigt. Sie würde ſogleich zurüdfehren, jagte jte. 

wijchen den Zurücgebliebenen entjtand eine peinlice Pauſe. 
Der Lieutenant fühlte, dat jein hübjches Vis-A-vis verjtimmt jein 
müſſe; denn die Schweigjamfeit, welche Hildegard heute an den Tag 
legte, lag jonft durchaus nicht in ıhrer Natur. Ihm jelbjt war 
ernjter zu Muth als ſonſt, war doch das geäußerte Bedauern, Rhe— 
dern verlajjen zu müfjen, aufrichtig umd die junge Dame, welche ihm 
gegenüber auf dem Seſſel ſaß, feineswegs der ſchwächſte Magnet, der 
ihn *— feſthielt. Augenblicke entſcheiden. Konnte Fräulein Römers 
Bläſſe, welche nur hin und wieder auf Augenblicke einem tiefen Roth 
Platz machte, nicht ihm gelten? Lag der Gedanke nicht nahe, daß 
jein plöglicher Abſchied der Grund ihrer Nieder Er war? 
Im Hallen hatte ihm oft das anſpruchsloſe, kindlich heitere Wefen 
des Tiebreizenden Mädchens als das Ideal jeiner wachen Träume 
vorgeſchwebt, hatte er Luftichlöjfer gebaut, deren Zinnen das Morgen— 
roth eines neuen, wunderbaren Glüdes rojig beleuchtete, und dabei 
war immer die Gejtalt Hildegards die Perjönlichkeit gewejen, um 
welche er feine jtillen Träume wob. Aber wenn auch feine Pulſe 
höher fchlugen, jobald er fie in jeiner Nähe wußte, Fräulein Römer 
hatte jich bei aller Ungeziwungenheit ihres Weſens jtets mit einem ge 
wiſſen Fr ae ya er zu umgeben — welcher ihn die Frage 
nicht hatte ſprechen laſſen, von deren Beantwortung er ſein Lebens— 
glück abhängig wähnte. Sein Herz pochte heftig, und er fühlte, wie 
ihm das Blut in die Schläfen krat. Sollte er jetzt das entſcheidende 
ort von ihr hören? rue fie jaß wie auf glühenden Kohlen — 
—* ſuhten das Drückende der peinlichen Stille. Endlich unterbrach 
ie dieſelbe. 


AU 


424 Auf Umwegen. 


„Sie reiſen nad) M.?“ fragte fie, um nur etwas zu ſprechen, das 
einen Anfnüpfungspunft bot. 

„Allerdings, Fräulein Römer, und wie ich jchon jagte — leider! 
E3 wird mir jchwer werden, mic) unter meinen Kameraden wieder 
ganz heimiſch zu fühlen.“ 

„Aber jo lange jind Sie ja gar nicht einmal hier gewejen! Sch 
denfe, es find faum jechs Monate, dat Sie hier Ihren Poſten ans 
traten“, entgegnete jie, mit Mühe nur nod) die Thränen zurücdhaltend. 

„Nicht jechs Monate habe ich hier geweilt, aber lange genug, um 
mit jo ſchwerem Herzen zu jcheiden, daß mir meine Zurüdberufung fait 
wie ein Todesurtheil erſchien.“ Er erhob fich plöglid. „Ih — will 
offen gegen Sie jein, ‚Fräulein Römer. Es wäre mir ein entjeßlicher 
Gedanke, vielleicht dieſen Ort, diefes Haus verlajien zu müfjen, ohne 
mic) — Ihnen gegenüber ausgejprochen zu haben.“ 

Hildegard ſaß wie verjteinert, ohne den ganzen Sinn feiner Worte 
u fajjen, während er in ihrem Schweigen eine Ermuthigung jah 
be. 

„Laſſen Sie mich einmal das jagen, Fräulein Hildegard, wozu 
der Augenblid mir den Muth giebt. Sie kennen mic), und ich traue 
Ihrem Scharfblid genug Einfiht zu, um meinen Charakter, meine 
Art, einigermaßen durchſchaut zu haben. Es fann Ihnen nicht ganz 
verborgen geblieben fein, daß ich für Sie ein — Intereſſe hegte 
als für die anderen Damen der Geſellſchaft. Eine Bitte —“ 

„Herr Lieutenant, ich bitte Sie, hören Sie auf!“ rief Hildegard 
aus, indem ſie aufſprang und das Tuch vor die Augen preßte. „Ich 
fann Sie nicht anhören, ich —“ 

„So geben Sie mir nur ein Flein — Hoffnung. Vergeben 
Sie mir mein ungeſtümes Weſen — wir ſind beide noch jung und — 
ich ſchwöre Ihnen als Offizier, daß ich nicht gewagt hätte, zu Ihnen 
zu reden, wenn mich meine Verhältniſſe nicht in die Lage ſetzten, 
einen entſcheidenden Schritt wagen zu dürfen. Nur um einen Schim— 
mer von Dorn, nur um ein Wort bitte ich Sie! Ich wage 
au hoffen, daß Ihre Angehörigen mir fein Hinderniß in den Weg 
egen werden, wenn Sie erklären, daß Sie glauben, mir angehören zu 
fönnen. Hildegard! Ich veripreche, Ihnen mit ewigen Dante das 
Glück zu lohnen, welches Sie durch einen nod) jo ſchwachen Hoffnungs- 
Ichimmer in meine Brujt pflanzen!“ 

„Nie, Herr von Roer, nie“, rief Hildegard jchluchzend. „Hören 
Sie auf, ich bitte Sie flehentlich! Ich weiß nicht, wodurch ich Ihnen 
ein Necht gegeben, jo zu mir zu reden, ich — ad) Gott, ich bin — 
jo unglüdlih!“ Damit eilte ſie hinaus, die Treppe hinauf, um ſich 
auf ihrem Zimmer jo vecht von Herzen auszumeinen, während der 
Lieutenant ın Verzweiflung allein unten zurücdblieb. Als anjtändiger 
Mann mußte er nothgedrungen die Rückkehr der Tante Betty ab- 
warten, welche auch bald ins Zimmer trat und nicht wenig erjtaunt 
war, ihren Bejuch allein zu finden, und es dauerte deßhalb einige 
Zeit, ehe fie jich mit demjelben, welcher Faſſung genug behalten hatte, 
um einen Verfuch zu machen, von der Tante Aufklärung über das 
räthjelhafte Benehmen der Nichte zu erwarten, verjtändigt hatte. 

„Sie dürfen mir glauben, Herr Lieutenant“, jagte fie zulegt, „Daß 





NZ“ suaqonavq ang) quuiadva 





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Auf Hmmegen. 425 


weder meine Schweiter noch ich gegen eine Verbindung des Lieben 
Kindes mit Ihnen wirken werden, el verjteht fich von jelbit, daß 
wir nur mit Einwilligung Hildegards deren Hand in die Ihre legen, 
und Sie find zu jehr Ehrenmann, um auch nur an eine andere Mg: 
lichkeit zu denken. Vielleicht wird e8 ung gelingen, den wahren Grund 
ihres Benchmens gegen Sie bald zu erforichen — bis dahin tröften 
Sie ſich. Ob Ste gut thun, Ihre Hoffnungen ganz aufzugeben, 
müffen Sie jelbft am beiten wiſſen — noch find Ste ja jung genug, 
um die Zeit abzuwarten, welche Sie vielleicht sufonımeisführt 

Damit war * von Roer entlaſſen und verabſchiedete ſich von 
der freundlichen Dame um vieles ernſter, als er gekommen war. 


* * 
* 


Der Brief, welchen Hildegard an jenem Morgen in einer Miſchung 
von Mädchenſtolz und kindlicher Unterwürfigkeit an den Geliebten ge— 
ichrieben, hatte für fie nicht die gewünschte Wirkung. Tage, Wochen 
waren vergangen, ohne daß die erjehnte Antwort aus der Univerfitäts- 
jtadt eingetroffen wäre. Und dabei kam ſie fich, nachdem fie einge- 
jehen, daß jie dem unglüdlichen Nebenbuhler Waldaus bis zu einem 
gewiſſen Grade habe Grund zu jeiner Erklärung geben müfjen, in 
ihres — Einfalt viel ſchuldiger vor als je zuvor. Ein nieder— 
drückendes Gefühl beſchlich ſie, wenn ſie daran dachte, daß ſie nun 
auch ihren Tanten, von denen die eine ſchon ſeit längerer Zeit krän— 
kelte, Grund zu Beſorgniß oder gar zu Unzufriedenheit gab, indem 
ſie jede Anſpielung au Noers Bewerbung kurz von der Dan wies, 
ohne anders handeln zu fünnen, als jie that und F as Motiv 
ihres Handelns angeben zu dürfen. Sie, die ſo gern alle Welt beglückt 
hätte und früher ſo oft anderen von ihrer Heiterkeit mitgetheilt iR 
fühlte ſich jeßt jo tief, tief unglüdlich, daß jie am liebſten hätte 
immerfort weinen mögen. Die Zeit half zwar ihren Schmerz mildern, 
und etwas wie ein rejignirter, ernſter Stolz lagerte jich allmählich) 
auf der reinen, mäßig hohen Stirn, über deren Schläfen die reichen 

oldblonden Locken ihres Hauptes ein paar Ausläufer binabjandten. 
13 aber der Winter dahinging und die VBorboten des Frühlings ein- 
trafen, ohne auch nur das leijeite Zeichen von „ihm“ zu bringen, da 
begann ihr Stolz mehr und mehr rege zu werden. Sie fühlte zwar, 
bat fie nicht ausbören fünne, ihn zu lieben, und — wie gern hätte 
fie ihm verziehen, wenn er jet gefommen wäre, Vergebung zu erbitten! 
Aber er fam nicht, und zum zweiten Male an ihn zu jchreiben, hätte 
ihre Selbitachtung ihr nicht — 

Fritz Waldau fühlte ſich nicht glücklicher. Als er die Antwort 
auf ſeinen Brief erhielt, wußte er lange Zeit nicht, wie er handeln 
ſollte. Daß Hildegard ihm nicht ohne weiteres hatte untreu werden 
fönnen, jtand bet ihm feit, daß alfo der Gejchichte mit dem Lieutenant 
von Noer, welcher ihm von allen Menjchen auf Gottes Welt am 

leichgiltigjten war, feine weitere Bedeutung beizulegen jei, wußte er 

Fehr gut, aber er wollte um jeden Preis jeine ‚Freiheit wiedergewinnen, 

wollte, wie er zu ſich jelbit jagte, ſich mit männlicher Energie los- 

machen von den drücenden Feſſeln einer Liebe, welche nur zu leicht 
Der Salon 1837. Heft X. Band IL 29 


426 Auf Ummegen. 


ein Hemmſchuh für fein wifjenfchaftliches Streben werden könnte, und 
die ihm für die Zukunft jo wenig materielle Bortheile bot. 

Der Berfehr mit den „Bären“, welchen er fich immer enger an— 
geichlofjen hatte, trug nicht dazu bei, jeinem Denken einen höheren, 
iwealeren Flug zu geben — „Genießen“ war allmählich jeine Parole 

eworden, und er genoß in jo vollen Zügen, als die nicht ganz für 

* Umgang bemeſſenen Mittel ihm ——— So hatte er an— 
fangs die ee von Hildegards Brief von Tag zu Tag 
aufgejhoben und ihren Ring, welchen er jchon geraume Zeit abgelegt 
hatte, noc) immer nicht, wie es jeine Abficht gewejen war, an ſie zus 
rüdgejfandt. Mit der Zeit gewöhnte er ſich an den Gedanfen, daß er 
die ganze „Liebesgejchichte” auch ebenfogut ruhen und einjchlafen laſſen 
fönnte, bis ſich einmal eine pafjende Gelegenheit fände, das äußere 
Zeichen feines Verlöbniſſes mit Hildegard Römer diejer wieder zu: 
zuftellen. Seine Studien machten bei dem Leben, welches er jett 
hauptjächlich der Hingabe an etliche noble Paſſionen widmete, jelbit- 
verjtändlich wenig Fortichritte, aber für jeine Unthätigfeit ſelbſt fand 
er einige Beruhigung, indem er ich jagte, er müſſe zumächit jein 
geistiges Gleichgewicht durch eine Zeit lang körperlicher Erholungen 
wieder heritellen. Daß er bei jolchen „Erholungen“ feinem Körper 
zuweilen etwas viel zumuthete, Fam ihm gar nicht in den Sinn, wohl 
aber wurde es ihm zuweilen jchwer, die Mittel zu dem „jtandesge- 
mäßen“ Auftreten zu bejchaffen, zu welchem er durch jeinen hoch- 
eborenen Befanntenkreis geziwungen wurde — die leidige Geldfrage 
fing an, ihm wiederholt peinlich nahe zu treten, 

Ueber dieje dachte er auch heute Morgen nach, als er, am offenen 
Fenſter jtehend, in die friſche Frühlingsluft hinausjchaute, welche janft 
* Wangen umſchmeichelte und mit den Falten der Fenſtervor— 
hänge jpielte. Er hatte gejtern im Spiel eine für jeine derzeitigen Ver— 
hältniffe beträchtliche Summe verloren, und da der „Erſte“ noch in 
ziemlicher Ferne jtand, heute jeinen Echarfjinn vergebens angejtrengt, 
ein Meittel zu finden, welches ihm aus der Berlegenheit half. Eben 
weil der reiche Torten jein Gläubiger war, drüdte ihn feine Schuld 
am meisten, da er um alles in der Welt diefem gegenüber nicht für 
den etwas dürftig verjorgten Studenten gelten wollte, welcher er im 
Vergleich mit ihm doch war. 

Da Elopfte es an jeine Thür und noc) ehe der Student „herein“ 

erufen hatte, trat Waldseck ein, elegant wie immer und mit der zier- 
fichen Neitgerte, welche er in der Hand hielt, den Staub von den 
Beinkleidern jchlagend. 

„Zeufel, Waldau, war das ein jchlimmer Abend gejtern! Aber 
Gott joll mich bewahren, daß ich Toritens Höllengebräu von Punſch 
noch einmal geniege! Mir liegt's noch wie Blei im Schädel von den 
Nachwirkungen der infamen Brühe Aber wozu in aller Welt ſtehen 
Sie denn bier und gaffen ins Blaue hinein anjtatt cin bißchen zu 
flaniren? Oder fehlt's Ihnen etwa nicht auch irgendwo von dem 
Herentranf, den uns Torſten gejtern zum Dank für jeinen Dufel im 
Spiel verabreichen ließ? Haben doc) aud) geitern bluten müfjen, was?“ 

Waldau wurde roth. „Nicht übermäßig; ich bin noch alimpflich 
davon abgefommen im Vergleich mit Lijjen und Wellheim. Aber für 


Auf Ummegen. 427 


mich war's doc) fatal; denn mit meiner Kaffe ficht es vermöge einiger 
Srtra: Ausgaben ein wenig flau aus.“ 

„Wenn das Ihren ganzen Kummer ausmacht, jo wijjen Site, wie 
gern ıch Ihnen zur Verfügung jtehe, vorausgejegt, daß neunzig Thaler 
Ihnen für heute genügen, da ich jelbit nicht viel mehr in Händen 
habe und mir erſt neue Gelder verjchreiben muß.“ 

„Wenn es Sie wirklich nicht geniert, jo — bin ich Ihnen zu 
ewigen Dank verpflichtet, wern Sie mir — etwa jiebzig Thaler auf 
drei Wochen borgen wollen. Natürlich auf Ehrenwort.“ 

„papperlapapp! Machen Sie feine Gejchichten, Lieber Waldau. 
Da iſt das Geld, und wenn Sie einmal Luſt haben, geben Sie 
es zurüd. Nehmen Sie doch lieber neunzig Thaler; ich kann fie wohl 
entbehren, und Ste fünnen jich heute Abend von Torjten Revanche 
geben lajjen, wenn Sie wollen. Jetzt aber kommen Sie mit hinaus; 
nachher finden wir die andern bei Rivati.“ 

Als beide aus der Hausthür traten, wurde Waldaus Arm von 
einem Frauenkleide geftreift. Ohne jonderliches dabei zu denken, 
blidte er auf, jah aber nur noch die Rückſeite der anjcheinend jungen 
Dame, welche gefchäftig das Trottoir entlang eilte. 

„Alle Wetter, Waldau, der Blid war "was werth, den die Ihnen 
zuwarf! Die Augen hätten Sie jehen jollen! Aber da thut man als 
ob man nie ein Wäſſerchen getrübt hätte und in puncto puneti jo 
unerfahren wäre wie eine Konfirmandin oder, bejfer gejagt, wie em 
Konfirmand; denn die „beſſere“ Hälfte unferer jungen Ehrijten wei; 
meijt ea den halben Heine ausiwendig.“ 

„ern das Mädel wirklich einen jolchen Feuerblick hatte, jo 
hüten Sie ſich nur, Waldsed, daß Sie jich nicht die Flügel daran 
verbrennen!“ lachte Waldau. 

„Hat nichts zu jagen“, erwiderte der junge Baron. „Bin zur 
Zeit noch) verjorgt, übrig jogar, mit der Eleinen Fleurette vom Corps 
de Ballet, die allerdings anfängt, mir, oder bejjer, meinem Geldbeutel 
fürchterlich zu werden. Uebrigens jchien das dahinten“ — er deutete 
mit einer Kopfbewegung nad) rücwärts — „feine von der Demimonde 
zu jein. Jedoch — das ſchützt am Ende vor Thorheit und Liebe 
verflucht wenig.“ 

Fritz Waldau zündete jich eine Cigarrette an. 

„gu eriterem hätte ich wohl Neigung, zum zweiten aber aud) 
nicht die Spur von Talent.“ 

„Wollen’s abwarten, lieber Freund. Was iſt auch imgrunde 
daran gelegen! Eine fleine liaison passante, beim Eintritt in welche 
man jich ſchon vornimmt, die Sache für zwei oder drei Monate, 
meinetwegen auch auf ein halbes Jahr, länger aber feinenfalls, durch: 
zuführen — voilä tout. Man amüſirt ſich prächtig, wird nur hie 
und da ein bifchen geichoren. Das ijt dann wieder das Amüjement 
unjerer Schönen und meift ein reelleres als unjer eigenes. Aber 

u importe! Die Dinger wollen auch zu leben haben, wenn der 
Scherz mit den weltbedeutenden Brettern ein Ende hat und die Ball: 
ſchuhe zerichliffen find. — Sehen Sie da! Da fommt Lijfen mit 
jeiner von Berlin importirten Hulda. Sieht er nicht aus, ala ob er 
ſich ganz prächtig unterhielte? Und er thut's, verjichere ich Sie,“ 

29* 


428 Auf Ummegen. 


In der That fchien Herr von Lifjen, welcher in eleganter Dogcart 
eine allerliebite Eleine Brünette jpazieren fuhr, der glüdlichjte Menſch 
von der Welt, und feine Dame grüßte die beiden Freunde mit einem 
Lächeln, in welches fich neben dem Triumphe, den ihr das elegante 
Geſpann entlocte, ein wenig ſchelmiſche Vertraulichkeit mijchte. 

Dreiviertel Stunde jpäter fanden ſich unjere Freunde unter dem 
ſchützenden Zeltdache des Cafe Rivati ein, Waldau von den Bären, 
welche wenige Minuten zuvor ſich auf der Veranda niedergelafjen 
hatten, mit Scherzreden empfangen. 

„Haha, da iſt ja unjer Glüdsritter von gejtern Abend!“ rief Tor: 
Iten ihm entgegen. „Wie jteht'3 Befinden, Waldau?“ 

„Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu jorgen“, 
erwiderte dieſer ruhig und ließ ſich bei den Freunden nieder. 

„Na, hören Ste, lieber Mann, Sie waren aber auch jträflich 
leichtjinnig gejtern, auf die Cocur-Dame noch zu halten, nachdem fie 
bereit3 dreimal nad) recht3 geichlagen war!” jagte Wellheim. 

„Dabei tft nichts wunderbares“, meinte ein dritter. „Waldau ſchwört 
eben auf die Damen. Einem folchen Mädchenjäger darf man das 
nicht übel nehmen.“ 

„Heute Morgen hätte er wieder die jchönjte Eroberung machen 
fünnen“, ergriff Waldsck das Wort. „Ein Baar Augen, jage ich Euch, 
um darin zu — Donnerwetter, da geht fie wieder!” Damit beugte 
ji) der Sprecher ein wenig vor, um die Dame, welche jet eben auf 
dem dem Café gegenüberliegenden Trottoir dahinfchritt, jchärfer zu 
fixiren, und die anderen folgten feinem Beiſpiele. „Mir galt der Blid 
da wieder nicht“, jagte er nad) einer Kleinen Pauſe faſt refignirt, als 
die Dame einen jcheuen Seitenbli nad) der Gruppe auf der Veranda 
hinüberwarf. „Sc möchte wetten, dag Waldau wieder der Glückliche 
geweſen 1jt!“ 

Der lettere war erröthet, ohne ſich bewußt zu fein, weßhalb. 

„Slüd in der Liebe, Unglüd im Spiel — es iſt die alte Leier“, 
jagte Wellheim. „Und am Ende tjt ein Blid aus ſolchen Augen auch 
ein paar verlorene Taillen im Tempel werth. Weiß der Kuckuck, wo— 
her Rivati dies infame Getränk hat; der Madeira fragt in der Kehle 
wie lornbranntwein!“ | 

„Heute Abend denke ich den Herren etwas bejjeres zu bieten“, 
ſagte Liſſen. „Sie kommen doc) alle zu mir, wie?“ 

„J natürlich, Liffen, wer könnte wohl jo freundlicher Einladung 
widerjtehen“, rief Waldsed. 

„Alſo abgemacht?“ fragte der andere nod) einmal. „Sie fommen 
doc) au, Waldau? Wollen uns von Torjten wenigjtens Revanche 
geben laſſen für gejtern.“ 

„Sch bin zu allem bereit, vorausgejegt, daß ich nad) dem Theater 
früh genug erjcheine. 

„Beriteht jich, wenn Sie durchaus erſt in den Meujentempel 
müfjen! Doc ich muß fort, habe vor Tijc noch ein paar Bejor- 
gungen. Auf Wicderjehen heute Abend!" Damit erhob fich Liffen, 
und zehn Minuten jpäter folgten die anderen jeinem Beiſpiele. 


* * 


Auf Umwegen. 429 


Das Theater war, wenn jchon, oder vielleicht eben weil die Sai— 
Ion ihrem Ende nahte, brechend voll gewejen, und eine jchwagende, 
chiebende, wogende, jtöhnende Menge ergoß ſich nac) Beendigung des 
Spieles aus den beiden — auf die Straße, wo Wagen 
an Wagen harrten, die glücklichen Sterblichen, welche fich den Luxus 
des — eſtatten durften, heimzubefördern. 

ldau ließ ſich im Korridor willenlos von der Menge fortreißen. 
Er war trotz der wenig ideal denkenden und ſtrebenden Menjchenklaffe, 
welche feinen Umgang ausmachte, noch zu wenig blafirt, um nicht das 
Schöne, wo es fich ihm darbot, voll auf jich einwirken zu lajjen, und 
jein von Natur weiches Gemüth war mächtig er von dem jeelen= 
vollen Spiel, welchem er beigewohnt hatte. Erſt durch einen halb 
unterdrüdten Schredensruf: „DO Gott, mein Armband!” wurde er 
aus feinen Träumen gewedt. Die Worte waren aus Frauenmunde 
gekommen, er jah jeitwärts und befand ſich — neben der jchönen Un: 
befannten von heute Morgen. 

„Sie haben etwas verloren, gnädiges Fräulein?“ jagte er halb- 
laut zu diejer, als jie die wenigen Stufen zur Straße hinabjchritten. 
„Und darf ich Ihnen in diefem Falle meine Dienjte anbieten ?“ 

Ein dankbarer Blick ſchoß unter zwei jchwarzen Brauen und 
einem Paar langhaariger Wimpern hervor, welche den feuchtglänzen- 
den dunklen Augenſternen etiwas ungemein janftes, fait ſchwärmeriſches, 
verliehen, ettivas, das den ve ermuthigen konnte, Vertrauen zu 
rollen Das reizende Dval eines Gefichtes, welchem die jehr fen 
gejchnittene Naſe geiftige Anmut und ein Paar janft jchtwellende, 
riſche — pikanten Reiz verliehen, wurde von einem reichen, feinen 
Wollſhawl umrahmt, der zugleich dazu diente, eine Fülle von glänzend 
dunklem Haar mehr errathen zu laſſen, als er ſie bedeckte. Der 
volle Bujen hob und ſenkte jich nach der gehabten Anjtrengung wie 
in verhaltener Leidenschaft, und tief aufathmend erwiderte jie: 

„Sie find in der That zu gütig, mein Herr. Aber — es iſt mir 
ſoeben im Gedränge ein mir als Andenken jehr werthvoller Schmud 
entfallen; ich fühlte deutlich, wie das Schloß meines Armbandes jid) 
löfte und diejes von meinem linken Arme herabglitt, ehe ich imjtande 
war es jchnell zu greifen.“ 

„So werden wir hier warten ee bis das Haus ſich völlig 
geleert hat, und dann das Verlorene juchen. Ob wir den Schmud 
wiederfinden werden, iſt freilich fraglich, aud, kann er nur zu leicht 
unter den Tritten jo vieler Menjchen zerdrüct jein.“ 

„Do Gott — Sie das nicht ſo gleichgiltig aus! Es wäre 
mir ein unerſetzlicher Verluſt, über den ich mich nie tröſten würde. 
Das Armband war ein Andenken meines verſtorbenen Gatten, der —“ 

Waldau ſah erſtaunt auf. 

„So habe .ih um Verzeihung zu bitten. Ich konnte freilich bei 
fo viel Iugendjchönheit nicht ne weiteres eine junge Wittwe ver- 
muthen. Mein Name it Waldau — wenn Sie eine Vorſtellung 
geſtatten.“ 

„Ih — danke Ihnen, mein Herr, für Ihr freundliches Anerbieten, 
aber ıch denke — ic) fann allein warten, ob ich mein Kleinod wieder: 
finde. Es wäre mir peinlich, Sie — von angenehmer Gejellichaft 


> 


430 Auf Ummegen. 


zurüdzubalten. Sie werden vielleicht erwartet — bitte, gehen Sie, 
Ser — Waldau.“ 

„Wenn Ste es durchaus wünjchen, thue ich das jelbjtveritändlich. 
Andernfalls aber werden Sie mir zutrauen, daß ich eine junge Dame 
nicht ohne weiteres in der Nacht und unter jolchen Umſtänden verlafje.“ 

„So verpflichten Sie mic) zu ewigen Danke, wenn Sie mir bei- 
ftehen wollen“, erwiderte fie. 

Das Haus hatte nach) und nach jeine Inſaſſen ausgejpieen und 
da3 Baar an der Ausgangsthür begann zu juchen. Nicht lange; denn 
nad) wenigen Augenbliden Ib Waldau den vermißten Gegenjtand 
aus einem Winkel unter der hürangel hervorglänzen, wohin er jeden— 
falls im Gedränge geſchoben war. Er bückte ſich und zog ihn hervor, 
ein prächtiges goldenes Armband in Brillanten, außer ein paar 
Schrammen am Rande völlig unverſehrt. 

Die junge Frau unterdrückte einen Jubelruf, als ſie das Arm— 
band wieder an ihrem zarten Handgelenke befeſtigte. Dank, tauſend 
Dank, mein Herr! O, wie glüdlich ich bin, mein Kleinod wieder zu 
haben.” Ihre jchmale Hand drücdte leife die Nechte des Studenten. 

„Die Sache iſt ja nicht der Rede werth, gnädige rau; Sie wür: 
den das Armband aud) ohne mich gefunden haben. Darf ich mir jeßt 

eitatten, für einen Wagen zu jorgen, der Sie nad) Ihrer Wohnung 

führt?" Und ohne ihre Entgegnung abzuwarten, eilte er zu einer ein- 
Jam zurücdgebliebenen Drojchte, welche gleich darauf vor der Thür 
des Theaters hielt. 

„Shre bg in der That befchämend für mich, mein 
Herr“, jagte die ſchöne Wittwe; „weiß ich doc) gar nicht, wie ich meine 
Schuld an Sie je abtragen joll.“ 

Fritz Waldau fühlte, wie das Blut ihm ins an ſchoß. 

„Darf ich Ihnen jagen, wie?“ verſetzte er ſchnell. „Dadurch — 
daß Sie mir gejtatten, Sie zu begleiten.“ 

Wieder traf ihn der lange, jchwärmerische Blid aus dem verfüh- 
reriichen Auge der jchönen Frau; verwirrt jenkte er die feinen. Sie 
jtiegen ein. „Fenſterſtraße 48“, befahl fie dem Kutjcher. Diejer jchien 
jein Gejchäft zu veritehen. Er beeilte jich durchaus nicht mit der 
Fahrt, nahm auch nicht den Fürzejten Weg nach der ihm wohlbefann- 
ten Straße, jondern fuhr in gemächlichem Trabe durch die halbe Stadt, 
als gelte es eine Befichtigung derjelben im Laternenjchein. Fritz 
Waldau fühlte ſich ein wenig befangen im Innern des Wagens. Seine 
Bulje fieberten heftiger denn zuvor und nur zuweilen traf fein ver- 
jchleierter Blick das Geſicht jeines Vis-A-vis, das fich in die Kiffen 
des Wagens zurüdgelegt hatte und ihm, da der Shawl ſich ein wenig 
[oderte, die kräftigen ‚Formen einer feiten weißen Kehle zeigte. Da bog 
jeine Begleiterin ſich plöglich em wenig vornüber und fragte, lebhaf- 
ter werdend: „Sie jind Student, mein Herr?“ 

„Allerdings, gnädige Frau; ic jtudire Medizin, d. h. augenblid- 
lich nicht“, fügte er jcherzend Hinzu. „Jetzt verfuche ich) nur p}ycholo- 
giſche Fragen zu löſen. Doch — aud) das jchlägt ja in unfer Fach.“ 

„Und darf ich fragen, mit welcher Aufgabe Sie ich jetzt cben 
bejchäftigen?” Ein verführerisches Lächeln ſpielte um ihre Lippen. 

„sch wollte mich fragen, wie man jo jung, jo ſchön und ſchon 


Auf Ummegen. 431 


= jo ernjt jein könnte; doch ich ſehe jebt, daß Sie auch lächeln 
önnen.“ 

„Sie Spötter! Als ob das Leben ung nicht zuweilen ſchon früh 
in ig harte Schule nähme, um uns zu belehren, daß nicht alles 
Gold iſt, was glänzt, was gejprocdhen und — verjprochen wird“, fügte 
jte Hinzu, indem fie die Stimme fast zu einem Hauch ſinken Liep. 

Fritz Waldau hätte in dem Zulage fich ſelbſt können getroffen 
fühlen, aber er hatte nur Sinn und Auge für feine Begleiterin. Diefe 
verjanf in einige Augenblide Nachdenken. Dann erhob fie plötlich 
den jchönen Kopf, und ihn feit anblidend begann fie: 

„sch weiß nicht, was ra veranlaßt, zu Ihnen jolches Vertrauen 
zu faſſen. Aber mir tft, als jeien wir alte Befannte und hätten uns 
nicht erjt vor einer halben Stunde fennen gelernt. Es gab eine Zeit, 
in welcher die Männer nicht fanden, ich ſei zu ernit * mein Alter, 
ſondern wo J im Hauſe meines früh verſtorbenen Vaters, der als 
Maler einen Namen von gutem Klang getragen hatte, und unter der 
Obhut einer Mutter, die mich nach allen Regeln der Kunſt verzog, 
des Lachens und Jubilivens fein Ende fand. Die unbedeutende Hin: 
terlajjenjchaft meines Vaters ging zwar allmählich auf die Neige, aber 
wenn auch die Mutter oft befümmert an die Aufunft dachte, ich freute 
mich meiner fiebzehn Jahre und — der Liebe eines jungen Mannes 
— er war Student wie Gie, aber völlig mittellos. Was joll ic) 
Shnen alle die traurigen Tage jchildern, die dann aber folgten, von 
da an, wo die Mutter jtarb und mein Vormund kategoriſch Seine Ein- 
willigung zu meinem Verlöbniß mit Eduard verweigerte, wo dieſer 
mich verließ, da ihm die Zeit in ungeduldigem Harren zu langjam 
dahin ftrich, bi dahın, wo ein alter zweiundjechzigjähriger, aber ſtein— 
reicher Mann um meine Hand anhielt und ich — Ddiejelbe annahm!“ 
Die junge Frau bededte ihr Gejicht mit den Händen und jtöhnte 
leife, während die Bruft ſich heftig hob und ſenkte. Erjtaunt, faft bes 
fremdet, blidte Waldau zu ıhr hinüber — das —F er nicht erwartet. 

„Glauben Sie nicht“, fuhr ſie nach einer Pauſe fort, „ich hätte 
den alten Baron aus Intereſſe geheiratet! Ich habe ihm offen ge— 
ſagt, daß ich weder ihm noch mir je vorlügen würde, ich liebe ihn; 
aber aus dem Hauſe meines Vormundes zu entkommen, war mein ein— 
ziger Wunſch, und ſo verſprach ich, eine ſorgſame Tochter für ihn 
abgeben zu wollen. Und er — er wurde mir ein zweiter Vater. Ich 
möchte es faſt eine Art ungeſtörten Glückes nennen, was ich an ſeiner 
Seite zwei Jahre lang erlebte, danach — ſtarb der Baron und ließ 
mich allein auf der Welt mit einem nicht unbedeutenden Vermögen 
und dem — Gefühl der reinſten Verehrung für den Verblichenen — 
mit zwanzig Jahren war ich Wittwe!“ Sie lehnte, wie überwältigt 
von der Erinnerung an ſchmerzliche Scenen, ihren Kopf an das Seiten— 
polſter des Wagens. | 

„Und jest haben Sie diefe Stadt zu Ihrem zukünftigen Aufent- 
haltsorte gewählt?“ fragte ihr Begleiter halblaut nad) einer Fleinen 
Weile. 

„D nein, das nicht. Mein nächjtes Ziel jollte eigentlich Berlin 
fein; doch fühlte ich mich nach der Aufregung der legten Wochen auf 
der Reife jo angegriffen, daß ich beichloß, zumächit das geräujchvolle 


432 Auf Ummegen. 


Leben der Großſtadt zu meiden und fir einige Wochen für mid) und 
meine Dienerin eine ruhige Wohnung in einem Brivathauje zu miethen. 
Doc mir jcheint, wir Find zur Stelle.“ 

Der Wagen hielt vor einem fleinen, niedrigen Haufe, welches 
jeine Front fait gänzlich hinter ein paar Afazien des Vorgartens ver- 
barg, und der Futliher öffnete den Schlag. Waldau erwachte wie 
aus einem Traume Der Anblid diefer vollen, üppigen Formen, der 
weiche, janft jchmeichelnde Tonfall ihrer Stimme, welche von der halb 
verjchleierten Sprache des feuchtglängenden Augenpaares unterjtüßt 
wurde, Die duftgejchwängerte Yuft, welche diefe Frau umgab, ihr gan- 
zes Wejen, die jo unerwartet gefommene Erzählung ihres hidfalvollen 
Lebens — das alles hatte auf ihn einen verwirrenden, fajt beraufchen- 
den Eindruck gemacht. Mechanijch verließ er den Wagen und reichte 
ihr die Hand; erjt ala er fühlte, daß ihr voller, weicher Arm fich 
leife auf jeine Schulter jtüßte, während fie leichten Schrittes den 
Wagenjchlag hinabjtieg, wurden feine Sinne wieder völlig in die Wirf- 
lichfeit zurückgerufen. 

„sch danke Ihnen aufrichtig für den Dienst, welchen Sie mir 
geleistet haben —“ 

„Durd) die — an dieſe Stunde allein bin ich reichlich 
belohnt“, antwortete er galant. „Vielleicht fügt es ein gütiges Ge— 
ſchick, daß id) Sie noch einmal fehe, ehe Sie der Stadt den Rücken 
fehren, und — vielleicht erfahre ic) auch, wen ich nach Haufe beglei- 
ten durfte.” 

„Sie wijjen jeßt meine Wohnung. Fragen Sie nad) Frau von 
Carlowa, und ich werde mich freuen, Sie empfangen zu dürfen.“ 

„Ste machen mid) glüdlich durch eine jolche Erlaubniß, von wel- 
cher ich nicht verfehlen werde —— zu machen.“ 

Sie reichte ihm anſtatt weiterer Reden die Hand. 

„Auf Wiederſehen alſo, Herr Waldau. Bitte, jchonen Sie meinen 
Handſchuh“, fügte fie Lächelnd Hinzu, da er ſich vergebens bemühte, 
oberhalb dejjelben ein Streifchen ihres weißen Armes zu entdeden, um 
einen Kuß darauf zu drücken. 

„sc möchte der graujamen Mode zürnen, welche unferen Damen 
gebietet, Handſchuhe zu tragen, wenn nicht jo zarte Finger unbedingt 
der jchügenden Hülle bedürften“, verjegte er, indem er ihre Hand los: 
lieg. „Alſo auf Wiederjehen?“ 

„Morgen früh, wenn Sie wollen. Gute Nacht, Herr Waldau.“ 
Sie hatte die Schelle gezogen und ein Mädchen öffnete die Thür. 
Noch einmal grüßte fie leicht, dann war fie feinen Blicken entſchwun— 
den, und Waldau jprang in den Wagen, um zu Liſſen zu fahren. 

Hier fand er die Gefellichaft ber den Reſten eines Junggejellen- 
joupers. Ein Diener war eben bejchäftigt abzutragen, während ein 
anderer eine umfangreiche Bowle aus Cuivre poli in prächtig getrie- 
* Arbeit auftrug und Liſſen im Begriff war, eine Orange zu 
ſchälen. 

„Ah, voila unſer Kunſtenthuſiaſt!“ rief Wellheim, während er eine 
Cigarre abſchnitt. „Aber ſage mir doch einer, welche von unſeren 
Theaternymphen es ihm angethan hat!“ 


Auf Ummwegen. 433 


„Die Antwort ift einfach genug, Wellheim — feine“, antwortete 
der Betroffene. 

„Das heißt nämlich alle“, warf Toriten ein. Waldau ift nur 
noch nicht ganz einig mit fich, welcher er am Ende den Borzug 
geben joll. Uebrigens kommt man etwas jpät, bejter Herr!” wandte 
er jih an Waldau. „Sch weiß jo ungefähr, wann das Theater aus 
it, und jegt iſt's ſchon elf Uhr vorbei.“ 

„Bott weiß, wo Waldau jeine Rendezvous zu geben hat“, meinte 
Liffen. „Seht nur — der Kerl wird wahrhaftig roth! Dahinter 
muß "was jteden, am Ende gar die jchöne Unbekannte von heute 
Morgen.” 

Waldau ärgerte fich gründlich über jein Erröthen, umjomehr, als 
er noc) nicht genug „savoir vivre* hatte, jich jofort auf eine Noth— 
lüge zu bejinnen. 

„sh — muß bitten, mic) — nicht weiter zu eraminiven“, vers 
jeßte er zögernd. 

„Haha, aljo doch! Alſo doc) eine Dame im Spiel!“ 

„Herrgott ja, meinethalben eine Dame, aber bitte — thun Sie 
mir den Gefallen und laſſen Ste mich jegt mit weiteren Verhören 
ungejchoren“, rief Fritz Waldau etivas gereizt. „Ihatjache iſt, daß ich 
verjprochen hatte zu fommen, und — bier bin ich.“ 

„Ste haben recht“, jagte Lijjen, „fangen wir von etwas anderem 
an! Probiren Sie zunächſt dies Getränk.“ 

„Und dann ein Kleiner Tempel!“ rief Lieutenant Wellheim. „Sch 
übernehme die Banf, wenn die Serien erlauben.“ 

„Sie ſind eigentlich auch Glüdsvogel wie Torjten, und man jollte 
jie Ihnen von rechtswegen nicht anvertrauen.“ 

„Sch ſchlage vor, die Bank wird auf Zeit gehalten“, proponirte 

dseck. 


„Auch gut“, meinte Torſten. „Alſo eine Stunde für Wellheim!“ 
Damit begann das Spiel, anfangs unter wechſelndem, dann mit 
entſchiedenem Erfolge zu Gunſten des Bankiers. 
(Schluß folgt.) 


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Dichters Frühlingsklage. 
— N 


EBEN Id, ic) armes Dichterblut, 
oh 1 >) Sagt mir nur, wie joll ſich's wenden? 
Ä Er: I it wohl etwas th, 
ch Jah nach allen Enden 
ine id hörte Leis und laut 
Alle Menjchen fich beſchweren, 
Daß es heimlich mir noch graut: 
Höret nur die ſtrengen Lehren! 








Wenn die lauen Lüfte zieh'n, 
ee die Nachtigallen ſchlagen, 
tojen duften und Jasmin, 
Sollſt Du's fein verſchwie en tragen. 
Uebermannen laß Dich nicht 
Von dem Blühen in den Gründen. 
Wehe, wenn ein Lenzgedicht 
Uns Dein Fühlen ſollte künden. 


Lösſst aus klarer Nächte Schoß 
Eine Mär von alten a 

Sich in Silberjchleter los 

Laß, o laß Did) nicht verleiten. 
Nachts im Walde ift es feucht, 
Aventuren find gar jelten 

Und Du fünnteft, wie mich deucht, 
Dich, mein Lieber, noch erfälten. 


Und num Deine Yiebe gar, 

Alles Sehnen, alles Härmen, 

Lieber, das tft ſonnenklar, 

'3 iſt nur weiches, ſüßes Schwärmen. 
Liebeslieder, geh', ach geh', 

Giebt's wie et ohne Enden; 

Wo Dein neues Licht ein ſteh', 

Ad, wer joll nach dem fich wenden? 






Dichters Srühlingsklage. 435 


Ya, Jo dringen allerwärts 

Wohl zum Ohr die guten Lehren, 
Doc) ein armes DVichterherz 

Sit jo leicht nicht zu befehren. 
Ob es Uerger aud) erregt, 
Dauernd in ein Lied zu fafjen, 
Was mich flüchtig nur bewegt, 
Will und kann ich nimmer Laffen. 


Roſenbluth und Märchenbam, 
Süßes Leid, verſtoh'lne Klagen, 
Klopft ihr leife bei mir an, 
Obdach will ich nicht verjagen. 
og! im Fluge bei mir ein 

Und im Fluge zieht * wieder, 
Doch) ein goldner Wiederſchein 
Dringt von euch in meine Lieder. 


3. Bertha Semmig. 





Ein denkwürdiges Album. 


Bon Dr. Xdolph Kohut. 


njere rajchlebige, mit Dampfgejchwindigkeit und der 
’ le une de3 Telegraphen arbeitende Gegenwart 
ET. at feine Zeit, Bücher zu leſen. Hierzu gehört — 
— — und ein nervöſes, bejtändig fieberhaft aufgereg- 
DE € #03 >» tes Gejchlecht kann auf Dieje Eenfhaft AN kei⸗ 
— — ‚nen Anſpruch machen. Die Parole des Tages bilden Zei- 

7, tungen, welche über die Gejche pille und Creigniffe des 

Augenblid 8 flüchtig orientiren und welche die Denkkraft * Leſen— 

den auf keine allzu harte Probe ſtellen. 

Ganz anders war es in der „alten guten Zeit“ unſerer Eltern 
und Großeltern. Die — waren eilich auch damals keine 
großen ie h. fie zeigten ſich bezüglich des Bücher: 
faufens jehr zugelnöpft, und für Leihbibliothefen jchwärmten jchon 
unter Friedrich Nilhelm III. und IV. von — Männlein und 
Weblein * glühend, wie die jetzige Geheimräthin und Köchin, 
um nur dieſe beiden Thpen aus den „höheren“ und „niederen“ Stän— 
den herauszugreifen. 

In jener naiven Periode konnte man fich aber noch an Tajchen- 
büchern jehr ergögen, und jelbjt die ly elek Gedichte der großen 
und kleinen Boeten wurden nicht nur gelejen, jondern bildeten Kane 
beim dünnen äjthetifchen Thee der guten rel den Gegenjtand 
(ebhafter Unterhaltung. Es war eben die goldene Zeit der Stamm- 
bücher, und die politifchen, literariſchen und fünf erijchen Gelebri- 
täten wurden nicht wenig von den „ichönen Seelen“ gequält, damit 
jie fich durch einen Namenszug oder eine Sentenz in deren Stamm- 
buch verewigten, — die jüngeren Berühmtheiten, welche noch über 
feinen Mondjchein zu Klagen hatten, mußten überdies auch per fas et 
nefas eine Locke ihres Hauptes spenden. Das Haarelafjen gehörte 
dazumal zum guten Ton! 

Es iſt daher natürlich, daß auch das politisch jo bedeutjame 
Ereigniß jener Zeit, der erjte Flügeljchlag des Parlamentarismus, 








Ein denkwürdiges Album. 437 


durch ein grobes Album gefeiert wurde. Bekanntlich verfammelte 
Friedrich Wilhelm IV. von Preußen vor 40 Jahren, am 11. April 
1847, zum eriten Male die vereinigten Provin Talftände um fich. Die 
Sitzungen diejes jhüchternen Anfanges eines Parlaments erregten da— 
zumal das eingehendjte Intereſſe. Man folgte den Verhandlungen 
dejjelben mit um jo größerem Eifer, als der neue Geiſt der Zeit die 
alten Feſſeln zu jprengen begann und nach Freiheit und verfajjungs- 
mäßigen Zuftänden fich jehnte. Das Jahr des Sturmes und Dranges, 
das Sahı 1848, lag bereit3 in den Geburtswehen. 

Diejer Schwache Verſuch eines parlamentarischen Regierungsſyſtems 
erichien daher als eine Großthat erjten Ranges. Als die Meitglieder 
der Provinztalitände auseinandergingen, regte N in ihnen ein jonder- 
barer, aber nichtsdejtoweniger jehr natürlicher Wunfh. Sie wollten 
die Erinnerung an das denkwürdige Ereignig und an die Thaten, 
welche jie vollbracht, auch durd) ein äußeres würdiges Denkmal erhalten 
und ſie beauftragten daher Herren Adalbert von Stülpnagel mit der 
BZufammenjtellung eines derartigen Gedenkbuches. 

Aus diejem überaus reich ausgeftatteten Album, welches gegen- 
wärtig nur noch in wenigen Exemplaren vorhanden fein dürfte, wollen 
wir bier einige bezeichnende Ausjprüche jener Männer, die an dem 
Erjtlingswerf der Eonjtitutionellen Geſtaltung des deutichen Vater— 
landes gearbeitet haben, wiedergeben. Diejes Gedenkbuch iſt heutzutage 
für Bücherfreunde eine jehr gefuchte Waare. Auf dem Wege des 
Buchhandels dürfte es gar nicht mehr zu bejchaffen fein. 

Auf dem jammtenen Hintergrunde des Titelblattes befinden fich 
in allen vier Eden die preußijchen Adler aus gediegenem Silber und 
in der Mitte das trefflich ausgeführte Bild Kriedrih Wilhelm IV. 
nebjt der Krone und dem Wappen Preußens gleichfalls aus Silber. 
Das Gedenkbuch, von W. Gerhardt gezeichnet, it aus dem fünig- 
lichen lithographiſchen Injtitut zu Berlin hervorgegangen. Das Album 
iſt eine der nambaftejten und werthvolliten preußijchen Autographen: 
jammlungen, welche wir bejigen; allerdings find nicht alle Sprüche 
jo weiſe wie diejenigen Salomonis oder Mirza Schaffys, aber die 
meiſten verdienen noch jett Beherzigung. 

Der geneigte Lejer wird es jedenfalls nicht bereuen, wenn er es 
geitattet, daß ich ihm durch die einzelnen Abtheilungen des überaus 
reichhaltigen Kunjtwerfes ala Führer diene. 

Im erſten Abjchnitt werden die Fürjten, Grafen und Herren 
ae ihren Autographen, ihren Wappen, Stammijchlöffern x. vor: 

eführt. 

Der Vorrang unter den Fürſten gebührt Friedrich Wilhelm IV. 
und dem Prinzen von Preußen, unjerem jebigen Kaiſer Wilhelm. Das 
Motto des erſteren iſt bekanntlich: „Sch und mein Haus wollen dem 
Herrn dienen.“ Der Prinz von — ſchreibt mit ſeiner en 
und deutlichen Schrift: „Thue Recht und jcheue niemand!" Und 
wahrlich, diefem am 26. Zunt 1847 verzeichneten Grundſatz ift unfer 
Kaiſer ſtets treu geblieben! 

Der leider nunmehr veritorbene Friedrid) Karl von Preußen ſen— 
det von Bonn den 26. Juli 1847 den bezeichnenden Vers: 


A 


438 Ein denkwürdiges Album. 


Ber Gott vertraut, 
Friſch um fich haut, 


Der wird wohl bier auf Erben 
Niemals zu Schanden werben!“ 


Albrecht Prinz von Preußen ift mit nachjtehenden aus Peterhof 
18. Auguſt 1847 datirten Zeilen vertreten: „Was man nicht aufgiebt, 
hat man nie verloren.“ 

Friedrich Prinz von Preußen dichtet den Vers: 


„Echter Glaube, bied'rer Sinn, 
Deutiche Treu und Rittermuth, 
Sind der Eeele ein Gewinn 

Und des Lebens böchftes Gut.‘ 


Alerander Prinz von Preußen meint: 


„Nicht Hochmuth, nicht Peichtfinn, 

Den hat ein jeder Tropf! 

Nein — hoher Muth und leichter Sinn 
Belebe Herz und Kopf!“ 


Prinz Georg von Preußen jchreibt mit jehr zierlicher Handichrift: 
„Boran und beharrlich!“ 

Prinz Wilhelm von Preußen jagt: „Gott mit uns!" Sein Sohn, 
der am 3. Januar 1873 als erjter Admiral der Marine gejtorbene 
Prinz Adalbert von Preußen hat den Wahlipruch: „Ohne Kampf 
fein Sieg!" Und endlic) Waldemar Prinz von Preußen führt das 
Motto: 

„Zreu und wahr, 
Feſt in Gefahr.” 

Bielleicht ijt der Lejer jo liebenswürdig, aus der Gejellichaft der 
Fürſten in diejenige der „Srafen und Marjchälle* fic) mit mir zu be= 
geben. An der Spike diefer Herrjchaften erbliden wir hier zuvörderſt 
den erjten Yandtagsmarjchall für die Provinzialjtände beim erjten 
vereinigten Landtage 1847, den Abgeordneten des Altmarienwerder- 
Niejenburger Kreiſes, den Oberburggrafen von Brünned auf Belſchwitz, 
mit dem Worte: „Wahrhaftigkeit vor allem! fordert die Treue gegen 
den König und das Baterland.“ Ein anderer Obermarjchall des König- 
reichs Preußen, gleichfalls aus Dftpreußen, Graf von Finfenjtein, ruft 
mit dem Pſalmiſten aus: „Sch hafje, die da halten auf böje Lehre, 
ich aber hoffe auf den Herrn.“ 

Der Burggraf zu Dohna-Schlobitten ift der Anficht der Epiſtel 
Pauli an die Thejfalonicher: „Sp jemand auch fänpfet, wird er doch 
nicht gekrönt, er fämpfe denn recht!” Ein anderer Graf Dohna — 
Graf zu DohnasLauf, thut den Ausjpruch: „Nur Treue verbürgt das 
Heil der Nation, Treue dem Höchjten und Treue dem Ganzen, dieje 
ind dauernd; Parteien und Meimmgen wechjeln und jchtwinden.“ 

Aehnlich äußert ſich auch der Marjchall der Kurie der drei 
Stände des vereinigten Landtages, U. von Rochow, indem er meint: 
„Man vedet in der neuen Zeit viel von politischen Tugenden. Ich 
erkenne ihren Werth. Vor allen stelle ich hoc) oben an die Treue!“ 


Ein denkwürdiges Album. 439 


Verlaſſen wir diefe hocharijtofratiiche Sphäre und wenden wir 
uns den nicht minder nad) Parfüm und Mojchus Dduftenden, nicht 
weniger blaublütigen Kreiſen der „Herren“, alias Standesherren, zu, 
jo en wir auch hier manchem fernigen Wort, 

er Fürſt zu Lynar, Standesherr auf Drehna: 


„Auf unfrem Weg giebt es der Klüfte viele 
Und rechts und links umlagert uns Gefahr, 
Dod vorwärts! immer bin zum jchönen Ziele 
Der göttlihen Vernunft, die ewig wahr; 

Was ſchützt uns, als in den bewegten Zeiten 
Umbildend langſam, ficher fortzufchreiten ?* 


Graf von Houwald jagt kurz und bündig: „Des Staats Gejete 
find des Volkes Rechte.“ Snel Standesherren, Graf von Hardenberg 
und Graf Nedern, führen diejelben Motti: „Suum euique!“ 

Eine höchjt intereffante Autographenſammlung bietet die nun fol- 
gende Serie der „Ritter“. In Reih und Glied finden wir hier meh: 
rere Staatsmänner, welche damals als einfache Abgeordnete der Nitter- 
ſchaft im Landtage jahen, aber jpäter nicht nur Preußen, jondern dic 
ganze Welt durch ihre Thaten in Aufruhr brachten. Unter den mär- 
fischen Sunfern gewahren wir den Abgeordneten der Ritterjchaft des 
$treijes Jerichow, Otto von Bismard, der ſich mit feiner marfigen Hand- 
jchrift als Deichhauptmann und Abgeordneter der altmärkischen Nitter- 
ſchaft bezeichnet. Sehr denfwiürdig iſt das Motto des jeßigen Reichs— 
fanzlers, — lautet: „Das löbliche Streben wird zur Thorheit, 
wenn dabei das vorhandene Gute überſehen wird.“ 

Neben dem „Deichhauptmann“ Bismark finden wir noch einige 
Abgeordnete, welche jpüter als Miniſter Carrière machten, ohne aber 
— vom Glücke ſo begleitet geweſen zu ſein, wie der Herr Reichs— 
anzler. 

Zunächſt nennen wir den Freiherrn Otto von Manteuffel auf 
Drahnsdorf, der vom 4. Dezember 1850 bis 6. November 1858, 
als der Prinz von Preußen Regent wurde, als Minifterpräfident den 
Staat leitete. Sein Wahlipruch lautet: „Eine Verſtändigung ijt 
nur möglic) zwijchen Männern, welche es chrlich meinen und ihre 
Ueberzeugung offen ausjprechen, darum iſt rückjichtslofefte Offenheit 
Pflicht derer, welche eine Berjtändigung wollen.“ 

Sein Bruder, der damalige Landratl Freiherr von Mantenffel, 
Abgeordneter der Niederlaufiger Ritterichaft, läßt jich in folgendem 
Bers vernehmen: 

„Ein König mit kräftiger That, 
Ein offener, ftändifcher Rath, 
Noch nimmer netbeilte Gewalten, 
So wolle Gott Preußen erbalten!“ 


Bon den jpäteren Excellenzen, deren — ——— Wappen und 
Embleme wir hier erblicken, nennen wir ferner A. von Auerswald, der 
nach der Märzrevolution befanntlich in dem Miniſterium Graf Arnim: 
Boitzenburg und Camphauſen das Bortefeuille des Innern inne hatte. 
Auf dem vereinigten Yandtage jtand er auf Seiten derjenigen, welche 
eine Verfaſſung nad) den Verheißungen von 1820 forderten. In Die 


440 Ein denkmwürdiges Album. 


jem Sinne verfaßte er die von Winkl ausgegangene Protejterflärung 
der 138, betheiligte fic) an dem Adreßentwurf, der, von 484 Stimmen 
gegen 107 angenommen, die früheren Zuficherungen von 1820 als das 
wohlerworbene Recht der tampfestreue des ——— Volkes bezeich— 
nete; auch gehörte er zu den 65 Abgeordneten aus Oſtpreußen, welche 
den Bau der Oſtbahn mittels einer Anleihe ablehnten, weil die Geſetz— 
gebungen von 1847 den Verjprechungen von 1820 nicht entiprächen. 

A. v. Auerswald auf Plathen verkündet den Sat: „Sn Dem 
ernjten Kampf der Geijter um, des Baterlandes Zukunft, berufen, Dem 
föniglichen Hüter derjelben mit der unwandelbaren Treue zur Seite 
zu ftehen, die in böjen wie in guten Tagen ſich bewährt, „ein Nein 
wie ein Ja“, fühlt auch das feitejte Herz das Gentnergewicht der un— 
entfliehbaren Nechenichaft jener Stunden, von deren jeder die Zukunft 
abhängt.“ „Das jei aber fern von uns, daß wir Hiehen jollten — 
iſt unjre Zeit kommen, jo wollen wir ritterlich kämpfen, um unjrer 
Brüder willen und unſere Ehre nicht lafjen zu Schanden werden.“ 
(1 Makkab. 9. 10.) 

Und endlich jei hier eines Ausipruches des Grafen Arnim von 
Boitenburg Erwähnung gethan, der in der Herren-Kurie de3 vereinig- 
ten Yandtages ſaß und am Tage nad) der Kataſtrophe vom 18. März 
1848 Mintjter des Innern und PBräfident des neu gebildeten Kabi- 
netts wurde. Er lautet: „In ſtändiſchen Berhandlungen erjcheinen oft 
Krone und Stände als Gegner. In dieſem Kampfe gilt es aber nicht wie 
in anderen Kämpfen, den Gegner zu jchrwächen, zu verwunden oder zu 
überwinden, jondern beide Kämpfer gejtärft aus ihm — zu 
laſſen. Wer dies in jenem Kampfe vergißt, er ſtehe auf welcher Seite 
er wolle, den nennt vielleicht die Geſchichte einſt einen bedeutenden 
Mann, aber ein wahrer Freund ſeines Vaterlandes iſt er nicht.“ 

Unten den Rittern führen die zahlreichen oſtpreußiſchen Abgeord- 
ten eine vecht kräftige Feder. E. von Saufen-Tarputichen, Abgeord- 
neter von Lithauen, wiederholt das Dichterwort: 

„Nicht Roß, nicht Reifige 
Sichern bie fteile Höh', 
Wo Fürften fteh'n; 

Liebe des freien Mann’s, 
Liebe zum Vaterland 
Stütsen den Firftenthron, 
Wie Fels im Meer.” 


Der Abgeordnete der Ritterichaft des Graudenzer Kreiſes jchreibt- 
„Da wo man Rath nicht hört, wo Rath nicht Folge hat, allda iſt 
gar fein Rath der allerbejte Rath.“ — Ein anderer Abgeordneter 
meint: „Nur der bekundet jeine Unabhängigkeit, der nach feiner Ueber: 
zeugung, als dem, was er für wahr erfennt, handelt, ohne Rückſicht 
auf Berhältnijfe und VBortheile.“ 

K. von Kalkitein äußert fich: „Die kräftigſte Hilfe fand Rom in 
der Weisheit ſeines Senats und dem jtandhaften Muthe jeiner 
Bürger.“ 

Der Abgeordnete der Nitterichaft für den Wahlkreis Niederup, 
Negierungsbezirt Gumbinnen, Reimer, jagt von der Eonjtitutionellen 





Ein denkwürdiges Album. 441 


Entwidelung, die auf den Provinzialitänden begonnen hatte: „Alles, 
was groß war, war anfangs nicht groß; jo möge auc) der Baum, den 
wir jeßt pflegen, fräftig wachjen und jeinen Schatten zum Wohle 
unjerer Nachkommen immer weiter und weiter verbreiten.“ 

Ein anderer Repräjentant der Ritterfchaft aus demjelben Gum— 
binnen, namens Henjche, hat das Motto: „Durc Wahrheit zur Frei— 
heit, durch Freiheit zur Wahrheit.“ 

Bon Bardeleben, der jpätere Oberpräfident der Rheinprovinz, thut 
den charafterijtiichen Ausſpruch: „Einer iſt klüger als alle, klüger 
als Talleyrand und ich, jagt Napoleon, und diefer Eine ift die öffent: 
liche Meinung.“ 

Jachmann-Trutenau meint jfeptiich: „Die Repräſentation des Vol- 
fes ijt durch des Königs Aufruf an die Abgeordneten aller ‘Provin- 
zen zur Thatjache geworden, die zur herrlichen Freiheit an Haupt 
und Gliedern, den Sir und Volk im großen und ganzen, zur Ein: 
heit des Strebens aller Stände, aller Bolfsitämme nad) einem jchönen 
Ziele führen wird. Es muß aber noch manches Vorurtheil verlajjen, 
manche irrige Anficht berichtigt, mandjem neuen Gedanken Eingang 
gejchafft werden, bevor dieſe neue Schöpfung unjeres Königs das 
wird, was jie jein fann, was fie jein Br 

Der Abgeordnete der Ritterichaft Rajtenburg (Djtpreußen) Thiel 
— ruft aus: „Alles für Freiheit und Recht, Pflicht und 

eſetz!“ 

eben den Fürſten, Marſchällen, Grafen und Rittern durften 
auch die „Stände“ des Provinziallandtages natürlich nicht fehlen. 
Eingeleitet wird dieſe Abtheilung des Albums durch die Ausſprüche der 
Vertreter der Haupt- und Reſidenzſtadt Berlin. Es ſind dies: Stadt— 
ſyndikus Moewes, Kaufmann Ferdinand Schauß und Geheimer Finanz— 
rath und Stadtälteſter Knoblauch. Die Stadt Brandenburg iſt durch 
den Stadtratl) und Kaufmann Hammer, die Stadt Potsdam durch 
den Bürgermeifter und Syndikus Stöpel repräfentirt. Man muß ges 
jtehen, daß die Väter der Stadt eine recht freimütbige Sprache füh— 
ren. So ſagt z. B. der Geheimrath Knoblauch: „Das unbeſchränkte 
Recht, die wohlbegründeten Wünſche und Bedürfniſſe des Volkes vor 
den Thron zu bringen, iſt für eine gedeihliche ſtändiſche Wirkſamkeit 
ſo unentbehrlich, wie die Luft zum Athmen.“ 

Die Stände zeichnen ſich überhaupt durch große Offenheit aus. 
Der Oberbürgermeiſter, Kriminalrath und Abgeordnete der Stadt 
Prenzlau, Grabow, führt als Motto den ——— Zwiſchen ung jet 
Wahrheit!" Der Polizeidireftor a. D. und Abgeordnete Mehls aus 
Landsberg a. d. Warthe ergeht ſich in einem Gleichniß: „Der Beifall 
der Welt gleicht einem jchönen, jedoch flüchtigen, raſch verjchwinden- 
den Meteore, aber der Beifall Gottes und unjeres innern Richters, 
des Gewifjens, einem Fixſterne, der in reiner und unmwandelbarer Klar— 
heit immer ftrahlt.“ 

Der Apotheker Amvandter aus Kalau in der Niederlaufig, welcher 
als zweiter Abgeordneter der Kreisſtädte der Niederlaufit im vereinig- 
ten Yandtage erjchien, jpricht das jtolze Wort aus: „Dem Volke fün- 
ten jeine echte weder durch feine Fürſten oder Vertreter, noch durd) 
Verjährung gejchmälert werden, denn fie jind natürlichen, göttlichen 

Der Ealon 18897, Heft X. Band 11, 30 


442 Ein denkwürdiges Album. 


Urjprunges, darum ewig und unzerjtörbar!“ Der Kaufmann Wenzler 
aus Lübbenau in der — Abgeordneter der kollektiv wäh— 
lenden Städte, macht ſeinem gepreßten Herzen in Verſen Luft: 


„Da, wo das Volk mit freiem Worte 
An jeines Fürften Thron und Pforte 
Nah dem Geſetz jein Hecht verlangt, 
Da möge immer Gnade wohnen, 
Denn Bolles Piebe wird es lobnen, 
Wenn Güte in der Krone. 

Denn redlich ift des Volles Streben, 
Wird ibm gern fein Recht gegeben, 
Liebt e8 auch den Fürften treu.‘ 


Aus der Fülle der mehr oder weniger goldenen Worte diejes 
Kapitels mögen hier noch einige der bezeichnenditen ihren Plaß fin- 
den. Der Repräjentant der Stadtkommune Gumbinnen, Ludwig Weng- 
Eu äußert jich aljo: „Niemals trete Willfür an die Stelle des 
Rechts.“ 

„Bewahre Dein Gewiſſen, daß dieſes Dir niemals über Unrecht 
Vorwürfe zu machen hat; hüte Did) vor Verjprechungen, die Du 
zu halten nicht gejonnen und jpreche niemals jo zweideutig, daß Du 
mißverjtanden werden kannſt — handle jtets jo, daß Du mit eg jagen 
fannjt: ic) thue recht und jcheue niemand.” (Nbgeordneter Pieltke.) 

„Das Wohl des Vaterlandes kann nur dadurch gefördert werden, 
daß alle Geijteskräfte jich frei bewegen.“ (Abgeordneter Dombrowsky.) 

„Des Segens, der Liebe und Verehrung der Nation fünnen hin— 
fort nur Diejenigen deutjchen Fürjten und Staatsmänner theilhaftig 
werden, welche Willkür und Bedrüdung aus dem Syitem der Regie— 
rung entfernen, Gejeß und Freiheit als unzertrennliche Grundlage 
eines werfthätigen Staatslebens fürdern.“ (Humrüb, Abgeordneter der 
Haupt- und Rejidenzitadt Königsberg.) 

„Möge der Wahljpruch des großen preußijchen Helden im Kriege: 
Vorwärts!“ es bleiben im Frieden und bei dem angefangenen großen 
Werke der Volfsvertretung.” (Frangius von Danzig.) 

Und endlid) die jchlagendite Satire auf den ganzen, jo rejul- 
tatlos verlaufenen Landtag, welche vom Abgeordneten der Stadt Grau— 
denz, Weije, herrührt, der ausruft: 

„Es widmet fih der Landtag ganz 
Dem Wohl des theuren Baterlande! 
Wir ſeh'n in regem Walten 

Biel Schönes fih entfalten! 

Das Gute wird geprüft, ermägt, 
Geſprochen viel, und überlegt, 

Und — alles bleibt beim Alten!" 


Die Shlußabtheilung des Albums bilden die Landgemeinden, be- 
tehungsmeije die Gutsbejiger, Schulzen, Lehnjchulzengutsbejiger und 
YAdersleute, welche die Landgemeinden als ihre Vertreter in den ver- 
einigten Landtag jandten. Die ES pruchweisheit diejer ländlichen Ge— 
müther zeichnet jich am meijten durch ihre Einfachheit, Kürze und 
Volfsthümlichkeit aus; hier einige Proben: 

„Das ort macht lebendig“ (Outsbejiger Krohn aus Teltow.) 


Ein denkwürdiges Album. 443 


„Nicht das viele Wiſſen thut's, jondern wiſſen etwas gut's.“ (Schulze, 
nn der Kreiſe Zauch-Belzig und Jüterbogf-Ludenwalde.) Und 
endlich: „Wahrheiten können nicht oft genug wiederholt werden und 
die offene und ehrliche Sprache der Wahrheitsliebe in von Heftigfeit 
weit entfernt und verjchteden von Beleidigung.“ (Heim, Abgeordneter 
aus Schwetz.) 

So manche der hier mitgetheilten Denkſprüche haben noch heute, 
troß aller Blumenlejen und „Lichtitrahlen“, ihren Werth nicht eingebüßt 
und verdienen auch von uns Epigonen beberzigt zu werden! 


— — — — —— — 


Widerſtreit. 








Sk, ie schnell doc mein Gemüthe 
A o| Ein neues Lerd umwob, 
Frl Seit Deine Herzensgüte 
Mich aus dem Elend hob. 
© Ob auch) vereint, erlejen 
S Die Gerfter gleiches Ziel, 
Bleibt unjer Herz und Wejen 
In troß’gem Widerjpiel. 


Die Geifter haben gemeinſam 
Den Flug binaufgelentt, 
Doch jedes Herz jtill einfam 
Srollend des andern dentft. 
Paul Barſch. 


— EB — 


30* 





Die franzöffdien Bäder. 















VE k, eutichland hat jein Kiffingen, Ems und Wiesbaden, 
oo Deiterreich jein Karlsbad, Marienbad, Zeplig und 


gran ensbad, auch Frankreich fehlt es an heilkräftigen 
£) uellen und weltberühmten Modebädern wie Vichy, 
SR Biarrig, Air und Nizza feineswegs. Wir Deutjchen 
Dr 3° juchen fie indejjen jeltener auf, einmal, weil fie uns 
Nmeiſt ferner liegen, als bejjpielsweije die böhmijchen Bäder, 
alsdann weil ein gejelliger Verkehr in einem Lande, — 
jr Auelie beitändig das Rachefeuer jchürt, für uns beinahe völlig 

ausgeſchloſſen iſt. F 

Bevor wir die franzöſiſchen Bäder, ſei es — ihrer geographi— 
ſchen Lage, ſei es nach der Heilkraft ihrer Quellen klaſſifiziren, einige 
allgemeine Bemerkungen. 

Noch vor nicht langer Zeit vertilgte man die Brunnen literweiſe, 
in dem naiven Glauben, durch dieſe Ueberſchwemmung den böſen 
Krankheitsparaſiten wie einen alten Adam zu erſäufen. Davon iſt 
man jetzt auch in Frankreich abgekommen, wo man in Be ug auf die 
Diät übrigens jehr liberal denft. Früchte, ja jogar der geliebte Salat 
werden ruhig genojjen und der franzöfiiche Arzt und Apotheker er- 
klären willig, daß die Verbindungen, welche die Säuren im Magen 
eingehen, unſchädlich find und Are die Wirkung der Brunnen feines- 
wegs ſchwächen. Bor- und Nachkur ſind jo gut wie unbekannt. Es 
iſt übrigens im allgemeinen für die Heilmethode der franzöſiſchen 
Aerzte Garten, daß dieſe die verordneten Medikamente faſt 
immer während der Mahlzeit nehmen laſſen. Letzteres iſt, jo viel ich 
weiß, auch in England jehr gebräuchlich). IE 

Die Inhalattionsmethoden, welche in Deutjchland und Dejterreich 
(ängjt guten Ruf haben — ich erinnere nur an Reichenhall — kom— 
men jeßt —* in Frankreich ſehr in Aufnahme. 

Moorbäder findet man nur in Dar und in Saint-Amand an der 
belgifchen Grenze und diefe Bäder find mit Franzensbad feineswegs 
zu vergleichen. 





Die franzöfifcen Käder. 445 


Was nun im allgemeinen die Bäder betrifft, jo giebt es in Frank— 
reich noch jo manchen Arzt, welcher die Abjorption der mineralifchen 
Beitandtheile durch die Haut überhaupt in Abrede jtellt und Die 
Heilkraft gewijjer Quellen Lediglich ihrem Wärmegrade bezw. ihrer 
Elektrizität zufchreibt. Es iſt ja in der That befannt, daß die Wajjer 
des weltberühmten Teplig an mineralijchen Bejtandtheilen arm find 
und ihre große Heilkraft wohl vorwiegend ihrer Temperatur verdan- 
fen. Oanz dajjelbe gilt für Neris, das franzöfiiche Teplig, und für 
Bath in England. 

Die Douchen, ferner “lol und Öymnajtif gelangen bei unje- 
rem Nachbar immer mehr in Aufnahme, ganz daffefbe gilt für die 
Schwitbäder bei gleichzeitiger Anwendung von faltem Wajjer. Die 
warme Douche, welcher eine alte folgt, führt in Frankreich den Namen 
„ſchottiſche Douche“, weil fie nämlich) aus Edinburg im Jahre 1787 
von einem Airer Arzt eingeführt wurde. Die Wirkung, welche der 
Wechjel von Kälte und Wärme auf die Bluteirfulation ausübt, dürfte 
jo befannt fein, daß ich darauf kaum näher einzugehen brauche. Wenn 
ich bei diefem Thema aljo noch verweile, jo iſt es nur, um der jo- 

enannten „Hammams“ zu erwähnen, welche in Paris und in ganz 
* ſo beliebt geworden ſind. Wir in Deutſchland haben dafür 
andere Namen, wir ſprechen von römiſchen Bädern, wenn es ſich um 
trockene Hitze handelt, von ruſſiſchen Bädern, wenn es ſich um feuchte 
Hitze, um Dampfbäder handelt. 

Woher ſtammt der Name Hammam? Man braucht fein Sprach— 
gelehrter zu en um den orientalischen Urjprung dejjelben zu er- 
rathen. Die Türken und Mauren nennen oder nannten die römischen 
Bäder Hammam, vielleicht nach dem Namen ihres Wiederentdeders. 
In der Slanzzeit von Cordova, Bagdad, Fez, und Samarcand, aljo 
jowohl in Europa, wie in Afrifa und Ajien, enthielt jeder der zier- 
lichen, in reicher Ornamentif prangenden Paläſte der islamitischen 
Großen jeinen prächtigen Hammam. Vom neunten bis ins zwölfte 
Jahrhundert war der Islam der Hort — der Neinlichfeit, während 
unter anderen der heilige Jeröme den jungen Mädchen das Baden ver- 
bot, da die Reinlichkeit — feine chrijtliche Tugend jei. Wir Chriften 
denfen nun heute, Gott Lob, über das Waſſer toleranter, aber die 

ranzojen haben vielleicht nicht unrecht, daß_jie durch den Namen 
yammam die Muhammedaner dafür ehren, daß jie die Ueberlieferung 
der römischen Bäder pietätvoll bewahrt und ihrerjeit3 an das wieder 
reinlic gewordene Europa überliefert haben. Ehre dem Ehre gebühret! 
Heute enthalten die Hammams jowohl ruſſiſche, wie römiſche Bäder 
und werden auc) wohl als maurijche Bäder bezeichnet. 

Kommen wir nun auf die franzöftichen Yadeorte, deren es uns 
ählige giebt. Wie fie Hafjifiziven? Dem Fachmann würde eine 
Sintheilung auf Grund der chemiſchen VBerwandtichaft der Wafjer offen- 
bar als die zweckmäßigſte erjcheinen; aber da a nicht alle 
meine Lejer Fachleute jind und eingehenden chemijchen Analyjen wenig 
Geſchmack abgewinnen dürften, jo ziehe ic) die geographiſche Ein- 
therlung vor. 

Ueber die andere nur einige wenige Worte. Wir unterjcheiden 
auch bei den franzöfiichen Waffern vier große Gruppen, nämlich erjtens 


446 Die franzöſiſchen Bäder. 


die jalzhaltigen, —— die alkaliſchen und doppeltkohlenſauren, drit— 
tens die ſchwefelhaltigen, viertens die eiſenhaltigen; wir haben ferner 
die Seebäder, falls man dieſe nämlich nicht zur erſtgenannten Klaſſe 
ählt, und die Winterſtationen und klimatiſchen Luftkurorte zu unter— 
— Was nun die vorgenannten Gruppen betrifft, ſo werden die 
Leſer bei der von mir gewählten geographiſchen Eintheilung wieder: 
holt bemerfen, daß letztere ag mit der anderen übereinstimmt, dad 
aljo beijpielsweije jet alle Heilquellen der Pyrenäen jchwefelhaltig, 
die der Auvergne alkaliſch jind ꝛc. 

Ein Blid auf die Karte lehrt, daß Frankreich reich an Flachland it; 
von dem Hochplateau der Auvergne (Puy de Döme) abgejehen, beſitzt 
e3 fajt nur an jeinen Grenzen hohe Gebirge: die Pyrenäen, Alpen, 
Jura, Ardennen und Bogejen. 

Beichränfen wir uns darauf, die berühmtejten Bäder des Gebirgs- 
und yladjlandes in vorjtehender Reihenfolge hervorzuheben. 

Eaur-Bonnes in den Nieder- Pyrenäen iſt, oder richtiger, find 
das franzöfiiche Wachen und zumal bei Hautkrankheiten angezeigt. 
Nicht weit davon gelegen die ebenfalls jchwefelhaltigen Waſſer von 
Gauterets. Bareges in den Ober: Pyrenäen iſt weltbefannt und noch 
heute nennt man in Paris ein Schwefelbad „bain de Bardges“, wo= 
mit indeß nicht gejagt iſt, daß Tehteres den echten Schwefelbädern des 
Byrenäenbadeortes an Güte gleich füme. Ganz im Gegentheil! Der 
Gebrauch jeiner Waſſer empfiehlt jich bejonders gegen rheumatiiche 
Leiden, Flechten, bei Schuß⸗ und Hiebwunden und Knochenbrüchen 
der bedenflichjten Art. Auch Luchon befigt einen bedeutenden Ruf 
und eine ähnliche Heilkraft, wie das vorgenannte Bad, zumal bet 
chronischen Krankheiten aller Art. Daneben jeien angeführt Le Bou— 
lou, Ameltssies:Bains, Rennes-les-Bains ꝛc. 

Auch in den Alpen fehlt es nicht an bedeutenden Badeorten; ihre 
Perle iſt Aix-les-Bains (Savoyen), daneben Bridessles-Bains, ferner 
Uriage (Jjere), Evian am Genferjee und Salins (Savoyen), 

Air Liegt jo recht eigentlich mitten zwiſchen Frankreich, der Schweiz 
und Italien, und jeine Fremdenliſte weit an zwanzigtaufend Gäſte 
auf. Die Umgegend iſt herrlich und bietet zu den intereſſanteſten 
Ausflügen — beiſpielsweiſe nach dem Montblane oder nach 
Chambéry, wo Rouſſeau in den Charmettes eine Zeit ſeligen Liebes— 
glückes verlebte oder, wenn man materialiſtiſcher denkt, nach dem 
Kloſter der Grande Chartreuſe mit ſeinem berühmten Likör. Das 
Kafıno ijt eines der jchönjten der Welt. Die Thermen von Wir, den 
Tepligern verwandt, jind alfalisch-jalinijche, wirken aber hauptjächlich 
durch ihre Temperatur und werden bejonders gegen den chronischen 
Nheumatismus mit Erfolg angewendet. Für andere rheumatijche Affek— 
tionen empfehlen jich dagegen mehr andere Bäder, jo das jchon er- 
wähnte Neris gegen nervöjen Rheumatismus, Plombisre gegen den 
Rheumatismus des Unterleibes ꝛc. 

Brides und Salins wirken infolge ihres großen Salzgehaltez 
larirend, bejigen die Eigenschaften der Waſſer von Kiffingen, Kreuze 
nach und Homburg und find unter anderen gegen Starfleibigkeit, Kon— 
geitionen und auch gegen die chronische Gicht angezeigt. Uriage wird 
gegen Flechten und Skrofeln bejonders empfohlen. Evian gilt als 


Die franzöfifchen Bäder. 447 


fleines Vichy, wie man Kiffingen das Eleine Karlsbad genannt hat. 
Der Jura, Bater Grevys Heimat, ijt an SHeilquellen verhältnik- 
mäßig arm. Zwiſchen ihm und den javoyer Alpen herrſcht eine ge— 
wiſſe Berwandtichaft, insbejondere auch in feinem Gejtein, feinen Ralt- 
feljen 2c., welche auf die Beichaffenheit der Waller einen jo großen 
Einfluß ausüben. Hier wie dort Soole, Schwefelhydrate und felbit 
Eifen. Salins-les-Bains ijt das — des Jura, das ſagt mei— 
nen Leſern alles. Neben dieſem Bade ſei das anmuthig gelegene 
Guillon (Doubs) genannt, das gegen Skrofeln und Blutarmuth em— 
pfohlen wird. 

Bedeutſamer ſind die Vogeſenbäder, von denen wir nur Plom— 
biere, Bourbonne und Contrexéville erwähnen. 

Blombiere ijt jeit einigen Jahren in Frankreich auferordentlic) 
beliebt geworden. Es bejigt nicht weniger als dreizehn Quellen, welche 
faſt durchweg ungewöhnlich heit find, und mehr durch ihre Tempera— 
tur, als durch hohen mineraliichen Gehalt ihre große Wirkung üben. 
Einen Schwefelgehalt, wie früher behauptet wurde, befiten fie nicht, 
und jind unter anderen angezeigt gegen Magen- und Unterleibsleiden, 
Wechjelfieber und Nervenkrankheiten. Die Lage des Ortes zwiſchen 
Geige veichbewaldeten Höhenzügen iſt malerich genug. Die Waffer 
von Bourbonne bejigen vielleicht den größten Salzgehntt aller fran— 
zöſiſchen Quellen und machen das Bad jo recht zu dem, was man, 
etwas undeutich, als Skrofelbad bezeichnet. Die Quellen von Gontrere- 
ville werden hauptjächlich zum Trinken benußt, befördern die Sefretio- 
nen umd find jehr wirkſam gegen Steinleiden. 

Wir fommen nun auf das centrale Hochplateau Frankreichs, das 
in mehrfacher Beziehung eine Sonderjtellung einnimmt. In den Alpen, 
in den Vogeſen, erklärt ſich der mineralische Gehalt der Quellen aus 
der chemi en Beſchaffenheit des Bodens. Anders bei den Waſſern 
von Auvergne, die ihren Gehalt aus einer Erdtiefe beziehen müſſen, 
in welche das menſchliche Auge und auch das der Wiſſenſchaft nicht 
—— Sie find faſt ſämmtlich und par excellence heilkräftig 

ei — und rheumatiſchen Leiden, beſitzen einen ſtarken Lithin— 

gehalt und ſehr viel Kohlenſäure, welche den Bodenriſſen entſtrömt 
und auf vulkaniſche Kräfte ſchließen läßt, wie dies in noch höherem 
Grade bei den Quellen um Neapel der Fall iſt. 

Pougues ift, wie das deutjche Neuenahr, gegen die — 
heit ſehr empfohlen, Neris mit ſeinen heißen Quellen und Ueberreſten 
römischer Bäder hat eine grobe Berwandtichaft mit Gaſtein, Pfäffers 
und Plombiere. Man trinkt wenig und badet viel und wendet vielfach) 
auch die — an. Alle rheumatiſchen und nervöſen Leiden ſind 
dort wirkſam bekämpft, wie denn Neris jo recht eigentlich als das 
Bad der Militärs bezeichnet werden muß, die ſich dort, wie der alte 
Greiner nach Uhlands Gedicht, im Wildbad ihren narbenvollen Leib 
gejund baden. 

Weltberühmt iſt Vichy, trogdem es nur ein Städtchen mit jechs- 
taufend Einwohnern ift; wer fennt nicht die berühmten Vichy-Paſtillen! 
Vichy iſt das Modebad par excellence geblieben, trotdem Napo- 
leons III. befanntes Leiden fich dort cher verjchlimmert, als gebeflert 
hat. Gicht, Dyspepfie und Leberleiden befämpft es in bejonders wirk- 


448 Die franzöſiſchen Bäder. 


jamer Weiſe, außerdem aud) die ... Langeweile — giebt es doch; vielleicht 
von Nizza oder Trouville abgejehen — kaum einen eleganteren Bade- 
aufenthalt. Eine vorzüglidhe Muſik im alten jchattigen Park, die 
beiten Pariſer Schaufpieler, zahlloje Promenadenwege, Gelegenheit zu 
den prächtigiten Ausflügen, beijpielsweije nach dem Puy-de-Döme, 
furzum_es fehlt an nichts, außer vielleicht an Ruhe und Stille. Vichy 
u Sommer ein Klein-Paris; jeine Wajjer find reich an alkaliſchem 
ehalt. 

Minder berühmt, aber vielleicht noch) heilfräftiger iſt Royat. Seine 
heißen Quellen — 450 Meter über dem Meeresſpiegel, ſo daß das 

ad vor der drückenden Hitze des Hochſommers —288 iſt. Es hat 
eine ſehr gleichmäßige Temperatur und eine kräftige, nervenſtärkende 
Luft. Royats Waſſer ſind ſtark alkaliſch und ſanguiniſchen Naturen 
nicht zu empfehlen, umſomehr dagegen den lymphatiſchen bei Blut— 
armuth, bei fatarrhaliichen und rheumatischen Affektionen und bei ge— 
wiſſen Nervenleiden. 

Auch Mont =» Dore er m al wird jehr bejucht, zumal 
von Bruſt- und Kehlkopfkranken in letzterer Beziehung und wegen 
jeines großen gg rg Ems vergleihbar. La Bourboule 
(Puy-de-Döme) bejigt den Ruf, ungejunde Säfte am jchnelliten zu 
bejettigen, ebenjo Skrofeln, Zuderkrankheit und gewijje Fieberzu— 
jtände, vor allem das jogenannte Sumpffieber. Die jtark jalzhaltigen 
Wafjer Haben den jeltenen Vorzug, bei der Verſchickung an Gehalt 
nicht einzubüßen. s 

Meinen Lejern wird es — ſein, daß bisher von eiſen— 
haltigen Quellen noch nicht die Rede war; ſie ſind eben ai finden 
ſich faſt nur in der Ebene und feiner der Badeorte kann ſich beiſpiels— 
weile mit Pyrmont mejjen. Sch nenne daher nur flüchtig Forges-les— 
Eaux, denen einjt Ricjelieu feine Genejung zufchrieb, ferner Saint— 
Amand, Pierrefonds und Enghien. 

Ueber die Heilquellen SKorjifas und Algeriens läßt ſich nod) 
weniger jagen; in Algerien giebt es deren zwar eine große Zahl, aber 
fie werden nicht ausgebeutet, da der Araber Allah die Initiative 
überläßt, Allah jeinem Propheten und diejer wiederum dem Araber. 

Eine jehr große Bedeutung oe die franzöfiichen Winterftatio- 
nen und Luftkurorte. Weniger befannt ift Arcachon bei Bordeauz, 
wo die Villen gleichjam in die Sanddiünen eingegraben find und durch 
mächtige Tannenwaldungen vor Nordiwinden 28 werden. Welt— 
berühmt find Biarritz und Pau am Nordabhange der Pyrenäen, fer— 
ner die Inſel Hyeres bei Toulon, jchlieglich Cannes (Seealpen), Nizza, 
Monaco und Mentone. 

Wem fallen, wenn er Biarritz nennen hört, ur die Namen 
Napoleons III. und des Fürſten Bismard und deren Unterredungen 
ein, welchen wir es wahrjcheinlich zu verdanfen haben, daß Frankreich 
den Dejterreichern 1866 nicht zu Hilfe Fam. „Das Klima des am atlan- 
tiichen Ozean und dicht an der ſpaniſchen Grenze gelegenen Biarritz 
hält die Mitte zwijchen der trodenen Hite und der Ehen Kälte 
fontinentaler Klimate“, jchreibt das „Echo des Villes d’Eaux“, Der 
nahe Golfitrom erwärmt die Bucht und giebt dem Stlima einen gleich- 
mäßigen und injularen Charafter. 


Die franzöſiſchen Bäder. 449 


Pau (Nieder-Pyrenäen) wird überjchägt. Der Herbjt ift zwar ſehr 
Ihön, aber der Winter Falt, außerdem regnet es durchſchnittlich an 
einhundertfünfundzwanzig Tagen im Jahre, wie denn fein Klima 
erichlaffend wirft. Es empfiehlt ſich für diejenigen Lungenfranfen, 
welchen die galoppirende Schwindjucht droht. er Blid auf die 
etwa 20 Kilometer entfernte Pyrenäenfette mit ihren zadigen Um— 
riſſen ift wundervoll. 

Hyeres bejigt den böjen Auf, daß man ſich dort Iangweile. Die: 
jer Vorwurf trifft indefjen, meine ich, weniger die Lofalıtät, als den, 
welcher jich langweilt. Mehr als die übrige Provence, iſt HYyeres 
von deren Plagegeijt, dem Miſtral, verfchont; das Klima ift warm 
und mild, während andererjeit3 da8 Meer vor dem Sonnenbrande 
Ihüßt. Daß die Natur wundervoll ift und das Goethejche Mignon 
lied auf dieſelbe paßt, bedarf faum der Verſicherung. Das gilt nun 
freilih auc) für Cannes, Monaco, Nizza, Mentone und das italienische 
San Remo. 

Die Berge Cannes jchügen die Leidenden vor dem Nordwinde 
und zum Theil auch vor dem Mijtral. Sie leben fajt den ganzen 
Tag, im Winter bis um vier Uhr, in der herrlichen Natur, das Meer 
ijt mit luftfahrenden Segelbooten bededt, die Kranken werden in be- 
jtändiger Bewegung erhalten in einer Luft, die außerordentlich ſtimu— 
livend und appetitreizend wirkt. 

Nizza gilt für die Königin der Winterjtationen. Ob mit Recht? 
Ja, wenn Eleganz, Komfort und großjtädtijche nungen alles 
machten, dann könnte darüber fein wei jein. Aber —— Klima 
iſt trocken und eignet ſich daher nicht für jeden Bruſtkranken, es iſt 
der Antipode Paus, hat es doch jährlich im Durchſchnitt nur ſechzig 
Regentage; der Winter ift warm. ud unterjcheidet ſich Nizza durd) 
einen Ueberfluß an Staub von den übrigen Winterjtationen in nicht 
eben vortheilhafter Weiſe; jchliehlic) Hat es mehrere geradezu unge: 
ſunde Viertel. 

Vebrigens ijt das Klima Monacos noch etwas wärmer, zumal im 
Winter. Im Winter des Kriegsjahres 1870-71 zerjtörte der Froft 
in Cannes und Nizza jeltene, erjt ao. afffimatifirte Pflanzen, wie 
Bananenbäume und Cucalyptus, welche in Monaco in freier Erde 
ftanden und durchaus nicht litten. Die Terrajje von Monte Carlo, 
welcher, Monaco gegenüber, auf einem Eleinen Plateau liegt, wäre ein 
Eleines Paradies, wenn ſich auf jeine Palmen und jeine üppige Vege— 
tation nicht das alte lateinische Sprichwort von der „Schlange unter 
dem Grünen“ anwenden ließe. In dem Baradieje fehlt die Schlange, 
fehlt die Hölle nicht, nämlich die weltberühmte oder richtiger gejagt 
in der ganzen Welt berüchtigte Spielhölle, welche dem Fürſten und 
feinem Ländchen jo viel einbringt, daß cs in legterem, einem wahren 
finanzpolitiichen Schlaraffenlande, feine Steuern und Zölle giebt. Es 
giebt nur einen Zoll: den Blutzoll. Die Statiſtik Monte Carlos ijt 
überreid; an Selbitmorden. 

Das Klima von Hyeres, Cannes und Nizza wirkt erregend (to= 
niſch), dasjenige von Pau, Piſa und Madeira beruhigend (jedativ). 
Dasjenige des eine Viertelitunde von der italieniſchen Grenze entfern- 
ten Mentone, oder wie der Franzoſe jagt, Menton, hält gleichjam die 


450 Die franzöſiſchen Bäder. 


Mitte, e3 überreizt nicht und erjchlafft auch nicht. E3 liegt mitten im 
üppigiten Grün und von mächtigen Felſen umgeben, welche Die 
Wärme refleftiren und nur dem lauen Südwind den Zutritt in Dies 
vom Meer befruchtete Gewächshaus gejtattet, Dagegen vor allem dem 
Miitral, d. h. dem Nordweitwinde wehrt. Die Citronenbäume liefern 
jährlich vier bis fünf Ernten, was ſich von denen der benachbarten 
Küften nicht behaupten läßt. 

E3 erübrigt nur noch, auf die Seebäder einen flüchtigen Blick zu 
werfen. In den vorerwähnten Winterjtationen badet man zwar aud) 
im Meer, aber als Seebäder im eigentlichen Sinne des Wortes fann 
man jie nicht bezeichnen. Wir haben es Lediglich mit der wunder: 
vollen langgeitredten Küſte (la plage) des atlantıjchen Ozeans zu thun. 

Der Beſuch der Seebäder iſt ın Frankreich jo recht eigentlich zum 
Modejport geworden. Aber jelbit der Mode liegt bisweilen etivas 
vernünftiges zugrunde und hier trifft ihr Inſtinkt jicherlic, das Rechte. 
Das Meer mit jeinem jtarfen Salzgehalt und jeinen kräftigen Briſen 
iſt jo recht eigentlich der Regenerator der in den luftarmen Groß— 
jtädten verfümmernden Menjchheit. 

Die Zahl der Franzöftichen Seebäder tjt Legion; die berühmte: 
jten, die jogenannten Modebäder, liegen Paris möglichjt nahe, d. h. am 
Kanal. Es ijt jo angenehm, in Dieppe oder Trouville zu baden, zu 
frühjtüden, ji) dann in ein bequemes Coupe des Expreßzuges zu 
jegen und in Paris zu diniren. Man frühjtüdt nämlich ın Frankreich 
goitchen zehn und ein Uhr und dinirt zwijchen fünf und acht Uhr. In 

en Bädern der Normandie und auc) der Bretagne — ic) nenne von 

legteren nur Granville und Dinard — jpielt übrigens der Apfelwein 
eine große Rolle und jteht bei den Mahlzeiten a diseretion zur Ver— 
[ügung, d. h. man fann jo viel davon trinfen, wie einem beliebt. Für 
den Appetit bei den Mahlzeiten jorgen die Wogen des atlantijchen 
Ozeans, Ss weit jalzhaltiger und darum mächtiger und minder 
jchäumend jind, als die unjerer guten Djtjee. Bei einigermaßen hohem 
Seegange erdrüden fie einen fait, ils vous assomment, jagt der See- 
mann. 

In franzöſiſchen Seebädern ſtehen zahlloje kleine Häuſer und 
Villen zur —— welche von einzelnen Familien meiſt für die 
ganze aiſon gemiethet werden, und zwar oft zu wohlfeilem Preiſe. 

tan kann ſich indejjen auch in Penſion geben, die bei beſcheidenen 
Ansprüchen, d. 5. mäßiger Wohnung, aber gutem Efjen jelbjt im theu— 
ren Trouville nur 8 bis 10 Franes beträgt. Die franzöfiiche Pen— 
ſion unterjcheidet fi) von der in der Schweiz üblichen Bin daß 
das erſte Frühſtück extra vergütet werden muß und daß man gemei— 
niglich nicht an der table d'höte ſpeiſt, ſondern geſondert an kleinen 
Tiſchen, an denen auch Nichtpenſionäre Platz — können. Faſt 
jede Penſion iſt gleichzeitig ein Reſtaurant. 

Es dürfte meinen bekannt ſein, daß in allen franzöſiſchen 
Seebädern Herren und Damen zuſammenbaden, was den großen Vor— 
theil al daß der liebende Gatte oder Vater Weib und Kind ſelbſt 
ing Meer führen darf und feine Kranfen nicht unbedingt der Fürjorge 
Bejoldeter anzuvertrauen braucht. Auch trägt diefe Mifchung der 
Geſchlechter, zumal bei der lieben Jugend, und diejes dadurch erlaubte 


Die franzöſiſchen Käder. 451 


Aufammenbfleiben der Familie jehr dazu bei, den Frohfinn und die Freude 
am Bade zu erhöhen. E3 bedarf faum der VBerficherung, daß die 
Badekojtüme im höchiten oder, richtiger gejagt, längiten Maße decent 
find, andererjeit3 aber auch, zumal in den Modebädern, der Mode 
unterworfen find. Bunte Farben, verjchtedene Schnitte, Seide, Spiten 
und wahre Ajchenbrödelpantoffelchen tragen dazu bet, die Scenerie zu 
beleben, welcher das mit weißen und gelben Segeln bededte ewige 
Meer als Hintergrund dient. 

Was nun die Seebäder betrifft, von denen wir die befanntejten 
im folgenden wenigjtens kurz erwähnen wollen, jo fanı man jie in 
wei ſehr verjchiedenartige Gruppen theilen. Die erjte reicht von 
Boufogne-fur-Wer bis an die Seinemündung, die andere liegt ſüdlich 
von dieſer, von Honfleur bis Dinard. Der Strand der erjten Gruppe 
iit mit galets, der der anderen mit weichem Sand bededt. Unter den 
galets verjteht man ein von jteilen, das Meer umjäumenden Fels— 
wänden abbröcdelndes Kiejelgeröll, das den Boden oft halbe Fuß hoch 
bedekt und das der nadte Fuß nicht ungeitraft überjchreite. Sans 
dalen find umerläßlich. Zweifellos jind dieſe galets, welche einen 
beim Hineingehen ing Meer, jobald diejes nur einigermaßen bewegt 
iit, Welle für Welle in Gejtalt eines Kieſelhagels beläjtigen, eine 
wahre Plage. Dennoch ijt legtere nicht jo groß, dak fie von dem 
Bejuche der zahlreichen Bäder abzujchreden vermöchte. 

Boulogne habe ich nicht 2 aber es gilt dank ſeiner an— 
muthigen Lage, und auf halbem Wege zwiſchen Maris und London, 
für einen der drei maritimen Planeten, welche die Satelliten mit ge- 
ringerem Lichte umſtrahlen. Ich brauche kaum zu jagen, daß mit den 
beiden anderen Planeten Dieppe und Trouville gemeint find, 

Dieppe iſt eine Meittelitadt mit geringem Handel; jie lebt von 
ihren Sommergäjten und ihrer Dee an dem breiten Strande 
unzählige fajernenartige Hötel3 und ein prächtiges Kaſino, in welchem 
dem Glücksſpiel nur allzu jehr gefröhnt wird. Dieppe iſt ein franz 
zöfiiches Engländerbad, d. 5. der reiche, vornehme Sohn Albions giebt 
dort den Ton an. In London liebt er die kleinen von ihm allein 
bewohnten Häufer, im Auslande die Kajernen, in der Heimat dinirt 
er im rad, im Auslande in einem jchottifchen Veſton — ſeltſamer 
Widerjpruch, aber es ijt jo! — Ganz das Gegentheil iſt der Fran— 
zofe! Er hat jeine Grands Hötels in Paris, aber im Bade liebt er 
die Anmuth. 

Trouville ijt reich an anmuthigen, in fantaſtiſch-modernem Stil 
erbauten Billen; auf dem hellgelben, feinförnigen Sande des Strandes 
iſt mit Brettern eine fünjtliche breite Promenade gebildet, auf der die 
Elite der franzöſiſchen Artjtofratie und Plutofratie — um von einer 
andern Welt zu jchweigen — nad) Sonnenuntergang bin=- und her— 
wogt. Noch vor wenigen Dezennten war Trouville ein armjeliges 
Fiſcherdorf, heute iſt es eines der eleganteiten Bäder der Welt. I 
unmittelbarer Nähe von ihm liegt das Seebad Deauville, in dem 
Rothſchild feine ſtolze Billa ſich erbaut hat, und wo alljährlicd) be 
rühmte Rennen jtattfinden. Die Badegälte, welche für den Sport 
fchwärmen, finden hier und in der Umgegend reiche Gelegenheit diejer 
Leidenschaft zu fröhnen. Rennen in Deauville, Regatten in Zrouville 


rn 


452 Die franzöſiſchen Käder. 


und im nahen Le Havre, Taubenjchiegen ꝛc. Der Sportöman von 
Fach — Engländer und Franzoſe — bildet eine Legion. Wie ein 
lb sa reiſt er von Küjtenplaß iu Küftenpla und von 
Stennplag zu Rennplag, und wo er ji) auf Tage oder Wochen nie- 
derläßt, da steigen die Preife mächtig, und der friedliche Bürger und 
der Kranke flüchten mit Graujen in eine ruhigere Sommerfrijche. Alt 
einer ſolchen fehlt es glüdlicherweije nicht. Auf der weſtlich von 
Trouville gelegenen Küſte beijpielsweije reiht fic) Badeort an Bade— 
ort, von denen einige, wie Billers, Houlgate und Cabourg zwar auch 
bereit3 zu Modebädern ſich fortentwidelt haben bezw. entartet jind, 
die anderen dagegen wie Beugeval, Lion-ſur-Mer und Arromandıeg, 
I einigermaßen dem entiprechen, was der Deutjche als „ländlichen 
Aufenthalt“ bezeichnet. 

Die meiſten Seebäder find in Frankreich merkwürdigerweiſe nicht 
von den Aerzten, jondern von den Künſtlern, Malern und Dichtern 
eıtdedft worden; jo Puys bei Dieppe, wo Dumas Vater refidirte und 
der jüngere noch rejidirt, jo ſelbſt Trouville, das auch erſt durch die 
Chroniken des älteren Dumas und durch die Maler Mozin, Decamps 
und andere zur Königin des atlantijchen Ozeans geworden iſt. 

Etretat iſt das Rünftferbad par excellence; Saint-Balcry und 
Feͤcamp wetteifert mit ihm. Höchſt malerijch liegt Le Treport mit ſei— 
ner auf einem Felſen prangenden, uralten Kirche und jeinen Eleinen, 
in engliichem Stil erbauten, jchmalen Ban deren Einrichtung 
japaniſch iſt und die von aa lic Rentiers und Künſtlern bes 
wohnt werden. In nächjter Nähe liegt das in einem prächtigen 
Walde fat vergrabene, von anmuthigen Höhenzügen eingejchlofjene Eu, 
in welchem der Graf von Paris wie ein Cäjar der Stunde harrt, da 
man ıhm die Königsfrone anbieten wird, Man muß befennen, dat 
das prächtige, langgedehnte Schloß und die herrliche Umgebung, Wald 
und Meer, Jagd und Fiſcherei, ihm das Langen und ed eines 
Kronprätendenten einigermaßen erträglid) — dürften, und daß von 
einer ſchwebenden Pein kaum die Rede ſein kaunn. 

Und nun zum Schluß: in Bezug auf die 90 l, Beichaffenheit 
und Wirkjamfeit heilfräftiger Quellen iſt Deutjchland Frankrei kin sh 
[03 überlegen; feinen Scebädern muß man dagegen den Vorzug geben 
und ſich mit dem umgefehrten Dichterworte tröſten: 


„Alles ſchickt ſich nicht für einen!" 













IA —— gl 
IAm Kamin. 














Charakter. 


SE Mann jaß in feinem Studirzimmer. 
rt las. 

Der weiße Bart fiel ihm bis auf die jtillgefalteten Hände, weiße 
Loden wallten von dem fahlen Scheitel über den Hals und die 
Schläfen. Ein großer Foliant lag auf einem ge vor jeinem 


bequemen Lehnjtuhl, nach jenen gebildet, in welche Nafael jeine roth- 
gewandigen Kardinäle jegte. 

Das Zimmer war mit prächtigen Möbeln von hellgefirniftem 
Eichenholz, Teppichen, Vaſen und Statuen geziert. Büſten griechijcher 
Götter, Ööttinnen und Helden blicdten hoheitsvoll und doch wohl- 
wollend auf den einjamen Lejer herab. Ein feiner Geijt mußte die 
Kojtbarkeiten im diejem einzigen Raume zufammengeitellt, geordnet 
haben. Alles zeugte von Gelhmad und höchiter Bildung. Alles war 
milde abgetönt, das Kleinjte jchien unauflöslich mit dem einen ruhigen 
Eindrud hervorbringenden Ganzen verbunden. 

Der Alte jah aus wie ein Geiftlicher. 

War e3 die Bibel, welche er mit jo abgeflärtem Gefichtsausdrud 
wieder in ſich aufnahm? 

ie Regale mit den vielen Hunderten von gejchmadvoll gebun- 
denen Bänden beherbergten alles vorzügliche der jchönen Literatur, 
der Kunjtlehre, der Gejchichte, der Naturwifjenjchaften. Globen, ajtro- 
nomijche Geräthe lagen umher. Es war nicht die Bibel, die der 
Weltabgejchiedene las. Ein hoher Siebziger, dem Grabe nahe, ftudirte 
er den Bau des menschlichen Körpers, Plug die Blätter eines ana- 
tomischen Prachtwerfes um und bewunderte mit andächtigem Staunen 
das Gefüge des Sfelets. 

„Unmwandelbare an hieß es im Terte, „verbürgen das Be- 
jtehen der Welt. Der gq er Ehrift, der Jude und Heide wendet 
die Blide zu feinem Gotte und jeßt jeine Hoffnung auf ihn, fordert 
ihm auch wohl eb und da ein kleines Wunder ab: ein — 
der Sonne, ein Wiederaufleben nach wirklichem Tode. Der Mann der 
Wiſſenſchaft hat nur Einen Gott: das unerbittliche, nicht zu verrückende 
Naturgeſetz. Die Mathematik, die Aſtronomie lehren uns, wie die 
Gravitation, die Erhaltung der Kraft im ganzen Weltraum macht: 
habende yes fennen, die mit eijerner Nothiwendigfeit im Metall- 
jtäubchen der Erde wie im Sonnenförper und den — liegenden 
Medien walten . . . Auch das Werden des Einzelnen, ſein Daſein 
und Vergehen, ſein — unterliegt nicht zu erbittenden Geſetzen. 
Uranlage, Nahrung, Erziehung bilden en jpeziellen Charafter, die 
Grundlage des individuellen Ichs, des Menjchen einzigites, alleinigjtes 
Eigenthum. Der Charakter iſt das Beitändige im Menjchen, man 
fann auf ihn bauen wie auf ein Naturgejeg. Senne ich eines Men- 


454 Am Kamin. 


jchen Charakter, jo kann ich in allen Fällen feine Entſchließungen, 
jene Thaten vorherjagen. 


„Die an dem Tag, der Dih der Welt verlichen, 
Die Sonne ftand zum Gruße der Planeten, 

Biſt alfobald Du fort und fort gediehen 

Nah dem Geſetz, wonach Du angetreten. 

So muft Du fein, Du fannft Dir nicht entflieben, 
&o fagten ſchon Sibyllen und Propbeten; 

Und keine Zeit und feine Macht zerftildelt 
Geprägte Form, die lebend fich entwickelt!“ 


Der Greis hielt inne und jchaute auf. Dann jtüßte er fein 
Er in die beiden Hände und ſann. Draußen im fleinen Gärtchen 
pielte eine frohe Kinderjchaar, der Vogelgejang, mit Blütenduft ge: 
ar drang durch das halb offene —8* Es war Frühling in den 

nden. 

Der Alte fühlte ſich mit all feiner Weltweisheit weltverlaffen und 
allein. War er immer jo weile gewejen? 

Da ſprang die Thür auf. 

Ein Knabe von ungefähr zehn bis zwölf Jahren tollte herein. 
Er jeßte * neben den Silberbärtigen und bat um die Früchte, welche 
zwiſchen den Vaſen und Statuetten lagen. Es waren aber nur mar— 
morne Zierrathe, Briefbeſchwerer, und der Junge, abſchlägig beſchieden, 
weinte, unzufrieden und launiſch. Um ihn zu tröſten, ſchlug ihm der 
Alte — war es der Onkel, der Großvater? — einen Spaziergang ins 
Freie vor. Der Fluß, durch vom Eis befreite Bäche und Gebirgs— 
waſſer getränkt, war übergetreten und flutete en den Quais. Barfen 
glitten dahin, wo der Junge fich jonjt zu den Meß- und Jahrmarkts- 
eiten mit Geipielen zu tummeln pflegte. Der Alte jprach orphiiche 

orte zum Knaben. Bon der Gejeßlofigfeit, welche die Schranken 
überflutet, von dem Meere des Willens und dem glatten Strome des 
Lebens für den flugen und gemäßigten Fährmann. Von Ehre und 
Anjehen, die einjt dem Strebfamen werden, und der Verachtung, Die 
dem wird, der nichts gelernt hat und thöricht feine Jugend vergeudet. 
Sinnend wanderte mun der Süngling gewordene Knabe neben dem 
Greiſe heim. 

Diejer ſaß wieder in jeinem geichweiften Lehnſeſſel und las wei- 
ter von der Ständigfeit des Charafters. 

Da trat ein junger Mann zu ihm herein, Er fam dem Weijen 
Lebewohl zu jagen. 

Er wollte nad) beitandenem Examen Pfarrer auf einem Fleinen 
Landfite werden, der Welt, der Liebe, der Ehe entjagen und ganz Den 
Pflichten eines katholischen Seeljorgers leben. Während er die Segens- 
worte des Greifes empfing, ging die Thür abermal® auf, umd ein 
ſchönes Mädchen mit unfäglich rührendem Gejichtsausdrud jchiwebte 
herein. Wer war fie? Eine Tochter, eine Nichte des Alten? Die 
gen e jchwebte auf des jungen Mannes Munde Sie jahen fich eine 
Weile an: 


„So mußt Du fein, Du fannft Dir nicht entflieben, 
So jagten ſchon Sibyllen und Propheten!“ 


— — — —— 


Am Kamin. 455 


Der Greis, nun zurüddenfend, entjann ſich des Schiejals beider! 
Er ward fein Priefter und fie ward nicht jein Weib. Sie zerſtörte 
eine Laufbahn, die vielleicht Glück und Segen, Heil und Seelenfrieden 

ebracht hätte. Er, auf dem geraden ge ‚aus dem Geleije ge 
Hhleudert, verlor den Hang zum einjamen Sinnen, zum Leben für 
andere. Er ging als Prieſter unter. Sie, fie theilte daS Loos der 
Schönen von Sejenheim. Sie war eine zurüdgejtoßene Jugendliebe, 
man verließ jie, weil man fürchtete, daß fie den Genius untergrabe... 

Ein neuer al meldete jid) bei dem Alten... 

E3 war eine Revolution ausgebrochen. 

Ein Sohn, ein Enfel? kam, um Abjchied zu nehmen. In Kriegs— 
rüjtung, das Gewehr um die Schulter, den Säbel an der Seite. 
Große Worte floſſen von jeinen Lippen: 

„Tod den Tyrannen! Freiheit und Gleichheit! Brod und Arbeit 
I alle! Seine Armuth mehr! Einer für alle, alle für einen!“ Und 

er Greis entlieg den Enkel? den Sohn? Mit Seufzen und Kopf— 
jhütteln. Er war ein Feind alles Gewaltjamen. Er vertraute der 
tetigen Entwidlung, er hoffte mehr von einem jtillen, ununterbrochenen 
(us der Dinge als von Eruptionen, Erdbeben, Sintfluten. 

Der Greis blieb jeinen Folianten treu. 

Der Revolutionär aber fam zurüd von der Irrfahrt. Ernüchtert, 
mißmuthig, verbittert, mit einem — im Herzen, wie er dem 
Munde eignet nach zwiſchen Bechern durchtollter Nacht . .. Freunde 
waren abgefallen, Verrath und Denunciation hatten ſich in die Reihen 
der Treuen geſchlichen, eine Schlacht war geſchlagen und verloren, die 
Beſten ſaßen gefangen und ſpannen — traurige Tage. Wie durch 
ein Wunder war er entkommen. — Was nun thun? Er berieth ſich 
mit dem Greiſe. Was der ihm vorſchlug, verwarf er. 

Endlich geſtand er ihm ſeine Sehnſucht, ſeine — Ein maß— 
loſer Durſt nach Reichthum peinigte, verzehrte ihn. Geld, nicht um 
des Geldes, ſondern um der Macht willen, das mußte ihm werden, 
das mußte der Ausdauer zu erringen ſein. 

Der Greis lächelte. 

Jener aber ging hin und ward zunächſt der Knecht, der Diener 
— der Commis eines Reichen. Er — dieſem alle en 
und Vortheile ab; die Sparjamfeit, der Fleiß, der Zufall, das Glück 
wurden jeine Verbündeten. Er gründete Fabriken, Aktien-Geſellſchaften; 
itberjeeische Unternehmungen trugen jeinen geachteten Namen nad) allen 
Richtungen der Windrofe. 

Er hatte vor lauter Gejchäftigkeit für das Leben feine I mehr, 
er war vom frühen Morgen an, gleich einer aufgezogenen Majchine, 
ohne Gefühl, ohne Herz. Er baute jich einen alatı und ließ ihn 
von fremder Hand nad) fremdem Gejchmad aufs prächtigite jchmüden... 

Wieder ein Hilfejuchender, der jich dem weißen Eremiten näherte, 

Ein Mann trat ein, elegant gekleidet, mit vollem dunklem Barte 
und etwas gelichtetem Haupthaar. Silberfäden Teuchteten jchon aus 
beiden auf. 

5) bin reich, einfam. Ic bin unzufrieden, glüdlos. Was joll 
ih thun?“ ſagte der. 


„heile Dich und Dein Gut mit einem anderen Wejen. Entziveie 


AU ii 


a 


456 Am Kamin. 


Dih mit Deiner egoiftiichen Seele, gieb Di auf, um Di hinzu 
geben. Ar für andere, der Du für Dich zu leben als höchſtes Gut 
etrachteit!” 

nd der Berathene ging Hin, und that aljo. 

Jahrzehnte verjtreichen. Der Weltweije lebte immer noch. Sein 
Augenlicht ward jchwächer, und jeltener wurden die Bejucher, die den 
Stein der Weiſen von ıhm fortzutragen erhofften. 

Noch einer fam zu ihm. 

Der Reiche hatte das Leben für andere, jelbit aus Liebe, zunächit 
ichwer, ja unerträglich gefunden. Er war ein allzu eingefleifchter 
Egoijt gewejen. Nun fam er nochmals, fich nad) dem Alten umzu— 
wa Fr erzählte: „Sch fühlte mich in allen ae beengt, ic) 
fam mir vor wie ein Füllen, das nad) langer Freiheit Reiter tragen, 
Karren — muß. Aber ein Krieg brach aus und ich verlor meine 
unermeßlichen Reichthümer. Als ich Weib und Kind Notk, leiden ſah, 
fiel mein Egoismus von mir ab. Ic arbeitete und errang wieder, 
diesmal nicht für mich, für andere, wenn auch die Meinen! Der 
GSelbitherrlichite giebt jich für die Kinder auf. Ver Menſch it... .* 

„Ein Charakter?“ fragte fich der Alte, der allein geblieben. „Ein 
Proteus! Ein Chamäleon!“ 

Er war num bei fich jelbit zu Beſuch. Nachdem er eine Weile 

jelbjt gejonnen, jah er in den Spiegel. Der warf ihm das Bild eines 
Mannes zurüd, den er Zeit jeines Lebens jo gut und genau zu ken— 
nen geglaubt hatte und der ihn doch jo manchmal getäufcht. Wohl 
war es derjelbe, der nun jeit zwanig Jahren, vom fünfzigſten bis 
ie Niebzigtten, unverrüdt für das nr einer Familie gejchaffen, 
ann das Scepter in die Hand wohlgerathener Söhne gelegt und nur 
noch mit vezeptiver Gelafjenheit und a Fr dem Studium 
des Schönen, Guten, Wahren oblag. Der vernachläffigte Bau feiner 
Sugendbildung fand erjt im fpäten Alter feine Vollendung — die 
— des Autodidakten. 

Was zeigt ſich ihm aber nun in dem Spiegel? Trübte ſich ſein 
Auge oder 'verklärie ſich's zu überirdiſcher Klarheit? 

Da iſt der Knabe, der nichts lernen wollte und nur nad) eitlem 
Tand, Vergnügen und faljchen Früchten griff! Er gleicht ihm, wie 
eine vergilbte hotographie aus der Jugendzeit noc) die Züge des 
bärtigen Greijes trägt! Glüdliche, jelbjt wenn irrgehende Jugend! 
Die Photographie belebt ji), nein, aus dem Spiegel lächelt ihm der 
rothwangige holdgelodte Knabe du ir im Auge, im Bujen ein uns 
entweihtes Herz und in diejem die Luſt zu leben, zu leben! 

In dieſes Herz wird der Same geftreut vom Baume: Sucht nach 
Weisheit! Frömmelnde Lehrer machen aus dem Lebensdurftigen einen 
Himmelsduritigen. 

Da jchaut er aus dem Spiegel, der Geiftliche, welchem der ein= 
ſame Pfarrſitz als Hafen vor jedem Sturme vorjchwebt, und dem ein 
Weib dazmijchentritt. 

Cie ſchwören jich ewige Liebe, und der Mann im Spiegel glaubt, 
mit einundzwanzig Jahren zeitlebens den Wollfnäuel der Omphale 
halten zu fönnen. Aber er wirft ihn von jich und ſtürmt über Die 

ergefjene hinweg. 


Nußiger Galanthomme. 
Nah den Originalgemälde von L. Gayler. 





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Am Kamin, 457 


Kampf, Sturm ijt num fein Element. 

Froh, mit gelichteten Segeln, fährt er aus, und mit geborjtenem 
Maſte kehrt er heim, die Havarie ein paar verlorene Jahre hindurch 
auszubejjern! 

Der Revolutionär, der unerjättliche Kaufmann, der —7— 
vater, der ſich nach Freiheit ſehnt, der Familienvater, der ſich für die 
Seinen faſt zu Tode arbeitet, ſie treten alle aus Spiegel und Rahmen 
heraus. Sie ſetzen ſich um den Alten, ſie plaudern mit ihm uner— 
zählbare Dinge, ſo daß dem Eremiten die Thränen in die Augen 
treten. Sie Ab ja alle — er jelbjt; dieſe Vielheiten fahte fein — 
zuverläfjiges, unmwandelbares jtändiges Ich in ein Wejen, untheilbar, 
unzertrennlich — zujammen! 

Wie jagte doch der Foliant eben zu ihm: „Wer eines andern 
Grundnatur To fennte, wie dieje ihren Gejegen treu bleibt, der könnte 
auch dieſes Menjchen erg im voraus bejtimmen!“ 

Er — das Buch zu. Sein Auge iſt feucht. Es iſt ihm 
unheimlich, mit ſo vielen — fremden Menſchen ungleichen Alters in 
ſeinem ſtillen Leſezimmer zu weilen. 

Nun geht die Thür wirklich auf. 

Seine Frau, die treue Lebensgefährtin, von einer Schaar von 
Töchtern, Söhnen und Enkelkindern gefolgt, tritt ein, mit Blumen 
und Gaben beladen, es iſt ſein —* eburtstag. Er iſt unſag— 
bar ſeelig. Der einſt jo Lebensdurſtige hat wieder eine Charakter: 
Ichwäche, einen neuen Wunſch — den, zu jterben! 

Der Kreis iſt erfüllt, er ijt alles gewejen, ein Kämpfer, ein 
Menſch, vielleicht ein — Charafter! 


„Sp mußt Du fein, Du fannft Dir nicht entfliehen, 
So fagten Shen Sibyllen und Propheten!‘ 


Dies Sprüchlein bleibt dennoc wahr. 

Nimm eine ſchlanke Hajelgerte und bewege fie rajch hin und her, 
fie erjcheint wie ein Fächergebilde. Der in der Erde wurzelnde Straud) 
wird vom Winde nad) allen Seiten Hingebogen. Auch die Eiche er- 
ittert bis zur Tiefe, wenn der Föhn fie umbrauft. Alles aber hat 
I Ureigenſtes, Ständiges, und nur der ins Innere dringende Blid 


ieht das Mark in den Dingen, den Charafter. 
Alfred Friedmann. 


Der Staffee. 
Plauderei von 8. Gfobiger*). 


„Sie haben uns neulich jo viel interefjantes über den Thee er- 
zählt, Herr Profejjor“, jagte Frau von F., „daß ich meine Taſſe nur 
noch mit einem Gefühl der Hochachtung zum Munde zu führen wage. 
Ein Ding, das eine ältere Gejchichte anime hat als das erlauch- 
tejte Adelsgejchlecht, zwingt uns ummwillfürlichen Nejpeft ab. Was 


*) Siehe Heft VII, Jahrgang 1886 des „Salon“. 
Der Salon 1887. Heft X. Band IL. 3 








458 Am famin. 


meinen Sie, wenn Sie uns heute über den Zwillingsbruder des Thees, 
den Kaffee, eine Eleine Borlefung halten würden?“ 

„Ad ja! Bitte, bitte!“ Schloß jich Fräulein Malvine lebhaft dem 
Wunjche der Mutter an. 

„Aber, meine Damen“, wandte Medizinalrath von K. ein, „it es auch 
rathjam, Ihr Interejje für diejes Getränk noch zu jteigern? Bedenken 
Sie, daß der Kaffee, im Uebermaß genojjen, gleich dem Thee nach— 
theilig auf die Gejundheit wirkt. Er enthält das giftige Kaffein und 
erzeugt Herzklopfen, Kongejtionen nach dem Kopf, ar e phyſiſche Er- 
regung, endlich allgemeines Zittern, Angjt und Unruhe. Eine bejon- 
ders merkwürdige Wirkung aber übt er auf Die Jungen der Damen: 
er verjeßt fie in jchwindelerregend jchnelle Thätigkeit.“ 

Man lachte. Dann jagte Frau von F. a — „Sie find 
Peſſimiſt, natürlich! haben Sie es doc) immer nur mit den Gebrechen 
der Menjchheit zu thun! Sie überjehen die Lichtjeiten der Dinge all- 
zugern und machen darin mit dem Kaffee Feine Ausnahme. Erzeugt 
er nicht ein Gefühl allgemeinen Wohlbehagens? Regt er nicht die 
geistigen und förperlichen Kräfte zu erhöhter Thätigkeit an? Iſt er 
nicht ein uniübertveffliches Mittel gegen förperliche Ermüdung und 
gei tige Erjchlaffung? Das Bier, habe ich einmal gelejen, macht quer- 
öpfig, der Wen hitzköpfig, der Kaffee aber ordnet, ebnet und läutert 
die Gedanken!“ 

„Sehr wahr“, nidte der Profeſſor. „Ich kann für die Richtigkeit 
diefer Bemerkung eine Autorität ins Feld führen, die auch unjer 
Medizinalrat wird anerkennen müjjen: den berühmten Phyſiologen 
Jakob Molejchott. Er läßt ſich in einer großen Lobrede auf den 
Kaffee folgendermaßen vernehmen: Der Kaffee wirft zwar auch), wie 
der Thee, auf das Denfvermögen erregend, jedoch nicht ohne zugleich 
der Einbildungskraft eine viel pen: Lebhaftigfeit zu ertheilen. Die 
Empfänglichkeit für Sinneseindrüde wird durch den Kaffee erhöht, 
daher einerjeits die Beobachtung gejteigert, auf der anderen Seite aber 
auch die Urtheilsfraft gejchärft, und die belebende Einbildungsfraft 
läßt finnliche Wahrnehmungen durch Schlußfolgerungen rajcher be- 
jtimmte Gejtalten annehmen. Es entjteht ein Drang zum Schaffen, 
ein Treiben der Gedanken und Borjtellungen, eine Beweglichkeit und 
eine Glut in den Wünſchen und Jdealen, welche mehr der Geftaltung 
bereitS durchdachter Jdeen, als der ruhigen Prüfung neu entjtandener 
Gedanken günjtig tft.“ 

„Hören Sie? Hören Sie?" winfte Frau von %. triumphirend 
dem Medizinalrath zu. „Alfo geben Sie fich feine weitere Mühe, 
unfern jchwarzen Freund zu disfreditiren. Es wird Ihnen nicht ge— 
Lingen.“ 

„sch weiß! Ich weiß! Entwideln doc, die Damen für diejes 
Genußmittel eine Schwärmeret, auf die unjer Gejchlecht eigentlich eifer- 
jüchtig jein müßte. Ihre VBorfahrinnen haben diefe Schwärmeret nicht 
immer getheilt. Im Jahre 1674 reichten die rauen ın London eine 
Petition gegen den Kaffee ein, die denn auch den Erfolg hatte, day 
König Karl UI. 1675 die Kaffeehäufer als revolutionäre Injtitute 
polizetlich jchliegen ließ, während die Zeitungen den Kaffee mit „Kien= 
rußiyrup! Schwarzes Türkenblut! Dekokt aus alten Schuhen und 


Am Kamin. 459 


Stiefeln!” und ähnlichen Ehrentiteln traftiren mußten. Freilich hatte 
all’ das nur den Erfolg, dat London faum ein Jahrhundert fpäter 
circa 8000 Kaffeehäujer zählte!“ 

„And jene Betition joll in der That von Frauen ausgegangen 
fein? Iſt das verbürgt?“ 

„Bewiß!“ 

Ich — es doch nicht! Ich glaube nicht, daß Frauen ſo 
gegen ihre Natur handeln können!“ 

„Das Beiſpiel ſteht auch einzig in der Gejchichte da“, nahm der 
Profeſſor das Wort. „Kaffeeverbote dagegen find nichts —— und 
der feurige Trank Arabiens hatte mit mancherlei Fährlichkeiten zu 
kämpfen, ehe er ſeine jetzige Weltherrſchaft erlangte.“ 

„Unbegreiflich!“ Run. die Damen wie aus einem Munde, 

„Bielleicht verdankt er diejen Kämpfen jeine Beliebtheit beim 
ſchönen Gejchlecht“, muthmaßte Graf 3., der — „Schätzen Die 
Damen doch nichts höher als einen Helden!“ 

„Die Wiege unſeres Helden ſtand in Abeſſynien, deſſen Provinz 
Käfa bei der Taufe Pathe geſtanden hat“, ſprach der elle „gur 
Schande der Menjchheit muß ich inbeh geitehen, daß nicht ſie es ge— 
wejen, die die junge Heldennatur zuerjt erfannt hätte, jondern — eine 
Ziegenheerde, die von den Bohnen und Blättern des Kaffeeftrauches 
genajcht und daraufhin eine jolche Munterfeit und Lebhaftigfeit ent- 
widelt haben joll, daß die Hirten aufmerkfjam wurden und die Wir: 
fungen der Pflanze an ſich jelber erprobten. Abeſſyniſche Chriften 
bezeichnen den Prior eines Maronitenkloſters als den Erfinder des 
Kaffeetranfes, den er zuerjt jeinen Mönchen gereicht haben joll, um jie 
bei den nächtlichen Gebeten wach zu erhalten. Die Muhammedaner 
endlich erklären einen ihrer Rechtgläubigen, den Mullah — für 
den Columbus des Kaffees. Sicher iſt, daß das neue Getränk ſich 
ſchon im neunten Jahrhundert von Abeſſynien aus über Perſien ver— 
breitete, wo es mit offenen Armen und dankbaren Herzen aufgenommen 
wurde. „Der Kaffee“, ſagt der Perſer begeiſtert, „it das Gold, das 
unfere Seele läutert, das Waſſer, das unjere Sorgen wegjpült, und 
das Feuer, das unjere Schmerzen aufzehrt.“ Nicht weniger begetitert 
dafür zeigten fich die Araber, nachdem ihnen ein Mufti von Aden, 
Gemal Eddin, der Eee bereiit hatte, gegen Anfang des fünfzehnten 
Sahrhunderts den Gebrauch des Kaffees vermittelte. 


„D Kaffee”, fingt einer derjelben, 

„D Kaffee, Du vertreibft das Heer der Sorgen, 

Du bift das Getränk der Freunde Gottes 

Und gewäbrft Kraft feinen Dienern, die nach Weisheit ſtreben!“ 


Freilich hatte der Kaffee in Arabien auch feine erjte große Prü— 
fung zu bejtehen, aus der er jedoch), wie aus allen jpäteren Verfolgun— 
gen, & veich hervorging. 1511 war in Meffa ein neuer Statthalter, 
Khair Bey, eingezogen, der den Kaffee für ein aufregendes Getränf 
hielt, das als joldyes gegen die Satungen des Korans verjtoße. Er 
jegte einen feierlichen Gerichtshof ein, der über Tod und Leben des 
dunklen Trankes entjcheiden jollte, und * erklärte derſelbe den 
Kaffee, nach damaliger Kunſtſprache, für „kalt und trocken“, mithin 


31* 
F 


460 Am Kamin. 


für verwerflih. Daraufhin wurden nicht nur die öffentlichen Kaffee 
häujer gejchloffen und die Saffeevorräthe der Kaufleute verbrannt, 
ondern auch die heimlichen Kaffeetrinfer mit jchiwerer Strafe, der 
Baitonnade und einem Witt durch die Stadt, verfehrt auf einem Ejel, 
belegt. Zum Ueberfluß wurde diefen Sündern noch prophezeit, „daß 
ihre Gejichter am Tage des jüngjten Gerichts — erſcheinen 
würden als der Kaffeetopf, aus dem ſie das Gift getrunken.“ Als 
aber das ſcharfe Vorgehen des Statthalters dem Sultan Kanſu 
Alguſi in Kairo zu Ohren kam, beeilte er ſich, die Kaffeeverbote wieder 
aufzuheben, denn er ſelber — war der leidenſchaftlichſte Verehrer des 
en Giftes!“ 

„Das war ein Huger Mann!” Lobte Fräulein Malvine „Ehre 
jeinem Andenken!“ 

„Um das Jahr 1530*, fuhr der Profeſſor fort, „war das Klaffee- 
trinken in Konſtantinopel bereits eine allgemeine Familiengewohnheit 
und 1554 wurden dort unter Sultan Soliman die eriten — 
Kaffeehäuſer, Khawas, Khanehs genannt, errichtet, die — mit allem 
——— orientaliſchen Komfort ausgeſtattet — bald die Sammel— 
plätze der vornehmen und ausgezeichneten Muſelmanen wurden. Sie 
tauſchten Hier ihre Meinungen aus, lehrten und lernten, und verſchaff— 
ten jo den Kaffeehäujern im Volksmunde bald den Ehrentitel „Schulen 
der Erkenntniß.““ 

„Das wäre auch ein hübjcher Titel für unjere Kaffeekränzchen“, 
meinte Frau dv. F. 

„„Schulen der Klatſchſucht“ wäre bejjer“, dachte der ungalante 
Medizinalvath, hütete ſich aber, es auszujprechen. 

„Sultan Murat II. fand indeß, daß in diefen „Schulen der Er— 
fenntniß“ zu viel politifirt würde, und da er Ddiejes Later dem be= 
ichränften Untertdanenverjtand nicht für zuträglich erachtete, ließ er 
alle Kaffeehäuſer jchliegen. Den Kaffee jelbjt vermochte er aber da— 
durch in jeinem Stegeslauf nicht aufzuhalten. Nachdem 1590 der 
Arzt und Botaniker Proſper Alpinus aus Padua der gelehrten Welt 
Europas einen fruchttragenden Kaffeebaum, den er in Kairo fennen 
gelernt, bejchrieben und 1615 Pietro Della Valle brieflic von Kon— 
Itantinopel ausführliche Nachrichten über das neue Getränf „Kahue“ 
oder „Kahmwe“ gegeben hatte, brachten 1624 die VBenetianer größere 
Mengen Kaffees nach Europa und jchon 1645 ſoll derjelbe in Süd- 
italien allgemein gebräuchlich gewejen jein. Kurz nachher errichtete 
der Grieche Basqua in London das erjte Staffeehaus, das noch Heute 
unter dem Namen Virginia coffeehouse beiteht. In Baris wurde 
das Kaffeetrinken durch) Eoliman Aga, den Gejandten Mohameds IV, 
am Hofe Ludwigs XIV., befannt und einige unternehmungsluftige Le— 
vantiner machten fich die Vorliebe, die jid) allenthalben für das neue 
Getränk zeigte, alsbald — indem ſie — ambulante Kaffeeſchänken 
errichteten. Wie heute die Eishändler in italieniſchen Städten, liefen 
ſie die Straßen auf und ab, mit verführeriſchen Worten ihren Kaffee 
anpreiſend, und wer ſolchen trinken wollte, riefen ſie zu ſich ins Haus, 
wenn er nicht etwa vorzog, ſich auf der Straße ſein Schälchen ſchmecken 
zu ar Die nöthigen Materialien und Utenfilien trugen jie im 
einem Blechkajten, den fie um den Leib gejchnallt Hatten; eine Kohlen— 


Am Kamin. 461 


pfanne nebjt Kanne in der rechten und ein Wafferfrug in der linken 
er vervolljtändigte ihre Ausrüſtung. Doch machten jie jchlechte 

eichäfte, denn das von ihnen — Gebräu ſoll herzlich ſchlecht 
geweſen ſein. Freilich war auch der Preis ein ſehr geringer; er be— 
trug pro Taſſe zwei Sous fünf Deniers, und wenn man bedenkt, daß 
der Preis der Kaffeebohnen damals ein enorm hoher war, nämlich 
140 u pro Pfund.“ 


„Sp wird man die Händler milde beurtheilen müfjen, wenn ihr 
Getränf ein wenig dünn war. Das erſte jtändige Kaffeehaus in 
Paris errichtete der Italiener Procopio in der Nähe der Comedie 
Françaiſe; e3 wurde bald der Sammelpunft der feinjten Geijter der 
Bauptftabt und fand jo viele Nachahmungen, dat Paris jchon 1680 
zweihundertfünfzig Cafes zählte, die jich unter Ludwig XV. auf jechs- 
hundert und big zum Ende des vorigen Jahrhunderts auf achtzehn: 

undert vermehrten. Heute zählt die Seine-Stadt mehrere taujend 


„Und wie verhielten ſich unjere deutſchen Voreltern zum orientalischen 
Eroberer?“ Hager der junge Offizier. „Leijteten jie ihm Widerjtand?“ 

„Sie ergaben ſich ihm, gleich) den andern Völkern, bald auf 
Gnade und Ungnade. Das erjte deutjche Kaffeehaus wurde in Wien 
unter bejonderen Umftänden errichtet. Unter den Schäten und Bor: 
räthen, welche die belagernden Türken 1683 bei ihrer Flucht vor dem 
Polenkönig Sobiesfi im Stich) laſſen mußten, befanden fich auch zahl: 
lofe Säde mit Kaffeebohnen. Einer der Helden Sobieskis, der jich 
bejonders ausgezeichnet hatte, namens Kulcidi, erbat 19 nun dom 
Kaijer zur zum für jeine Dienjte die Erlaubniß, aus diefen 
Bohnen ein Getränk bereiten und in Wien verfaufen zu dürfen. Und 
der Tapfere hatte nicht jchlecht rg In kurzer Zeit war er 
Millionär und noch heute it das Cafe Kulcidi eins der bejuchtejten 
in der ſchönen Kaijerjtadt.” 

„Eine jonderbare Carriere: vom Sriegshelden zum Kaffeeſieder!“ 
fagte der Huſar geringjchäßig. 

„Der „Kaffeejieder““, griff der Profeſſor das Wort auf, „itand 
in Stuttgart unter der Gerichtsbarkeit des Hofes und der berüchtigte 
Jude Süß verjchaffte ſich 1736 das Monopol, Kaffeehäufer zu er- 
richten und zu verpachten. Aber nach) 1766 ließ der — Magi- 
ftrat zu Ravensburg unter Trommeljchlag verkünden, dat das Kaffee— 
trinken bei fünf Gulden Strafe und Konfisfation des Kaffeegejchirres 
verboten jet.“ 

„Ein echter Schwabenjtreich!” 

„Sn Berlin entjtand das erite Kaffeehaus 1721. König Wil- 
helm I. erwies ſich al3 ein großer Gönner des Kaffees; er gewährte 
dem Wirth jogar einen namhaften Zujchuß aus jeiner Privatkaſſe. 
Umſo feindjeliger erwies fi) ihm Friedrich der Große. Er errichtete 
Staatöfaffeebrennereien, wo man den Kaffee jechsmal theurer bezahlen 
mußte als beim Kaufmann, und machte den Kaffeehandel zum Mono- 
pol. Nur der Adel, die Geiitlichen und höheren Beamten erhielten 
jogenannte Brennjcheine, das heißt die Erlaubniß, den —— ſelbſt 
zu brennen. Dagegen mußten eigene „Kaffeeriecher“, meiſtens In— 


462 Am famin, 


validen, durch die Straßen und in Die Due: gehen, um darüber zu 
ae daß fein Bürger heimlich Kaffee brenne und etwa anderen 
trinfe als den theuren königlichen. Das Volk jollte jich nicht an den 
Kaffee gewöhnen, damit nicht joviel Geld für denjelben aus dem 
Lande gehe. „Seine königliche Majeſtät“, jagte er in einem Reſkript 
an die faffeelüjternen Pommern, „Seine königliche Majeſtät ijt in der 
Jugend mit Bierjuppe erzogen worden, die ijt gejunder als Kaffee; 
mithin fünnen die Leute in Pommern ebenjo gut mit Bierfuppe er- 
zogen werden!“ 

„Ein ebenjo erbitterter Kaffeefeind war Kurfürjt —* III. von 
Hannover, der 1781 den Bauern geradezu das Kaffeetrinken verbot 
und den Verkauf nur in Städten erlaubte.“ 

„Da würde ich eine Revolution gemacht haben!“ verficherte Fräu— 
lein von F. mit fomijchem Ernit. 

„Sie jagten vorhin, das Vaterland des Kaffeejtrauches jei Abe}: 
Iynien“, ſprach Frau von F. „Nun ijt er aber heutzutage, wenn ic) 
recht unterrichtet bin, fajt ın allen Tropengegenden heimiſch. Können 
Sie unfere Neugierde auch darüber Ag lieber Profeſſor, in 
welcher Weije dieje tag Sir 

„Gewiß, meine Gnädige! Die erjten Kaffeebäumchen jollen jchon 
1650 durch die Holländer von Mekka nad) Batavia gebracht worden 
jein. Sie gediehen dort jo vortrefflich, daß 1680 auf Java, Sumatra 
und Geylon Pflanzungen im großen angelegt wurden, und jchon 1710 
fonnte der Gouverneur in Batavia, van Hooren, 169 lebende Bäum— 
hen an den Konjul Witjon in Amjterdam ſenden, wo jie, in den 
botanischen Garten verpflanzt, trefflid) gediehen. stereftunt iſt Die 
Art und Weiſe, wie die Pflanze nach den wejtindiichen Injeln gelangte, 
die heute in der Slaffeeproduftion eine jo hervorragende Stellung eın- 
nehmen. Im Sahre 1714 hatte Zudwig AIV, einen Kaffeebaum aus 
Amfterdam, jorgfältig in einen Glasfajten verpadt, zum Gejchenf er- 
halten und im Garten zu Marley einpflanzen lajjen. Mehrere Gärtner 
wurden zu jeiner Pflege und Vervielfältigung angeitellt und als 
(egteres gelungen war, übergab man dem Schiffsfapitän Deelieux Drei 
der kräftigſten Bäumchen, damit er jie nach der franzöſiſchen Beſitzung 
Martinique überführe Allein widrige Winde hielten das Schiff jo 
lange auf, daß die Lebensmittel und das Trinfwafjer zu Ende gingen 
und gleich der Schiffsbevölferung auch die fojtbaren Paſſagiere aus 
dem Pflanzenreich das nöthige Waſſer entbehren mußten. Bereits 
waren zwei derjelben verdorrt und Declieur begann zu fürdten, das 
er den Zweck jeiner Sendung gänzlich verfehlen würde Da fahte er 
einen heroiſchen Entichluß: er theilte täglich) die eigene, ohnehin jo 
färglich bemejjene Wafjerration mit dem letzten der Pflänzchen. Seine 
Yufapferung wurde belohnt: er brachte jeinen Schüßling glüdlic) an ſei— 
nen Beitimmungsort, wo derjelbe der Stammvater der Millionen Kaffee- 
jträucher wurde, die heute auf Wejtindien blühen. Gegenwärtig wird 
die Pflanze in Oſtindien, Guiana, Caracas, auf den Antillen, befon- 
ders aber in Brafilien fultivirt und liefert UNO weit iiber 10 Mil— 
lionen Gentner, wovon über achteinhalb Millionen Gentner zur Aus— 
fuhr gelangen.“ 

„Ein rejpeftables Quantum!“ meinte Graf S. ‚Man follte glau= 


— — — — — — — — — 


Am Kamin, 463 


ben, die Sündflut, die fich aus dieſen Maſſen heritellen läßt, müßte 
m en, jelbit die ausjchweifenditen Kaffeegelüite der Menjchheit 
zu ſtillen.“ 

„Das ijt aber durchaus nicht der Fall“, verjegte der Medizinal— 
rath. „Nicht nur daß 5* die rohen — häufig gefärbt werden, 
um ihnen eine den beſſeren Sorten ähnliche Farbe beizubringen, ſie 
werden auch geradezu künſtlich —— indem verſchiedene Surro- 
en bohnenförmig gepreßt und dann gefärbt werden. Es > Kaffee 


elle unterjucht worden, die bis zu 27 Brozent jolher Bohnen ent— 
ielten.“ 
„ah! Aber wie joll man jich denn gegen ſolchen Schwindel 
ſchützen? 


„Es genügt, die Bohnen vor dem Röſten einige Stunden in 
warmes Waſſer zu legen, wodurch die falſchen aufquellen und an das 
Waſſer ihren Farbſtoff abgeben. Dieſe Vorſichtsmaßregel iſt umſo 
dringender anzurathen, als dieſe Farbſtoffe häufig kupferhaltig und 
deßhalb geſundheitsſchädlich ſind.“ 

„Nöjceulich" 

„Bon den zahllojen Kaffeefurrogaten, die den weniger bemittelten 
Klaſſen den Kaffee erjegen müjjen und jich ſelbſt bei bejjer fituirten 
Hausfrauen einer unausrottbaren Borliebe erfreuen, will id) nicht 
reden. Wir jprechen ja über den Kaffee und damit haben alle dieje 
Stoffe, mögen fie nun Cichorie, Eichel, Feigen, Rüben-, Gerjten- 
Kaffee oder ſonſtwie heißen, nichts gemein.“ 

„E3 iſt ein alter Aberglaube vieler Hausfrauen, daß der Sale 
eines Surrogats den Geſchmack verbejjerc“, jagte die Frau vom Haufe. 
„sch für meinen Theil verwende jtets nur reinen Kaffee, den ich kurz 
vor dem Gebraud) in irdenen Gefäßen röſten lajje In Blechgefäßen 
nimmt er leicht einen bitteren, brenzlichen Geſchmack an. Auch dürfen die 
Bohnen nur eine röthlich-braune, höchſtens hellbraune, nicht aber dunkel— 
braune oder gar jchwarze Farbe erhalten. Statt den Kaffee zu 
mahlen, lafje ich ihn in einem hölzernen Mörſer ſtoßen, wodurch jeine 
aromatischen Bejtandtheile mehr — werden. Dem Waſſer 
aber ſetze ich eine Meſſerſpitze doppeltkohlenſaures Natron bei.“ 

„Sehr gut!“ nickte der Doktor. „Nun wundere ich mich nicht 
mehr über die —“* Qualität Ihres Mokkas. Auch im Orient, 
dem klaſſiſchen Land des Kaffeegenuſſes, wo man auf reinen Geſchmack 
und gutes Aroma alles hält, bereitet man den dunklen Trank auf 
ähntiche Weile. Man reibt die für jede Taſſe bejonders gebrannten 
Bohnen im Mörjer gu Bulver, übergießt dafjelbe in der Tajje mit 
fochendem Waſſer und trinkt die Miſchung — weiteren Ziag 

„Jawohl“, beſtätigte der Profeſſor. „Alexander Dumas, Vater, 
verlangte einſt in einem der erſten Kaffehäuſer Konſtantinopels Milch 
zum Kaäffee, wurde aber entrüſtet zurückgewieſen, da man glaubte, er wolle 
ſich über die Qualität des Getränfes bejchweren. Er verlangte hierauf 
Zuder, wovon ihm endlich ein Aufwärter ein Stüdchen brachte, es 
aber grinjend auf der Hand hinwies und ungewiß fragte, ob er aud) 
recht veritanden habe. Anjtatt eines Staffeelöffels, den Dumas num 
forderte, reichte man ihm ein Holzitäbchen zum Umrühren, da jich 
ein Kaffeelöffel im ganzen Haufe nicht vorfand.“ 


464 Am Kamin, 


„Und ijt es der Geſundheit dienlicher, den Kaffee mit Milch zu 
trinken?“ fragte das Fräulein. 

„Rein, mein Fräulein“, antwortete der Medizinalrath. „Einerjeits 
macht die Gerbjäure des Kaffees die Milch ſchwerer verdaulid), anderer- 
* beeinträchtigt die letztere die eigenthümlichen, Verdauung be— 
ördernden Wirkungen des Kaffees.“ 

„sch ſchließe mich dem Ausſpruch Talleyrands an“, rief der junge 
Offizier, „der da behauptet, guter Kaffee müſſe heiß ſein wie die —* 
ſchwarz wie die Sünde und ſüß wie die Liebe!“ 

Ledenfalls war es derartiger Kaffee“, meinte Frau von F., „Der 
meinen Liebling Jean Paul zu dem — begeiſterte, der Kaffee 
mache feurige Araber, der Thee ceremonielle Chineten.“ 

„Und welches jind die bejten SKaffeeforten?“ fragte Fräulein 
Malvine. 

„Ohne Zweifel die arabijchen, der Moffa und der levantiniſche 
oder Alerandriner Kaffee. Alleın beide fommen unvermijcht wohl nie 
in den europätichen Handel.‘ 


„Des Lebens ungemifchte Freude, 
Wird feinem Sterblicen zutbeil!” 


deflamirte pathetijch der Offizier. 

„Die zwanzigtaufend Gentner echten Moffas, die jährlich produzirt 
werden, jollen überhaupt nicht wejtlicher als bis Stonjtantinopel ge— 
langen, ſondern meijt in Aegypten, Berjien und der Türkei verbraucht 
werden.” 

„Und der Moffa, den ich doc) von meinem Händler beziehe?“ 
warf rau von F. ein. 

„Wird von derjelben Glaubwürdigkeit jein wie der echte Cham— 
pagner, die echten Havannas, der echte Kaiſerthee und andere Natur- 
grögen, die wir nur vom Hörenjagen fennen, weil die Quantitäten, 
die davon wirklich erzeugt werden, nicht den taujenditen Theil des— 
jenigen betragen, was davon unter der Marke der Echtheit verkauft wird. 
lebrigens hängt die Güte des Getränfes vor allem von der Berei— 
tungsweije ab, und bei diejer mögen doc alle Hausfrauen des 
Austpruches eingedenf bleiben, den Baron Vaerſt in jeiner berühmten 
Gajtrojophie macht: Der Kaffee gleicht darin der Poeſie, daß in beiden 
das Mittelmäßige gar feinen Werth hat; nur den vortrefflicdhiten 
Kaffee oder feinen!“ | 

Ich lade die Herren morgen zum Kaffee“, jprach die Hausfrau 
mit liebenswürdigem Lächeln, „um darüber zu entjcheiden, ob Baron 
Vaerſt tauben Ohren gepredigt hat oder nicht 


Wiener Börief. 


Wien, 7. Juni 18837. 
Für das ſich fächelnde, für das jchlafbedürftige, das badelujtige 
und das limperfi 


erfüchtige Wien iſt in der diesjährigen, in dem Monate 
Mai und Junt eröffneten, unter dem Proteftorate des Herrn Erzher— 


Am Kamin. 465 


z0g Karl Ludwig jtehenden, Dee Möbel-Induftrieausjtellung in 
praftischiter und — ter Weiſe geſorgt; die Fächer aus der 
Fabrik Johanna Erdödys gehören zu dem Schönſten was ſich in die— 
ſer Branche denken läßt und wir wiſſen nicht, was größeres Lob ver: 
dient, die funftvolle Schnigerei des Geſtells oder die thaufriich Hinge- 
worfenen Blumenbouquets, welche a Kara dem feinen Gazeſtoff reizend 
ausnehmen und ung erfreuen; nn — — bietet die 

irma, — die zierlichſten Sträußchen von Meiſterhand gemalt 
ind, ſo z. B. Käſtchen für Briefpapier aus Veilchen und Nadelholz mit 
Blumentouffes, die eben gepflückt zu ſein ſcheinen und deren Duft 
man mit der Phantaſie einzuathmen wähnt, ſo naturgetreu ſind die 
holden Kinder des Frühlings und des Sommers, welche unſer Auge 
ſchaut. Zerlegbare Divans und Fauteuilles in allen Geſtalten, die 
ſich ſehr praktiſch als Betten eignen, ——— auch ſehr wenig Platz 
einnehmen, ſind weit mehr denn ſonſt und auch in zweckmäßigerer 
Geſtaltung vertreten. Badewannen und Badeſtühle, aus denen man 
ſogar in vereinzeltem Falle einen wohlfriſirten, wächſernen Damen— 
kopf hervorlungern ſieht, liefern den Beweis, daß man denn doch im— 
mer mehr zu der vom Standpunkte der Hygiene aus ſo vernünftigen 
Anſchauung übergeht, daß jowohl für die Haushaltung als auch für 
das Einzelindividuum, wenn mn ein fomfortabel eingerichtetes Bade: 
zimmer, wo nicht, age ein Badeſtuhl unerläßlicd) ıjt. Unter den 
pe, jieht man eine Unzahl mehr oder minder praf- 
tijcher Möbel, im großen ganzen jolid gearbeiteter Einrichtungsttüde 
aus amerikanischen Stubolg, voriiegend. Driginell ift das * 
der Hauswebeinduſtrie von Békés Cſüba, die unter dem Protektorate 
des Grafen von Eugen Zichy jteht und von der Hofräthin Helene 
von Bärtofy geleitet wird. Dekorateur Sell hat die originelle Weberei 
nach altungartichen Mujtern, deren Anfertigung während der Winter: 
monate einer namhaften Anzahl armer Mädchen das Brod gejichert 
hat, en ein gejchmadvolles Schlafgemach mit Säulenbett, Vorhängen, 
Chaiſelongues ꝛc. verwendet. Das Ausſtellungsobjekt iſt denn auch 
ſofort von Frau von Zubovitſch-Fleſch käuflich an ſich gebracht wor— 
den, da die geſchmackvolle Arbeit ſich auch im Preiſe abſolut nicht 
hoch ſtellt — wie denn auch die übrigen Produkte der ungariſchen 
Hausinduſtrie, welche in Geſtalt von Sanptüchern, Tijchläufern und 
derlei praftiichen Dingen ung vorgeführt werden und die ebenfalls 
lauter ungarijche Mujter aufzuweiſen haben, hübjch und originell find. 
Eigenartig iſt auch das japanejtjche Zimmer aus Pfeſſer und Bam— 
busrohr mit echten Malereien und Stickereien, welches die Firma 
Jäger u. Tiel ausſtellt; es ſieht zierlich und vornehm aus, wenn auch 
für den flüchtigen Beſchauer die Möbel filigranhafteren Eindrud her: 
vorrufen, als ſie thatjächlic) verdienen, denn troß des zierlichen Baues, 
trägt jeder diejer Stühle doc einen feiten Mann. In der Branche 
der Kücheneinrichtungen, jo praktiſch und nett diejelben auch find, tft 
uns mit Ausnahme des Süsjchen Schnellfochapparates für Militär— 
menagen wichts neues ins Auge gefallen. Ber der Glasausjtellung 
bieten ſich Nouveautes in Gejtalt von Polalen und Gläjern in Gold- 
filigran, welche jich aber weit hübjcher ausnehmen würden, wenn jie 
über rothem oder blauem Glaſe angewendet wären, anjtatt über dem 


466 Am Kamin. 


unscheinbar grauen. Adelmar von Breden führt und die neuen Uni— 
verfal-Sicherbeitslampen vor; mit Füllichraube und Bajonettverſchluß 
des Brenners — bei denen ein wie immer gearteter Unglüdsfall ganz 
abjolut ausgejchloffen ijt. Oberlieutenant Siemang iſt der Erfinder 
diejeg anerfennenswerthen und imgrunde genommen einfachen Appa- 
rates. Frau Kabilfa bietet in ihrem Pavillon weiblicher Handarbeiten 
cine Menge geichmadvolle Produkte dejjen, was geichidte Finger zu 
leiſten — e ſind. Beſonders elegant ſind Vorhänge aus Kom— 
preſſeſtoff mit reicher Stickerei. Schliehlich erwähnen wir noch die 
große Auswahl ſchöner Klaviere, denen wir im oberen Stodwerte be- 
gegnen und die Schnelljchreibmajchine „Vindobona“, welche gleichzeitig 
ein Vervielfältigungsapparat iſt. Faſt gänzlic) ausgeichloffen in Die- 
jem Jahre find die Kunjtjchlofferarbeiten und jene wenigen, welchen 
wir begegnen, ragen nicht bejonders hervor. 

Um auf die Theater überzugehen, erwähne ic) nur mehr en pas- 
sant des „Wolter-Jubiläums“ im Monate Mai, von dem Ihnen die 
Tagesblätter genugjam erzählt haben werden und das eine noch nie 
dagewejene Dvation genannt werden fann. Die erjte Aufführung von 
Augierd „Haus Fourchambault“ verlief brillant, wie dies bet der 
glänzenden Bejegung nicht anders denkbar; die beiten Kräfte unjerer 
Hofbühne, die Herren Sonnenthal, Tyrolt, Gabillon, die Damen 
Hohenfels, Schratt, Gabillon waren vertreten; in Sardous „Georgette“ 
gaftirte Fräulein Babette Reinhold und gefiel, troß Eleiner Mängel, 
recht qut. Im Opernhauje begnügt man ich einſtweilen mit Repriten. 
Das Theater an der Wien erholt ſich von den gefeierten Triumphen 
und bleibt bis September gejchlojien. Im Karltheater gajtirt Die 
englijche Operettengejellichaft D’Dyly Carte vom Savoy: Theater in 
London; „Mifado“ und „Patience“ jind die beiden VBorjtellungen, 
welche eine erfledliche Anzahl von Neprijen erlebten. Jedenfalls iit 
die erjtere mehr nad) dem Gejchmad eines P. T. Publikums; zum Theil, 
weil jie Schon im Vorjahre hier befannt war, — Theil auch, weil die 
Muſik reizend und der Text einem deutſchen Auditorium verſtändlicher, 
als jener von Patience. In dieſer Operette wird nämlich die in Eng— 
land zu Anfang der achtziger Jahre ſo ſtark verbreitete Sekte der 
Aeſthetiker entſprechend perſiflirt. Das Vorhandenſein derſelben iſt 
jedoch ein Umſtand, welchen auf dem Kontinent nur jene wiſſen, die 
ein ganz beſonderes Intereſſe für die Vorgänge in den vereinten 
Königreichen an den Tag legen. 

Ind nun laſſen Ste mich zu jenem wichtigen Dinge übergeben, 
welches jeit Wochen halb Wien ın Athem erhält, zu dem Frühlings: 
fefte. Daſſelbe fand auch heuer wie im Vorjahre unter dem Protek— 
torate des Erzherzog Karl Yudwig, Bruder unferes Kaiſers und 
deffen Gemalin der Erzherzogin Maria Therefia ftatt; an der Spitze 
des Comites jtand Die Fürjtin Pauline Metternich, jene geiſtſprühende, 
originelle rau, welche ihresgleichen in Europa nicht findet, der In— 
begriff von allem dem tit, was wir unter dem jchwer zu analijirenden 
Worte „Ehic” verjtehen und obwohl jelbit von der Sonnenjeite des Lebens 
begünftigt, jich ein warmes Herz und einen hilfbereiten Sinn zu wah- 
ven verjtanden hat für alle jene, welche Notb Leiden. Zur Schande 
der Menjchheit jet es gejagt, das der Ich-Kultus im neunzehnten 








Am Kamin. 467 


Sahrhundert zu weit geht, als daß jold) Humanitäres Empfinden ein 
allgemeines geworden; eben deßhalb aber verdient es doppelte Aner— 
fennung dort, wo es uns entgegentritt und jowohl der gute Wille, als 
auch das mächtige „Können“ der Fürjtin Metternich ward von dem 
groben, jowte von allen Theilcomites des Frühlingsfeites, welches zu 

unjten des Kleingewerbes, dann zu Gunſten der Errichtung eines 
Parkes auf der Türkenſchanze, zu Ounjten der freiwilligen Rettungs- 
ejellichaft, der Leopoldjtädter VBolksfüchen, der Seehoſpize für jfro- 
Plöfe Kinder am 4. und 5. l. M. im Prater abgehalten ward, auf das 
werfthätigite unterjtügt. Pauline Metternich, von der man jeit Jah: 
ren jich die geijtvolliten Apergues, die treffendjten Scherze und wohl 
auch eine Unzahl von Bizarrerien zu erzählen weiß, gehört unjtreitig 
zu den populärjten Perjönlichkeiten dev Nefidenz und zwar tjt fie 
ies ganz ſpeziell geworden jeit der „Erfindung der Frühlingsfeſte“, in 
denen jie jo werfthätig dofumentirt, wie gerne fie der Noth abhilft; 
daß man ihr, als ſie jich beim Blumenkorſo in ihrem prächtigen 
Wagen à la Daumont mit der gepuderten Dienerjchaft in kanarien— 
gelber Livree, an der Seite der Baronin von Bourgoing, zeigte — 
wahrhaft zugejodelt hat, ijt imgrunde genommen ein gewöhnlicher At 
der Huldigung; dag man aber thatjächlic) Metternich Semmeln, Met- 
ternich-Bier, ich glaube jogar Metternich-Käſe verkaufte und Greigler, 
$tleingewerbler, Schneiderinnen und eine Menge arme Teufel von 
der Fürſtin Pauline jprachen, als wäre diejelbe ihr Privateigenthum, 
beweiſt, wie jehr der Metternich-Kultus in das Herz des Volkes über: 
gegangen iſt. Doc) zur Sache. Ste wollen ja natürlich genau wiſſen, 
wie das Feſt ausgefallen und jo viel ich Ihnen auch zu erzählen 
babe, muß ich leider allem die Bemerkung vorausjenden — dab die 
Bolizeinote, welche ich Ihnen über den Himmel auszujtellen babe, 
dieſes Mal feine mafelloje iſt — doch das genirt und Wiener nicht! 
Wir find und bleiben nun einmal ein Völkchen, dem man eine gute 
Dofis leichten Sinn, um nicht zu jagen ‚Leichtſinn“, nicht abjprechen 
fann; wir amüjiven uns troß Donner und Blig, troß Regen und 
Wind, wenn Amufement nun einmal die Parole des Tages iſt, wie 
dies beim Frühlingsfeite der Fall gewejen. Der Blumenforjo, wel- 
cher am eriten Tage jtattfand und für den jich eine weit größere 
Zahl von Theilnehmern angemeldet hatte, ala im VBorjahre, fiel auc) 
in der That glänzender aus — denn troß des grauen Himmels und 
des in den Kipfeln der Bäume Neolsharfen ähnlich jtöhnenden Win- 
des hatten nur wenige dev angemeldeten Theilnehmer den Muth zur 
Fahrt verloren. Co jah man die glänzendjten Equipagen, die koſt— 
arjten und anmuthsvolliten Toiletten, die ſchönſten Frauen und hatte 
überdies Gelegenheit zu bemerken, wie viel eifriger und gejchidter das 
Werfen der duftigen J— bejorgt wurde, als im Vorjahre. 
Laut vorhergetroffener Vereinbarung war die Mehrzahl unjeres reich: 
jten und angejehenditen Adels, diejes Jahr dahın übereingefommen, 
noch den Blumenforjo im Prater mit zu machen, ehe man nach dei 
alten böhmischen, ungartichen oder niederöſterreichiſchen Schlöffern 
überjiedelte, in welchen die meisten Familien feinen geringen Theil 
des Jahres zubringen und jo fam es denn, daß eine Reihe prachtvoller 
Equipagen, welche im Vorjahre gänzlich gefehlt Hatten, dem Blumen- 


A 


468 Am Kamin. 


forjo zur Zierde gereichte. Auch an originellen Erzentrizitäten hat es 
nicht gefehlt; jo * man z. B. ein Schiff, eine Arche Noah, einen 
weißen, aus Blumen gebildeten Schwanenwagen, einen Wagen, deſſen 
Dach durch Fiſcherembleme gebildet war, einen anderen, bei welchem 
unter einem chineſiſchen Baldachin zwei reizende Frauengeſichter her— 
vorlugten — dann einen von — — gezogenen Leiter⸗ 
wagen, ein pinzgauer Bauer Ay auf einem der derben Roſſe, wäh- 
rend von den Inſaſſen des Wagens jelbjt ein Iuitiges Blumenbom- 
bardement ausgeführt ward. Baron Rothſchild hatte einen Poſtzug 
u dem Korjo geichidt. Die Töchter des Sid bahnhöteliers Schneider 
N bren in einer Orangerie. Driginell war ein Wagen in Form einer 
Badewanne, in dem man zwei junge jchöne Frauengeſtalten und ein 
allerliebjtes Kind gewahrte; eine mer mit Paprifagarnirung trug 
das Schild „Eljen Metternich“. Die Damen der Artitofratie, von 
denen wir die Namen Clamm Gallas, Dietrichjtein, Schönborn, Hohen- 
lohe, Feitetic, Eroy, Lariſch, Hunjady, Schwarzenberg ꝛc. nennen, fuhren 
zum großen Theil in Equipagen, welche reich mit Roſen aller Farben 
und Gattungen, mit Goldregen und Afazienblüten oder Feldblumen 
geziert waren. Im Publikum herrſchte troß des prächtigen Bildes, 
das ic demjelben bot, troß des oftmals auch die Fußgänger und 
Fußſteher überflutenden Blumenregens am erjten Tage im großen 
Ganzen genommen etwas weniger Animo als im Vorjahre, was aber 
nur auf „blau gefrorene Menjchennajen, feuchte Wege, nafjen Rajen 
und des Menjchen jtillen Wunſch, Dfen, Grog und Eierpunſch“ zurück— 
zuführen war. Vom Hofe war Seine Majeität der Kaiſer, der jtets 
rüdjichtsvoll und pflichtgetreu feinen Wienern eine Freude macht, wo 
er nur fann, jo wie deffen Brüder erjchienen; dann auch der Kron— 
prinz mit jeiner Oemalin, der bei uns zu Sande vergütterten Erz— 
berzogin Stefanie, Tochter des belgijchen Königspaares; ihnen folgte 
Herzog Philipp von Koburg und der Yandwehr-Obercommandant Erz- 
berzog Rainer. Sah man jich abjeits der jogenannten Nobleallee im 
Prater um, jo hörte man überall Mufif von Milttär- und Civilban- 
den — unter leßteren bejonders nennenswerth die tüchtige und wohl— 
eichulte Berndorfer Knabenkapelle. In der Kotunde, welche am erjten 
Tage um vier Uhr eg eröffnet wurde, gab es Glüdshafen 
und deforirte ae eine Borjtellung des Bertl’Ichen Sommerorpheums, 
Konzert des Wiener Männergejfangvereins, Produktion des Seilkünſt— 
lers Brunner ꝛc. Natürlich an allen Eden und Enden zu ejjen und 
zu trinfen um theuere und billige Breije, denn für Hungerfuren à la 
Tanner ijt der Wiener nun einmal nicht eingenommen. Als das 
Konzert des Wiener Männergejang-Bereines mit dem „Deutschen Lied“ 
— war der Beifall ein ſo frenetiſcher, wie man ihn noch kaum 
erlebt. 

Nach dem am zweiten Tage, am eigentlichen Volksfeſte wegen 
der Unbill der Witterung in den Vormittagsſtunden der Verkehr ein 
weniger lebhafter gewejen, empfand Gott Pluvius, welcher gerade zur 
Mittagszeit eine impertinente Weberflutung von Bifitfarten in = 
jtaltung wiederholter Negengüfie beim P. T. Publikum abgegeben, 
denn doch ein menjchlih Rühren umd verabjchiedete fich für den Neft 
des Nachmittags und Abends. Er beſaß jogar die Gourtoifie die 


u 


Am Kamin. 469 


liebe Sonne anjtatt feiner zu entjenden, nur benahm fie ſich unfonje- 
quent, wie ein Hyjteriiches Frauenzimmer, bald war fie da — bald 
Ka fie wieder. Man kümmerte N aber nicht viel um ihre miejel- 
üchtige Laune, jondern gab ua ganz und ungetheilt der Freude des 
rege pulfirenden Lebens hin. Auf dem Trabbrennplage produzirten 
ſich erit die Radfahriportkünftler, zwar nicht auf Deutjch, aber jeden- 
falls deutlicher genannt „Bicyelisten“ mit ihren mit Blumen deforirten 
Bicyeles. Diejen folgte das Wiener De, bet welchem man 
umwillfürlic) an das Heranjaujen der Windsbraut denfen mußte. 
Nach Erledigung der Rennen harrte eine Kopf an Kopf gedrängte 
Menge in athemlojer Spannung dem Aufjteigen des Riejenballons 
des Bern Edoardo Spelterint; ih Leona Dare, die kühne Trapez- 
fünjtlerin jollte an einem unter dem Schiffforbe des Ballons ange- 
brachten Trapez, an welchem jie ſich nur vermittels ihrer Zähne feſt— 
hielt, ihre Fahrt in die Lüfte antreten — und das Unglaubliche ge 
ſchah; Herr Spelterini und ein Diener befanden jich in dem Korb, 
das „Allez“ erjcholl und mit den beiden freien Händen der Welt und 
der auf dem fejten Erdboden verjammelten Menjchenmenge ihren Ab- 
ichiedsgruß zuwinfend, flog Miß Leona Dare, ſich nur auf die Wider: 
ſtandskraft ıhrer Zähne verlajjend, hoc) in die Lüfte empor. Ic 
finde e3 gar nicht unverzeihlich, daß mir bet dem Anblick diejes Schau: 
jtüdchens, bei dem frivolen Spiel mit einem Meenjchenleben, beinahe 
nicht gut geworden ijt und das Publikum muß wohl größtentheils das 
Gleiche gefühlt haben, denn obwohl es im ganzen ſehr leicht zu Beifalls— 
jalven Hinneigt, verhielt es ſich im dieſem Falle ganz merkwürdig jtill 
und jtarrte in angjtvoller Spannung hoch in die Lüfte empor, in 
denen bald nur mehr ein dunkler Punkt die Stelle bezeichnete, an 
der die tollfühne Suftichifferin in ihrem tiefvioletten Tricot jchwebte. 
Zur Beruhigung meiner freundlichen Lejer, will ich Ihnen übrigens 
befannt —— daß der Ballon bei Kapuvar in der Nähe von Oeden— 
burg in Ungarn, abends gegen neun Uhr niederging und Miß Leona 
Dare eben ſo unverſehrt war, wie Signor Spelterini; freilich wollen 
wir Shnen verrathen, daß ein feiner Draht der Gymnajtiferin um 
den Leib gelegt war, dejjen Ende man im Sciffforbe befeitigt hatte 
und der ſie vor der Gefahr eines Sturzes fichert — wenn er hält; 
aber ob er hält — ob ein Unglüd ganz unmöglich, dies mit apodif- 
Ay Sicherheit anzugeben, & t über das Vermögen eines gejchulten 
Meathematifers und deßhalb bleiben jolche Produktionen immer gewagt. 
Eine gemüthlichere Programmnummer war das Erntefeſt der 
Hainbacher, welche mit einer Muſikkapelle auf reichgejchmüdten Bauern- 
wagen ihren Einzug in den Prater hielten und Ka in ihren jchmuden 
Roftümen wunderhübjc) ausnahmen. In der Rotunde begann die 
Eröffnung der Vorſtellungen um acht Uhr mit dem Blumenkorſo der 
Bicycliſten, welchem der Bänderforjo der Wagen folgte, der jich von 
dem Blumenkorſo dadurd) unterjchied, daß die beiläufig fünfzehn 
Zweier und Biererzüge, welche daran betheiligt waren, anjtatt der 
Blumen, Bänderſchmuck trugen. Die Perle des Abends bildete aber 
das große pantomimiſche Schaufpiel „Ein ag in Wien“, welches von 
den Herren Gaul, von Bukovies und Pallik unter Mitwirfung des 
Grafen Nikolaus Ejztherhazy, Karl Blajel, Julius v. Blaas, dem 


470 Am famin. 


unvergleichlichen Stomifer Alexander Girardi, den Schaujpielern Witte 
und Bufovics, jowie von einer Anzahl Damen des Horopernballets 
ausgeführt wurde Ein wenig idealijirt ſind dieſe Wienerbilder viel- 
leicht geweſen, ſagen wir mit Liebe gezeichnet, aber deßhalb doch wahr. 
In den impojanten Bildern, welche uns da vorgeführt wurden, jah 
man das Treiben der Metropole von der vierten Morgenitunde an- 
gefangen, d. h. vom Milch und Marktwagen bis zum Zapfenjtreich; 
das Straßenleben mit all jeinen Arten und Abarten, das Zeitungs: 
wejen, die Plafatinduftrie, das Gejchäftsleben, die Burgmufif, Die 
Sonntagsreiter, eine Fiakerhochzeit, Touriftenflub, Wagen der frei- 
willigen rg ee u. ? w. u. }. w. Dem Wienertag folgte 
eine ungarische Bauernhochzeit, welche gejchmadvoll arrangirt war und 
den Schluß bildete die zum großen Theile von Vertretern des höchiten 
Adels ausgeführte Parforcegagd, welcher dann zur mitternächtlichen 
Stunde der in Reih und Glied unter bengalijcher Beleuchtung und 
flingendem Spiel angetretene Ausmarſch aus dem Prater folgte; in 
den etwas entlegeneren Wegen waren in jehr furzen Zwiſchenräumen 
Gaskandelaber angebracht worden, auf denen nicht von einer Glas: 
hülle beengt, breite Flammen brannten, die ziichend von der Abendluft 
hin und ber gepeiticht wurden und an die Freuden und Danfopfer 
barbarifcher Zeiten und kulturloſer Stämme erinnerten — die Poeſie 
des Gejammtbildes aber nur erhöhten. Und jo laſſen Sie mich denn 
für heute Ihnen Lebewohl bieten mit der VBerjicherung, daß das zweite 
Frühlingsfeſt durch deſſen Erträgnig jo manchen Bedrängten rettende 
Hand geboten wird, Dank der rajtlojen Mühe des Comites, deſſen 
Dbmann wie im VBorjahre Herr Edgar v. Spiegl war, in jeder Hin- 
ſicht als ein —— bezeichnet werden kann, daß auch das Publi— 
kum zu dieſem Gelingen das Seine beitrug und daß als Deviſe für 
daſſelbe die Worte Schillers paſſen würden: 


„Gram und Armuth ſoll ſich melden, 
Mit den Frohen ſich erfreuen. 


Max von Weißenthurn. 


Nippſachen. 

Künſtliche Zähne in Japan. Die Japaneſen ſind die einzige Nation 
außerhalb der Kultur des Occidents, welche künſtliche Zähne herzurichten verſtebt. 
Sie haben zwar das meiſte ihres arzneilichen und techniſchen Wiſſens von den Chi— 
neſen entlehnt, aber in dieſer Beziehung haben ſie ihre Lehrer überholt, denn die 
Chineſen baben keine Idee von Anlagen eines künſtlichen Gebiſſes. Sie ſchnitzen 
zwar Schneidezähne und befeftigen diejelben an jeder Mundſeite, aber es find nur 
ES chmudgegenftände, während die von den Japanefen angefertigten wirklich zweckdien— 
lich braudbar find, fie feben zwar nicht fo elegant aus wie unfere Kunftzäbne, aber 
man kann damit Nüffe Inaden. Sie baben eine bölzerne Grundlage, bie Vorder- 
zähne befteben aus formgemäß bearbeiteten Quarzkieſelchen, aber die Baden- oder 
Malmzäbne find durch fupferne Nägel vertreten. Cine intereffante Thatfache ift cs, 
daß das Vefeftigen der Gebiffe durch Anſaugen den Japaneſen ſchon feit mindeſtens 
zweihundert Jahren geläufig ift. Die durch Handarbeit bergeftellten Platten werben 
in folgender Weife fabrizirt: von dem Munde wird ein Abdrud in Wachs genommen, 
und danach ein ebenfalls wächfernes Modell gefertigt. Diejes wird mit rotber Farbe 
beftrihen, die rohgeſchnitzte Platte daraufgelegt, alle rotb fich marfirenden Stellen 


Am Kamin. 471 


an der Unterſeite forgfältig fortgefhnitten, bis die Platte genau mit dem Modelle 
übereinftimmt. Nun wird fie ebenjo in den Mund gepaft, nachdem die Gaumen 
mit der rotben Farbe bevedt find, um Ungenauigkeiten an der Platte zu erfennen. 
Ein japaniiches Kunftgebiß war noch nah fünfzebnjäbrigem Gebrauche vollftändig 
dienftfäbig. 


Steinmarder auf der Lauer. (Mit Iluftration.) Ein dem Landwirtb 
verbafter Räuber und Mörder iſt der Steinmarder. In Hübner und Entenftälle, 
in Taubenfchläge bricht er ein, wenn e8 gilt, durch Klettern und Springen oder durch 
Kriehen und Einzwängen des Feibes oder auch durch Befeitigung des Ziegels eines 
fehlerhaften Daces und Erweiterung eines Foches mitteld Beißens und Kratzens das 
Ziel zu erreihen. Ein furdtbarer Schred ergreift das Geflügel, im Taumel der Ber- 
zweiflung flattert, gadert oder jchreit und piept das arme Federviebvolf; mit rafender 
Mordgier und umerfättlichen Blutdurſt bauft dagegen der gewandte Räuber unter ben 
entjetten Opfern, bis der letzte Schrei verftummt und der Fuß des letten fterbenden 
Hubns nicht mehr zudt. Was entrinnen Mann, ftürzt binaus in die Nacht, um an 
irgend einem Plätschen fich zu verbergen. Welche Verbeerung aber ringsum im Hübner- 
ftal! Alle Hühner und mit ihnen der ftattlihe Hahn liegen gemordet am Boden. 
Ueberall Blut und ausgeriffene Federn. Todtenftille herrſcht. Nur ein leifes Rafcheln 
verräth das einzige überlebende Weſen — e8 ift der Mörder felbft, den der Hausberr 
glüdlich überliftet hat. Oben am Dach bat fih der Eindringling krampfhaft ange- 
flammert. Im Scheine der Laterne funkeln die Heinen Augen, in denen der Ausdrud 
der Mordluft noch nicht erlofchen, aber derjenige der Furcht und Augſt immer mebr 
die Oberhand gewinnt. An der Schnauze bängen noch Federchen, an der weißen Keble 
Heben friſche Blutfleden, die verrätberifchen Zeichen der Schuld. Die kürzeren, jehnigen 
Borderläufe mit den breiten Pfoten und ſcharfen Krallen, der dide, mustelfräftige 
Hals, von dem fich der feine, vorn fpit zulaufende Kopf faum merklich durch die 
fanfte Wölbung abbebt, der jchlanfe Leib, die längeren, zu weiten Sprüngen geeigneten 
Hinterläufe, die buſchige Ruthe, die Bildung aller dieſer Körpertbeile erklärt die 
Räthſel feiner Thaten. Ein wohlgezielter Schlag auf den Vorderkopf, aus gerechter 
Entrüftung geführt, betäubt und wirft ibn zu Boden. Entkommt er aber der Nach— 
ftellung nah ſolchen Bluttbaten, jo trifft man ihn nicht felten am darauffolgenden 
Tage in einem Zuftande überwältigender Schlafiucht an, die ibm nicht einmal geftattet, 
der plumpften Verfolgung zu entgeben. 


Huffifche Fifcher auf einer Eisjcholle ins Kaſpiſche Meer getrieben. 
(Mit Iluftration.) Kein Beruf birgt jo viel Mühe, Arbeit und Gefahren, als der 
des Fiſchers und Seemannes. Sturzſeen und plötzliche Böen haben ſchon ganzen 
Flottillen den Garaus gemacht, und oft verweigert die tückiſche See jede Beute; halb— 
todt vor Kälte und Ueberanſtrengung kehren die Fiſcher mit leeren Netzen heim und 
können noch von Glück ſagen, daß ſie ihr nacktes Leben gerettet. Doch das ſind ſo 
gewiſſermaßen gewohnte Sachen, aber es giebt Gefahren für den Fiſcher, von denen 
der Binnenländer ſich gar feinen Begriff zu machen verſteht. Eine ſolche gefabrvolle 
Situation veranfhaulicht unjer Bild. Es ſind Fiſcher, die aus Aftrachan, der be- 
fannten Kaviarftabt, im Januar v. J. Eisfiicherei auf dem Kafpijchen Meere trieben 
und babei in die Rohrdidichte der Wolgamündung gerietben. Da der Kaſpiſee nur 
an den Rändern in einer Weite von etwa 5—6 Kilometern zugefroren war, lag vor 
ihnen blantes Wafler, und plötlich, als die Leute eben in der beiten Arbeit waren, 
die jchweren Nete mit der anjehnlichen Beute aus den gebauenen Eislöchern zu zieben, 
löfte ji eine gewaltige Eisjcholle, auf der jie ftanden, und trieb bei dem gerade ftart 
wehenden Nordoftwinde ins offene Meer binaus. Keiner der in ihre ſchwere Arbeit 
vertieften Männer merkte im entfcheidenden Augenblide die Gefahr. 150 Fiſcher mit 
ihren Gerätbichaften, Karren und ‘Pferden befanden ſich auf der Scholle, und erft drei 
Tage fpäter, am 26. Januar, gelang es ihnen, aber nur Dank des plößlich nad) 
Südoſt umfpringenden Windes, wieder and Yand zu gelangen; etwa 150 Kilometer 
von ber Abfahrtsjtelle entfernt, konnten fie ſich retten, aber alle ihre Gerätbichaiten, 
gegen 3000 Seile und über 2500 Nege, ſowie drei Pferde und eine große Anzahl 
Schlitten waren der Berluft, welchen die armen Leute zu tragen hatten, ungerechnet 
die Einbuße des Fanges. 


472 Am Kamin. 


jerufalem und Trapezumt. (Mit Iluftrationen.) Die beiden Pandichafts- 
bilder, welche wir in dieſem Salonbeft bringen, ftammen aus dem originellen Pradt- 
werfe: „Der Orient“ von Schweigger-Lercheufeld (Berlag von Hartleben in Wien), 
Die Anfiht Jeruſalems ftellt fih in ihrem nächtlichen Dämmer febr malerifh bar. 
Der befannte Orientreifende fagt in dem erwähnten Werfe unter anderem folgendes 
über die Stadt des heiligen Grabes: „Jeruſalem ift heute eine ziemlich berunter- 
gelommene Provinzftadt. Es befittt, wie bie meiften Städte des Orients, den Nach— 
theil, dem Beobachter oder Bewunderer nur worübergebend ein glänzendes, von zabl- 
Iojen Mythen und Legenden gleichjam umfchleiertes Panorama darzubieten, wäbrend 
eine nähere Inaugenjcheinnahme der Stadt und ihres Pebens in mander Hinſicht 
enttäufcht. Alle Abendbländer, die gerade nicht auf einer Reife durch das Innere von 
Paläftina begriffen find und in diefem Falle dann entweder von der Eeite des Jorban- 
tbales oder über den Delberg ber der Stadt fih nähern, erbliden von ihr anfangs 
möglichft wenig. Und auf welch' verſchiedene Art wird die brennende Neugier der 
Pilger befriedigt! — Da find die Frommen, welche von myſtiſchen Schauern ummebt 
werden, benfen fie an Golgatbas Felſenhöhe, an die Bia Dolorofa, an Getbjemane 
und die ehrwürdige Scheitelhöhe des Delberges. Noch ſehen fie nicht den Teichipiegel 
von Siloah, der im Thale von Kidron liegt, aber ihrem inneren Auge zeigt fich der 
Weg, den ber Gottesjohn „am Tage, da man die Palmen ftreute‘, beraufgeritten 
am, bevor er ben Tempelhof erreichte. Und das Volk, das in Bewegung gerietb, fragte: 
„Wer ift dieſer?“ und andere antworteten: „Das ift Iefus, der Prophet von Nazareth 
in Galiläa.“ 

Bom heiligen Lande führt uns Schweigger-ferchenfeld an eine andere Orientftätte. 
Es ift die Südküſte des Schwarzen Meeres, das malerische Anatolien. Den Glanz 
punkt biefer wundervollen Küftenfcenerie bildet das altberübmte Trapezunt — das 
Tarabozan der Türen — in einer unvergleichlichen Page am äußerſten Nordende ber 
Abdahungen des jchneebededten Kolat-Gebirges. Während am Geftabe alles Land 
unter Weingärten und Oelhainen verfchwindet, Myrthe und Porbeer blühen und die 
Citronenblüten duften, find die Alpenftriche des Kitftengebirges mit berrlihen Azaleen 
und der berühmten pontijhen Alpenroje geſchmückt. Man begreift ſonach leicht, daß 
die Kommenen, welche nad Begründung bes lateinischen Kaiſerthums zu Konftantinopel 
bier ein neues Herrichaftsgebiet ſich fchufen, in ſybaritiſchem Wohlbehagen ihre kurze 
Herrlichkeit verbradhten. Minne und Hofdienft füllen die Chroniten aus, und zum 
Wettgefange fanden fih Abenteurer aus Nah und Fern ein. Da die Prinzeffinnen 
des komneniſchen Kaiſerhofes überdies im Rufe außergewöhnlicher Schönheit ftanben, 
fehlte es nicht an Bewunderern und Werbern, melde ſelbſt aus bem fernen Berften 
bierber gezogen kamen. Den Mittelpunkt diefes Schlaraffenlebens bildete ſelbſtver— 
ftändlih der Kaiferbof zu Häupten ber Kaftellftadt. Dortjelbft, wo heute nur bau- 
fälliges Gemäuer ber türkiſchen Citadelle, erhoben fid die herrlichen Marmorterraffen, 
die getäfelten, offenen Hallen mit den Ausfichtsballonen, zu denen herauf der Blüten- 
atbem ber Geftabegärten ftrih. Knapp darunter (mo heute bie Türken-Stadt) um— 
gürteten ftarfe Feftungsmauern mit gewaltigen Thürmen, verborgene Treppenfluchten 
binter majfiven Doppelthoren und tiefen Wallgräben die Oberftabt, welche die zweite 
ber drei Kitftenftufen einnahm. Heute liegt hier alles halb und halb in Ruinen, nur 
bie tiefen Wallgräben, natürliche Schluchten, gähnen noch, und das Pflangendidicht 
in ihnen reicht bis zu den Brücken berauf, über welche man in bie Türlen-Stadt 
einziebt. Welcher Wechſel bat ſich auf dieſem einft herrlichen Bogen vollzogen! Ein 
Gewirr von engen Gaffen mit fenfterlojen Häufern nimmt uns auf, Koth und Ber 
wabhrlofung überall, ſchmuckloſe, nadte Mauern, die nur ab und zu Durch ein geöffnetet 
Thor einen Blid in die Höfe der Türlenbäufer geftatten, wo Gartenbäume jchatten 
und Epringguellen murmeln — die einzige Abwechslung in der Dede! Am Strande 
dehnt ſich das eigentliche Handelsviertel, mit einer fehr rührigen, aus allen Nationen 
des näheren Orients zufammengejeßten Bevöflerung, aus. Noch immer ift nämlich 
Trapezunt weitaus der bedeutendfte Stapelplag am norb-anatolifhen Geftabe. 


— ⏑ — 





Neueſte Moden. 


Ar. I. Toque aus gemuflertem Stroh. 
Dieſer für junge Mädchen ſehr beliebte Toque ift aus gelbem und ſchwarzem, 
zadig geflochtenem, breitem Strobgeflecht bergeftellt. An ber linken Seite des ringsum 





Nr. 1. Toque aus gemuftertem Stroh. 


aufgejchlagenen, vorn ſpitzen Randes ift ein in Bäuſche zufammengefaßter fchottifcher 
Foulard, dejien ausgefranfte Enden fücherartig emporftreben, angebracht. 


Nr. 2, Hoher Hut mit breitaufgelhlagenem Rand, 


Die auf der linken Seite des Hutes jebr hoch aufgefchlagene und breite Krempe 
ift mit Sammet bededt, welcher am Rand einen Streifen des Hutes frei läßt. Auf 
Der Ealon 1887. Heft X. Band II. 32 


ei 


474 NUeueſte Moden. 


der rechten Seite ift der Hut glatt berabgebogen und reicht ziemlich bis über das Obr. 
Die freie Seite des Kopfes ift mit einer Schleifenrofette, unter welcher eine große, 
ſehr lange ſchwarze Feder befeftigt ift, bedeckt; letztere füllt leicht auf den obern Rand 
der aufgejchlagenen Krempe, dieſe etwas bededend, herab. 


Nr. 3. Hut aus grobem Gfrohgefledht. 


Der aus marineblauem glattem Strobgeflecht angefertigte Hut bat eine vorn 
glodenförmig herabgebogene, am Hinterlopfe faltig angefetste und ſehr breit emporge- 
bogene Krempe, welche mit Sammet belegt ift. Ein breites Grosgrainband umgiebt 
den Kopf des Hutes. Born auf demfelben find mebrere jchöne Federn angebracht, 





Nr. 2. Hoher Hut mit breitaufgejhlagenem Rand. 


die fi über den Kopf und auf den vorbern Rand bes Hutes biegen. federn, 
Band und Sammetverzierung find, wie der Hut, von marineblauer Farbe. 


Nr. 4 Anzug aus ſchottiſchem Surah. 


Als Stoff zu diefem Anzug ift ftablgrauer Surab, mit bell- und dunkelrothem 
Karo durchzogen, verwendet. An der linken Seite des erften Rockes aus jchottifchern 
Surab befindet ſich ein glattes, oben am Gürtel in Falten gereibtes, loje herabfal- 
fendes Theil aus dunlelrothem Surah. Die Polonaife, aus Bengaline oder grauem 
MWollenftoff, ift mit der Taille aus einem Stüd geichnitten und mit einem fchotti- 
hen Streifen vom Stoff des Rodes eingefaßt. Die Taille ift ſchräg geichloffen und 
das rechte Vordertheil, welches die Schürze mit bildet, ift auf dem linken kurzen 
Vordertbeile an der Hüfte befeftigt. Diefes linfe Vordertheil wird, wie jedes an- 
dere, nach einer glatten Taille geſchnitten. Die balblangen Aermel haben die gleiche 
ſchottiſche Verzierung wie der Stehlragen, welcher einen Faltenlay aus dunkelrothem 


Heuefte Moden. 475 


Surab jchlieft. Auf dem fchottifhen Bejat des rechten Vordertheiles befinden ſich in 
Zwifchenräumen angebrachte Perlenverzierungen. 


Nr. 5. Promenaden -Anzug. 
Das beliotropfarbige Kleid ift mit penje Tupfen beftreut. Auf einem erften 
Rod aus Taffet befindet fih ein Meines Pliffe. Der zweite aus Wollenftoff bildet 
vorn einige Kalten, auf welchen die Tunika ſchürzenartig aufliegt. Die binteren 
Rodfalten werden von einem fächerartig berabfallenden Theile bededt. Die Bifite 
aus ſchwarzem Sommerottoman mit brofehirten Sammetäften bat an den Seiten 
jehr weit berabfallende, gerade gejchnittene Borbertbeile, welche vorn fehr weit aus- 


7 | r 


1 





Nr. 3. Hut aus grobem Strobgeflect. 


einanderfteben und durch ein am Hals beginnendes, bis weit auf den Rod berab- 
reihendes ES pitengefältel ergänzt werden. Ebenfo iſt das Nücdentbeil mit den wei- 
ten, nad innen aufgenommenen Aermeln dur einen Spitzenſchooß bervollitändigt. 
Ein fücherartiger Spitenbefat bejchlieft die langen Bordertbeile.. An den Rändern 
der Mantille befinden fich große Chenillenpompons, welche auch die unteren Spiten- 
fächer verzieren, 


Nr. 6. Morgenhaube, 


Diefe ans breiten, beftidten Spitzen angefertigte Haube bat ein breites, vorn 
berabfallendes Pliſſe. Das Kopftbeil derjelben wird durch eine breite, alatt aufgelegte 
Spitze beimartig bededt und durch Bandrofetten und Sclupfen aus mattroja ober 
beilblauem Pilotband mit dem Pliffe verbunden. 

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478 Neueſte Moden. 


Nr. 7. Morgenhaube. 


Das Kopftbeil diefer Haube ift ans beftidter Gaze bergeftellt und bat am 
Hinterfopf als Rand einen Heinen Bauſch, welchem eine breite, an ben Seiten 
glatte und vorn im der Mitte febr faltige Blonde amgejegt ift. An den Seiten 
find bochftebende lirſchrothe Bandfchlupfen befeftigt, deren Enden, binten auf Dem 
Haar zufammengebunden, in einer Schleife mit Enden ausgeben. 


Ar. 8. Anzug fürs Sans, 
Der Rüden diefes granatfarbigen Kleides ift in Prinzefform gejchnitten. Die 





Nr. 6. Morgenbaube, Nr. 7. Morgenbanbe. 


Bordertbeile fteben offen uud find in der Taille eingereibt. Cine große Draperie 
von ſchwarzem Spitenftoff im feiner ganzen Breite ift um den Hals gelegt, we 
derjelbe eine Heine Rüſche bildet, über der Bruft ſich freuzt und unterbalb der Taille 
dureh gramatfarbige Paſſementen bejeftigt if. Bon da geben diefe Theile, in na- 
türliben Falten auslaufend, bis an den Saum des Nodes berab. Der Faltenein- 
fat, welcher die Bordertbeile verbindet, ift aus roſa Crope angefertiat. Die balb- 
langen Nermel baben am Rand ebenfalls eine Spitzenkrauſe. Granatfarbige jeidene 
Strümpfe und ausgejchnittene braunrotbe Schube. 


Nr. 9. Bloufe für Kinder. 


Die Blouſe ift aus weißem Wollenftoff angefertigt und beftebt aus einem 
weiten Rod, welcher unten mit Säumen verziert ift, umd einer langen, loſen Taille, 


Ueuneſte Moden. 479 


welche im Rücken, ſowie am Vordertheile oben eingereibt if. Auf der linken Seite 
des Vordertheiles iſt diefelbe durch Knöpfe geichloffen. Die Blouſe befindet ſich anf 





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Nr. 8. Anzug fürs Haus, 


480 Neueſte Moden. 


einer glatten Untertailfe und ift mit einem breiten Bandgürtel, welcher vorn und am 
Rüden » Schluß eine große Schleife bildet, zufammengebalten. Der breite, bis an 






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—— ⏑— 


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Nr. 9. Blouſe für Kinder. 


die Schultern reichende Spitzenkragen ift auf der linken Seite durch eine Band« 
ichleife gefchloffen. Die Ellbogenärmel haben breite Spitzenmanſchetten. 





Nr. 10. Stidmufter zu Wäſche :c. 


— 


Ar, 10. Stidimufler zu Walde ic. 

Dafjelbe ift zum Bejag an Unterröden, Beinfleidern und Kinderwäjche geeignet. 

Das Mufter wird in engliiher Stiderei auf Batift ꝛe. mit weißer Baumwolle aus« 
geführt und die Ränder mit Panguetten umgeben. 


— 


Nebaction, Verlag und Drud von 4. H. Payne in Reubnig bei Yeipzig. 


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Eine Hochzeit. 


Von U. Ch. Edgren-Leffler. Deutſch von Emil Jonas. 


— — 





—— 
Sf er ganze alte Pfarrhof war jeit mehreren Wochen auf 
'o! den Kopf gejtellt. Schon feit die jungen Leute vers 
lobt wurden, hatte man nichts anderes gethan, al3 ges 
webt und genäht und gewajchen, gerollt, gejcheuert, 
— geſchlachtet, gebaden und gebraut. 
— Der Bräutigam war auch gar zu ungeduldig. Es 
\wäre in jeder Beziehung geeigneter geweſen, die Hochzeit 
noch ein Jahr hinauszujchteben — ein folches Kind, wie 
Alfhild war, die joeben ihr neunzehntes Jahr vollendet und wie 
ein fünfzehnjähriges Mädchen unentwidelt war. Die Tante Malla 
ihrerjeits hatte bisher noch nicht erlebt, daß man Verlobung, Aufge- 
bot und Hochzeit wie in einem Athemzuge feierte — ja, jte meinte 
geradezu, daß es fat unpajjend jet, auf jolche Weiſe damit zu eilen. 
nn Steen wenigjtens ein paar ——— während der Vorbe— 
reitungen fortreiſen wollte. Er ging überall umher und hüpfte zwi— 
ſchen den Scheuerwannen und ſchlich Alfhild in alle Ecken nach — 
es war kaum zu ertragen. Es war durchaus nicht angenehm, einen 
ſo feinen und verzogenen Reſidenzherrn ſtets um ſich zu haben, wenn 
man Beſchäftigung hatte, und dazu kam noch, daß mit Alfhild auch 
nicht viel aufzuſtellen war, natürlicheriweife, wenn der Bräutigam jich 
in ihrer Nähe befand. Es war unmöglich fie zu einer Sack anzu⸗ 
halten; denn ſobald ſie des Morgens aufgeſtanden waren, zog Steen 
mit ihr hinaus in den Wald oder in das Boot auf dem See, oder 
fie fuhren mit dem armen Gaul davon, der bisher nie jo oft in An— 
jpruch genommen war. Die Tante vermochte fie nicht einmal au ver⸗ 
anlaſſen, ihre eigene Wäſche zu zeichnen — kurz alles überließ ſie 
andern, und wäre es von ihr abhängig geweſen, dann würde ſie ſicher— 
lich ohne Schuhe und Strümpfe in ihr neues Haus kommen. 

Dieſe Klage wiederholte Tante Malla täglich vor ihren weiblichen 
Verwandten, die bereits ſeit der Verlobung in dem Pfarrhofe weilten, 
um überall hilfreiche Hände zu leiſten. Und des Abends, wenn 
Alfhild auf ihr Zimmer gegangen war und die Tante Malla nicht 

Der Salon 1887. Heft XI. Band II. 33 


— 












— 










482 Eine Hodyeit. 


mehr zu fürchten brauchte, von dem Bräutigam gejtört zu werden, 
dann hörte Alfhild, wie die Tante mit ihrem etwas bejchwerlichen, 
und doch jchnellen Gang die fteile Bodentreppe heraufitieg, und ob- 
gleich fie fich beim Entkleiden beeilte und that, als ob fie jchlafe, ent= 
ging fie doc nicht dem erwarteten Schelten wegen all’ der Verſäum— 
nifje, deren fie fic) im Laufe des Tages jchuldig gemacht hatte. 

„Es iſt außerdem gar nicht pafjend, das Du immer mit Deinem 
Bräutigam Did) außerhalb des Hauſes befindejt“, jchloß gewöhnlich 
die Tante, „Das fieht fremden Leuten gegenüber jehr leichtjinnig 
aus, wenn nicht noch jchlimmer.“ 

Alfhild antwortete nie auf diefe Vorwürfe; es war, als jpräche 
die Tante zu einem Stein. 

Sie gähnte, jtredte ſich und jagte, fie jet jchläfrig und zog die 
Bettdecke uber die Ohren. 

Am folgenden Morgen war jie früh auf, um dajjelbe herrliche 
Nichtsthun wieder zu beginnen. Ach, fie war jo glüdlich! Sie ver- 
jicherte ihrem Bräutigam, fie jei jehr zufrieden damit, daß die Tante 
jie jo viel jchelte; denn etwas Ungemach jolle man ja jtets im Leben 
haben und das Echelten des Abends jchien ihr eine Berechtigung zu 
geben, den ganzen ——— Tag recht glücklich zu ſein. 

„Das alte Weib“, murmelte Steen vor ſich hin — aber er durfte 
fid) auf jolche unhöfliche Weiſe nicht laut ausdrüden, jondern er jagte 
jtatt deſſen „jedenfalls wird es mir jchwer, ihr zu verzeihen, meinen 
Liebling auf ſolche Weije zu jchelten. Und wenn ich b. einmal auf 
der Treppe und an Deiner Thüre gehen höre, möchte id) aus meiner 
Klammer herausjtürzen und fie — fie auf meinen Arm nehmen“, 
verbejjerte er jich, als er Alfhilds etwas erjchredte Miene gewahrte, 
„und fie wieder hinabtragen.“ 

Im vorigen Sommer hatten fie ſich zum erſten Mal geſehen. Er 
hatte in der Nähe des Pfarrhofes ein Fiſcherdorf aufgeſucht, nachdem 
er in einem großen Badeorte, der auf der andern Seite des Fjordes 
lag und deſſen flatterhaftes Weſen ihn ermüdete, ſich aufgehalten 
hatte; denn theils war er in der That krank und bedurfte der Ruhe, 
und theils nährte er eine wenig liebenswürdige Verachtung für ſeine 
Mitmenſchen im allgemeinen und beſonders Mir junge Mädchen, die 
nach den Badeorten reifen, in der Hoffnung verheiratet zu werden. 
Er begab ſich aus dem Grunde nad) dem Fiſcherdorf, um in Frieden 
leben zu können und verbrachte jeine Tage in einem Segelboote. 

Zufälligerweije wurde er dort mit dem alten Paſtor befannt und 
fühlte jich durch dejien frommes und umpraktiiches Wejen, das etwas 
stindliches in jich barg und über das mancher vielleicht Lächeln und 
es dennoch Tieben mochte, angezogen. 

Eines Tages hatte er Gelegenheit Alfhild zu jehen. 

Schön war fie nicht — wie viel jchönere hatte er nicht ſchon 
gejehen! Es fehlte ihr an einer gewiljen Lebensweile und ebenjo 
wenig vermochte fie eine Konverſation zu Uhren Wenn andere jprachen, 
hörte ſie nur zu, wenn ſie nicht in irgend einer Edle mit einem andern 
jungen Mädchen ſaß und flüjterte und mitunter ein lautes Lachen er 
tönen ließ, das jo überlaut heiter war, daß die andern ihr Gejpräch 
unterbrachen und willen wollten, worüber ſie lachte. Aber dann er— 


Eine Hodyeit. 483 


röthete fie nur und ſchmunzelte wie ein richtiges Schulmädchen. Uns 
geachtet dejjen war Steen, bevor der Sommer zu Ende ging, darüber 
sur met gefommen, daß er diejes Kind liebe — ja, jte liebe in 
e, daß ihre Gegenliebe für ihn ein neues Leben bedeuten 
wiirde. 

Und dennoch fam er nicht dazu, offen um fie zu freien. Wie 
wäre es aud) möglich. geweien, von Liebe mit dieſem ſpielenden, 
lächelnden, jorglojen, Kleinen Mädchen zu jprechen? Mitunter glaubte 
er bemerken zu können, daß er ihr nicht gleichgiltig jei. Sie fonnte 
zuweilen zu ihm mit einem Bli voller verjchämter Bewunderung 
empor jehauen — aber fühlte er fich dann von diejem Bli erwärmt 
und verjuchte eine Annäherung, dann zog fie ſich zurüd, Er merkte, 
daß er ihr am beiten gefiel, wenn er ihr mit halb überlegener, halb 
jcherzender Höflichfeit begegnete, eine Höflichkeit, die er überhaupt im 
Umgange angenommen hatte; und dieje imponirte ihr jichtbar, aber 
jeine Liebe verjtand fie nicht. Und was war es aud) für eine Liebe, 
die er ihr bieten fonnte? Cine Liebe, die auf dem Ruin vieler 
— Hoffnungen, ſo vieler zerſtörter Ideale emporflammte: 
Lag nicht in der That ein unüberſteiglicher Abgrund zwiſchen einem 
ſolchen Mann, wie er, der das Leben kannte und an nichts glaubte, 
und dieſem unſchuldigen, naiven Kinde? Wäre es nicht beſſer, daß 
ſie mit dem lichthaarigen Hilfsprediger, der ſie mit ſchwärmeriſchen 
blauen Augen verfolgte, verheiratet würde? 

Er reiſte und ſuchte ſie zu vergeſſen. 

Aber bereits im Mai des folgenden Jahres kam er nach dem 
Fiſcherdorf zurück — die Luft dort hatte ihm ſo wohl gethan. Er 
wollte indee einen kurzen Bejuc im Pfarrhofe machen, es konnte 
dann immer recht interejjant fein, zu jehen, wie das Eleine Mädchen 
Nic) Pla habe. Wielleicht jei fie bereit3 mit dem Hilfsprediger 
verlobt. 

Was war e3 für ein heller Gegenjtand, der von der knotigen Birke 
oben am Berge hindurchichimmerte? Dort war ja ihr Lieblingsplag 
im vorigen Sommer gewejen. Der Baum bildete einen bequemen 
Nuheplag und dort ſaß ſie emporgefrochen mit den hoch gezogenen 
Fügen auf einem vorjpringenden Baumzweige ruhend, jo daß er die 
blaugejtreiften, jelbjt gejtridten Strümpfe und die etwas plumpen 
Schuhe jeben fonnte. Der Strohhut lag auf dem Boden; fie lehnte 
den Kopf gegen den Baumjtamm zurüd und ihr ganzes Geſicht badete 
ſich in der Sonne. Die Augen hielt fie geſchloſſen. 

‚ Er blieb ſtehen und blidte ſie an. Er ftand vor ihr mit ſtarkem 
Herzflopfen und bereit, auf die Kniee vor ihr zu fallen und die Kante 
ihres bunten baumwollenen Kleides zu küſſen. 

Die ganze Erjcheinung war ja eine volljtändige ländliche Idylle, 
und er — er der Held derjelben. Sie hatte feine Ahnung, daß er in 
die Gegend zurüdgefehrt war, und als jie das Rauſchen des trodenen 
Zaubes vom vorigen Jahre, das er mit dem Fuß berührte, vernahm, 
öffnete fie die Augen und war jo erichredt, daß fie laut zu jchreien 
anfing. Ohne daß einer von ihnen richtig wuhte, wie e3 zugegangen 
war, lag fie fait im nächjten Augenblide weinend und he nd in 
jeinen ‚Armen. | 

33* 


FA 





484 Eine Hochzeit. 


Der Winter und die Einjamfeit hatte fie entwidelt. Wie hatte 
ſie fich) nad) ihm gejehnt und von ihm geträumt! 

Er wollte, daß fie ihre Verlobung geheim halten jollten, dat er 
jeden Tag nach der alten Birke fommen und x dort treffen jollte. 
Er zitterte bei dem Gedanfen an den Verlobungsichmaus, ar Die 
Sratulationen und Bejuche. 

Doch dies konnte Alfhild nicht begreifen — ſie jehnte jich im 
Gegentheil danach), von ihrem Glück der ganzen Welt zu erzählen. 
Ihm heimlich im Walde zu begegnen — das jchien ihr juſt nicht recht. 
Was würde Tante Malla dazu — 

„Tante Malla! Begreifſt Du denn nicht, daß unſere Liebe eine 
Sache iſt, die niemand anders angeht als uns ſelbſt? Wozu brauchen 
wir ſie allen Tanten und Couſinen der Welt preiszugeben?“ 

Er konnte nicht verſtehen, daß fie, die ſonſt jo natürlich und naiv, 
dennoch jo fonventionell war, daß fie ne Liebe ohne den Stempel 
der Verlobung nicht berechtigt hielt. Aber fie war in dieſem Falle 
jehr bejtimmt und er mufte ji) unterwerfen. Infolge deiien blieb 
ihm nichts anderes übrig, als fie jo jchnell wie möglich aus dem 
Naterhauie zu führen. Er fand jeine Stellung als Bräutigam ebenjo 
lächerlich wie demüthigend und bejchloß, fie nicht länger zu tragen, 
wie es durchaus nothiwendig war — dies um jo mehr, als er unbe= 
friedigt mit dem halben Glück war, das feine Verlobung un ſchenkte. 
Er irrte ſich nicht in dem Glauben, daß er ihre Liebe beſaß und — 
dennoch fand er eine ſo ſonderbare Scheu bei ihr, die ſie veranlaßte, 
ſeine leidenſchaftliche Heftigkeit in ſeinen Liebkoſungen zurückzuſtoßen. 
Sie war ihm gegenüber noch etwas verſchämt, und er gefiel ihr am 
beſten, wenn er ſeinen ſtürmiſchen Liebkoſungen Feſſeln anlegte und 
ihr mit ruhiger, halb ritterlicher Zärtlichkeit begegnete. 

Vielleicht Lichte er ie noch mehr gerade wegen ihres keuſchen Ge— 
müths, und doch jehnte er ſich danad), ſie ganz zu bejiten, fie unvor— 
behalten ſich jeiner Liebe hingegeben zu ſehen. 

Er hatte es durchzuſetzen verjucht, daß ſie in aller Stille getraut 
werden und dann jofort nach jeinem eigenen Heim reifen jollten. Aber 
jeine Wünjche jcheiterten in diefem Fall an der unerjchütterlichen 
Jalsstarrigfett der weiblichen Mitglieder der Familie; ſelbſt der Pajtor 
Belle jid) in die Reihe der Oppoſition, aber fie fümpften vergebens 
gegen die Majorität. Eine — Hochzeit ſollte es werden, — 
die Verwandten der Braut wie des Bräutigams von nah und fern 
ſollten ſich zuſammenfinden. 

Steen verabſcheute tief dieſe Preisgebung der Liebe, wie er eine 
roße Hochzeit nannte und all das Reden über die Einrichtung der 
llama: irritirte ihn aufs höchſte. Er fühlte jich erbojt, ſowohl 
gegen die bereit3 angefommenen, wie die erwarteten Hochzeitsgäſte; er 
verglich fie mit Spionen, die das Gehermnig feines Herzens in ums 
verſchämter Weiſe erforjchen wollten, mit Einbruchsdieben, die in feine 
verborgene Schatfammer eindringen wollten. Er befand fich in emer 
jo aufgeregten Laune, daß Tante Malla fromm den lieben Gott bat, 
das arme Kind zu behüten, das einen jo heftigen Mann haben jolle, 

Da fam der dritte Sonntag des Aufgebots. In diejem Tage mußten 
die Verlobten in die Kirche gehen, das Aufgebot zu hören, was an 


Eine Hodyeit. 485 


den vorhergehenden Sonntagen nicht für paſſend erachtet wurde. 
Sie gingen Arm in Arm dahin, durften aber nicht nebeneinander fiten; 
er in der Banfreihe, wo die Männer jahen, fie links in der Frauen— 
abtheilung. 

Es war das erjte Mal, daß er — er wuhte nicht feit wie vielen 
Jahren — ſich wieder in der Kirche befand. Er wurde ganz verlegen, 
als Alfhild an der Kirchenthür ihn fragte, wo er jein Sefangbu 
habe. Gr beſaß feins, aber er that, als ob er in den Taſchen nod) 
fühle und murmelte einige Worte, als ob er es vergeſſen habe. 

Sie gab ihm das ihrige mit der Erklärung, daß fie fast alle 
Lieder auswendig fenne. Er war ärgerlich auf fich jelbit, wegen feiner 
niedrigen Lüge und um aus feiner unangenehmen Stimmung heraus: 
zufommen, jchlug er im Gejangbuche die Brauttrauung auf und be= 
gann zu lefen. O, wie war doch jeine Eleine Lüge, die er vorhin ge 
Iprochen, unbedeutend gegen die offizielle Lüge, die er im Begriff ſtand 
vor dem Altar eine Woche jpäter zur begehen! Ex jollte dann dort 
ftehen und im Namen Gottes des Vaters, des Sohnes ımd des heiligen 
Geiſtes getraut werden. Er, vor dem dieſe Namen leere Worte waren. 
Wephalb genügte nicht die Civiltrauung? Weßhalb wollte man Men— 
ſchen zwingen, jich in die Ehe hineinzulügen? Die Ehe, dieje heilige 
Inſtitution, von der er im Geſangbuch las, war ja nichts anderes als 
eine Profanirung gerade des Heiligen — denn das Heilige bejteht 
nicht in der äußern firchlichen Handlung, jondern in dem Bunde 
zwijchen zwei Wejen, die einander lieben. Dieje jeine zartejten, hehriten 
Gefühle wolle man unfeujch zum Bejchauer einer gleichgiltigen, neu: 
gierigen Verfammlung von Menjchen preisgeben! Und dies nennt man 
moralisch! Dieſe Lüge und dieje Unfittlichkeit! 

„O, ich würde viel moraliicher handeln, wenn ich ohne jede Gere- 
monie ganz einfach) einen Wagen in der Dämmerung vorfahren ließe 
und dann mit meinem Liebling davon reijte, irgend wohin nad) einem 
verborgenen Winfel, wohin feine neugierigen Buͤcke oder unkeuſche Ge- 
Danfen uns zu folgen vermögen.“ 

Er hörte fein Wort von der Predigt. Der alte Geiftliche hatte 
eine eigenthümlich jingende und eintönige Werje zu predigen. Es war 
erdrücdend hei in der Kirche und außerdem ein unangenehmer Geruch 
von den Bauern. Steen rühlte fich jo übel zu Muthe, daß er große 
Luſt hatte, jich zu erheben und die Kirche zu verlajjen. Aber er 
wagte es nicht aus Furcht, Alfhild zu verlegen. Als alle die andern 
ſich andächtig während der Gebete niederbeugten, jaß er emporgerichtet 
da und jah umher — aber er bemerkte, day Alfhild ihn heimlich be= 
obachtete und ihm einen betrübten Blick zumwarf. 

Und wenn hier nothwendigerweije gelogen werden muß, weßhalb 
Sollte er e8 nicht auch thun können. Es jet ja in jedem Falle feine 
größere Andacht in ihrem Gebet als in dem jeinigen, jchlimm genug, 
daß er von dem fonventionellen Anjtand fich beherrichen lajjen müßte, 
Er war fait böje auf fie, als er während des VBaterunjers den Kopf 
herab beugte. 

Endlicd) war die Predigt zu Ende und der Geijtliche begann: 

„Ein chriftlicher Ehebund wird heute verkündet.” — In dieſem 
Augenblid war es wohl durchaus geboten, eine ernjte und andächtige 


486 Eine Hodyeit. 


Miene anzunehmen. Er warf einen Blid auf die entgegengejeßte 
Banf und jah Tante Malla weinen und Alfhilds Hände drüden. 
Letztere beugte jich tief hinab und hielt das Taſchentuch vor die Augen. 
Weinte jie oder betete jie? Sollte man vielleicht? — er beobachtete 
jie mit einer gewvijjen Unruhe. Welche Haltung war wohl eigentlich die 
pafjendjte bei diejer Gelegenheit? Selbjt hatte er durchaus fein Ge- 
rühl für die Bedeutung des Augenblids — er war nur erregt darüber, 
daß ein Bauer, der neben ihm 9— ſo übel riechende Wichſe auf ſeinen 
Stiefeln hatte. 

Dann blickte Alfhild zur Hälfte empor, obgleich der Kopf noch 
immer etwas gebeugt war. Er faßte einen Blick aus ihren ine 
auf, der ihn wie ein erwärmender Strahl durchriefelte und jeine Miß— 
jtimmung jofort verjagte. 

Sie lächelte! ja, Tie lachte geradezu. Ihre Augen erglänzten voll 
Schalkhaftigfeit und fie hielt das Tajchentucd, vor dem Mund, um das 
Vibriren dejjelben zu verbergen. 

„Bott jegne ſie für Diele Aeußerung der ungefünjtelten Kindheit! 
Keine Spur ei aa eg ernjter Stimmung, nur das rein findliche 
Gefühl, daß es komiſch jei, feinen Namen bet einer jolchen feierlichen 
Gelegenheit in der Kirche genannt zu hören.“ 

Dieje Aeußerung ihrer heiteren Laune erfchien ihm als das beite 
des ganzen Gottesdienites; das einzig Wahre und Erfrijchende in dem 
Dunſt und der Unwahrheit, die ſein Sfeptizismus in allen religiöfen 

ormen zu entdeden glaubte. Er hätte quer über den Kirchengang 
pringen und fie umarmen mögen. 

„Ach, werhalb it unjere Hochzeit nicht Schon heute — weßhalb 
dürfen wir nicht jchon heute Abend nad) unjerem Heim fahren?“ 
flüjterte er ihr zu, als ſie aus der Kirche nach Haufe gingen. 

* — möchte ich auch wünſchen“, antwortete ſie in natürlichſter 
eiſe. 

„Sit es wahr, Alfhild? Willſt Du ſchon Heute die meinige wer— 
den?“ fragte er mit ziemlich erregter Stimme. 

„sa, gewiß!" antwortete jie verwundert. „Weßhalb jollte ich das 
wohl nicht wollen?“ 

Als fie nad) Haufe gefommen waren, ging er jofort in das Zim— 
mer des Paſtors und hatte mit dieſem eine lange Unterredung, Er 
jah jo froh und glücklich aus, al3 er wieder herausfam, daß Alfhild 
ihn fragte, worüber fie gejprochen hätten. 

„Ueber unjere Hochzeit natürlicherweije“, antwortete er. 

„ber, lieber Steen, Du wirſt verzeihen, ich glaube nicht, daß die 
ochzeit bereits am Sonnabend jtattfinden kann, wie ich verſprach“, 
el die Tante Malla ein. „Wenn Du nichts dagegen haft, wünjche 

ich, — dieſelbe bis zum Dienſtag der nächſten Woche aufgeſchoben 
würde.“ 

„Nein, was ſoll ich wohl dagegen haben?“ antwortete er mit 
einer Bereitwilligkeit, welche die Tante nicht erwartet hatte. 

Mehrere der Nachbarn, die heute in der Kirche geweſen waren und 
* eine Gratulationsviſite im Pfarrhofe abſtatteten, wurden einge— 
laden, an einem frühen, einfachen Mittagsmahle theilzunehmen. Steen 
war ungewöhnlich zuvorfommend und liebenswürdig und acceptirte, 


Eine Hochzeit. 487 


ohne eine Grimaſſe oder Einwendung zu machen, die verjchiedenen 
Neden und Toaſte. 

Nachdem der Kaffee jervirt war, reijten die Fremden, und Alfhild 
merfte jchon, daß Steen und ihr Vater bedeutungsvolle Blicke aus: 
taujchten. Sie wunderte ſich jujt darüber, was }te für Geheimnifje 
miteinander haben könnten, al3 der alte Kirchenhirte in einem jonderbar 
feierlichen Tone jeine Tochter bat, in ihr Zimmer zu gehen und ihr 
Brautkleid anzuziehen — er wolle jehen, wie je jid) darin ausnehme. 
Tante Malla nahm diefen Vorjchlag jehr übel auf. — Das jei doch 
auch eine. jonderbare Idee und Steen dürfe jedenfalls nicht ammwejend 
jein, denn die Braut pflege ſich niemals in ihrer Brauttracht früher 
als am Hochzeitätage zu zeigen. Das jei geradezu umpajjend. 

Unpaſſend? — Das verstand Alfhild nicht. 

Bald darauf kam jie in dem hochhalfigen, weiten Atlaskleide und 
mit dem Schleier über das Haar geworfen herein, aber ohne Krone 
und ohne Kranz. Sie glich vielmehr einer Konfirmandin als einer 
Braut — jo kindlich unbewußt, die Augen von einem gewijjen from 
men Glück jtrahlend. Ahnte fie vielleicht, was jegt bevoritand? Steen 
glaubte es fait, und er freute fich, jie jo froh, jo ruhig zu gewahren. 

Der Paſtor fühte fie auf die Stirn und wandte fi) dann an 
jeine Schweiter: 

„Bitte unjere Leute, einzutreten“, jagte er. 

„Aber Alfhild muß ſich doch erſt umkleiden!“ entgegnete die 
Schweſter, welche vermeinte, man wolle das Abendgebet verrichten. 

„Weßhalb das?“ fiel er ein. „Thu' nur, um was ich Dich bitte, 
und ſieh zu, daß alle ſich verſammeln.“ 

Tante Malla mußte gehorchen und bald waren alle Bewohner 
des Pfarrhofes im Saale verjammelt. Alfhild jtand noch immer in 
der Mitte des Zimmers mit Spannung auf das wartend, was fommen 
ſollte. 

Steen trat an ihre Seite und drückte ihr die Hand. Der Geiſt— 
liche ſchien bewegt und ſchnäuzte ſich zu wiederholten Malen und 
trocknete ſeine Brille. Nach einem Paar leiſen „um, hm“ begann er, 
fid) an die beiden jungen Leute wendend: | 

„Meine Kinder! Der chriftliche Ehebund, den Ihr einzugehen 
gedenft, ijt heute zum dritten Male vor der Gemeinde verkündet wor: 
den. Mit gerührtem Herzen habt Ihr jelbjt es mit angehört und 
Ihr jehnet Euch ganz natürlich nad) der Stunde, die äußerlich die 
Gelübde, die Ihr einander gegeben habt, mit dem Segen der Kirche 
bejiegeln joll. Weßhalb danut zögern? Kinder, wollt Ihr ſchon heute 
das heiline Ehegelöbnig ablegen? Antwortet mir!“ 

Alfhild jtand mit gejenftem Haupte da. — Ste jah empor und 
begegnete Steens Blick und gleichzeitig antiworteten beide: 


Tante Malla war nahe daran, ohnmächtig zu werden; jie behielt 
jedoch jo viel Faſſung, um ſich zu überzeugen, daß ihr Bruder nicht 
erzte, was er übrigens nie zu thun pflegte, und da er wenigjtens 
E 


einbar im Gebraud) aller jeiner Sinne war. EREANEIRIEN, 
Der Paſtor verſchwand nun auf einen Augenblid in fein Zimmer, 
fam bald darauf mit dem geijtlichen Gewande und Kragen befleidet 


488 Eine Hodyeit. 


herein, in den Händen die der Kirche gehörige jchwere Goldfrone, 
welche von den Bauernbräuten getragen zu werden pflegt, mit jich 
führend. Er ſetzte dieſe feterlih auf Alfhilds Haupt und gab feiner 
Schweiter ein Zeichen, heranzutreten und jie zu befejtigen. Tante 
Malla hatte manche Braut bereits gejchmücdt, aber jie war fait be- 
wußtlos vor Gemüthsbewegung, als fie num die Krone auf Alfhilds 
Haupt befeitigte. Sie konnte noch immer nicht vecht begreifen, ob das 
ganze ein Traum oder ein unpajjender Scherz jet. 

E3 war überhaupt nicht beabjichtigt worden, day Alfhild mit der 
goldenen Krone getraut werden jollte, da man fie viel zu jchiwer für 
fie hielt; aber die Myrtenkrone war natürlicherweije noch nicht ge— 
bunden. 

Da jtand ſie nun mit dem uralten Zeichen der Jungfräulichkeit 
über der Stirn. Der Kopf neigte fich ein wenig unter der Schwere 
der Krone; jie jah aus wie ein Eleines Mädchen, das jich zum Scherz 
zu einer Märchenprinzejjin verkleidet hatte. Sie lächelte auch halb 
ichelmisch, halb verlegen darüber, dieſen Schmud zu tragen, den jie 
fo oft mit Ehrfurcht betrachtet hatte. Dies jei ja noch komischer, als 
ihren eigenen Namen in der Kirche verkündet zu hören. 

Steen dagegen jchien weit mehr von der Bedeutung des Augen: 
blids ergriffen. Er war bla und drückte mit großer Innigfeit Ihre 
Hand, während der alte Water mit einem entjeglich falſchen Pathos, 
der doc) von einem wahren und innigen Gefühl durchbebt war, in 
weinendem und jingendem Ton das Trauformular vorlad. Der 
Schweiz perlte von der Stirn des guten alten Mannes hervor und 
die Thränen liefen auf beiden Zeiten der Naſe herab. Er fonnte nie 
ein Baar trauen oder überhaupt eine kirchliche Handlung verrichten, 
ohne zu weinen; aber jet war er nahe daran, den ganzen Aft vor 
Gemüthsbewegung zu unterbrechen. Man hörte gar bald Tante 
Mallas Schluchzen Ti) mit dem jeinigen vermijchen. Die Yeute 
wurden von der allgemeinen Rührung angeſteckt und begannen eben- 
falls zu weinen. — Alfhild blidte mit VBerwunderung um ſich und 
meinte, der ganze Akt jet jo traurig, wie eine Beerdigung. Ihre 
Augen behielten während der ganzen Zeit ihren Haren und ſonnigen 
Ausdruck und dafjelbe jcherzharte Lächeln verblieb während der Hand- 
lung auf ihren Lippen. Sie war noch die Märchenprinzeilin. — Es 
war jo wunderbar dort unter der Schwere der goldenen Krone gebeugt 
zu jtehen und zu wijjen, daß nun Hochzeit im Haufe — eine Hochzeit, 
hervorgerufen ebenjo jchnell, wie in einem Traum — und daß ſie — 
fie, Althild, die Braut je. Mit welcher Ehrfurcht hatte fie nicht jtets 
die Bräute betrachtet, die jie in der Kirche mit der Krone auf der 
Stirne zum Altar jchreiten ſah, um von ihrem Vater getraut zu wer: 
den — und num war fie es jelbit die jelbit die Braut war. 

„Erinnert Ihr Euch Tegners Abendmahlskinder?“ fragte der alte 
Paſtor. „Erinnert Ihr Euch, wie der ehrwürdige Lehrer nahe dem 
Piingitfejte, dem Tage des Entzüdens, die geweihte Stimmung der 
jungen tonfirmanden benußte, ſie eine Woche früher an den Tijch des Herrn 
treten ließ, als beabjichtigt war? Auch Ihr fcheint mir heute in der 
richtigen Stimmung für Euer bedeutungsvolles Vorhaben zu fein. 
Möge Gottes Segen Eud) jest und immerdar folgen.“ 





Eine Hodyeit. 489 


* Er legte ſeine Hände auf ihre Häupter und küßte und umarmte 
yeide. 

„Sch bin überzeugt, daß Deine Mutter meine Handlungsweije 
billigen wird, wenn auch die Welt dieſe etwas jonderbar finden dürfte“, 
ſagte er zu Alifhüd. 

Es war ſein frommer Glaube, daß ſeine früh verſtorbene Frau 
alle ſeine Handlungen mit reger irdiſcher Theilnahme und Intereſſe 
verfolg e. 

Tante Malla hatte während ber legten halben Stunde alle Arten 
Einnesbewegung, Schred, Zorn, © 3 fei 
‚etwas unpajjendes, etivas, Das Ihre ganze jungfräuliche Berfchämtheit 
in dieſer ganzen Anordnung verletze, dieſe Eile, dieſe Ueberrumpelung! 

Daß Alfhild ſo ohne weiteres darauf eingehen fonnte, das war 
ihr unbegreiflich. Und gar des Abends und feine Brautfammer in 
Ordnung: 

„Soldje Ceremonien jind durchaus nicht nöthig“, fiel Steen leb— 
haft ein. „Wir reifen morgen früh ſchon nach Haufe.“ 

„Morgen früh?“ wiederholte Tante Malla, die fich mit beiden 
Händen um die Schläfe hielt, um ihr Gehirn vor Irrſinn zu bewahren. 

„Sch, jage Euch, Ihr macht mich ganz wirt im Kopfe. Alfhilds 
Koffer | jind ja noch gar nicht gepadt.“ 

„Das thut nichts“, jagte Steen mit einem unglaublichen Leicht: 
ſinn. „Wurf nur alles über Kopf hinein, wir werden's ſchon ordnen, 
wenn wir ſpäter nach Hauſe gekommen ſind. Nimm nun Dein Braut 
kleid ab“, ſagte er zu Alfhild, „dann wollen wir zuſammen ausgehen.“ 

„Aber, lieber Steen, Du mußt mir verzeihen, jo etwas babe ich 
denn doch niemals gehört!“ rief die Tante Malla. „Zerd Ihr denn 
noc) nicht genug während des Sommers im Walde umbergelaufen? 
Wollt Ihr denn am Hochzeitsabend jelbit — — —. sch verfichere 
Dir, es iſt nicht einmal pafjend! Eine Braut muß doc wohl ein 
wenig an ihre Würde denken.” 

„Sit es nicht pafjend für eine rau, mit ihrem Mann auszus 
gehen?“ 

„Man jagt nicht „rau“ am Hochzeitstage*, berichtigte die Tante. 
„Dean joll nicht jofort ins alltägliche übergehen. Und eine Braut 
‚pflegt in der That nicht jofort nach der Trauung in den Wald hinein 
zu laufen und die Berge zu erflettern.“ 

„Papa“, jagte Alfhild jchmeichelnd zum Pastor, „Darf ich nicht 
mit Steen ausgehen? Nur eine kurze Zeit.“ 

„Gewiß, geht nur, meine Kinder“, jagte der Pastor halb abwejend. 
Er hatte kein Wort von den Einwendungen jeiner Schweſter gehört. 

Er wünjchte ihnen eine gute Nacht, bevor ſie gingen. Er ging 
in jein Zimmer, um in quter Zeit, wie er zu thun pflegte, ſich zu 
Bett zu legen. Alles war wie an einem gewöhnlichen Abend und 
Steen beglüdwünjchte ſich über ſeine Kriegsliſt, die ihn von allen 
Geremonien, die er verabjcheute, befreit hatte. 

Bald ging das junge Paar Arm in Arm auf einem Waldivege 
dem Strande zu. 

Alfhild war heiter und froh wie ein Kind, Doch Steens tiefer 
Ernſt wunderte jie. 





4% Eine Hochzeit. 


„Weißt Du, Alfhild, was das jagen will, daß Du meine Frau 
biſt?“ fragte er zu wiederholten Malen. 

„Nein!“ — Sie fühlte durchaus nicht, daß etwas in ihrem Leben 
verändert jei. Sie war die Seinige geitern eben jo gut, wie fie es 
heute war. 

„Während ich die jchwere Krone auf dem Kopfe trug, meinte 
ich zwar, daß es ein wenig feierlich jei und dann die Gebete und der 
Segen und alles, was dazu gehörte. Aber jegt, wo alles den andern 
Tagen gleicht und ich mein gewöhnliches Kleid anhabe, begreife ich 
nicht, was für ein Unterjchied zwiſchen gejtern und heute jein jollte. 
Sa, daß wir zu jo jpäter Stunde ausgehen dürfen — das iſt wahr. 
Ach, wie jchön iſt das!“ 

Die ganze Herrlichkeit der Sommernadt. Ein wenig Roth und 
Gelb noch tief am Rande des Wafjers — als Reflex einiger Wolfen, 
ein wenig Violett über den fern gelegenen Bergen — jonit wenig 

arbenjpiel — die lichten Birken und die dunfeln sichten unter- 
chieden Ir nicht jo jehr von einander in diefer Beleuchtung — alles 
jo ruhig, jo durchjichtig Elar. Es war wie ein Reich der Geiiter in 
der jchönen indischen Sage, wo alle Gegenjtände den gewöhnlichen 
irdijchen glichen, aber wo weder Bäume noch Menjchen Schatten 
warfen. | 

„Die Natur heute Abend gleicht meiner Frau“, jagte Steen, „jo 
klar und rein und leidenjchaftslos.“ 

„Wie fann die Natur anders als leidenjchaftslos ſein?“ fragte 
Alfhild halb lachend, Halb von jeinem Ernit ergriffen. 

„Und dennoch) liegt etwas Leidenschaftliches im Sonnenjchein, dünkt 
mich. Die tiefen Schatten und die jcharfen Lichteffekte, — die brennende 
Glut, welche jo plöglic) das ganze Gewächsleben aus dem Schnee 
und der jchwarzen Erde hervorruft und die Bäche, welche braujen und 
die Eisjtüde, welche ſchmelzen. — Alles iſt jo gewaltig und rücjichte- 
(08 und gleichzeitig dennoch jo jubelnd. Wann wirt Du veritehen, 
daß gerade das Wejen der Liebe ebenjo iſt?“ fügte er hinzu und zog 
fie in jeine Arme. Er hielt jie dicht an ſich geſchloſſen und küßte jie 
wiederholt mit wachjender Lerdenjchaftlichkeit, bis er jie erbleichen ſah 
und fie ſich mit einer gewaltjamen Bewegung aus jeinen Armen los— 
riß. Sie ſchlug die Hände vor das Geficht und brach in Thränen aus. 

Er war faſt geneigt, auch zu weinen — er fühlte jich bitter in 
ihr getäujcht. Sie war noch ein Kind, fie liebte ihn nicht. — Sie 
veritand nicht, was Liebe tft, und dennoch hatte fie verfprochen, feine 
Frau zu werden. 

„Das war nicht recht von Dir“, jchluchzte fie, „Du weißt, daß ich 
Dich nie leiden mochte, wenn Du jo leidenschaftlich) warjt. — Ic) 
—* ſtets ſo froh zu ſein, wenn Tante Malla hereinkam und uns 
törte.“ 

„Aber, meine Theure, erinnere Dich doch, daß Du jetzt meine 
Frau biſt?“ 

„Und was folgt daraus?“ rief ſie. „Wie kann das überhaupt 
eine Aenderung herbeiführen? — das verſtehe ich nicht.“ 

Verſtehſt Du das nicht? Heute Vormittag würdeft Du es nicht 
für Recht angejehen haben, wenn Du mit mir allein nad) unjerm 





Eine Hodzeit. 491 


im gereijt wäreſt — Du würdeſt jelbjt nicht darauf eingegangen 
ein, e8 zu thun, aber morgen folgit Du mir bereitwillig.“ 

„Das iſt eine andere Sache. Nach Deinem Heim zu reifen ift ja 
nur eine äußere Handlung, aber in allem, was Dich und mic) betrift, 
vermag die Trauung feine Aenderung zu machen. Und was nicht recht iſt, 
das wird auch nicht vecht, weil wir getraut find, das jolljt Du mich 
niemals glauben machen. Wäre dies der Fall, jo würde die Trau- 
ung ja feine heilige Handlung jein, wie fie e8 iſt; — fie wäre dann 
eine jündhafte, fchlechte Handlung, wenn fie uns zwingen wollte, zu 
dulden, was wir nicht für recht halten.“ 

„Nicht recht?“ wiederholte Steen, verzweifelt über dieje Logif. 
„Aber, meine Geliebte, Du verjtehit durchaus nicht. Sollte es nicht 
recht jein, jeine fleine Frau zu füjfen und zu umarmen und ihr zu 
zeigen, wie innig und unausfprechlich man fie liebt?“ 

„Das kann man ohmedies thun, aber nicht auf diefe Weile. Du 
machit mir Angit — Du machſt mich krank — Du bringjt mich dahin, 
daß ich mich ſchäme. — Es iſt mir, als ob Du mir etwas böjes thun 
wolleft — und ich halte gar nichts — nicht ein wenig von Dir, wenn 
Du jo gegen mich biſt — —“ 

eine nicht“, jagte er mit plößlicher Bitterfeit. „Du haft recht 
— ih habe es mehrmals gefühlt — die Liebe, die ic) Dir bieten 
fann, ijt nicht von der Art, die ein unjchuldiges Kind, wie Du bift, 
ein Recht zu fordern hat. Ich fomme umwillfürlich zu meiner alten 
Anficht zurid — Du hättejt Dich) mit dem blonden, blauäugiaen Hilfs— 

rediger verheiraten ſollen. Die Seraphim würden ſich über eine 
Polche Bereinigung gefreut haben, aber — jett fürchte ich gar jehr, 
daß die Engel über uns weinen.“ 

Sie befanden fich auf dem Rückwege, indem fie fich in einem Ab— 
itande von einander hielten; plößlich jtedte ſie vorfichtig ihren Arm 
unter den jeinigen und blidte unruhig im jein Geficht. 

„Bilt Du böje auf mich?“ fragte jie janft. 

Er liebfojte ein wenig nervös die Hand, welche auf jeinem Arm 
lag, ſchob fie dann zurüd und wollte etwas jagen, aber er bedacdhte 
fic und begann jchnell zu gehen. 

Aber dieje jcheinbare Kälte vermochte jie nicht zu ertragen. Sie 
all wieder jeinen Arm, legte ihre Wange an einen Bart und 

ülterte: 
" „Slaubjt Du vielleicht, daß ich Dich nicht aufrichtig Liebe?“ 

Sie bot ihm ihre Lippen dar und er küßte fie — leichthin — 
De Leidenschaft, wie jie es haben wollte Sie jegten dann ihren 

g in der zunehmenden Dämmerung jchweigend fort. Er war in 
Gedanken verjunfen. 

Alfhild war jchlaftrunfen wie ein Kind, und bald hing fie ſchwer 
an feinem Arm und ging langjam, oft über Steine und Baumwurzeln 
itolpernd; die Augenlider a ſich fajt; fie war jehr blaß, was 
* wenn ſie ſchläfrig war. 


492 Eine Hochzeit. 


vor Unruhe oder Freude oder Kummer den natürlichen, gefunden 
Kinderichlaf fern zu halten vermag! Wie liebte er fie gerade jo, wie 
fie da halb jchlafend an jenem Arme hing! Ein Gefühl beſchützender 
Zärtlichfeit Löfte auf eine wohlthätige Weife jeine frühere Leiden— 
jchaftlichfeit ab. 

Aber wie follte er fie nach Haufe jchaffen, da fie nun ſo ermüdet 
au jein fchien, daß jie fait bei jedem Schritt zu fallen geneigt war? 
Sie auf feinen Armen tragen? Nun ja, in den Romanen pflegt Dies 
außerordentlich leicht zu gejchehen, aber in der Wirklichkeit! Er 
lächelte vor jich hin, als er daran dachte, wie müde jeine Arme zu fein 
pflegten, wenn er genöthigt war, irgend einen Gegenitand zu tragen. 
Doch ein Zufall verjagte plöglich ihren Schlaf. Ste gingen auf einem 
Wege zwijchen Feldern; er jah ein Paar Kühe in dem Roggen her- 
vorichimmern. Er richtete ihre Aufmerkſamkeit darauf und plöglich 
erwachte das praktische Landmädchen in ihr und unter dem Auf: 
„Papas bejtes NRoggenfeld, das iſt gewiß die wilde Bläſſe!“ ergriff ſie 
jchnell eine Stange, die fie am Wege fand, war mit einem Sprunge 
über den Graben und glitt vorjichtig zwijchen dem Roggen dahin, bıs 
fie die beiden Berbrecher erreichte. 

Steen eilte ihr nicht nad), um ihr zu helfen. — — Er blieb auf 
dem Wege jtehen und jah zu, überzeugt, dal er, furzjichtig wie er war, 
mehr Schaden als Nußen anrichten würde, wenn er fich ebenfalls auf 
den Ader begeben wollte. 

Bald hatte Alfhild die aufrühreriichen Kühe durch ein herabge- 
fallenes Gatter und in den Wald Hineingetrieben. — Jetzt jtand Tie 
und arbeitete daran, das Gatter wieder in Stand zu jeßen. Da aber 
Die Latten Schwer und ein wenig chief waren, gelang es ihr nicht, fie 
in die betreffenden Löcher hineinzubringen. 

„Aber, Steen, wo bleibjt Du?“ rief fie fröhlichen Sinnes über 
das Noggenfeld hinweg. „Da jtehjt Du und ſiehſt ruhig zu und 
kommſt nicht mir zu belfen!“ 

Steen war in Betrachtungen darüber verjunfen, wie ſchön Die 
heil gefleidete Gejtalt mit dem großen Strohhut jich gegen den Wald 
und den leicht verichleierten Nachthimmel abzeichnete. Er machte nun 
einen wenig glüclichen Sprung über den Graben, fiel auf die Naje 
und verlor ſein Pincenez. Zu jeinem großen Glüd hatte er noch ein 
anderes in der Taſche. — Er blieb jtehen, Fich daſſelbe auf die Naſe 
zu jeßen und Fletterte dann vorjichtig neben dem Graben ber, bis er 
das Gatter erreichte, wo Alfhild das Commando übernahm und ibm 
befahl, das eine Ende der Stange zu nehmen und jie in das betreffende 
Loc) hineinzujchteben. Steen benahm ich nicht jonderlich praftiich bei 
diefer Gelegenheit, und Alfhild lachte über ihn jo herzlich und über- 
laut, daß die ganze jchlafende Natur bei diejer plöglichen Unterbrehung 
in schweigender Nacht zu erwachen jchien. Endlich) war das Gatter 
wieder in Stand gejegt und Alfhild befam nun den Einfall, daß fie, 
jtatt den langen, Frummen Landweg zu verfolgen, einen Richtweg durch 
den Wald nehmen jollen. 

„Im finjtern Walde!“ wandte Steen ein, bewußt der Unmöglich- 
feit für ihn, im Dunkeln fich zurecht zu finden. 


Eine Hochzeit. 493 


„Ach, wie fannjt Du nur von Dunkelheit in einer fo herrlichen 
Sommernacht reden! Komm nur, ich finde den Weg.“ 

„Jetzt war fie weder jchläfrig, noch müde. Stolpernd, Eletternd, 
bald hüpfend, bald Friechend arbeiteten fie ſich durch den dunfeln, 
engen und jteinigen Walditeg dahin. Die Anitrengung, vorwärts zu 
gelangen, hatte ihn ganz aus jeiner erotijchen Stimmung geriffen und 
ihn von jeinen bejchüßenden Gedanken befreit. Sie half fich in der 
Ihat jo prächtig; er beobachtete, genau ihren Fußſpuren jo dicht wie 
möglich zu folgen, um nicht den Weg zu verlieren, 

Aber als fie glücklich und wohl aus dem Walde heraus gefommen 
waren und wieder neben einander gingen, jchlang Alfhild plöglich den 
einen Arm um jeinen Hals. 

„ech, wie iſt es doc) jo herrlich, an) dieſe Weiſe mit Dir zu 
gehen!“ jagte jie. „Wie manches Mal habe ic) gewünscht, mit Dir 
allein an einem jolchen jchönen Abend ausgehen zu dürfen, aber das 
durfte ich der Tante wegen nicht wagen. Sit es nicht herrlich, dat 
wir num zufammen gehen können, jo lange wir wollen; niemand jißt 
auf und wartet auf uns?“ 

Als jie über den Hof daheim gingen, jah ſie, day doch noch Licht 
in dem Zimmer der Tante brannte, 

„O, ich konnte es mir fchon denken, daß die Tante nicht zu Bette 
gehen — wenn ich mich draußen befinde. Wie viel iſt die Uhr?“ 

Zwölf.“ 

„Zwölf? Aber, Steen, was wird die Tante jagen?“ 

„Daß Du mit Deinem Mann ausgingit.“ 

„sa, aber es ijt doch komiſch — wirſt Du mir einräumen Es 
kann gar nicht in meinen Kopf kommen, daß jeit gejtern irgend 
etwas verändert tjt, und doch befam ich gejtern Abend jo viel Schelte 
von der Tante, da wir zur jelben Zeit die Treppe hinauf gingen 
und im Dunkeln gute Nacht jagten.“ 

Die Hausthür war gejchloften und die Tante fam ſelbſt zu öffnen. 

„Liebe Tante — verzeih!“ jagte Alfhild und warf fich jchmeichelnd 
in ihre Arme. Cie hatte fichtbar Angjt vor Schelte. 

„ber weßhalb brauchte auch die Tante auf ung zu warten?“ 
jagte Steen in einem Tone, der Feine bejondere Dankbarkeit für dieje 
Aufmerkiamfeit auszudrüden jchien. 

„Slaubt Ihr, daß ich es wagte, bei offenen Thüren zu ſchlafen?“ 
antwortete die Tante; „und außerdem will ich) Alfhild beim Aus— 
Eleiden helfen.“ 

„Weßhalb das?“ fragte Alfhild jehr verwundert. Sie hatte in 
der That bisher feine Hilfe beim Auskleiden gehabt, jo weit jie ſich zu 
erinnern vermochte; wozu jollte es heute Abend nöthig fein. 

„Die ee wirden Dir ſonſt geholfen haben, aber da 
Ihr über Hals und Kopf getraut worden jeid, jind feine Braut 
jungfern da, alfo — — —“ 

„ber, liebe Tante, ich habe ja das Brautkleid nicht mehr an“, 
wandte Alfhild ein, „und zu dem alltäglichen Kleide brauch ich dod) 
wahrlid) feine Hilfe. Gute Nacht, liebe Tante! Wede mich um Him— 
mels willen morgen recht früh, damit wir den Zug nicht verjäumen.” 

Sie fühte die Tante flüchtig und eilte jehr Schnell im Finſtern 


J D 


494 Eine Hochzeit. 


die Treppe hinauf. Steen folgte ihr und hörte, wie jie jonderbar 
unterdrüdte Laute hervorftieß, deren Bedeutung er erjt begriff, als fie 
oben angelangt waren und fie das unterdrücdte Lachen losbrechen ließ 

„Das hat die Tante nur gethan, damit wir auch heute Abend 
nicht zujammen die Treppe hinauf gehen jollten“, flüfterte fie „und 
dann wollte jie natürlicherweije zum legten Male die Gelegenheit er- 
greifen, mich ein wenig auszujchelten. Denke nur, Steen, wie einſam 
und leer es der armen Tante nun im Haufe fein wird.“ 

Aber als fie die Thür zu ihrem Zimmer öffnete, ſtieß fie einen 
Auf der — aus. 

„Aber ſieh doch, komm her! Da kannſt Du ſehen, die Tante iſt 
doc) gut!” ER 

* Lichter waren im Zimmer angezündet, das mit Blumen 
geſchmückt war. Ein weiß bedeckter —— mit vergoldetem Spiegel 
und ein großes Bett mit bunter, ſeidener Dede waren aus dem beiten 
— — hereingebracht, das der Biſchof während ſeiner letzten 

iſitation bewohnt hatte, und beider Koffer ſtanden fertig gepackt. 

„Auf ſolche Weiſe wird man gefeiert und bedient, wenn man 
„rau“ geworden ift“, fügte jie lachend Hinzu. „Aber nun werde ich 
Dir nad) Deinem Zimmer leuchten. Ich bin ia ob die Tante 
auch feine Möbel ın das Deinige bringen ließ. Aber Steen — ad), 
Du gehit Deiner Wege, —* mir * Nacht zu ſagen?“ 

Steen hatte ſich wirklich beeilt, aus ihrem Zimmer zu kommen, 
ohne ein Wort zu ſagen. Sie trat nun mit dem Licht in der Hand 
auf den Boden hinaus, um ihm zu leuchten. 

„Ach, Du willſt mir lieber hier draußen wie gewöhnlich gute 
Nacht Open. Aber heute Abend hätteft Du gern in mein Zimmer 
fommen fünnen, wenn Du wollteft.“ 

Er umarmte fie jchnell und jchritt über den dunfeln Boden nad 
feinem Zimmer, das dem ihrigen am andern Ende gegenüber lag. 

Als er an jeine Thür kam, kehrte er ſich noch einmal um und 
nicdte ihr zu. Sie jtand dort in der halb geöffneten Thür ihrer feftlich 
geſchmückten, Heinen, jungfräulichen Kammer. Sie jah jo findlih un- 
Ihuldig — jo ſüß und einnehmend aus mit den herabgefallenen Flech— 
ten und den jchlaftrunfenen Augen, die fie ein wenig vor dem Licht, 
das fie in der Hand hielt, bejchattete. 

Und jie war die Seine — die Seine! Nein, noch nicht ganz 
die Seine. Es war nicht der Buchſtabe des Trauungsformulars, 
jondern der Geiſt der Liebe, der ihre Ehe zu einer lebendigen Wahr: 
heit machen jollte. 


* ——— 7 


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—&&&GGIOOOCOCOCS LLLEIIIEILIIIIT 

—— Te TS a ——— TEE TE TE 23 


Frankreich im Lichte feiner Siteratur. 
Kritiihe Ejjays von Charles Fuiter. 
Autorifirte Ueberjegung von Ewald Paul. 
IV. 
— Der Peſſimismus und Paul Sourget. 


IEZERT, an kann es nicht leugnen, unſere Zeit ift eine traurige 
ei E ( So) und die, die jie jchildern, find traurig, Der Glaube 







it untergegangen, und nicht nur der moralijche Glaube, 
ſondern auch das intellektuelle Vertrauen, das heftiger 
angegriffen und jpäter vernichtet wurde als das mora- 
liche Vertrauen. Durch alle zeitgenöfjischen Werke, 
von den genauen Ausführungen des Romans bis zu den 
L graufamen Analyjen der Kritik zieht fich eine Art abjon- 
"derlicher umd jchmerzlicher Niedergeichlagenheit. Die großen 
Charaktere erniedrigen Sich, die groben Züge verwiichen ſich und 
wir jcheinen von jenem Uebel in Bejchlag genommen zu fein, neben 
dem die Verzweiflung nichts it: dem Ueberdruß. Und das iſt 
nicht etwa eine flüchtige Langeweile gleich jener Renés, eine deflama- 
toriſche Gemüthsveritimmung wie die Werthers, eine wortfünstlerijche 
wie die Klagen der en Helden, Dasein eine tiefe Müdigkeit, 
ein überall erjtidtes Schluchzen, eine Wehklage, die jich ſchämt, erfannt 
‘zu werden, eine, ich weiß nicht wie zu benennende Bitterfeit, die das 
glüclichjte Dajein vergiften würde. Der heutige Ueberdruß jchreit 
nicht und weint noch weniger: er begnügt jich einfach zu leiden. 
Man wolle uns nicht anjchuldigen, daß wir das Uebel übertreiben 
und die Plage vergrößern aus einfacher Freude, böjes Fundzuthun. 
Und daß man nicht jage, wir wollten nicht erkennen, was das gegen- 
wärtige Leben neben der alltäglichen Proſa an dramatijchem hat — 
an Freuden, an zzortichritt, an ewigem Aufjchwung zum bejjeren! 
Gewiß, diefer Aufichwung iſt vorhanden und läßt ſich beweifen, dieje 
Freuden werden und im vorübergehen zutheil, aber das Uebel geht 
deßhalb nicht minder feinen Weg fort, langjam, ſyſtematiſch, mit der 
monotonen Regelmäßigfeit unerträglicher Qualen. 

Kein Schriftiteller zu Ende unjeres Säkulums hat diefem Uebel, 
das ung martert, entgehen können. Flaubert war oft davon heimge— 
jucht; er jah das Seben in jeiner traurigen und einfältigen Gejtalt, 


das verzweifelt jpiegbürgerliche, verzweifelt regelmäßige Leben. Er 


496 Frankreich im Lichte feiner Literatur, 


war einer von denjenigen, die ihre Arme nach irgend einer Löjung 
ausitreden, ohne jie doch finden zu können, ja, ohne jelbjt daran zu 
glauben. Nachdem er in „Madame Bovary“ die albernen und Läjtigen 
Jämmerlichkeiten des trivialen Dajeins dargejtellt hatte, verjuchte er in 
das graue Alterthum zu entflichen und „Salammbô“ entitand durd) 
diefen äufßerjten Verſuch des Vergejjens. Flaubert erfranfte an unje: 
rer Zeit, und feine Werfe, die einige unmoraliich gefunden haben, 
während andere fie überjpannt heiten, jind in Beflemmung und Ab- 
ſcheu entjtanden, jind Werfe, jo ungejund und doc) wieder jo prächtig; 
jo betrübend, daß dem Leſer das Herz zerreißen, jo anziehend, daß 
fie Begeijterung bringen und dal dieſe Yoslöjung von allen Dingen 
die Nefignation des indischen Fakirs zu erzeugen vermöchte, der immer 
von neuem der Sonne ins Angeficht ſchaut, gleichviel, ob fie ihm auch 
die Augen ausbrennt. 

Auch Yeconte de Lisle hat mit Flaubert den Widerwillen gegen 
das Leben gemein, nur mit dem Unterſchiede, daß er nicht die Kuͤm— 
mernijje des Lebens verwünſcht, jondern das Leben. Die menjchliche 
Geſchäftigkeit bedrüdt ihn umd unſere volfreichen Städte, dieſe lär- 
menden IAmeifenhaufen, in denen fich jo viele Jdeen und Leidenſchaf— 
ten bewegen, erſcheinen ihm als ebenſo viele melancholiſche Katakomben. 
Das „göttliche Nichts“ zieht ihn unwiderſtehlich an, die übermenſch— 
liche Vergänglichkeit mit ihrer vornehmen Ruhe, ihrer Kälte, ihrer 
Nacht und ihrem Stillſchweigen. Er verſtand — ſo ſagt er — 

Die Schmach zu denken und den Abſcheu, ein Menſch zu fein. 


Er hat inmitten buddhiſtiſcher Legenden gelebt, die ihm ihre 
bizarre, anzichende Philoſophie überlafjen haben. Denn e3 liegt, offen 
gejagt, ein gewiſſer Reiz in diejer Vorjtellung von Glüd: der äußer— 
ten Vernichtung, dem Schlaf ohne Träume, dem Dunkel ohne Sterne. 
Das Grab jcheint dabet eine neue Größe zu gewinnen, weil aller 
Lärm des Lebens in ihm eritict, weil nichts von dem, was unjer war, 
darın übrig bleibt, weil man in ihm die Schreden des Gedanfens, das 
närrifche Pochen des Herzens, die Qualen, welche uns jchütteln und 
martern, nicht fennt. Die buddhiſtiſche Vorjtellung lebt in unjerer 
notbaeplagten Civilifation wieder auf. Sonderbar, diejelbe Idee, die 
der Weichlichfeit der Hindus behagt, gefällt gleichermaßen unjerem jo 
bewegten und jo fiebriichen Denfen. Diejes Bedürfnig nach) Ruhe 
jucht ums heim wie ein zu ergreifendes Ziel, wie ein Lebenstraum, 
und wir verjtehen die erhabene und ergreifende Anrede, die Leconte 
de Lisle den Todten zumwirft, indem er fie frägt, ob fie wenigitens 
„völligen Schlaf gefunden haben.“ 

Flaubert und Leconte de Lisle jind vielleicht, wenn man es rich— 
tig auffaßt, die beiden großen Peſſimiſten unjerer Epoche. Dieje find 
Peſſimiſten mit dem Kopfe — andere find es mit dem Herzen. Weni— 
ger groß in ihren Verwünfchungen, weniger ausichlichlic) in ihren 
Äbneigungen, belaitet fie ein Weh vielleicht viel jchwerer und vielleicht 
viel aufrichtiger. Paul Bourget gehört zu diefer Art von Leuten, zu 
diefen Peſſimiſten des jentimentalen Lebens, die noch mehr zu bes 
flagen jind als die Peſſimiſten des ſpekulativen Lebens. 

Denn das jpefulative Leben ift nur ein geringer Theil unjeres 


Frankreich im Fichte feiner Ateralur. 497 


Lebens. Das jentimentale Leben Hingegen nimmt uns und unjere 
Leidenschaften weit mehr in Anſpruch. Man jtirbt jelten an einem 
Gedanken und Pascal mag vielleicht der Ente gewejen — der am 
Uebel, nicht zu wiſſen, bis zum äußerſten gelitten hat. Man kann an 
einer Herzwunde ſterben — und wir kennen Todeskämpfe, die niemals 
jemand vorhergeſagt hätte, weil ſie ſchweigſam waren, die aber den— 
noch ihre traurige Arbeit vollendet haben, indem ſie den Geſichtskreis 
ringsum verdüſtern, alle hohe Gedanken nivelliren, die geringſten pein— 
lichen Eindrücke übertreiben und das Herz Stück um Stück vernichten, 
derart zwar, daß endlich ein völliger Zuſammenbruch das Werk ver— 
vollſtändigt. Niemand ahnt dieſe Todeskämpfe. Freilich iſt es wahr, 
daß nur die ſtolzen Seelen ſo leiden und eine alltägliche Bruſt ſolche 
Stöße nicht zu erdulden hat. Um derart langſam abzuſterben, bedarf 
es einer eigenartigen Zertheit der Gefühle und einer —— Höhe in 
den Empfindungen. Die Märtyrer dieſer Art mußten erſt durch eine 
langſame Einweihung zum Leiden vorbereitet werden. Ich ſtelle ſie 
mir alle vor als über das nachdenkend und das oe was Paul 
Bourget „tief Schmerzende Kleinigkeiten“ nennt. Ich ſtelle jie mir alle 
feinfühlend vor wie dieſer Pſychologe, geläutert wie diejer Künitler, 
aufrichtig wie diefer Denker auf der Suche nad) dem Wahren. 

Ich jtelle jie mir zumal vor, ald zugängig den flüchtigiten Ein— 
drüden, allen auch den geringfügigiten Betrübnifien, und dem widers 
jpruchvolliten Enthufiasmus. Und jo mie fie find, egoiftisch und edel- 
müthig, heldenhaft und feige, gutherzig und grauſam zu gleicher Zeit, 
nenne ich fie die Opfer einer zu weit vorgejchrittenen Civiliſation, einer 
Kaffe, deren Nerven und Herz das Hirn und die Muskeln zum 
jchweigen bringen. 

Raul Bourget erjcheint mir als der vortrefflicd;e Repräjentant 
diefer jeltenen und jchmerzuollen Elite. In ihm tritt alles, was es 
menjchliches und edles giebt, zu Tage. Beim Lejen jeine® Buches 
fühlt man fich von diefem bisher ungefannten Gefühl ergriffen — der 
großen, der allgemeinen Traurigfeit. 

ch will hier nicht von feinen oft recht Schönen, immer kränkelnden 

und zuweilen beunruhigenden Berjen jprechen. Der Menjch lebt darin 

nicht voll und ganz, voll und ganz aber zeigt er ſich in jeinen neuejten 

Werfen, in jenen Romanen und in feinen fritiichen Studien, tief- 

reifenden, delifaten Studien voller piychologijcher Apergus von er- 
lite Scharfſinn. 

Paul Bourget liebt die engliſche Poeſie. Er hat ihr aus freien 
Stücken einiges von ſeiner Melancholie und ſeiner Graumalerei ent— 
liehen. Auch die engliſchen Landſchaften ſcheint er zu lieben, die eng— 
begrenzten trüben Horizonte, den überaus blaßblauen Himmel, die 
zarten, etwas traurigen — Wie die meiſten echten Künſtler ſtrebt 
er nach dem Helldunkel, und ſeine Landſchaften haben einen zurück— 
tretenden und ſo zu ſagen trüben Reiz. Sie ſind mit einem leichten 
Nebel verſchleiert, an den ſich der Blick gewöhnt und der dem Herzen 
gerät, wie jene föftlich duftigen Corotichen Bilder, auf denen Die 
taunen Zweige und die rothgelben Blätter unter einem Himmel, der 
feine Farbe hat, halb ins Waſſer Hinabtauchen. 

Und diejer Rahmen paßt jo wunderbar zu den Ideen, die Dep 


Der Ealon 1887. Heft XI. Band 11. 34 


498 Frankreich im Lichte feiner Literatur. 
Schriftſteller phrase Nirgend etwas hervorragendes, etwas 


ug aa etwas ſcharfes. Alles iſt wie in Traurigkeit getaucht und 
die Verzweiflung jelbjt hat feinen Schrei. 

Paul Bourget hat die wahre Yoojung, die genaue Färbung, die 
wirkliche Eigenthümlichkeit des Lebens verjtanden. Smile dem brei= 
ten Lachen von Freund Fri und dem wilden Wehklagen Werthers liegt 
auch feiner fühlendes Lächeln, giebt es verjchwiegenere und zugleich ein- 
dringlichere Klagen, jolche, die weit mehr ergreifen. Die wahren Dra- 
men find jene, bei denen man fic) nicht jehr aufregt und das find die 
Dramen, die uns Paul Bourget vorführt. Ihr verehrt Eure Mutter 
und brecht ihr das Herz, ein Weib liebt Euch und täujcht Euch dabei, 
die Erinnerungen an frühere Zeit verhindern Euch im Genufje des 
gE enmwärtigen Glücdes, Ihr kennt die drüdende Angjt des Unerjet- 
3* Unverbeſſerlichen, Ihr leidet und macht leiden, Ihr ſeid feige 
und — um eines ungeheuren Irrthums willen — und das iſt 
das Leben. Nichts iſt vu melodramatijch, nichts ijt weniger neu. 
Und dennoch — weil; der Schriftiteller, als er dieje banalen Scenen 
Ichildert, dies unter jo minutiöfen Beobachtungen und mit einer jo all- 
gemein richtigen Wahrheit zu thun, daß man ſich von einer unfreiwilli- 
gen und jtechenden Bitterfeit erfüllt fühlt, indem man an die arme 
Menjchennatur denkt, die immer irgend eines Dinges Sklave, die immer 
geduldig ertragenen oder weile in Webereinjtimmung gebrachten Gegen— 
wirfungen ausgejegt ift. Man ſieht das Dajein jo wie es iſt, zu— 
jammengejeßt aus unfaßlichem Mühen und noch ungreifbarerem Glüd. 
Man erficht die Ohnmacht des Gehirns, um die Gedanken zu ergrün- 
den, an denen es ſich verjucht, man jieht die Nerven ſich unjer be- 
mächtigen und uns tyrannijiren, man jieht das Herz aufgerüttelt durch 
alle diefe Bewegungen, immer zwijchen der großen Freude, die cs 
nicht erreichen kann und dem höchjten Schmerz, zu dem es nicht heran: 
fommt, jchwanfen. Wenn man dann dieje betrübenden Seiten, auf 
denen der Schriftiteller die Zergliederung jeines eigenen Ich vor— 
nimmt, zu Ende gelejen hat, verjteht man mehr als je, wie graus 
ſam wahr diejes Wort ift, das Daudet feiner Sappho ın den Mund 
legt: „Ihr jeid verderbte und verworrene Menjchen.“ 

Berderbt und verworren! Paul Bourget nimmt an, es zu jein 
und wir find es mit ihm. Nichts natürliches, nichts glückliches tt in 
den bizarren Weſen, die wir find. Die gemeinen alltäglichen Nei— 
gungen find uns unterfagt und wir würden daran auch wohl wenig 
rende finden. Wir brauchen das Gewürz einer Bellemmung, welche 
wir verwünfchen und die wir juchen. Unjer Her; kann nicht mehr 
regelmäßig jchlagen, wie es das thun mühte, wenn es in Ordnung 
wäre, aber entweder hält es an oder es hat das Fieber. Es ſchafft 
ſich künſtlich Schmerzen, die jeine Kraft nach und nad) aufreiben. Und 
auf diefe Weiſe fönnen wir in uns dieſes ſeltſame Problem beobadten, 
das uns zwei Neigungen neben einander lebend zeigt, die fich in das 
um jede von ihnen leidende Herz theilen. Und auf dieje Weife ge 
ichteht e3 auch, day wir uns mit der Hoffnung peinigen, mit der Er— 
innerung, der Eiferjucht oder der Gleichgiltigkeit, je nachdem wie der 
Himmel iſt oder das legte Buch, welches wir gelejen. 

Die Zukunft wird uns melancholiich und Flüchtig, eine Art Fata— 


Frankreich im Lichte feiner Ateratur. 499 


lismus raubt uns den Glauben an die fommende Blütezeit, an den 
Lenz, und das Zutrauen, dab die gleichen Sonnen wiederfehren. Das 
Gedächtniß martert und, indem es uns das vergangene Liebesglüc 
und die ins Grab geiegten Träume wie ebenfo viele Leichname, die 
für einen Augenblid wieder Leben bekommen zu haben jcheinen, vor— 
führt. Die Eiferjucht beläftigt ung und wir lieben ın fo rn 
Grade, daß wir die Liebe als eine für unjere Seele zu ſchwere Bürde 
verwünjchen. Oder auc manchmal, in den traurigiten Stunden, Ir 
len oder meinen wir ung gleichgiltig, wir werfen uns unjere Gleich- 
giltigkeit vor, wir haben die höchjte Ermüdung der Sergen, die nicht 
jchlagen können. Werderbte und vermworrene, er volle Menschen, 
die wir jind, vermögen wir die natürlichen — en nicht mehr zu 
genießen, aber wir verſtehen Schmerzen zu erdulden, die wir uns ſelbſt 
ſchaffen — und ſchließlich läuft das ſentimentale Leben für Kranke, 
x Ya find, auf nichts anderes hinaus als eine langjame freiwillige 
Hinrichtung. 
— Paul Bourget hat dieſes Mal in ſeinen „Eſſays zeitgenöſſiſcher 
Pſychologie“ wunderbar analyſirt. Er giebt darin mit reſignirtem 
Peſſimismus die Theorie vom Berfall und endigt jein Buch mit einem 
legten Worte, das muthig erjcheint, das aber ſchrecklich bleibt wie eine 
auer ohne Ausgang. Keine Hoffnung. wohnt darin, fein Glaube 
beiteht dabei, und der verjchlojjene Himmel breitet über unjere Todes- 
kämpfe jeinen immer wechjelnden und doch immer gleichen Glanz. 
Das Beite ijt es noch, diefe Dinge anzunehmen wie fte find, fich ſei— 
nem Leben zu überlajjen, das Unbekannte zu ignoriren und gegen 
das Dunkel zu marjchiren, ohne Furcht zu haben. 

Ohne Zweifel iſt dieſe jo herzzerreißende Auffafjung eine ber 
fonnene und jtolze Größe. Aber wie ohnmächtig ijt jie, um den Geift 
zu befriedigen, wie ohnmächtig vor allem, um dem Herzen zu. ge- 
nügen! Diefer ruhige Peſſimismus, edel und großartig im Prinzıp, 
würde in’ der Praris nur dazu dienen, uns das Leben noch unfrucht 
barer und fälter zu gejtalten. Um die menjchlichen Bejchwerlichfeiten 
u ertragen, bedarf es einer — die der vernunftgegründete 
Rei imismus unmöglicd) machen würde. Dieſe Erhebung, unjerer Natur 

wendig und anhängend, erlaubt uns, ein für jchwache Gemüther 
überaus jchweres Gewicht zu tragen. Sie ijt es, die ung hilft, die 
kleinen Opfer anzunehmen, die Eleinen täglichen Widerwärtigfeiten zu 
erdulden und unjer Leben vollfommen und einfach zu durchleben. 
Shrer Hilfe beraubt, was würde ung überbleiben? Ein ſchwankendes 
Herz, unjchlüffige und dunkle Gedanken, traurige Erinnerungen, Hoff- 
nungen, denen man wenig glaubt, taujend verborgene Qualen, taufend 
jchmerzhafte Kleinigkeiten, die damit enden würden, daß fie alles tödten, 
was in und noch überlebt. Durd) die auserlejenen Geifter angenom- 
men, würde ihnen der alte Peſſimismus einen großen Schlag, den 
höchſten und graufamen — den legten Stoß verfeßen. - 

Nicht, bar wir das Leben verherrlichen möchten! Es ift- traurig, 
es ijt einförmig, es iſt mwunderlich graufam — aber man muß es 
erheben, um es erträglich zu machen. Die einen eraltiren e3, indem 
fie den Glauben daran haben: das jind die Gläubigen, die Chriften 
der erjten Jahrhunderte, die auf die Galeeren geſchickten Hugenotten, 

34* 


500 Frankreich im Fichte feiner Fiteratur, 


die indischen Fakirs, die hehren Schwärmer, die das bewundernswerthe 
Glück des Glaubens zu ergreifen vermochten. Die anderen, weniger 
frohlodend, erheben dennoch das Leben, und jie thun recht daran. Sie 
haben rec)t, denn das Leben hat für jeden einmal wenigitens in jei- 
ner Schmerzengewigfeit Die auserlefene Stunde, die alle übrigen mit 
annehmen laßt. 

Für den Liebenden iſt das der Rauſch des erjten Geſtändniſſes, 
der eriten glüdlichen und vertrauenden Liebe, der erjten Zärtlichkeit 
ohne Thränen. Für den Poeten oder Künſtler ıjt es das Werk, wel- 
ches er träumt und das er in Angriff nimmt, das Werf, in welches 
er A ganzes Wejen ſetzen will. Für den Denfer ijt das eine be— 
riffene Idee, für den Foricher eine bewiejene — für den 
iebeskranken iſt es kleines kindiſches und doc) köſtliches Beſitzſtück 
— eine zur Erde Bor Blume oder ein — Handſchuh. 
Es iſt nichts und doch liegt das ganze Leben darin. Und für dieſen 
Moment, dem Leiden vorhergingen und Leiden folgen werden, müßten 
wir das Leben noch ſegnen, das Leben, welches uns gegeben hat, was 
es uns geben konnte, eine Stunde der Ekſtaſe und des Vergeſſens. 

Unter dem Kaiſerreich, nach den großen Metzeleien, nach Wagram, 
nad) Eylau, als der Kaijer, von einem Eleinen Gefolge umgeben, bei 
finfender Nacht im Stillichweigen des mit Schmuß und Blut beded- 
ten Schlachtfeldes einherritt, da war's, dab jeder Verwundete jeine 
Blide nad) ihm fehrte, ihn erwartete, ihn ausipähte und dann alle 
jeine Kräfte zufammennahm und die jchredlichen Körperſchmerzen hint- 
anjeßend, fich auf blutigem Gliedſtumpf aufrichtete, um zu jchreien: „E3 
lebe der Kaiſer!“ oder „Es lebe das Vaterland!“ So müſſen wir es 
auch machen. Das Leben ijt ſolch' ein Schlachtfeld und wir find die 
Verjtümmelten. Bewahren wir uns einen großen Enthujiasmus, eral- 
tiren wir ung, erheben wir ung, vergejjen wir unjere Wunden — und 
— gedenken wir deſſen, daß troß Ohnmacht, trog Zweifeln, troß 
Qualen aller Art, dennod) ein Nugenblid für jeden von uns kommt, 
in welchem wir das Leben lobpreijen, mochte e8 graujam oder gleich» 
giltig gegen ung fein, mochte es uns ermüden oder im Stiche lajjen, 
ein Augenblid, in welchem wir die unvergängliche Begeifterung, zu 
leben, die Freude am Daſein hochhalten. 


V, 
Die Unperfönlichkeit in der £iteratur. 


Die Idee der literariichen Unperjönlichfeit ift modern und wenn 
man es richtig auffaßt, jo iſt fie auch) eine demofratijche Idee. 

Niemals war das Leben jo fieberhaft, h hart und jo auf das 
Aeußerſte in Anjprucd genommen als in unjerer Zeit. Ueberall be- 
jtändige Bewegung, überall Gährung — das heutige Beben ift eben 
nicht mehr jenes Prodende Gewäſſer, welches es im Mittelalter war, 
noch jene furze und ungejtüme Erjchütterung, die das jechzehnte Jahr: 
hundert aufmwühlte, um zwei Ideen von ganz verjchiedener Tragweite, 
die Renaiſſance und die Reformation neben einander entitehen zu 
(affen; das zeitgenöfjiiche Leben ijt weder die wilde Sturmesflut der 
eriten Revolution, noch jene jeichte Ruhe, die auf die jchaudervollen 


Frankreich im Lichte feiner Siteratur. 501 


Schlachten des Statjerreiches folgte; das zeitgenöſſiſche Leben ijt ein 
weitausgreifender Lavajtrom. Unſere Ideen haben nichts beitimm- 
tes, bündiges mehr, denn wir haben alle Ideen. Die gegenwärtigen 
Hirne — id). meine jene, welche nachdenken — bedeuten wenig, die 
egenwärtigen Hirne, mit Doktrinen genährt, die zu entgegengejeßt 
64 um neben einander beſtehen zu können, fühlen ſich durch ein 
unbeſchreibliches Chaos in Beſitz genommen. Bei dieſem ſeltſamen 
Ungemach des allzu verfeinerten, zu ſehr allen, auch den widerſpruch— 
vollſten Eindrücken zugängigen —— gedeiht kein Glaube, der 
von Zweifeln verſchont bleibt — giebt es feinen Zweifel und jet er 
jelbjt jyitematisch, der nicht jeine Stunden des Glaubens hat. Das 
Leben erjcheint uns verworrener als es jemals unjeren unmittelbaren 
Vorfahren erjcheinen konnte. Ich glaube, e8 war Zola, der einmal 
jagte: „das Leben ijt einfach”. Es iſt vielleicht jo gewejen, aber es 
dürfte dies nicht mehr ſein. Wenn eine Raſſe erit dahin gekommen 
ist, Jich durch jo viele eingebildete oder wirkliche Schmerzen erjchüttert, 
zwijchen jo vielen verschiedenen Meinungen Air und hergeworfen, durch 
jo vielfache moralische Qualen zerrijjen zu fühlen, jo muß diefe Raſſe 
unglüdlicherweife daraus ein anderes Bild vom menschlichen Dajein 
gewinnen als die zwar leidenjchaftlicheren, aber weniger zuſam— 
mengejegten, weniger gebildeten Generationen, die in den relativ 
urjprünglichen Zettabjchnitten gelebt haben. 

Es iſt gewiß, daß die demofratischen Ideen, indem fie in alle 
höheren Getjter drangen, und man muß jelbjt gejtehen, in jene Geijter, 
die fich jolhem Einfluß gegenüber rebellijch vermeinen, es iſt ficher 
aljo, daß die demokratiſchen Jdeen zu diefer augenbliclichen Auf- 
hebung des organischen Zujammenhanges im zeitgenöjlischen Denken 
außerordentlich beitragen. Der Geiſt der freien, unbefangenen Prüfung 
nimmt uns ein und daran licgt ficherlich etwas gutes. Aber wie viel 
böjes birgt dieſes Gute hinwiederum! Die Zeiten find vorüber, da 
die Philojophen ſich in ihre ———— einlullen konnten, wie die 
Sybariten, die auf einem Kiſſen aus Roſen ſchliefen. Alles wechſelt 
von Tage zu Tage, die alten Wahrheiten werden Lügen, wie es die 
jungen FBahrheiten dereinjt jein werden, und in hie Schiffbruch 
aller Axiome giebt es nur einen Halt, verbleibt nur ein einziges traurig 
angenommenes Geſetz und das iſt die Nichtigkeit menſchlicher An— 
ſtrengungen und die in ihrer Grauſamkeit immer ſtreng unparteiiſche 
und in ihrer Größe immer wieder troſtſpendende Pflicht, dieſes Mühen 
bis zum legten Ende“immer wieder anzufangen. 

Die demofratijchen Ideen haben nicht nur dazu beigetragen, die 
alten Formeln abzujchaffen und die fejt aufgejtellten Ueberzeugungen 
in Brejche zu legen, fie haben nicht nur mit ihrer edelmüthigen Un— 
Elugheit alle Köpfe unter ein gleiches Joch), das der freien Meflerton, 
des unbefangenen Nachdenkens, gebracht, nein, ſie haben noch mehr 
ethan, jie haben — dahin zielen wir — bei einigen Geiſtern von 
ae Kraft und jchöner Unabhängigkeit dieje Idee der Unperjön- 
lichkeit in der Literatur zur Welt fommen lafjen, welche ein Uebel für 
das Schrifttum und eine Gefahr für das Denken tt. 

Mehrere Geijter umjeres zu Ende gehenden Jahrhunderts haben 
angefichtS der zeitgenöſſiſchen Geſellſchaft die ſich ausgleichenden, ihnen 


502 Frankreich im Lichte feiner Literatur. 


widerjtrebenden Tendenzen überlajjen bat, das Ziel geträumt, ich 
von der Menge, von diejer Menge, in der heute alles durcheinander 
gebracht ijt, abzufondern, um zu den ruhigen Höhen anzuiteigen, von 
denen Lucretius jpricht. Bis dahin iſt alles in diefem großen Utopien 
normal. Aber um gegen jich jelbit fonjequent zu jein, mußten Dieje 
Schriftjtellee zu einer bejondern Auffafjung der Kunjt fommen und 
— ſie jchufen die jtreng unpartetische Kunſt, die unperjönliche Kumit, 
wie jie Guſtav Flaubert im Roman, Leconte de Lisle in der Poejie 
und Nenan in der Philoſophie zur Verwendung gebracht hat. 

Guſtav Flaubert war ein großer, ein jehr großer Schriftiteller. 
Er hatte das, was Boßuet gehabt hat, den Sinn für erhabene Dar- 
monte. Seine Bhrajen jind Elangvoll oder farbenreich und mehr mod) 
mit Klangfülle als mit sarbenfülle niedergejchrieben. Man liejt sie 
nicht — man deflamirt ie. Ste hallen lang und voll nad) wie die 
bewundernswürdigjten Perioden Boßuets. Wenn wir höher jteigen 
und vom Stil auf die dee übergehen, jehen wir, daß Flaubert jene 
jeltjame Kunjttheorie in die Praxis umzujegen gewuß: hat. Seine 
—*— Perſönlichkeiten iſt er ſelbſt, niemals hat der Schriftſteller in 
ein eigenes Herz gegriffen, um darin die blutenden oder verdorrten 
Fibern anzuſchlagen — höchſtens kann man bei den Helden, die er 
uns vorführt, die Borjtellung wieder erfennen, die er ji) vom Leben 
macht, von diejem Leben, das ihm langweilig und grau erſchien wie 
ein herabhängender Himmel. Nirgends eine Spur von Selbitbiogra- 
phie oder gar Bekenntniß — der Berfafjer verjchwindet einfach Hinter 
dem Werke und das Werf jpricht allein. Sicherlich ift es beredt, aber 
um wie viel bejjer würde e3 jein, wenn es nicht allein jpräche, wenn 
Hinter dieſen jchuldlojen Phrajen das zerrijjene Herz jchlüge und wenn 
diejer große Unglüdliche, welcher Flaubert hieß, nicht die ſtolze Ver— 
achtung gehabt hätte, jein Unglüd Hinter den Enttäujchungen Emma 
Bovarys, eines Bouvard oder Becucdjet zu verbergen. Es fommt uns 
bier ein jehr J Wort von de Goncourt ins Gedächtuiß, der einſt 
ſagte: as Blut iſt noch die beſte Tinte, um ſeinen Namen in das 
Gedächtniß der Menſchen zu ſchreiben.“ 

Flaubert hat kein Blut an ſein Werk gewendet und das Ge— 
dächtniß der Menſchen wird ſeinen Namen dennoch bewahren, weil er 
ein bewundernswerther Stilift war — aber um wie viel tiefer würde 
jich diefer Name in die Herzen eingeprägt haben, wenn man fühlte, 
wie jich Hinter al’ diejen Einzelbeobachtungen eine Seele zjermartert, 
und wenn man in der Pracht dieſer wohltönenden und mächtig mufi- 
faliichen Stimme das Schluchzen eines trauervollen Lebens aufgefun: 
den hätte! 

Dieſe Seufzer eines trauervollen Lebens läßt zuweilen Leconte 
de Lisle entfliehen und diejer a iſt es vielleicht, der ihn am 
beiten vor dem Bergejjen rettet. Man fühlt, daß Leconte de Lisle, 
der ſich jehr —— Ideen gemacht hat und dieſe, um ſie zu 
vertheidigen, von Tag zu Tag volljtändiger anzunehmen gezwungen iſt, 
da diefer Mann dennoch zunveilen die Ideen zu vergejien weiß, um 
die Gefühle anzuhören und fie zu vermerken, wie fie gerade kommen, 
ohne Sorge um den Kaltjinn, den ihm jeine Jünger darbieten. Dies 
ind nad) unjerer Meinung die beiten Stunden des Schriftjtellers. 





Frankreich im Fichte feiner Literatur. 503 


Wenn er in den Stunden völliger Neflerion die Werfe genau aus: 
arbeitet, anjtatt jich etwas gehen zu lajjen, jo findet er diefelben wohl 
vollfommen an Form und voll hoher Eingebung, aber bei rajchem 
Leſen bleiben diejelben oft langweilig, ebenjo wie jie ſich bei genauer 
Prüfung falt zeigen. Ich gebe zu, daß das alles prächtig ıjt: die 
finftern Dichungeln, die lichtitrahlenden Berge, das wunderbar gegebene 
erhabene Schweigen der Nacht, hier ein töftficher Schnee-Eicht, dort 
ein blutrothes Echlachtfelb: weiter der jterbende Chrijtus in einer 
Majeität, die die Römer jtaunen macht, oder der Kain, der durch 
Wüſten flieht, die mit allen Schreden der Wüfte gemalt find; noch 
weiter Fläglich heulende Wölfe, eine kleines Thal von der Injel Bour: 
bon, das jeinen grünen Schmud und jeine lebhaften Farben unter 
einer brennenden Sonne entfaltet, der Kondor, der in der eifigen 
Luft der Kordilleren ausruht. 

Das Mittelalter iſt in allen jeinen fürchterlichen Martern wieder 

auferwedt, Paris empfängt die Weihe der Kanonenfugeln und der 
— — alles das iſt ſehr ſchön, alles das iſt durch Meiſter— 
hand heraufbeſchworen, aber alles das berührt uns nur halb, weil der 
Meiſter, obſchon er ſich ſehr darin gefällt, ſich in ſein Propheten— 
ewand gehüllt hat und wir hinter dem Propheten den Menſchen 
Be Eicherli ) birgt der Prophet einen Menjchen und zwar einen 
Menſchen, der lieben und leiden kann wie wir, aber der Menſch er- 
fcheint nur jelten, gleichjam, als ob er jich jchäme zu erfcheinen. Und 
jo fommt cs, daß dies jo jolide und dauerhafte Vert das in rohem 
Geſtein und hartem Erz aufgeführt iſt, regelmäßig und ſtolz daſteht, 
wenn es in Ypmerabaltem Zuden jein könnte. 

Gewiß, das Werf, welches uns Renan überliefert, iſt in Wallung. 
Aber wie jehr iſt es dazu angethan, um zu befremden und zu ver: 
wirren! Hier jcheint uns die unperjönliche Kunſt ihren höchiten Grad 
erreicht zu haben. Renan iſt fein Meenjch, nein, man könnte ihn eher 
einem unfaßbaren Proteus vergleichen, der zurüchveicht, wenn man ihn 
erreicht zu haben glaubt, der ſich zeigt, um dann wieder unferen 
Blicken zu entjchwinden, und der uns das jeltfame Schaujpiel einer 
immer erneuten Mannigfaltigfeit giebt. Er bietet unaufhörlich das, 
was Sainte-Beuve zuweilen geboten: jede Doftrin iſt ihm gelegen, 
jede Formel jcheint ıhm werth, daß man jie disfutire, jeder Eindrud 
werth, dag man ihn fühle Und in diefem Gemijch ungleichartiger 
Doftrinen, widerjpruchsvoller Formeln und wunderlic) zuſammen— 
gejegter Eindrüde verliert fich der Geift auf der Suche, welcher Dof- 
trin, welcher formel, welchen Eindrud diejer jo rg el jo 
biegjame Geijt, der heute myſtiſch iſt und geitern erbitterter Religions— 
vernichter war, um morgen liebenswürdig und duldſam nach Boltaires 
Art zu fein, vielleicht am liebſten nachgiebt. Mean weiß bet diejer 
unendlichen Mannigfaltigfeit zujammengemengter und wie ineinander 
verwidelter Seelen nicht mehr, wo die wahre Seele iſt. Der Philo- 
ſoph iſt zwar aufrichtig, trägt aber dabei das Ausjehen jemandes, der 
gern andere zum beiten hat; der Schriftiteller verwirrt uns durch jeine 
unerwarteten und unebrerbietigen Einfälle; der Poet — und ein jol- 
cher jtecft in Renan — verjegt ung in eine zart empfundene Rührung 
und entreißt uns ihr wieder durch ein jpöttifches Lächeln. Und dieſe 


504 Frankreich im Lichte feiner Literatur. 


bei einer jo ungezwungenen arijtofratiichen Haltung jo weit getriebene 
Unperjönlichkeit hat es zujtande gebracht, daß Renan das Echo und 
jo zu jagen die Zujammenfajjung dreier oder vier einander zuwider— 
laufender Lebensläufe ijt, wenn er ein Menſch und nur ein Menſch 
jein jollte. 

Ein Menſch — das iſt es, was nach unjerer Meinung der Schrift- 
fteller werden muß. Man iſt e3 nicht immer — man wird cs. Um 
perjönlich zu fein, muß man zunächjt jeine eigene Perſönlichkeit haben. 
Das klingt nativ und ıjt doch von tieferer Bedeutung, ala man wohl 
denken möchte. Bevor man jich jelbit, jein eigenes Ich herausjchält, 
muß man jich von den Einflüffen, denen man unterworfen tit, frei: 
machen, von den moraliſchen, intellektuellen und jentimentalen Ein— 
flüffen. Dann, nachdem man zerjtört hat, geht es an das Aufbauen; 
man muß ſich jeine Natur und bis zu einem gewiſſen Punkte ſein 
Temperament jchaffen. Das iſt gewiß eine mühjame Arbeit, aber das 
Leben thut das Seine, um uns dabei zu helfen. Das Leben iit Die 
große Erzieherin. Es giebt Leute, für die es Großmütterchens Yaunen 
und Nachjicht hat, und diefe Leute jind die wahrhaft Unglüdlichen, 
denn jie verwöhnen ſich und verweichlichen derart, daß jte niemals 
wijjen, was das Daſein an hartem, männlichem haben muß. Andere 
hinwiederum behandelt es als Stiefmutter; diefe haben große Ausjicht, 
Empörer, das heißt aljo unvollflommene Wejen zu werden — unvoll- 
fommen durch die Schuld des Gejchides, aber immerhin unvolltommen. 
Endlich giebt es andere, denen das Leben eine intelligente Mutter ift, 
die zugleich zart und fejt zu fein vermag, eine Mutter, die jie manch— 
mal hart anfährt, aber ohne ſie zu verlegen, die jie liebkoſt, ohne ſie 
allzu jehr zu verweichlichen, denen fie ſich zeigt, wie ſie iſt, deren 
Charakter jte durch allmählıche Prüfungen zur Reife bringt, denen ſie 
behilflich it, ihre Pertönlichkeiten von den empfangenen Einflüffen 
freizumachen, kurz die fie zu Menſchen erzieht. 

Nehmt einen diefer Menschen, einen von jenen, die das Leben 
behandelt bat, wie es gemeinhin Die große Menge jeiner Kinder be- 
handelt, macht dieſen Menſchen zum Schriftiteller, werft ihn in den 
Strom unjeres heutigen Lebens hinein und laßt ihn allein mit jeinen 
Gedanken und jeinem Herzen marjchiren. Ich glaube nicht, daß dieje 
Idee der Unperjönlichkert viel Macht über ihn haben wird, Er wird 
veritehen, daR das geichriebene Bud) auch eine gejprochene Sprache 
jein muß und daß man jein ganzes Wejen, fein ganzes fleischliches 
und jeeliisches Empfinden darein zu jegen hat. Wenn eine Seite denen, 
die fie lejen, Thränen entreigen joll, jo muß dieſe Seite unter Thrä- 
nen miedergejchrieben ſein und joll fie vechte Heiterkeit erweden, jo 
muß fie aufgezeichnet jein wie eine Walzermelodie, die der Komponiit 
in einer Stunde völligen Wohlbefindens und großer Freude fand. 
Damit verwundete Herzen — ad) und wie viele haben ihre Wunde! 
— darin einen Angjtjchauder ihrer Art wiederfinden, iſt es nöthig, 
daß diefe Seite, dieſe einfache Seite, die vielleicht unter genug ver— 
ichtedenartigen Beobachtungen und manchen wenig bedeutungsvollen 
Einzelheiten verborgen, iſt es nöthig, daß dieſe Seite in einem Augen: 
blid tiefjten Schmerzes, angejichts eines zufammengebrochenen Lebens, 
daß fie mit Blut miedergeichrieben iſt. Es iſt nöthig, daß Mufjet 


Frankreich im Lichte feiner £iteratur. 505 


feine „Nächte“ durchlitt, e8 war nöthig, daß Vigny .all’ die ohnmäch— 
tige Empörung Simſons durchkojtete und da Viktor Hugo mit Olym— 
pio beim Anblick der Trümmer des zerbrochenen Glüdes weinte, es iſt 
nöthig, dab die ganze Menjchenjeele fich in einer Seite, einer ar 
einem Worte wiederfindet — dann und nur dann wird dieje Seite 
wahrhaft unvergeßlich fein, wird diefe Zeile von äußerjter Leidenjchaft 
lodern und wird diejes Wort wie glühendes Eijen feinen Weg in die 
lautaufjchreienden Herzen finden. 

Ich glaube, dag wenn ich ein Werk zu jchreiben hätte, ich in 
diejes Werk feinesiwegs prächtige Phraſen, feineswegs die erhabene Har— 
monie Bohuets oder Flauberts jeben würde, dieſe Harmonie, die uns 
wie das ferne Klagen des Ozeans begleitet; ich würde darin keines— 
wegs viele ausgejuchte und feinfühlende Beobachtungen noch viele 
ergreifende Bilder, weder die Reinheit des Marmors nod) die unaus- 
jprechliche Melancholie einer Mufif unterbringen — nein, ic) wiirde 
nur einen Schrei hineinlegen. Aber diefer Schrei wäre der eines 
ewigen Gefühls, einer, der jenen Gefühlen entjtammt, die jeit Jahr: 
taujenden unjere menschliche Seele durchichütteln; es wäre das ein 
Schrei des Zornes oder der Freude oder der Yıebe, und dieſer Schrei 
würde, einmal vielleicht an der unrechten Stelle jogar ausgejtoßen, 
lange in der Nuhe der Gemüther jeinen Nachhall finden. Und das 
jo gejchaffene Werk, geichaffen mit einem einzigen aufrichtigen Gejtänd- 
niß, würde vielleicht von ebenſo langer Dauer ſein als es der Zug 
eines Schreies über die Oberfläche tft. | 

Giebt es übrigens einen tieferen Genuß als den, alles das, was 
den Kopf füllt und das Herz jchwellt, in ein Buch oder in Berje 
oder in eine einfache pſychologiſche Studie ee Die Poeſie 
iſt eine vertrauliche Mitteilung. Man belächelt manchmal die ein= 
fachen Dilettanten, die in ihr eine Tröjtung juchen, aber man thut 
unrecht, denn es muß zugejtanden werden, daß die wahren Poeten 
felbjt ihre Schmerzen nur niederichreiben, um weniger darunter zu 
leiden. Sie fünnen das Leben in allem, was es romanhaftes und 
tragisches hat, ertragen, aber jie koſten zum mindejten die unendliche 
Süße des Gedanfens, da, der Roman nicht mit ihnen jtirbt, daß dieje 
intime Tragödie nicht im Gewirr des alltäglichen Lebens untergeht, 
jondern daß aud) andere diejen Roman durchleben und durchleiden 
werden. Abends, beim Lejen diejer Seite, auf der der Schriftiteller 
fein jchmerzvolles Geheimniß gebrochener Liebe ohne Rückhalt ent- 
hüllt, wird ſich ein Weib flüchtig durd) die Melancholie der traurigen 
Geſtändniſſe gejchmeichelt fühlen und innerlich wird ſie weinen wie 
unter dem Eindrud eines Trauermarjches, dev aber bitterer, bohrender 
erjcheint als jener, den Chopin hervorgebracht. Ste wird ſich müde 
urücfehnen und lange, lange ſich dem Reiz des Träumens überlaffen, 
dns Buch anjehend, ohne es doch noch einmal zu leſen, denn fie kennt 
es bereits nach dem eritmaligen Durchlefen auswendig und findet uns 
ter diefen wenigen Zeilen die ganze Bitterfeit und die ganze Reſig— 
nation verlorenen Lebens wieder. 

Diejen Autor, den fie derart lejen wird, mag vielleicht ein herzlich 
unbekannter und jehr gewöhnlicher Poet fein, aber was jchadet das? 
Der Rauſch macht die Flaſche vergejjen und diejer Poet hatte wenige 


Elan 


506 Frankreidy im Lichte feiner Literatur. 


ftens jeine Stunde, weil er ein Gemüth bewegt und ein Augenpaar 
benetzt hat. 

Die anderen, jene, die man bewundert, ohne fie zu lieben, jene, 
die die Stiljchmiede und Phrajenjchleifer jind, jene, die ihren Ruhm 
dareinjegen, den Einklang zweier Worte oder das Zuſammenſtimmen 
zweier Töne finden, ſolche mögen ihren Traum der Unperjönlichkeit 
verfolgen. Aber wie — iſt dieſer Traum und wie kalt iſt er! 

weifelsohne liegt eine beſondere Größe darin, ſich über die menſch— 
iche Zärtlichkeit hinwegzuſetzen, aber wie viel größer iſt es, alle dieſe 
—— ſelber zu empfinden und zu ſagen, wie man fühlt, und 
ein Herz ſchlagen zu laſſen ohne es aufzuhalten und den anderen 
ein treues Bekenntniß ſeines Uebels zu geben, damit ſie beſſer das 
ihrige heilen oder bequemer daran ſterben können. Darin liegt der 
wahre Ruhm und darin liegt auch das wahre Glück. Und der Schrift— 
jteller, gleichviel wie bejcheiden er iſt, kann in Frieden dahin gehen, 
wenn er in jein Werk, auf eine Seite jeines Werfes nicht nur die Worte, 
welche weinen oder frohloden, nicht nur eine unnachahmliche Harmonie, 
nicht nur einen erhabenen Gedanfen oder eine tiefe Beobachtung ge- 
jest hat, jondern diejes unbejtimmte, aber rein menjchliche Etwas, die— 
jes gewijje Etwas, das ewig, unvergänglich ijt, diejes ic) weiß nicht 
was, welches erhebt und bewegt — das tiefe Schluchzen gelegt hat. 








Eine Bauernhochzeit im offpreußifhen Oberlande. 
Bon Hildebrandt-Hfrehlen. 







— lt, a3 ojtpreußiiche Oberland, in dem die Städte Mühl— 
% Pr. Holland, Saalfeld, Mohrungen, Guttitadt, 
tiebjtadt, Djterode liegen, hat (einjt durch jüddeutjche 
Koloniften bevölkert) den Charakter des Hochdeutfchen 
in Sprache und Sitte feiner Bewohner bewahrt; wäh- 
rend im Süden und Süd-Oſt das polnische, im Nord- 
Dit das littautsche, im Norden und Weiten das nieder: 
oder plattdeutjche Element vorherricht. 
Hier jigen noch auf ihren jtolzen Schlöjfern die alten reichs— 
aräflichen Gejchlechter, die ihren Urjprung meiſt bis auf Karl den 
Großen zurüdführen, namentlich) die Dohnas und Denhoffs, welche 
hier vorzugsweije den großen Grundbeſitz repräſentiren. Dieje gehören 
faft jämmtlich der höheren Ariftofratie, — im edleren Sinne des 
Wortes — an; da fie ihre Ehre in Leutjeligfeit nach unten, in männlichem 
Stolze nad) oben, in Intelligenz und einer wahrhaft noblen Gefinnung 
juchen und finden. So lautet mindejtens das Urtheil derer, die dieje 
ren in ihrem Privatleben näher fennen zu lernen Gelegenheit 
atten. Das Landvolf, durchweg ein biederer Menjchenfchlag, hegt 
für das Altherfömmliche eine gewiſſe Pietät, die es auch gegen ver- 
bejfernde Neuerungen jehr kritiſch macht. Dennoch lebt und webt in 
ihm ein gewijjer klarer Geijt (unverkennbar in Dinters Pflanzſchule 
enährt und groß 33 der ſeine Bildungsfähigkeit begünſtigt. 
wiſchen „Bauer und Graf“ herrſcht an manchen Orten noch ein 
Baur patriarchalijches Verhältniß. . a 
ie charakteriſtiſchen Feſte der ländlichen — beſchränken 
auf Hochzeiten, Kindtaufen und das ſogenannte „Gebetverhör“. 
on Kichweih, Kirmeß, Erntefeit, — die ganze Ernte iſt ihnen ein 
seit — finden wir hier feine Spur. Cine ode fonzentrirt daher 
ewöhnlich, was wir in dem Leben diejer jchlichten Naturfinder (frän— 
Eiche Sitte ijt ihnen fremd geblieben) eigenthümliches finden. 
Die Zurüftungen zu eimer „rechtichaffenen“ Bauernhochzeit be- 
ginnen mindejtens eine Woche vor dem feitlichen Tage. Die Wahl 





508 Eine Sauernhodyeit im oftpreußifcen Aberlande. 


der Brautjungfern, der „Plagmetjter“*) und „Spitnidel“**)} war be= 
reits unmittelbar nach Feſtſetzung des Hochzeitstages erfolgt. Dazu 
juchen Braut und N oder deren „Barten“ aus ihrer ‚Freund- 
fchaft“ die „ſtrammſten Margellen“ (jchmudjten Dirnen) und ſtatt— 
lichjten Sunggejellen aus. Letztere müſſen überdieß gewandte Weiter 
fein, da die Ehre des Tages zum großen Theil von ihren Reiterfüniten 
abhängt. Während Brautvater und Mutter alle Hände voll zu thun 
haben, — nad) dem Maftvieh zu jehen, den Hochzeitsitaat einzukaufen, 
die Gewürzwaaren zu bejorgen, Fiſche, Bier und Branntwein zu be- 
ichaffen u. j. w. u. ſ. w. — ſchmückt jede Brautjungfer ihren Platz- 
meilter**) und fein Roß. Das geſchieht zwar nach feftitehenden Gejegen 
der Etifette, doch laſſen dieſe dem Schönheitsjinn wie Prunkſucht noch 
viel Spielraum. Den Hut umſchließt, über der Krempe, ein breites 
Seidenband, meiſt von rother Farbe, das rechts in eine Roſette oder 
Schleife verſchlungen wird. Aus dieſer empor wächſt (ähnlich dem 
Feder- oder Haarbuſch der Poſtillone) ein mächtiger Blumenſtrauß; 
in der Regel aus bunten Federblumen zuſammengeſetzt. Den langen 
dunkelblauen Tuchrock des Reiters ziert zunächſt *— der Achſel⸗ 
ſchnüre) auf jeder Schulter eine ganze Garnitur breiter Seidenbänder, 
— über dem Rücken, faſt bis zum Sattel herabhängend, ein luftiges 
freies Spiel der Winde. Die Pracht und Schattirung dieſer Achſel— 
bänder hilft namentlich den Ruf der konkurrirenden Brautjungfern 
begründen. Ein noch breiteres, ſtärkeres Band von brennendem Roth, 
umgürtet — als Schärpe — die, ſelten ſchlanke Taille des Reiters. 
Noch muß aus jeder Rocktaſche ein hochrothes Taſchentuch mit *; 
jeiner Länge zu Tage treten; zu welchem Ende es mit einem Siprel 
auf dem Grunde der Tajche Öftgenäßt wird. Ein jugendlicher Ab— 
leger des Hutjtraußes wird auf der linfen Bruſt bereftigt Gelbe 
Handſchuhe, anliegende gelbe Lederhojen (als Surrogat wird auch 
Leinwand gebraucht), hohe, blanke Stiefel, bligende, Elirrende Sporen 
und eine am Griff mit einer Schleife verjehene Reitpeitiche vollenden 
dieje Marjchallsuniform. Nun aber das Pferd. Schon jeine Wahl 
aus den beiten des Landes, iſt eine Hauptfrage des Platzmeiſters. 
Hat er dieje aber glüclich getroffen, jo bleibt es feiner Jungfer über- 
lajjen, dafjelbe eigenhändig zu rüjten. Obenan jteht jein natürlicher 
Schmuck, jein glattes Haar. „Das muß glänzen, wie ein Atlas.“ Sit 
es irgend möglich, jo jucht man Sattel und Zaumzeug von hellbraunem 
Leder aufzutreiben. Bor der Stirn prangt, von rothem Seidenband 
gefaßt, und am Zaumzeug befeitigt, ein mächtiges Oblongum aus 
„Knajterblanf” (Raujchegold), über welchem ſich — zwijchen den Ohren 
— ein bunter Federſtrauß erhebt; in feinen Dimenfionen mit dem 


*) Brautdiener, 
**), Eine ganz eigentbiimlihe Charge für Meine &ebilfinnen ber Braut- 
jungfern. 

***), Urſprünglich waren zwei Brautjungfern und eben fo viel Platmeifter üblich. 
Später festen reiche Bauern wohl eine Ebre darin ihre Zabl zu verdoppeln oder 
zu verbreifahen. — Da jeder Brautjungfer die Ausrüftung reſp. Ausfhmüdung des 
ihr zugetbeilten Plagmeifters aus eigenen Mitteln obliegt und fie iiberhaupt fiir die 
Dauer des Feſtes vorzugsweiſe feine „Geſellin“ bleibt, paart man in dieſer Weiſe 
gern zwei junge Yeute, die ſich ohnehin wohl leiden können. A. d. V. 


Eine Bauernhodyzeit im oſtpreußiſchen PVberlande. 509 


Hutjchmud des Weiters wetteifernd. Die Mähnen pflegt man mit 
farbigem Seidenbande zu durchflechten, den Schweif einfach in der 
ie zu umgürten, während die Enden der Schleifen frei im Winde 
lattern. 

Die Ankunft eines jo ausjtaffirten Plagmeijters in einem Dorfe 
ijt nun, — der Jugend mindeitens — ein Ereigniß. Noch erinnere 
ich mid) lebhaft, daß es für mic) eine Zeit gab, in der dieſe Erjchei- 
nung mein Ideal von Schönheit und Pracht jo vollftänbig realifirte, 
daß ich auf die übliche Frage: „was willit Du werden?“ mit der 
enthufiajtiichen Antwort: „ein jtrammer Platzmeiſter“, das höchite Ziel 
gegriffen zu * vermeinte. Die Woche vor dem eigentlichen Ehren— 
tage iſt nun für die Herrn Brautdiener eine ſchwere, aber ruhmvolle. 
arg) liegt ihnen ob, als Hochzeitsbitter von Dorf zu Dorf, von 

us zu Haus herumzureiten und in jedem Haufe ihre lange, theil- 
weije gereimte Rede abzubeten, richtiger: „abzujingen“, Cine diefer, 
noch heute gebräuchlichen Reden lautet wörtlich aljo: 


„Slüd und Friede fei in dieſem Haus! 

Alles Unglück bleibe fern daraus! 

Iſt der Herr Wirth oder die Frau Wirthin drein? — 
Gute Botſchaft foll ihnen lieb zu vernehmen fein! 
Junggejellen und Jungfrauen! 

Lafien Sie fih jest von mir befchauen. 

Ich komm! bereingeritten, 

Ganz ergebenft will ich bitten: 

Nehmen Sie fo vorlieb wie ich's vermag! 

So wünſch' ih Ihnen zuerft einen guten Tag! 


Günjtige Herren und Freunde! 

Ic bitte ganz freundlich: Sie wollen mir es nicht für übel hal- 
ten, daß ich dreijt zu Ihnen hereingefommen! Ic habe eine chriftliche 
Werbung an Sie und Ihre viclgeliebte Hausehre, nebſt den lieben 
Ihrigen. Ich bitte, Sie wollen meine chrijtlihe Werbung auf- und 
annehmen! Dieweil id) ausgejandter Bote bin, von Braut und Bräu— 
tigam und von der ganzen rg als nämlich von dem ehr- 
baren und wohlgeachteten —— AN. des ehrbaren und wohl- 
geachteten al MR. in N. einzigem Sohn und jeiner verlobten 
— Braut N. N. des ehrbaren und wohlgeachteten Hufenwirths 
N. zu N. (zweiten) Jungfer Tochter. Dieſe beiden Perſonen haben 
Ic) nad) der Schidung Gottes, des Allmächtigen, wie auch mit Rath 

er anverwandten ?Freundichaft in ein hriftliches Eheverlöbniß einge- 
lajjen und find num gejonnen, vermittelit göttlicher Hilfe ſolch Ehe: 
verlöbniß auf den fünftigen Freitag ins Werk zu richten und alsdann 
— hochzeitlichen Ehrentag zu halten entſchloſſen. Weil aber ſolch 
ornehmen ohne guter — Beiſtand nicht geſchehen, noch 
vollzogen werden kann, alſo bittet der Herr Bräutigam und die 
Jungfer Braut ſammt der ganzen Freundſchaft und iſt auch mein 
chriſtliches Bitten: der Herr wolle ſich mit den lieben Seinen auf 
künftigen Freitag um 10 Uhr Vormittag einſtellen, auf einem Wagen 
mit 4 Pferden, wohl ausmandirt, mit zwei oder drei Jungfrauen aus— 
geziert, Daneben in des ehrbaren und wohlgeachteten — N. 
zu N. Behauſung ſich verfügen. Allda werden Euer Liebden mit ge— 


510 Eine Bauernhochzeit im oftpreußifchen Vberlande. 


bührender Reverenz und hochzeitlicher Ehrerbietung empfangen werden. 
Nachdem wollen Euer Liebden dem Herrn Bräutigam und der Jungfer 
Braut mit der ganzen Freundſchaft das Geleit geben nach der chriit= 
lichen Kirche, der chrijtlichen Ktopulation und Ehetrauung mit herzlicher 
Andacht beivohnen und Gott um eine glücliche Ehe anrufen, damit 
ihr chrijtliches Bornehmen gu einem glüdlichen Anfange und jeligen 
Ausgange gereichen möge. Nach geichehener Trauung wolle der Herr 
mit den lieben Seinen nebjt andern geladenen Gäjten wiederum zurück 
in des ehrbaren und wohlgeachteten Hufenwirthes N. zu N. Bes 
baujung zur Mahlzeit ic) verfügen. Allda werden Euer Liebden 
jehen, was der überaus hochreiche Speijemeijter, Gott der Allmächtige 
an Eſſen und Trinken bejcheeren wird und günjtig damit vorlieb 
nehmen; 

Bon der Mahlzeit zum Trunk 

Und fröbli zum Sprung, 

Mit Singen und Springen 

Helfen die Hochzeit zu Ende bringen; 


und wollen allerjeit3 die hochzeitlichen Ehrenfreuden in Fröhlichkeit 
anfangen, mitteln und enden helfen; nicht allein ‚Freitag jondern auch 
Sonnabend, — danach die ganze Woche, jo lange die Hochzeit währet. 
Der Herr Bräutigam und die Jungfer Braut bitten auch), Euer 
Liebden wollen jid) feine Entjchuldigung machen, denn fie wollen fich 
feines Ausbleibens an Euer Liebden verjehen haben; auf daß der 
Ehrentag nicht möge geſchwächt werden. Und jollten Sie wiederum 
einen Sohn oder eine Tochter ausgeben — jo wollen fie wiederum 
gern Beijtand leisten, — wofern_fie geladen werden. Ich bitte den 
Herrn und die lieben Seinigen, Sie wollen dieje meine geringe Ein- 
ladung günftig vorlieb nehmen, welche Braut und Bräutigam mir 
zu verrichten befohlen haben. 


Ih bin jung an Jahren, 

Ih bin in der Sache noch wenig erfahren, 

Ih bin nod jung in Ebren 

Was ich nicht kann, will ich beffer ehren. 

Thun Sie wie Sie follen! Stellen Sie fih ein, 


verjchmähen Sie Braut und Bräutigam nicht, auch mich ausgefandten 
Boten daneben. 


Setzt will ich meine Rede enden; 

Mein Pferd kann rechts und links fich wenden. — 
Noch eins fällt mir bei! indeſſen 

Nichts fir ungut! — Bald hätt! ich's vergefien: 
Haben Sie ein Glas Wein! 

So ſchenken Sie mir ein! 

Oder baben Sie ein hübſches Töchterlein, 

Das ſoll mir auf der Hochzeit noch lieber fein. — 
Ich werde bitten fo vorlieb zu nehmen!“ 


Solche Nede nimmt in ihrem Verlauf ein Paar gejunde, urfräftige 
Lungen in Anjpruch, da jeder, auch der .. Sat in einem Athem 
recitirt werden muß. Ein Verſtoß gegen dieſe herfümmliche Weiſe 
würde ihn dem Spotte der Zuhörer Preis geben. Während des 


Eine Sauernhochzeit im oftpreukifchen Aberlande. 511 


Aufſagens derſelben pflegen kleine Pauſen gemacht zu werden, in wel— 
chen er gewiſſe herkömmliche Erkundigungen nad) Braut und Bräutigam, 
Zahl der Gäjte u. dergl. entgegennimmt und in jchlichter Proja be— 
antwortet. Junge Mädchen a auch wohl durch jpigfindige Zwi— 
Ichenfragen ihn in Berlegenheit oder aus dem Kontext zu bringen. 
Im Dorfe jelbit (mögen Weg und Wetter jein wie fie wollen) ſchickt 
jich für jein Pferd feine andere Gangart als „Eurzer Galopp“. In 
jedes Haus, das er beehrt (ach! und wie jchlagen die jungen Herzen, 
wenn er auf jeiner Runde dem väterlichen Gehöft jich naht), muß er 
einreiten und jollte er ob der niederen Thür, jich rüdlings platt 9 
das Pferd legen. Er ſpricht, ißt und trinkt im Sattel, denn er dar 
überhaupt, ſo lange ſeines Weilens an einem Orte, den Bügel nicht 
verlaſſen. In der Regel wird nun die Rede vom Pferde herab in 
der Wohnſtube gehalten; bei der Schloßherrſchaft, dem Herrn Pfarrer 
und andern Honoratioren pflegt er um die ‚Vergunſt“ zu bitten in 
den Flur reiten au dürfen, die ihm fajt nie verweigert wird. Yu be: 
wundern ijt die Keckheit, mit der Reiter und Pferd, jo undrejfirt wie 
fie find, bei diejer Gelegenheit jelbit das Hindernig von Stiegen 
und Treppen zu überwinden wiljen. Gilt feine Einladung auch nur 
einer Berfon, und wäre es die gräfliche Küchenmagd, gebeten wird 
deßhalb doch, wie die Rede vorjcjreibt, das ganze Haug mit Kind und 
Segel und erit hinterher wendet er ſich in jelbjitgewählten Worten 
an jeime Adreſſe, der Phraſe Kern ausflaubend. t er geiprochen, 
To ‚pflegt man ihm einen „guten Trunf“ zu offeriren. Obwohl diejer 
nur mit großer Zurüdhaltung gekoſtet zu werden pflegt, macht jeine 
Wiederholung es doch fajt unmöglich, dem Einfluſſe des, die Lebens: 
geiſter anregenden Alkohols ſich ganz zu entziehen. Klein Wunder aljo, 
wenn in großen Bauerdörfern der Plagmeifter in animirter Stimmung 
ericheint. Symptome der Trunfenheit würden ihn jedoc auf ewig 
Ihänden; im Sattel muß er feitjigen, wie „Fels im Meer“; das ijt 
ein Ehrenpunkt. A 

Endlich erjcheint er, der von Braut und Bräutigam heißerſehnte 
Feſttag; für die Plagmeifter ein Tag „öffentlicher Prüfung“, der ihnen 
entweder Ehre oder Schmach bringen muß. Vormittags nd ſie noch 
aller Welts Diener, da die Brautjungfern mit ihrer Toilette vollauf 
zu thun haben. Da iſt Bier NR Eee da jind Tiiche zu ordnen, 

ewaltige Schüfjeln mit Strizel (Badwerf) und Zuder zu füllen, 

hüren, enter und Balken mit Yaub und Blumen zu jchmüden ꝛc. 
.. a jie aber um Nachmittage wieder in ihrer ganzen Herrlich- 
eit auf. 

Die Thurmuhr jchlägt 2 Uhr, — der Hochzeitszug ſetzt ſich vom 
Gehöfte des Brautvaters in Bewegung. IH im Dorfe feine Kirche, 
fo ordnet I der Feſtzug im „Kruge“ des Kirchdorfes. — Im Fall, 
daß die Dorfſtraße Bi jauber, benußt man vierjpännige Wagen. — 
An der Sur reiten die Platzmeiſter, ihre feurigen Pferde mit dem 
Sporn heimlich veizend und gleichzeitig mit ojtentirter Gewalt bün- 
Digend. Es folgt der Dorfmufifanten buntes Corps mit einem leb- 
Bolten Marjche. Hinter ihm jchreiten, mit gravitätiichem Ernjte, paar: 
weile die „Spitznickel“ (4 bi3 8 an der Jah) Es jind das kleine 
Mädchen von 8 bis 14 Jahren, in weißen Stleidchen und mit Blumen- 


FI 





512 Eine Sauernhochzeit im oftpreußifchen Oberlande. 


fränzen im einfach herabhängenden oder in Zöpfe geflochtenen Flachs— 
—* Nun kommen die Brautjungfern; ähnlich, nur prunkender ge— 
chmückt. Ein Buſenſtrauß * ihnen nicht fehlen, auch iſt ihr Haar 
künſtlicher geordnet, der Kranz bunter, reicher an rauſchendem Knaſter— 
blank. An die Farbe des Kleides ſind ſie dagegen nicht gebunden. 
In der Mitte der eriten beiden Brautjungfern (beträgt ihre Zahl 6, 
jo sangen dem mittleren Baar) geht die Braut ihren verhängniß- 
vollen Gang. er an ihr zeigt ji) wohl der Grad der väterlichen 
Wohlhäbigkeit; doch verſchmäht der einfache, anjpruchloje Sinn des 
Volkes jeden „Staat“, der ihm nicht zufommt. Goldene Ketten, Henkel— 
dufaten zc. kennt man nicht; jeidene Kleider werden noch heute als 
ein unſchicklicher Luxus betrachtet. Ein feiner, einfarbiger Wollenjtoff 
(gewöhnlich blau oder Iömarz) umjchliegt mit hoher Tatlle und langen 
Hermeln den Fräftigen Leib. Den Hals jchmüdt nur ein Kleiner, weißer 
Kragen; doch das Haar iſt jchon den Abend vorher, oder doch am 
frühen Morgen „gemacht“; — von einer gräflichen Zofe, ja wohl gar 
von der „Frau“ (womit die Gattin des Prediger gemeint) oder 
gnädigen Komtejje; — eine Ehre, die bejonders hochgeihägt wird — 
—— gebrannt und am Morgen zierlich mit dem vielſagenden 
engincig geſchmückt. Ein Myrthenſträußchen trägt fie vor der 

t. 

Verjagt jedoch) die jtvenge Sittenpolizei der reichen Bauerstochter 


den jungfräulichen Kranz, jo muß fie ihr Haar unter eine ſchwärze 


Kappe jteden und ſich hinter den Brautjungfern von zwei Extras 
Brautfrauen führen lajjen. An ihre Stelle tritt dann eine Jungfrau 
von a Ruf und untadelhafter Schöne, welche unter Dem 
Namen „An-Brautſtell“ mit allen Attributen einer —— — 
Braut ausgerüſtet wird. Erſt vor dem Altar geſtattet man der eigent⸗ 
lichen Braut den Vortritt. Hinter den Brautjungfern folgt 
Bräutigam. Iſt er Junggeſelle, ſo trägt er ein Myrthenreis auf 
Stelle des Herzens. Geleitet wird er von zwei Platzmeiſtern zu Fuß 
Von zwei „guten Männern“ läßt er ſich nur führen, wenn er ni 
mehr Sunggejelle ift. 
ihnen — wieder paarweiſe die „guten Frauen“, geführt 
von ihren guten Männern; Chargen, deren urſprüngliche Beſtimmung 
wohl war: die — der Brautleute in den würdigen Orden 
Hymens anzudeuten. Dieſe werden aus den ehrbarjten Hausvätern 
und Hausmüttern erforen, doc, fajt nie wählt man beide Gatten aus 
einer Familie. Ihre Würde gilt gleichfalls für ein Ehren: und Ver— 
trauensamt. Der_einzige Schmud, welcher fie auszeichnet, beſteht im 
einem blühenden Orangenſtrauß im Knopfloch, den zu diejem Zwecke 
die herrjchaftlichen Treibhäufer zu liefern pflegen. Den Zug beſchließt 
die der Gäſte, Paar und Paar. Die Frauen und Mädchen 
ämmtli 
* koſtbarſten „Staat“, deſſen hier das Landvolk überhaupt fähig ift, 
Sie find aus echtem Sammet oder jchwerem Atlas gefertigt, kunſtvoll 
mit Silber oder Gold gejtidt und an beiden Seiten mit parallele 
„Schauern“ oder „Schauben“ von jteifem gefniffenen Tüll verjehen, 
die Jichelförmig das Geficht einrahmen, jo, daß man dajjelbe nur en 
face wahrnehmen fann. Ueberhaupt neftattet die Sitte auch jungen 


in Kappen und Müten. Die Kappen der erjteren bilden 


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Eine Sauernhochzeit im oſtpreußiſchen Vberlande. 513 


Meädchen für gewöhnlich nicht ihr Haar bloß zu tragen. Um fich zu 
jchmücden winden fie um die enganjchliegende weiße Klappe ein ſchwarzes 
oder farbiges Seidentuch. — Die Ehrenchargen bei einer Hochzeit 
haben einzig und allein das Privilegium im „gemachten Kopf“ (Fries 
tem Haar) zu erjcheinen. 

Auf halben Wege zur Kirche treten die Spielleute zur Seite und 
begleiten aus rejpeftvoller Ferne von nun ab den Zug mit einem 
Choral. Es liegt darin jowohl eine allegorijche Anſpielung auf die halb 
heitere, halb ernite Bedeutung diejes Sanges, als auc) die in diejem 
Volksſtamm noch ungejchwächte Ehrfurcht vor dem Gotteshaufe. Schon 
jchallen aus der geöffneten Flügelthür der Kirche die erjten Orgel— 
flänge. Die Hochzeitsmufif jchweigt; die Blagmeitter lafjen ihren uns 
geduldigen Rofjen die Zügel jchießen, erreichen in der Carriere den 
stirchhügel, jchwingen fich aus dem Sattel, werfen den, auf den Dienjt 
eiferjüchtigen, ihrer harrenden Schulbuben die Zügel zu und treten in 
militärischer Haltung in die VBorhalle; dort an die Pfoſten der inneren 
Thür. Hier erwarten fie den Hochzeitszug, der im Vorbeidefiliren 
ihnen dur Büdling oder Knix den —** der Ehrerbietung zu ent— 
richten hat. In den Kirchbänken nehmen nun, unter dem erſten Liede, 
ſämmtliche Zeugen, ſowie Zuſchauer Platz; beide Geſchlechter geſondert. 
Während der letzten Strophe, wenn der Geiſtliche bereits vor den 
Altar getreten, ordnen ſich die Chargirten vor demſelben. Jetzt erſt 
wird die Braut dem Bräutigam zugeführt und beide treten Hand in 
Hand vor den Geijtlichen. | 

Sobald die kirchliche Feier beendet, machen Braut und Bräutigam 
im Kreiſe der „Sroßwürdenträger” ihres Hofitaates die Runde, um 
ihrem Dank durch eine Verbeugung jtummen Ausdrud zu verleihen. 
Unterdejjen haben die Plagmeijter ſich beeilt, ihre Stellung an der 
Kirchthür wieder eins und die — ———— in Empfang zu 
nehmen. Hat endlich der letzte Gaſt die Kirche verlaſſen, ſo ordnet 
ſich der Zug wieder wie vorhin; nur zwei der bunten Herolde Hymens 
ſtürzen in Haſt zu ihren Roſſen; im Nu bo fie ım Sattel, und 
dahın fliegen jie mit Sturmegeile an dem jo eben geordneten Zuge 
vorüber, zum Hochzeitshauje. Hier harrt ni ichon die Kochfrau mit 
zwei Tellern. In dem einen befindet fi) Brod und Salz, im zweiten 
Milchreis. Jedem Plagmeijter wird ein Teller aufs Pferd gereicht, 
— und rechtsum fehrt! gehts dem Hochzeitszuge entgegen, den fie auf 
halbem Wege treffen müßten. Der Su hält nun an, Braut und 
Bräutigam genießen von der ominöſen Speije und abermals jtürmen 
die berittenen Liebesboten davon, um am Cingange zum Hofe des 
Brautvaters Poſto zu fajjen, auch die Spielleute dem ae — 
zuſchicken. Während die Muſik lärmt, Kinder ſchreien, Hunde heulen 
und die überlebenden Gänſe ſchnattern, läuft die Geſellſchaft durch das 
mit Kalmus geſchmückte Hofthör, lachend und plaudernd in den Hafen 
des Hochzeitshauſes ein. Hier ſtehen in der ausgeräumten Wohnſtube 
lange Tafeln, ſich biegend unter der Laſt koloſſaler Kaffeekannen und 
Schmandt-(Sahnen) Töpfe, großer Schüſſeln mit Stritzel und Kuchen, 
Näpfen mit Butter und Zuderbergen. Ungezwungen wählt man jicd) 
jeinen Nachbar und der Hochzeitsvater hat faum die Bitte „es ſich 
chmeden zu laſſen“ nöthig, Hier und da übernimmt eine erfahrene 

Der Salen 1887. Heit XI. Band II. 35 


514 Eine Bauernhocdhzeit im ofpreußifchen Aberlande. 


Hausfrau das Amt der „Schänfin“; bald löſt das Liebliche vaterlän= 
dDische Gebräu die Zunge der Männer und Weiber, jo gut wie der 
echtejte Moffa. Aus der Küche werden immer von neuem gewaltige 
Keſſel diejes pſeudo-levantiſchen Trankes — und in die 
Kannen geleert. Der kräftigſte Humor hat ſich der Geſellſchaft be— 
mächtigt; man ißt, trinkt, ſchwatzt, ſcherzt und neckt einander, bis die 
Sonne zum Untergange ſich neigt. Jetzt allgemeiner Aufbruch. Wie 
ein Bienenſchwarm fliegt die muntere Schaar aus und damit iſt das 
Feſtgelage — zu Ende? — o nein! ſondern nur in ſeine zweite Phaſe 
elangt. Während nämlich die Jugend „zum Tanz“, die Alten zu 
Tisch ſich umziehen, finden im GHodjeitöhante Brautdiener und Diener- 
innen vollauf zu thun um die „Mahlzeit“ zu vüjten. Haben nun die 
„Seladenen“ daheim ein wenig nad) der Wirthichaft gejehen, Toilette 
gemacht und dabei hinlänglich Kräfte zu neuem Genuß gejamunelt, jo 
begeben fie ji) zum zweiten Male nad) dem Feſtlokal. Hier harren 
wachjamen Auges, denn es dämmert bereits jtark, die Spielleute der 
anrüdenden Gejellichaft; weil jeder Gajt mit einem Tuſch „eingeblajen“ 
(empfangen) werden muß. Ver SHochzeitsgeber mujtert die Seinen 
prüfenden Blicks und jobald er jich überzeugt: „ihm fehle fein theures 
Haupt“, weijen die Platzmeiſter auf jenen Wink den Honoratioren 
ihre Plätze am „eriten Tiſche“ an. Da jiten obenan: Der Herr 
Pfarrer mit jeiner Eheliebjten und kleinen Familie, deigleichen der 
Herr Organiſt, der Schulze, die Kirchenvorfteher und etwa noch der 
—— Verwalter oder Wirthſchaftsſchreiber als Repräſentant der 
Gutsherrſchaft. Die übrigen Gäſte reihen ſich nach Belieben an den 
langen, mit ſchimmernden Linnen bedeckten Tafeln. Der erſte Tiſch 
zeichnet ſich namentlich dadurch aus, daß hier Meſſer und Gabel neben 
jedem Teller liegen; von den übrigen Gäſten führt jeder ſein Taſchen— 
meſſer bei ſich. Servietten ſind ungekannte Luxusartikel. Die Braut 
mit dem Bräutigam, die Brautjungfern und übrigen Würdenträger des 
ſtes nehmen den ſogenannten Brauttijch ein, der in der Mitte des 
Zimmers jteht. Nur die Platmeijter dürfen an den ‘Freuden des 
tahles noch nicht theilmehmen. Im Schweiße ihres Angeſichts jchlep- 
pen jie „unendliche Fülle“ jelbitgebrauten Bieres und gewürzten 
Branntweins herbei, mit Argusaugen jedes geleerte Glas überwachend; 
vorzugswetje aber ihre Dienjte dem Brautpaar widmend, das jich an- 
gelegen jein läßt, jie in jteter Bewegung zu erhalten. Dabei müjjen 
ſie ın voller Galla bleiben; fogar die lederne Neitpeitjche hängt au 
einem Riemen vom Handgelenk herab. Und der Hausherr winkt wieder; 
da Öffnet jich die weite Fir, Die aut Küche führt, und hinein treten 
in langer Reihe, die Mägde mit Schüſſeln. Sie enthalten die gelb- 
äugige, unentbehrliche Suppe. In jeder Schüjjel zwei Hühner und 
für je vier Gäſte eine Schüfjel. Ein Blid des Einverjtändnifjes wird 
zwilchen dem Herrn Pfarrer und dem Wirth gewechjelt und ein lang- 
anhaltendes: „Pit“ bringt jämmtliche Zungen zur Ruhe. Der Geiſi— 
liche betet; worauf der Organiſt ein Tijchlied intonirt. Sowie die 
legten Töne des Geſanges verklungen find, lüftet der, am untern Ende 
der Honoratiorentafel, dem Prediger gegenüberitchende Hochzeitsvater 
ſein Käppchen umd jpricht die umvergeplichen Worte: „Meine Herr 
ichaften, greifen fie zu! nur mir nicht in die Haar!“ mit dem gewöhn— 


Eine Sauernhocdyeit im oftpreußifchen Vberlande, 515 


lichen Zufate: „ich hab’ ohnehin nicht viel.“ Stein Trompetenfignal 
bei einem Manöver fann erafter ausgeführt werden, als das jo eben 
egebene. Alsbald hört man das Geflapper der Löffel; im fernern 

erlauf der Mahlzeit von dem anjchwellenden Summen einer Ag 
Unterhaltung begleitet. Die Zahl der Reihenfolge der Gerichte ijt von 
der Sitte vorgejchrieben. Auf die Suppe folgen Fiiche (am Herren- 
tiiche Karpfen in Bier), durchweg aber Marenen, die zu einer Hochzeit 
oder Kindtaufe herbeigejchafft werden müſſen, und jollten fie meilen- 
weit hergeholt werden; Braten (wobei Gans und Schwein ftarf ver: 
treten) und zulegt dicker Reis mit Zuder und Zimmt. Schwarzjauer 
(aus Gänjeblut und Badobjt bereitet), ein nationales Ertragericht, 
fommt jet jelten mehr vor. Der übriggebliebene Braten wird jedo 
noch gewijjenhaft getheilt und, in mitgebrachtes Papier gehüllt, a 
saccum gejtedt. Nur der „Herrentiſch“ hat, dem Heitpiele des Herrn 
Pfarrer folgend, diejer Sitte bereits entjagt. Gleichzeitig mit dem 
Reis erjcheint die Großmagd, welche in einer flachen Schliſſel jedem 
Gaſte ein angefeuchtetes Buchsbaumjträußchen offerirt, wofür ihr ein 
fleine8 douceur ind Wafjer geworfen wird. Dieſe Sträußchen An 
eine Aufforderung für jung und alt, einander in neckiſcher Weiſe 
durch — ein kühlendes Staub- und Tropfbad zukommen zu 
laſſen. Endlich tritt die Kochfrau vor, mit verbundenem Arm um 
ein — zur Heilung ihrer, im Kampfe mit den rebelli— 
ſchen Elementen der Küche davon getragenen Brandwunden bittend. 
— Und abermals entblößt der Brautvater fein Haupt mit einem: 
„meine Herrichaften! nehmen Sie jo vorlieb!" — Abermals erhebt fich 
auf ein langgezogenes: „Pit“! die Tafelgejellichaft zu Gebet und Ge— 
fang und man wünſcht ſich eine „gejegnete Mahlzeit.“ 

Hat der Platzmeiſter bis jet unermüdlich den Ganimed gejpielt, 
io — ihm er auch eine voll — Genugthuung. Siegeſchieht 
ihm, indem mit fliegender Eile die Brauttafel verſchwindet und an 
ihre Stelle ein kleiner, aufs ſauberſte geſchmückter Tiſch rückt, an dem 
die Herren Marſchälle jetzt erſt in der That „Meiſter des Platzes“ 
werden. Ihre Bedienung liegt nun den Brautjungfern ob und dieſe 
haben die Verpflichtung, außer den üblichen Schüfreln ihnen noch ein 
Phantafiegeriht extra zu liefern. Da wetteifern nun beide Theile, 
die einen ın unverſchämtem Fordern, die andern in — Gewähren. 
Die Beſtellung dieſer Ertraihüfjel muß jedoch ſchon bei der Suppe 
gemacht werden, damit die dienjtfertigen Grazien einige Minuten Zeit 
gewinnen, um ihre Arrangements zu treffen. Ich war Zeuge, wie 
einst die übermüthigen jungen Leute als fünfte Schüfjel: „junge Hunde 
mit Schoten“ forderten. Das war — ihrer Meinung 2 — der 
and Trumpf, den niemand ſchlagen fünne. Doch er wurde über: 

oten, durch Geiftesgegenwart der „vefoluten Margellen“ Ein alter 
Kleiderſchrank ward jchleunigit feiner Hier, zweier Eleiner Gipshunde 
beraubt und als Surrogat für Schoten, die Ende Dftober nicht mehr 
aufzutreiben waren, nähten die Mädchen in größter Eile einige Pfeffer: 
förner in zufammengelegte Drangenblätter. Das Ganze wurde mit 
einer Schmandjauce fervirt. — Nicht jelten mögen jedoch heimliche 
Berabredungen den Brautjungfern zu Hilfe fommen, und die Ueber: 
rajchten find vielleicht die Zuschauer allein. Unterdeſſen haben die 
35* 


516 Eine Sauernhochyeit im oſtpreußiſchen Oberlande. 


Alten ſich ein Pfeifchen angejtedt, die Jungen die Speijetiiche weg- 
geräumt und jobald e3 den pretentiöfen Herren Platzmeiſtern beliebt 
auch ihrerjeit3 Jich zu erheben, hört man auch jchon die erjten Klänge 
der Fidel; es wird zum Tanze angetreten. Schottiich, „Berlinſch“ 
(Galopp) und Walzer find die einzigen, bis jebt bekaunten Tänze. 
Der Herr Pfarrer muß anjtandshalber nod) ein halb Stündchen den 
aufwirbelnden Staub mit Dünnbier herabzujpülen verfuchen. Dann 
ziehen die Alten ihn wohl durch beharrliche Bitten ins „Stübchen“ 
um dort jeine jchönen Gejchichten zu hören, bis er Ruhe ſucht in jenen 
vier Prählen. Gegen Mitternacht pflegt man ohnehin den Geiftlichen 
zum „längern Berweilen“ nicht mehr zu nöthigen, da jeine Gegenwart 
den Aeußerungen der Lujt eine immer ee werdende Schranfe 
auferlegt. Sobald Ddieje gefallen, jchlüpfen in das Hochzeitshaus 
allerlet abenteuerliche Gejtalten, im Hausflur wijpernd und kichernd. 
Nun beginnt dev „Mummenjcanz der Masfirten“ (in der Mundart des 
Bolfes die „Ausgekleideten“ genannt). Diejenigen, welche ſich dazu 
hergeben, jind in der Regel Ungeladene, die gerade nicht zu den Hono— 
ratioren des Dorfes gehören und doch von dem „guten Leben“ auch 
ein Partifelchen erwilchen möchten. Die erite Rolle jpielt der Bären 
tanz, der nach bejonderer Muſik in Kojtüm ziemlich treu nachgeahmt 
zu werden pflegt. Etwas drajtiicher fällt gewöhnlich die Barbierjcene 
der Budlichen aus. Der zu Nafirende will durdjaus nicht ftill halten, 
erhält von dem Raſeur ein zurechtweijende Obhrfeige und fällt für 
todt vom Stuhle Allgemeiner Schreden, fruchtloje VBerjuche den 
Todten wieder zu beleben (meift nicht jehr zarter Natur), während 
die Mufit Schmerz heult und Verzweiflung winſelt. Endlich Jpringt 
der Todtgeglaubte auf jeine Beine; allgemeiner Jubel und jchlieglich ein 
ungenirter Ball pare. Der Aufbrud) jedes Gaſtes von Diſtinktion unter— 
bricht jedoch jtets den Tanz, da die Pfeifen, Klarinetten und Hörner 
vor der Thür mit Marſch und Tuſch ihn „auszublajen“ verpflichtet 
find. Das junge Volk pflegt bis zum Morgen der Luft des Tanzes 
ſich Hinzugeben. Die Plagmeifter find verpflichtet, jedes amwejende 
— (die Spitznickel nicht ausgenommen), wenigſtens einmal aus— 
zuſchwenken. 

Zum Schluß wird der Braut das Kränzlein vom Haupt genom— 
men; man verbindet ” die Augen, ſämmtliche Jungfern jchlichen 
einen Kreis und tanzen (nad) eigner Muſik) einen Reigen um fie herum; 
währenddejjen jucht dieje eine ihrer Freundinnen zu erhajchen, um 
ihr den Kranz aufzujegen. Die jo Geſchmückte, wird als die nädjite 
„Braut“ bezeicjnet. 

Der ganze ‚Verlauf des Feſtes beweiit, wie viel Euphemismen 
und Hyperbeln in der Rede des Hochzeitsbitters vorgefommen. Auch 
was darin von der Dauer des Gelages gejagt, darf man ja nicht 
buchjtäblich verjtehen. 


<DEBQ: 
: SWS 


— 





Auf Amwegen. 
Novelle von Hermann Birkenfeld. 
(Schlus.) 

ch habe es gleich gejagt, jo lange Wellheim die Bank 
hält, ijt nichts zu wollen. Man jollte eigentlich gar 
3el nicht mehr jpielen“, vebellirte Liſſen, der wiederholt 
Fr, L verloren hatte. 

— „Machen Sie es wie Waldau, der niedrig pointirt“, 


ar, EG * > G * 
erwiderte der Lieutenant. 
ei Fritz Waldau fühlte ſich etwas gereizt; denn er jekte 






einfach deshalb niedrig, weil ihm die Mittel zu höherem Spiele 
“fehlten und er gleich den anderen beitändig verloren hatte. Jetzt 
legte er jein letztes Zehnmarkſtück auf die Dame. 

„Sp iſt's recht, Waldau, mit dem Silber zwingen Sie das Glück 
nicht!“ vief Dirkitein. 

„Sold wirft freilich) bejjer, wie gigura zeigt“, ſprach Wellheim 
gelajjen, indem er an Waldau dejjen Gewinn auszahlte. 

„Sc laſſe jtehen“, jagte diefer und jette das Gewonnene zu ſei— 
nem erjten Einſatz. Wieder fiel die Dame zu feinen Gunſten — es 
war, als hätte das Glüc völlig umgejchlagen; denn binnen kurzem 
hatte er einen Fleinen Haufen Goldjtücde vor jich Liegen. 

„Meine Herren, noch ein Abzug!“ publizirte Wellheim, der nicht 
unbeträchtlich verloren hatte. 

„Währenddem jprenge ich die Bank.“ Damit jchob Waldau die 
Hälfte des vor im liegenden Geldes auf eine Karte. Wellheim zog 
ab — der leichtjinnige Spieler hatte verloren. „Dann den Reſt auf 
dieſelbe Karte“, jagte er und ſchob aufgeregt die zwanzig Goldftüce, 
welche noch vor ihm lagen hin. 

Wieder fielen die Karten zu feinem Schaden — fein letztes Gold- 
ſtück war dahin, ohne day einer der Anweſenden bejonders Notiz da= 
von genommen hätte Als Wellheim die Bank abgab, hatte er jeinen 
Verluſt wieder gededt. 

„Soll ich Ihr Nachfolger werden?“ fragte Waldseck. 

„Nein, nein, lajjen Sie Waldau lieber die Bank, er hat, glaube 
ich, am meisten verloren“, jagte Toriten. 

„sch bin außerjtande, weiter zu jpielen — id) bin blank“, ſprach 
Waldau. 


518 Auf Ummegen. 


„Nanu, Sie werden doch nicht —!" Damit wurde ihm von 
Wellheim und Toriten je * Hundertmarkſcheine hingeſchoben. Fritz 
wurde aufgeregt. Er wollte das Dargebotene zurückweiſen, doch die 
Idee, ſeinen geſtrigen und heutigen Verluſt wieder gewinnen zu kön— 
nen, hielt ihn davon zurück. „Ich danke Ihnen; id) nehme Ihr An— 
erbieten an“, ſagte er etwas beflonmmen. „Faites votre jeu, messieurs, 
sil vous plait!“ 

So nahm das Spiel jeinen Fortgang; aber merhvürdig! jchon 
nad) fünfzehn Minuten war die Bank auf ein Minimum reduzirt. 
Wellheim jah es und ſchob Waldau wieder eine Banknote zu. Auch 
diefe folgte den erjten. Der Bankier warf einen Blick zu Torjten 
hinüber, und — dreihundert Mark wanderten in jeine Hände. 

„Das iſt zuviel, — ſagte er betroffen. 

„Nicht, wenn anſtändig geſetzt wird“, ſprach dieſer gleichmüthig, 
indem er einen —— auf den König legte. Das war 
das Signal zu a — höherem Spiel, in welchem Waldau un— 
ausgeſeht verlor. Wieder und wieder borgte er bei anderen, ohne recht 
zu wiſſen, wie hoch ſeine Schuld ſchon angewachſen war. Endlich 
war die Bank —— 

„Ich muß Ihnen noch vierzig Mark ſchuldig bleiben, Waldseck“, 
ſagte Waldau, als er dem Baron den letzten Gewinn — Und 
jetzt höre ich auf zu ſpielen; ich bin heute doc) einmal ein Pechvogel.“ 
Er notirte im Taſchenbuche ine Schulden: jechshundert Marf an 
Torsten, dreihundert an Wellheim und fleinere Beträge an die übri— 
gen, im ganzen circa zwölfhundert Mark. Ihm wurde jchrwindelig bet 
dem Gedanken diefe Summe in furzer Zeit zahlen zu müſſen — haſtig 
goß er ein Glas Wein hinunter. 

Bald nachher trennte man jid) und Waldau jchlenderte allein die 
Straße hinab jeiner Wohnung zu. Die fühle Nachtluft ernüchterte 
ihn vollends, und er verwünjchte jeine Leidenſchaft, ohne aber verlegen 
um Gründe zu jein, die jein aewagtes Spiel vor ihm ſelbſt rechtfer- 
— Das ſchlimme Faktum, daß er mehr ſchuldet als er in drei 

onaten überhaupt einnahm, konnte er indeß nicht wegbannen, und 
lange wälzte er ſich ruhelos auf ſeinem Lager, ehe der Schlaf ihn in 
—— einwiegte. 

Im anderen Morgen fielen ihm ſofort wieder zwei Dinge ein: 
der verjprochene Bejuch bei Frau von Carlowa und — feine Schul: 
den. Er prüfte jeine Börſe — nicht einmal eine ganze Marf war 
ihm geblieben, er durfte ji) gar nicht mehr auf der Straße jehen 
laffen! Ihm fiel Knorr ein, der ihm wenigitens ein paar Thaler 
borgen würde, und bald hatte er jich zu dieſem auf den Weg gemacht. 

„Alle Wetter, das iſt ja ein jeltener Bejuch!“ rief der alte Freund, 
der ſich wenig geändert hatte, jeit wir ihn zulegt gejehen haben. „Aber 
thut nichts, freut mich, daß Du 'mal wiederfommit, alter Junge! Da 
ſetz' Dich — nimm den Ehrenplag auf meinem Sanapee, dem beiten 
Diöbel, das die biedere Frau Behling ihr eigen nennt. Soll id) um 
eine zweite Taſſe jchellen, oder haft Du ſchon gefrühſtückt?“ 

„Danfe ſchön, Kinorr. Ich — ich wollte Dich um etwas anderes 
bitten, als ein lien 

„Deito bejjer, vorausgejeßt, daß ich Dir irgendivie nügen kann 


Auf Ummregen. 519 


Sefundiren, was? Anrempeln? Weit Du, bift ein Prachtkerl, Wal: 
dau, und ich gehe für Dich durch — Feuer.“ 

„sch bin in einer — freilich nur ſehr momentanen — Ber: 
legenheit —“ 

„Verlegenheit? Famos! Kerl, jo viel Spaß haft Du mir lange 
nicht gemacht wie heute, wo ich gerade noch in meiner saison doree 
bin. Sieh hier!” Mit den Worten öffnete er jeine Börje und lieh 
zehn bis zwölf Goldſtücke über den Tiſch rollen. „Kannjt fie meinet- 
wegen alle haben; ich werde auch ohne jte fertig.“ 

„Rein, nein, ic) habe an ein paar Thalern genug. Wenn Du 
mir fünfzehn Thaler borgen willjt, jo iſt das hinreichend fiir mich.“ 

„Mit Freuden! Da, hier find zwanzig.“ 

„Die Du am eriten zurüderhalten soll. Ic danfe Dir, Knorr, 
Du haſt mir wirklich einen proben Dienit geleitet.“ 

„Schon gut, alter Kerl! Und wegen der Nüdgabe mad) Dir 
nur feine Sorge. Wenn id) einmal am Berhungern bin, werde ic) 
mich jchon melden.“ 

Bon Knorr zurüdgefehrt, machte Waldau jorgfältig Toilette, galt 
doch jein Beſuch einer Dame aus den Kreiſen der Artitofratie, die 
ſich jeiner nicht Shämen jollte! Er hatte bisher zu wenig mit Frauen 
verkehrt, dab nicht Die Befanntichaft mit jo viel Schönheit, jo viel 
pifantem Reiz, dabei der jchmerzliche Zug, welcher durch das Weſen 
der Baronin ging, jeine Sinne gefangen nehmen jollte, und er war zu 
ſehr — einmal angeknüpfte Beziehungen zu einer jungen, 
ſchönen, liebenswürdigen und — wie er aus ihrem Weſen herauszu— 
fühlen meinte — auch gebildeten Dame, noch dazu einer ſolchen, 
welche vermöge ihres veritorbenen Gatten eine gewiſſe gejellichaftliche 
Stellung einnahm, leichten Sinnes abzubrechen. Er gehörte zu den 
—* Naturen, welche zugleich durchaus leichtſinnig leben und 
dennoch tief empfinden können, es lag etwas weibliches in ſeinem 
Charakter, das ihn weniger ſtarr machte gegen Einwirkungen von außen, 
er gehörte zu den Gefühlsmenſchen, welche ihre rauhe, — 2 ja 
frivole Außenfeite nur zu benugen jcheinen, um die ganze Glut einer 
empfindjamen und tief empfindenden Seele darunter zu verjteden, 
Leute, die heute um jo häufiger ind, als es ja einmal nicht zum guten 
Ton gehört, in „anftändiger” Gejellichaft Gefühl zu äußern. 

Wenn ein Kanarienvogel an Magenüberladung jtirbt, eine Kokette 
In die zarte Haut ihres Fleinen Fingers rißt, je daß beinahe ein 

utötropfen hervorquölle, dann ift es gejtattet, jein ae Beileid 
zu äußern, und wer es unterläßt, it ein „gefühllojer Menjch“. Wenn 
aber unjere Mitmenschen neben ung verhungern, wenn ein Mädchen durch 
die Schändlichfeiten eines Roué und bitteren Mangel zu Haufe endlich) 
dem Verderben in die Arme geführt wird, dann muß das Gefühl hübſch 
in Schranken gehalten werden. Im erjteren Falle giebt man allenfalls 
einen Thaler in die Armenbüchje, hinfichtlid) des Teßteren zieht man 
in Gejellfchaft die Naſe hoc), jchlägt bei ſich jelbit ein Kreuz und 
äußert allenfalls ein „Fi done“ über die „Kreatur“, und im Jung— 
efellenfreife fragt höchitens der eine oder der andere: „War fie hübjch?“ 
Das iſt alles, das ijt fashionable, lady-like und gentlemanly! 
Fritz Waldau num verhielt jich äußerlich genau gerade jo wie ein 


520 Auf Ummwegen. 


„anftändiger” junger Mann joll, auch Hinfichtlich des Gefühls inner- 
lich) war er aber feineswegs genug angefränfelt von der „fashion“ des 
„high life*, jondern hatte Hi immer noch ein Quantum gejunden 
Gemüths bewahrt. So lange er mit Hildegard Römer in Briefwed) 
jel jtand, hatte er jic) wenig oder gar nidyt um andere Damen ge 
fümmert, nachdem er mit ihr gebrochen, hatten anfangs jeine Gedanken 
umjomehr ber ihr geweilt. Set war er frei. Aber es giebt Men- 
ichen, welche ohne den Umgang mit ‚Frauen gar nicht leben fönnen, 
die fi) gern voll und ganz dem ia or aa und meijt veredeln- 
den Zauber Hingeben, welcdyen der Verkehr mit einer Frau von Herz 
und ein wenig Geiſt immer ausübt, und ein jolcher war Fritz Wal- 
dau. Er log ſich jelbjt vor, er müſſe wieder einen Halt haben, an 
den er jich anflammern würde, um nicht am Ende jeine Studienzeit 
in eine Reihe von Ertravaganzen umzuwandeln. An Hildegard dachte 
er heute Morgen mit feinem Sedanten, er hatte auch feine Zeit dazu. 
Einmal dachte er verziweifelnd an jeine Schulden, dann mit den Em- 
pfindungen eines Kindes vor der Geburtstagsbejcheerung an jeinen 
Beſuch, zulegt nur an diefen. Endlich hatte er feine Toilette beendet 
und nahm, da er nicht unterwegs von Bekannten angehalten jein 
wollte, eine Drojchke, welche ihn bald ans ziel beförderte. 

Eine Zofe, wahrjcheinlich dafjelbe Mädchen, welches gejtern Abend 
geöffnet hatte, führte ihn in ein Fleines, aber höchſt elegant möblirtes 
Gemach zu ebener Erde, wo er ſich auf einem Fauteuil in dunfel- 
rothem Sammet niederlieg. Sein EAN pochte fait hörbar, während er 
Ir im Zimmer umjah und von Zeit zu Zeit auf die ihm gegenüber 
befindliche jchwere dunfeljeidene Bortiere gejpannte Blide warf. End— 
lich theilte jich der Vorhang, ein hohes Weib erjchien unter demjelben 
in weitem blaßrothem Atlasichlafrod mit Schwanenpelz, welcher, oben 
etwas geöffnet, dem Flafftich geformten Hals und die Anfänge einer 
üppigen Büjte umrahmte, deren Fülle durch den Schnitt des weiten 
Gewandes verrathen wurde Fritz Waldau bewwunderte die volle Run: 
dung des weißen Armes, welcher bis zum Ellenbogen frei wurde, als 
fie ihm unbefangen die Hand zum Gruße bot. Gr drückte feine Lip- 
pen auf diejelbe, um, wie er jcherzend jagte, jegt nachzubolen, was ihm 
ejtern Abend verjagt war, doc) entzog jie raſch die ſchlanken Finger 
Kinem Griffe, während fie Ihn mit einer Handbewegung zum Sigen einlud. 

„Zie haben wenigitens Wort gehalten; das ijt hübſch von Ihnen, 
Herr Waldau Ich rürchtete jchon, fie würden es machen, wie jo 
manche Herren, die am Morgen vergejjen haben, was fie am Abend 
verjprochen.“ 

„Können Sie fich wirklich) vorjtellen, daß ich, der ich dem Schid- 
jal dankbar fein muB, das mid) in Ihre Nähe führte, mir die Gelegen: 
heit hätte leichtjinnig entjchlüpfen laſſen, noc einmal des Glüdes 
Ihrer Nähe theilhaftig zu werden?“ 

Die Baronin ließ 1a nachläffig in einer Sophaede nieder. 

„sedenfalls bin ich Ihnen verpflichtet, da Cie mir Gelegenheit 
geben, Ihnen nochmals meinen Danf für Ihre ritterliche Hilfe von 
geitern abzujtatten. Und zu dem bin ich ja hier jo vereinfamt, daß 
ich kaum weiß, die Zeit todtzujchlagen und mic) freue, wenn durd) 
Ihren Bejuch ein wenig Abwechjelung in mein monotones Dajein ges 


Auf Ummwegen. 521 


bracht wird.“ Sie ſtrich mit der Linken über ihr reiches dunkles 
Baar, welches, in Loje Flechten gebunden, nach hinten über den ftolzen 
Nacken herabfiel, während vorn eine Fülle mattglänzender Loachen 
den oberen Theil der weißen Stirn beſchattete. "Dan fann ſich doc) 
nicht ewig allein mit Büchern und Bildern unterhalten, und Annette, 
men Mädchen, hat noch zu wenig Schliff, als daß ſich mit ihr gut plau— 
dern ließe. Später werde ich eine Gejellfchafterin zu mir nehmen müjfen.“ 

Der Bejucher deutete auf die zahlreichen Albums, welche auf 
einem Seitentiſche aufgejpeichert lagen. 

„Sch sehe, Ste ſcheinen ſich jehr für Kunft zu interefjiren“, jagte er. 

„Wenn Sie die Freude an ein paar illujtrirten PBrachtwerfen 
Kunjtinterejfe nennen wollen — pourquoi pas? Mein Gemal liebte 
e3, mir gerade Bücher und Bilder zum Geſchenk zu machen, und ich 
habe vielleicht von meinem Vater die Eigenschaft geerbt, daß ich das 
Gute aus der Menge von Stoffen, die unter der Flagge von Kunſt— 
werfen jegeln, bald herausfinde Das lette, was mir der Baron 
jchenkte, war diefe Sammlung“, jagte fie, indem fie eine Mappe mit 
zum Theil metjterhaft ausgeführten Aquarells öffnete und ihm hin— 
bielt. Dabei rüdte jie mit einem Sefjel näher, jo nahe, da faft ihre 
Kniee die jeinen berührten. 

Während fie zujammen die Bilder durchmujterten, wurden Frigens 
Sinne mehr und mehr gefangen genommen von dem Weiz ihrer Kör— 
performen, der weichen Stimme, in welcher jie die Erläuterungen zu 
den Blättern gab. Dabei beugte ſie fich tiefer auf Ddiejelben herab, 
und er empfand den beraujchenden Duft, welcher dem braunglänzenden 
Haare entjtrömte, dejjen Ausläufer über ihrer Stirn ein paar Mal 
Leife die jeine berührten. Ihm jchwindelte beinahe, und auf Augen 
blide verjanf er in völlige Gleichgiltigkeit gegen das, was jie jprad). 
Er wuhte nur, day ein jchönes, wollujt:athmendes Weib neben ihm 
jaß, wie Muſik Hang ihm der melodische Tonfall ihrer Stimme — er 
glaubte den ſüßen Athem ihres wie zur Liebe gejchaffenen Mundes 
zu empfinden — er war beraujcht. Ohne zu wiljen, wie er dazu fam, 
ın einer leidenjchaftlichen Aufwallung des Gerühls preßte er feine 
Lippen auf ihren weißen Naden. Site fuhr empor: „But, Sie — 
loſer Menſch!“ Und in demjelben Augenblicke fühlte er ihre brennend 
beißen Lippen auf den feinigen, während zwei weiche Arme ſich leiden- 
Ichaftlich um feine Schultern jchlangen. 

„Halt Du mich Lieb? Pauline, Du mein! Iſt's möglich, oder 
träume id)?“ 

„Ob Du geträumt haft, weiß ich nicht“, jagte jie, während fie 
fich dichter an ihn jchmiegte und er ihre Wangen, Stirn, Mund und 
Augen mit Küſſen bededte, „aber ich weiß, daß Du mich Lieben follft 
und mußt, weil ich Dich Liebe, liebte von — ja vom Augenblide an, 
jeit ich das erjte Wort aus Deinem Munde hörte O, mit welcher 
Sehnfucht Habe ich Di Heut! Morgen erwartet, und wie bejorgt 
war ich, Du möchtet Dein Wort nicht halten; denn — Ihr Männer 
jeid doc) allefammt Egoijten. Aber 4 habe ich Did) und lafje Dich) 
nicht fahren!” Und er janf vor ihr auf die Kniee und barg jein Haupt 
in ihren Schoß. 


* * 
* 





522 Auf Ummegen. 


Seit diejem Tage war der junge Mediziner in den Banden der 
ſchönen Frau, welche ihn feiter und feſter an jich fettete, ohne daß er 
ſich hätte jagen können, wodurd) ſie ihn jo plößlich zu ihrem Leib— 
eigenen, ihrem Sklaven, gemacht habe, Ihre Stimmung wechjelte jo 
oft wie die Roben, mit denen fie jtch ſchmückte: bald war jie ganz das 
hingebende, in ihrer Liebe zu ihm aufgehende Weib, gegen deſſen 
FBärme jeine Empfindungen kühl zu nennen waren, bald zeigte fie ſich 
als verjtändig denfende Fon und imponirte ihm durch ihre faſt getit- 
reichen Bemerkungen, a treffendes Urtheil über Leute und Bücher, 
bald wieder wurde fie beim Gedanken an ihr früheres Leben von jen- 
timentalen Anmwandlungen ergriffen, um jich im nächjten Augenblide 
in den muthwilligiten, findlichiten Spielereien und daneben in Be: 
merfungen zu erjchöpfen, welche an Frivolität jtreiften. Fri Waldau 

efiel de immer: ihre Hingebung machte ihn glüdlich und ftolz, ihr 
indliches Wejen berührte ihn wie ein Hauch aus einem anderen Le 
ben, dem er frühe entwachjen war, ihre Heiterkeit verfehlte nicht ihn 
—— und in ihren ſentimentalen Stunden war er glücklich, wenn 
er glaubte, ſie tröſten zu dürfen. Und dabei war er fich bewußt, daß 
fie einzig für ihn lebte; denn fie wies jede Annäherung an andere 
Menjchen förmlich zurüd. Er jchwamm in einem Meer von Glüd 
und Wonne, 

Zuweilen nur legte es fich wie ein Alp auf feine Bruft; denn 
vergebens jann er ar Wege, jeine pefuniäre Lage zu bejjern. Er 
wußte, daß er dem Onfel, einem etwas jchroffen penftonirten Major, 
in jolchen Dingen die Wahrheit nicht geitehen dürfe, ohne ſich auf das 
Uergite gefaßt zu machen und in dem fleinen greife, in welchem er 
legthin gg hatte, fonnte er unmöglich jemanden um Hilfe bitten, 
da ja die Meiften der „Büren“ jeine Gläubiger waren. Daneben 
fühlte er bie und da etwas wie gelinde Gewiſſensbiſſe wegen feines 
Verhaltens gegen Hildegard Römer, wennjchon er fic) jagte, daß die- 
jelbe ihn über kurz oder lang vergejjen werde. Und wenn nicht? 
Nun, was that's! Er hatte jeine Liebe zu Frau von Carlowa, eine 
Liebe, die nicht nur jein ganzes Herz einnahm, jondern auf welche er 
auch bedeutende Hoffnungen hinfichtlich feiner materiellen baute. 
Er war fajt zu beneiden; denn was ihm oft als unerreichbares Ideal 
vorgejchwebt hatte, war die Eroberung einer Frau von Stande, welche 
ihm mit ihrem bergen zugleich die Mittel zu einer auf „gejunder 

aſis“ ruhenden Ehe gab, wie er jagte, das winfte ihm jetzt f nahe, 
jo anmuthig, jo glüdverheigend! Daß er diefe Frau fchon jo bald 
gefunden, daß jie völlig unabhängig, daß fie das herrlichite, anbetungs- 
wirdigite Geihöpf unter der Sonne war, daß fie ihn bis zum Rabn- 
finnigwerden liebte, das alles war eben jein jpezielles Glück — er 
war entschieden eine Art Sonntagsfind. Mit der offiziellen Berlobung 
wollten jie beide noch einige Monate warten, bis die Trauerzeit um 
surnnt Gemal verjtrichen jein würde. Dann wollte er auch jeine 

tudien mit vollem Eifer wieder aufnehmen — vorläufig fand er 
nicht Zeit dazu. Er hatte zuviel für ſie zu forgen, in deren Licbe er 
allein lebte; allein oder mit ihr bejorgte er ihre Einfäufe, fand- fich 
morgens bei ihr ein, um fie zu einer Epazierfahrt abzuholen, bes 
Nachmittags, um mit ihr zu promeniren oder in dem fleinen Blumen 


Auf Ummegen. 523 


nn hinter dem Haufe zu plaudern oder zu lefen, und des Abends 
eichloß er den Tag in ihrer Nähe — furz, er lebte nur mit ihr und 
für ji. Dem Onkel in Gellheim berichtete er natürlich nichts von 
der ganzen Sache, er kannte den barjchen Ton des alten Dffiziers, 
der ſich ihm gegenüber, wenn es etwas zu tadeln gab, nicht eben der 
fanftejten Ausdrüde bediente, und er fürchtete, der Alte möchte in 
jeiner Aufregung den Zorn, welcher dem Neffen galt, auf deſſen Ge— 
liebte übertragen; denn daß jein Oheim ihm nicht ohne weiteres bei- 
ftimmen wirde, war ihm vollfommen klar. Seinen Befannten in der 
Stadt konnte dagegen jein Verhältniß zu der jugendlichen Wittwe nicht 
lange unbekannt bleiben, und wiewohl er hier und da ihretiwegen klei— 
nen Nedereien ausgejegt war, jo gab e3 doch unter den Bären faum 
einen, der ihn nicht wegen jeiner Eroberung beneidet hätte. 

Uebrigens juchte er die Geſellſchaft der jungen Lebemänner jeit 
dem letzten Spielabende ne einmal ließ ihm die Baronin faum Zeit 
dazu, und daneben war es die Scham, welche ihn erröthen ließ, jobald 
er jeit dem für ihn jo unglüdlichen Spiele einem Mitgliede der Ge— 
jellichaft begegnete. 

Eines Nachmittagg — er war gerade im Begriff, nad) Hut und 
Stod zu greifen, um mit „ihr“ eine kleine Spazierfahrt zu machen — 
trat Liſſen bei ihm ein. 

„Sie machen ſich jet jo jelten bei uns, daß man wohl oder übel 

u Shnen kommen muß, Waldau, wenn man etwas mit Ihnen bes 
———— will“, ſagte er. 

Dem Angeredeten war der Beſuch unwillkommen; er mußte ſich 
— zuſammennehmen, um mit einem Höflichkeitslächeln erwidern 
u können: 

„Dafür dürfen Sie mir glauben, daß es mir jedesmal ein be— 
ſonderes Vergnügen iſt, einen von den Herren bei mir zu ſehen.“ 

Liſſen lachte. „Schon gut, nur feine Komplimente! — Sie 
wollten ausgehen, jehe ich; da begleite ich Sie, wenn Sie erlauben.“ 

„Sch habe feine Eile, Liſſen; es joll mich freuen, wenn Sie —“ 

„Nur feine Umſtände, Waldau! Und — ich will ja nicht einmal 
fragen, wohin Sie gehen“, jagte der Baron mit einem Lächelnden 
Seitenblid auf Waldau. „Alſo ich darf Sie begleiten, was?“ 

„Wenn Sie es denn durchaus wollen, Lijjen, jo gehen wir zus 
ſammen.“ Damit verliegen beide das Zimmer. 

„Sch Habe nämlich den übrigen Herren verjprochen, Ihnen einen 
Plan vorzulegen, dejjen Ausführung uns einen vorzüglichen Nachmits 
tag verjchaffen joll“, ergriff Lijfen nach einer Weile das Wort. 
„Zoriten hat die Idee angeregt, bei diefem koſtbaren Wetter einmal 
eine Art Picknick im Rauenjteiner Walde zu veranjtalten. Wir denfen 
noc) einige Herren vom Militär mit etlichen Damen dazu zu animiren 
und zu leben wie die Götter.“ 

„Beitatten Sie eine Frage: aus welchen Kreifen werden Cie die 
— Damen beziehen?“ 

Liſſen lachte. „Sedenfalls reflektiven wir nicht auf äjthetifirende 
Profeſſorsfrauen mit ihren eingetrodneten, prüden Töchtern. Nein, 
das iſt eben das Neue an der Jdee, daß wir ungenirt entre nous mit 


524 Auf Ummwegen. 


Damen nad) unjerem Gejchmad uns amüjiren werden, ohne Anſtands— 
mütter 2c.“ 

„Und befürchten Sie nicht, durch) die Ausführung diefer Idee 
einen Eleinen Skandal herbeizuführen, der für manchen von der Partie 
von umangenehmen Folgen jein könnte?“ 

„Bah! Wenn die Sadje plump angelegt würde, ja! Aber wir 
werden natürlich) die Damen voraus jchiden, d. h. Toriten jvll den 
ganzen weiblichen Theil der Gejellichaft nach einer Kaffeewirthſchaft 
vor der Stadt geleiten; dort vereinigen wir uns mit unjeren Schönen 
und jeßen gemeinschaftlich den Weg fort. Torſten will das Arrange- 
ment der ganzen —— übernehmen. Alſo gemeinſchaftliche Aus— 
fahrt, Frühſtück und Diner im Freien, kleine Steeple-Chaſe zwiſchen 
Torſten, Waldseck und mir, idylliſches Blumenſammeln a la Voß' 
Louiſe ꝛc. gemeinſchaftliche Rückkehr im Dunkel der Nacht. Was meinen 
Sie dazu?“ 

„sch weiß wirklich nicht, Herr von Liſſen, wie ich mid) der Frage 
gegenüber verhalten joll. Sie wiſſen —“ 

„Ja ja, ich weiß jo ungefähr, dat Sie nicht freie Hand haben 
werden, in jolchen Dingen zu entjcheiden. Fragen Ste aljo erſt ein- 
mal Ihre Gebieterin — die Sache eilt ja ohnehin nicht. Doch ich 
fehe, hier trennen jich unjere Wege. — A propos, Waldau, nehmen 
Sie mir eine kleine Gewijjensfrage nicht übel — find Sie bei Kaſſe?“ 

Waldau merkte, dab er bis über die Ohren roth wurde. „Leider 
nicht jehr, Herr Liſſen, andernfalls würde ic) nicht verfehlt haben, 
bei Ihnen meine alte Schuld zugleich mit meinem Danke abzutragen.“ 

„ber was reden Sie da für Zeug, Waldau! Ich habe die paar 
Mark nicht nöthig, aber Wellheim geitand mir heute Morgen, dab es 
ihm nicht unangenehm fein würde, von Ihnen den kleinen Beirag von 
damals zurüdzuerhalten.“ 

Der Angeredete gerieth in peinliche Berlegenheit. Betreten Eraßte 
er eine Weile mit der Spitze feines Stodes im Sande des Pflaſters. 
„Mir find — leider — — ausgeblieben, auf deren Eintreffen 
ich — mit Sicherheit rechnete, und Sie können ſich nicht vorſtellen, 
Herr von Liſſen, wie peinlich es mir iſt, ſo lange auf Ihre Nachſicht 
und der der anderen Herren zählen zu müſſen. Gerade jetzt würde 
ich am allerwenigſten imſtande ſein, meinen Verpflichtungen gegen 
Sie nachzukommen — ich weiß in der That nicht, was ich jetzt eben 
anfangen ſoll.“ 

„Ja, ja, infame Geſchichten, ſolche Geldklemmen, kenne das!“ ſagte 
Liſſen, indem er ſein winziges Stöckchen in der Luft ſchwenkte. "Ber 
dauere nur, dab ich jelbit Ihnen nicht helfen fan. Nun, am Ende 
hat auch Wellheim nicht ſolche Eile, andernfalls — bleibt Ihnen mur 
der Jude in der Kranzgafje. Doch ich halte Sie wohl unnügerweije 
auf und bin nachher die Urjache, weßwegen Sie Schelte befommen 
möchten! Mahlzeit, Waldau, und fjuchen Ste die Sache mit dem 
Picknick zu arrangiren! Wäre doch jchade, wenn wir auf Ihre und 
Ihrer Dame Theilnahme verzichten müßten.“ 

Liiſſen fahte flüchtig an ** Hut und bog in eine Seitenſtraße 
ein, während ſein Begleiter einen Augenblick ſinnend ſtehen blieb und 
dann ſeinen Weg zu Frau von Carlowa weiter verfolgte. Er war 


Auf Umwegen. 525 


mit jich jelbjt uneins, ob er diefer überhaupt zumuthen dürfe, ſich in 
eine Gejellichaft zu miſchen, im welcher jie Damen nicht von direkt 
Ichlechtem Rufe, aber dod) folche finden werde, in deren Begleitung ſich 
ein anjtändiges Bürgermädchen nicht gern zeigen wide: ein paar 
Schaufpielerinnen, welche es vorgezogen hatten ihren reichen Verehrern 
zu folgen, und ein paar Exemplare jener Spezies, die ohne eigent- 
lichen Beruf, ohne Vermögen, mit faum nachweisbaren Einnahmen 
unter dem Schutze irgend einer „Tante“ eine äußerlich beneidenswerthe 
Exiſtenz führt. Hätte er Pauline wirklich geachtet, jie mit mehr als 
jeinem finnlichen Auge angejehen, jo würde ev von vornherein jeden 
Gedanken daran, jie zur Theilnahme an dem Ausfluge einzuladen, 
aufgegeben haben, aber jo etwas fam ihm nicht in den Sinn. Er 
zweifelte zwar, ob fie annchmen wirde, aber er hätte jie jo gern 
jeinen Freunden vorgeführt, ſich jo gern im vollen Glanze ſeines 
Glückes gezeigt, und deshalb beſchloß er, wenigſtens einen Verſuch zu 
machen, fa ihre Begleitung zu ſichern. 

In ſolchen Gedanfen war er bis an ihre Wohnung gefommen, 
vor welcher jchon ein leichter offener Wagen hielt. Im Hausflur 
fam ihm Die ——— entgegen. „Du läßt hübſch auf Dich warten, 
Undankbarer“, ſchmollte fie. „Eigentlich ſollte id) zur Strafe für Deine 
Saumfeligfeit zu Haus bleiben, da ic) um ſechs Uhr einen Brief er: 
warte, * welchen ich ſehr geſpannt bin, und deßhalb bald zurück ſein 
muß. Wenn wir nur einmal wüßten, welche vielen Abhaltungen Ihr 
rag ei habt. Artig war's gewiß nicht, mic) warten zu 
allen, und —“ 

„Und doc) geichah es aus Rückſicht für Dich, Pauline!“ 

„Hör einmal, jet machſt Du mid) neugierig. Doc, laß uns 
einjteigen.“ : 

Ser Wagen rollte, von zwei feurigen Ponies gezogen, flott dahin, 
während Fritz ihr den Plan mittheilte, welchen er — von Liſſen 
gehört hatte. Als er geendet, ſchwieg ſie einen Augenblick. „Und 
weſſen Kopfe, ſagſt Du, entſprang dieſe Idee?“ fragte ſie dann. 

„Ein Graf Torſten hat die ganze Geſchichte in die Hand ge— 
nommen, und, was mich betrifft, ſo traue ich ihm in ſolchen Dingen 
Geſchmack und — — genug zu, um At Verſprechungen ges 
recht zu werden. Ich glaube, daß er uns einen genußreichen Tag 
bereiten wird, und Du Bauline — o wie würde ic) mich freuen, wenn 
Du an dem Ausfluge theilnehmen wollteit!“ 

Ein leifer Schatten flog über ihre Stirn, einen Augenblick 
ſchwankte jie, dann verjegte jie plößlich: 

„And wenn ich mich nicht gern betheiligte, was dann?“ 

„Dann würden wir eben Pier bleiben, aber — id) glaube, Du 
würdeſt Did) um ein viel u Bergnügen berauben.“ 

„Dehwegen dürfteft Du unbejorgt ſein. Wenn ich meine Theil- 
nahme verweigere, jo gejchieht es a, weil ich nicht glaube, mich 
bei dem Feſte gut zu unterhalten. — Div aber lege ich jelbitver: 
itändlich feine Schranken auf. Fahr mit — amüjir Dich nach Kräften 
= an anderen! Mein Gott, an Damen wird ja wohl fein Mans 
el ſein!“ 

. „Die fannft Du nur denfen, ich würde ohne Dich) mic) bethei: 


526 Auf Umwegen. 


ligen!“ rief er leidenjchaftli und ein wenig pifirt aus; denn er 
glaubte bemerkt zu haben, daß ein bejonderer Grund die Baronin 
veranlaßte, feinen Wunsch nicht zu erfüllen. „Vielleicht“, fuhr er fort, 
„geitatteft Du mir aber dennoch die Frage, weßhalb Du ablehnt.“ 

„Wephalb? Nun, ich denke, der Grund liegt flar genug zu Tage!“ 
erwiderte fie. „Sch kenne feine von all den Damen und Herren, welche 
von der Partie jind und beige wenig Neigung, mir hier gerade jeßt 

einen Belanntenfreis zu jchaffen.“ 

„Du weißt aber, wie gern ich von Dir fähe, daß Du Dich nicht 
jo jehr von der Gejellichaft zurückzögeſt!“ 

„And warum? Bin ich Dir nicht mehr genug oder werde ich 
Dir allmählich läſtig? Warum gehſt Du dann nicht fort und läßt 
mid) meine Wege ziehen?“ 

„Pauline!“ ftöhnte es mehr als er es ſprach. Sie ſchwieg 
jegt, jie war fichtlich verjtimmt — jo hatte jie noch nie zu ihm ge: 
\prochen. Eine geraume Weile jagen jie beide ſtumm ſich gegenüber, 
dann ſtampfte ſie plößlich heftig mit dem elegant chauffirten Fuße 
auf den Teppich des Wagens, 

Nach Haufe!“ rief ſie gl dem Kutſcher zu. 

Er ließ fie gewähren. Sie hatte ihn mit ihren Worten zu furcht- 
bar gefränkt, er wußte nichts zu jagen, und jedenfalls war hier draußen 
nicht der Ort zu weiteren Auseinanderſetzungen. Es vergingen für 
ihn jehr peinliche Minuten, bis das Gefährt vor dem befannten Gar- 
tenthore hielt. Er jtieg aus und wie ihr wie gewöhnlich die Hand, 
ug folgen, dann griff er nach jeinem Hute, um fic) zu verab- 
chieden. 

„So jchnell?" Nichts feindjeliges, gereiztes, aber auch) feine Liebe 
lag in den fat gleichgiltig hingeworfenen Worten. „Ich hätte Dir 
gern noch meinen neuen —* gezeigt, eine recht hübſche Fon— 
taine, die ich erit heute Morgen aufjtellen ließ.“ 

Er war einen Moment unjchlüffig, was zu thun, dann folgte er 
ihr ins Haus wie ein Pudel, der gewohnt ift, feinem Herrn zu folgen, 

leichviel ob derjelbe ihn einmal jchlecht behandelt oder mit Zucker— 
a gejpeift hat. Sie ließ fich von ihrem Mädchen Hut und Manz 
tille abnehmen und blieb mit ihm im Zimmer. Cr jah fich in dem— 
jelben um. 

„ber — wo haft Du denn — die Fontaine?“ Er bemühte 
ich, gleichgiltig zu jprechen, doch jeine Stimme vibrirte — er fonnte 
eine innere Bewegung nicht verbergen. 

„Ach, laß das Ding jtehen, wo es ſteht — drüben im Zimmer“, 
erwiderte fie plöglich lebhafter. „Merfit Du denn nicht, day ich — 
an Dir allein genug habe, da mir deßhalb andere Männer herzlich 
gleichgiltig fein können, daß ich nichts verlange als Dich, Dich und 
immer Dich, Du — böjer, böjer Mann?“ Ihre Augen glänzten ihn 
feucht an, während ſie ihre weichen Arme um jeinen Nacden jchlang. 

„Bauline, ich Liebe Dich mehr als * rief er leidenſchaftlich aus 
und zog ſie ſanft auf das Sopha herab. „Diet, bier ijt mein Platz! 

u Deinen Füßen will ich Liegen und von Dir Verzeihung erflchen!“ 
Und er ließ ſich vor ihr auf eine Fußbank nieder, Im Haupt an ihr 
Knie Ichnend. „Dein Sklave bin ich geworden für jest und alle 


Auf Umwegen. 527 


eit!“ Er ſah nicht den Teidenjchaftlichen Blid, welchen das ſchöne 

ib auf ihn herabjandte, auch nicht den Triumph, welcher in ihrem 

Auge aufflammte, während ihre Singer in jeinem reichen Haare wühl- 
ten und ihre Lippen flüjterten: „Mein Lieber — Sklave!“ 


* * 
* 


Das Picknick der „Bären“ verlief durchaus programmmäßig, aber 
rang ag ohne Waldaus — Dieſer hatte an dem— 
elben Tage anderes zu beſorgen; am Morgen hatte er durch die 
Stadtpoſt eine Karte des Lieutenant Wellheim erhalten, der ihn in 
den civilſten Ausdrücken bat, ihm baldmöglichſt durch Rückzahlung der 
„bagatellen“ Schuld aus einer pe fatalen Geldflemme zu helfen, 
und der Student mußte deßhalb verjuchen, ein Mittel zu benußen, 
vor welchem er bisher deßhalb — eſchreckt war, weil er wie ſo 
mancher Unglückliche, der ſich in Noth befindet und zugleich mit einer 
Doſis Leichtſinn begabt iſt, immer gehofft hatte, irgend ein glücklicher 
Zufall würde Du die Mittel geben, feinen Lerpilichtungen nachzu= 
kommen. Aber fein deus ex machina erjchien, welcher plöglich hätte 
Geld auf den bedrängten Studenten regnen lajjen, fein reicher Onfel 
war in einem fremden Lande jenjeit des Ozeans verjchieden, um ihn 
zu jeinem Univerjalerben einzujegen, und jo blieb zulegt Veit Lavin- 
urg, „der Jude in der Kranzgaſſe“, welchen Lijjen ihm empfohlen, 
jeine letzte Rettung. Er wußte durchaus nicht genau, auf welche 
Weije er jeinen Verpflichtungen diefem gegenüber jpäter gerecht werden 
wollte, aber er gewann Zeit — einjtweilen war jeine Ehre in den 
Augen der Herren von der Arijtofratie gerettet, und er fonnte in deren 
Gegenwart wieder frei aufathmen. 

Veit zug re war ein „nobler Mann“, der nicht leicht einen 
vermögenden Gutsbefiger oder Majoratserben in Geldverlegenheit 
jehen konnte, ohne daß er diejem jeine Hilfe anbot, einmal aus allge 
meiner Nächitenliebe, dann aus Hocachtung für den „gnädigen Herrn 
Baron“ oder „gnädigjten ll Grafen“, endlich — in letter Reihe 
— aus Fleinem Interejje für jeinen eigenen Nutzen. Nicht ala ob er 
mit jeinen hochgeborenen Gönnern wirklich hätte ein Gejchäft machen 
wollen, Gott behüte! nur um feinen direkten Schaden zu leiden, pflegte 
er zehn Prozent Provilion zu rechnen. Man fteht, er war längjt kei— 
ner von den Schlimmiten —* Schlages, aber er lieh in der Regel 
auch nur an „ſichere“ Leute. 

Bei Waldaus Eintritt erhob er ſich in unterwürfiger Demuth von 
ſeinem Sitze und begrüßte ihn mit der ausgeſuchteſten Höflichkeit, welche 
ſich aber in eiſige Kälte verwandelte, als der Student Namen, Stand 
und Begehr angegeben hatte. 

„Sie wollen haben Geld von mir, Herr Student? Als ob der 
Veit Lavinburg hätte die Dukaten liegen aufgeſpeichert im Keller! 
Weiß nicht, wie Sie kommen auf den Gedanken, daß ich habe zu ver— 
leihen Geld an jedermann, der mir kommt und ſagt: Lavinburg, ich 
brauche Geld!“ 

„Einer meiner Freunde, der Baron Liſſen, hat mich an Sie ge— 
wieſen, Herr Lavinburg.“ 

„Sit ein feiner Herr, der Herr Baron, ein nobler Mann! Hab’ 


— 


528 Auf Ummegen. 


ſchon gefannt feinen Bater, der ein paar Güter hat im Preußiichen, 
wofür ihm jeder giebt gern jeine halbe Million preußiiche Thaler. 
Aber ich fenne Sie nicht, Herr Student, und ic) weiß nicht, ob Sie 
auch jind ein Majvratserbe, ein Mann von ein paar Gütern.“ 

Waldaus Muth janf, mit Ingrimm erfannte er das Bejchämende 
feiner Situation. 

„Sch habe allerdings — Ausjicht auf die Erbichaft eines nicht 
unbeträchtlichen Vermögens, und aud) ohne das dürften Sie Ficher 
jein, daß ic) meinen Verpflichtungen gegen Sie nachfommen werde.“ 

Der Geldmann ging einige Minuten, welche Waldau eine Ewig— 
feit däuchten, geſtikulirend und unverjtändliche Worte murmelnd im 
Zimmer auf und ab. Endlich blieb er vor Waldau jtchen. 

„Sch will Ihnen "was jagen, Herr Waldau. Sie können es nicht 
verdenfen einem Manne, der jein Leben lanı m viel gelitten in Ge— 
ichäften mit den Herren Studenten, daß er Hi ) erkundigt nad) Ihren 
Verhältnifien und daß er fordert eine Sicherheit von einem, den er 
fennt.“ Waldau wurde jehr unbehaglich u Muthe, doch athmete er 
erleichtert auf, als Lavinburg fortfuhr: „Wiffen Sie, was ich werde 
thun? Werde gehen morgen früh zum Herrn Baron von Liſſen, werde 
ihm jagen: Herr Baron, jagen Ste ein Wort, daß der Herr Waldau, 
welcher ijt bei mir gewejen um Geld, ift gut für fünfhundert Thaler, 
und id) gebe ihm die fünfhundert Thaler. Und wenn er jagt: Lavin— 
burg, der Herr ijt gut dafür, dann follen Sie haben das Geld, aber 
nicht heute, nicht morgen, aber übermorgen werde ich mir erlauben zu 
fommen zu Ihnen. Iſt Ihnen das redjt?“ 

Waldau erklärte, damit zufrieden zu jein und ging ziemlich be— 
ruhigt wieder heim, 

Zwei Tage jpäter fam Yavinburg, brachte ihm zwei gr von 
je — Mark zur Unterſchrift und zählte ihm fünfhundert 

aler auf. 

j „Sie len Rückſicht nehmen darauf“, jagte er, „daß Ste mir 
nicht find jo Jicher wie der Herr Baron Liſſen oder der Herr Lieute- 
nant Wellheim, und Sie werden mir nicht übel nehmen, daß ich will 
bezahlt jein für mein Rifiko.“ 

Waldau war empört über den unverjchämten Wucher, aber er 
mußte jchweigen, er brauchte das Geld des Mannes zu nothwendig. 
Setzt Eonnte er jeinen Bekannten wieder frei ins Antlig jehen un 
ihnen gegenüber jein Haupt jo ftolz erheben wie zuvor — ein Grund, 
weßhalb er jich auch wieder mehr zu den „Bären“ hingezogen fühlte 
und fortan abwechjelnd jeine Zeit diefen und der Geliebten widmete. 

Doc) war das Gefühl behaglicher Ruhe, welchem er fich hingab, 
nicht von langer Dauer. Die drei Monate Friſt, welche ihm durd) 
jeine Querjchrift gejichert waren, waren bereits zur Hälfte verjtrichen, 
ohne daß er auch nur die leijejte Idee hatte, wie er die Wechjel deden 
jollte. Bei jeinen Freunden fonnte er eine ſolche Summe nicht auf: 
treiben — es ijt ja eine befannte Thatjache, daß diejelben Leute, welche 
am Spieltijch, wo das Geld in den Augen der Spieler nur den hal— 
ben Werth hat, bereitwilligit dem Mitſpielenden ihre Kaſſe zur Ver— 
fügung jtellen, jorgjam die Hände auf den Tajchen en wen ihnen 
ein Freund naht, der ſich in ernſter Verlegenheit befindet. Am Spiels 


Auf Ummegen. 529 


tiich Hat der Borger Gelegenheit, den geliehenen Betrag von dem ans 
dern wiederzugewinnen, und entweder geichieht das, oder der Schuldner 
gewinnt, und in diejem Falle det er bald jeine Schuld. So ift der 
andere gejchüßt und hat eventuell — im erjten Falle — noch die 
Ausjicht, fein Geld zum zweiten Male von dem Schuldner zurüd- 
zuerhalten. 

Waldau wäre es ohnehin jehr unan — geweſen, einem von 
den „Bären“, z. B. Liſſen, der um ſeine Wechſelſchuld an Veit Lavin— 
burg wußte, ſeine abermalige Geldverlegenheit zu geſtehen. Endlich 
verfiel er auf ein Mittel, welches ihm ſchon hier und da in den Kopf 

ekommen war: Pauline. Pauline konnte ihm helfen! Aber ſie 

** es nicht jetzt; denn obgleich er ihr wiederholt geſagt hatte, daß 
er für ſeine Perſon ſo gut wie arm ſei, und nur durch die Güte ſei— 
nes bemittelten Oheims auf ziemlich anſtändigem Fuße leben könne, 
* er ſich doch zu ſehr geſchämt, ohne weiteres ihre Hilfe in An— 
pruch zu nehmen. Aber als zu ſeiner vor der Welt verlobten Braut 
konnte er offener über materielle Dinge mit ihr reden. Weßhalb nicht 
alſo die Verlobung ein wenig beſchleunigen? Imgrunde war die Sache 
ja äußerſt einfach, er eine eigentlid) nur ein — Hundert Karten 
drucken zu laſſen und ſeinen Onkel von ſeiner Verlobung in Kenntniß 
zu ſetzen. Vor letzterem Schritte fürchtete er ſich indeß mit Grund, 
da er wußte, wie wenig der alte Haudegen Freund von jugendlichen 
Verlobungen war, die er jo ziemlich alle unter der Rubrik „Dumme- 
jungenjtreiche“ zuſammenfaßte. Nichtsdejtoweniger mußte er endlich den 
entjcheidenden Schritt wagen. 

Und er that ihn. Vier Wochen darauf ließ er die zierlichen 
Karten stechen: 

Bauline von Garlowa, 
vis Waldau. 

E3 hatte ihn eigentlich faſt frappirt, wie bereitwillig fie auf ſei— 
nen Plan eingegangen war, die Trauer um den verjtorbenen Gatten 
abzufürzen und fi öffentlich mit ihm zu verloben, jie, die jchöne, 
reihe Baronin mit dem unbemittelten und zunächſt ausfichtslojen 
bürgerlichen Studenten. Doch hatte jie fajt ohne jedes Zögern in 
jeinen Borjchlag gebilligt; jie fünnten dann ungenirter als bisher mit- 
einander verfehren, hatte jie gemeint, und er für jeinen Theil glaubte, 
er werde ſich jelbjt zur Arbeit zwingen, wenn er vor der Welt ihr 
Geſchick an das feine gefettet hätte. Jet war es die höchjte Zeit, 
daß er dem Onfel die Verlobung anzeigte, und jo finden wir ihn 
eine® Morgens vor jeinem Schreibtiich, eben im Begriffe, ſich das 
nöthige Schreibzeug zurecht zu legen. Er fühlte fich feineswegs behag- 
(ich) bei dem Gedanken, dem biederen Major jein „Glück“ mittheilen 
zu müjjen, wenn er nicht ini daß rau Fama dies in einer für 
ihn vielleicht wenig günſtigen Weije bejorgte. Er framte eine Weile 
zwijchen jeinen Papieren und öffnete dann hajtig ein, zwei Schieb- 
laden des Sefretärs, um eine neue Feder zu juchen. Da fiel ihm ein 
fleines Etui in die Dun — er fannte es nur zu gut — es enthielt 
Hildegards Ring. Aergerlich warf er das Ding beijeite, es war ihm 
feineswegs angenehm, gerade jetzt an jie erinnert zu werden. Und 
dennoh! Er konnte nicht widerjtehen, langjam griff er nad) dem 

Der Ealon 1887. Heft XI. Band II, 36 


530 Auf Umwegen. 


Käſtchen und betrachtete eine Weile den einfachen, jchlichten, dünnen 
Goldreif mit dem Steine der Hoffnung darauf. Jetzt trug jeine Hand 
anjtatt dejjelben einen prächtigen Opal, welchen ihm Pauline geitern 
Abend an den Finger geſteckt hatte, als er jie in jeinen Armen hielt und 
ſchwor, fie jei jeine einzige, liebe Braut, jeine Herrin, und werde es 
bleiben immerfort. Es war ihm nicht eingefallen, zu vergleichen zwiſchen 
der Geberin des mild glänzenden Smaragds und der des in taufend 
Farben jchillernden Opals, und hätte er es gethan, der Vergleich wäre 
ja doc zu Gunjten der Baronin, feiner Braut, ausgefallen. Aber 
jet jchweiften jeine Gedanken dennoch von diejer ab und zu jeiner 
eriten Liebe, freilih nur, um ihm jein Glück deſto anfchaulicher vor 
Augen zu führen Sem Glüd? War er glüdlih? Er wußte es 
jelbyt nicht recht. Was war überhaupt Glück? 

Da Elopfte es an jeine Thür, und während er hajtig das Etui 
mit dem Ringe wieder an jeinen Plat legte, trat auf jein „Herein“ 
jemand ins Zimmer, auf dejjen Ankunft ev am wenigiten gefaßt war, 
Kein früherer Schulfamerad Ollner. 

„Du begreifjt mein CErjtaunen“, redete er diejen an, „Dich jo 
plöglich hier zu jehen, während ic) Dich in Bonn vermuthete.“ 

„Komme ich Dir ungelegen?“ verjegte der andere. „In dieſem 
alle würde ic) bedauern, Dich zu ſtören.“ 

„Uber ich bitte Dich, Felix, it das die Sprache eines alten Freun— 
des! Ic Freue mich aufrichtig, Dich wiederzujehen, aber jag’ nur, 
welch’ glücklicher Zufall Dich hierherführt.“ 

„Sa babe wegen einer philologijchen Arbeit Gejchäfte an der 
hiefigen Bibliothek, würde Dich übrigens nicht aufgejucht haben, wenn 
nicht ein Gerücht, von welchen ich geitern hörte, mid) veranlaßt hätte, 
Dich zu bejuchen.“ 

Fritz Waldau Jah jein Gegenüber betreten an. Er dachte faum 
noc) an den Brief des Freundes, welchen er einjt unbeantwortet bei- 
jeite gelegt hatte, und deßhalb wurde ihm jetzt etwas unbehaglid). 

„Du haft es nicht für der Mühe werth gehalten, mir zu ant- 
worten“, fuhr Ollner fort, „als ich Dir vor mehr als jehs Monaten 
in einer Angelegenheit jchrieb, welche ich) Dir wohl nicht näher ins 
Gedächtniß zurüdzurufen nöthig habe Du haſt ja überhaupt wohl 
fein Intereſſe mehr für Deine früheren Freunde, da Du jeßt, wie ich 
höre, in weit feinerer und wahrjcheinlich auch befjerer Gejellichaft lebſt. 
Aber ich vernahm gejtern Abend von Knorr, daß Du ſeit längerer 
Zeit in gewiſſen, jehr intimen Beziehungen zu einer Dame ſtehſt, und 
ich möchte — Did) fragen, ob — dies Gerücht auf Wahrheit beruht.“ 

„Du führjt ja ein Wort wie ein Inquilitor, Selig“, antwortete 
Waldau, indem er jich zu lächeln bemühte. „Ich wert nicht, was Dir 
ein Necht dazu giebt — was aber die Dame anbetrifft, von welcher 
Du vedeit, jo ſieh hier!" Er zeigte dem Freunde eine der auf dem 
Tische liegenden Anzeigen feiner Verlobung mit der Baronin. Ollner 
trat einen Schritt zurüd, als er gelejen hatte. 

„Es iſt nicht möglich, Fritz, Du kannſt nicht vorhaben — — Du 
darfit nicht — —“ 

„Was fann ich nicht und darf ich nicht, wenn ich bitten darf?“ 
fragte Waldau mit jcheinbarer Ruhe. 


Auf Umwegen. 531 


„Du Fannjt Hildegard nicht ohne weiteres aufgegeben haben. Sie 
hat Dein Verjprechen, und Du weißt, wie fie auf Dich baut!“ 

„Alſo darauf fommt’3 zulegt hinaus? Nimm’s mir nicht übel — 
einmal iſt von können und dürfen nicht die Nede, da ich mich mit der 
Baronin fürmlich verlobt habe, aljo jeden Gedanken an — Fräulein 
Römer längjt aufgegeben haben mußte. Ich bin nicht ſpießbürgerlich 
genug angelegt, mem Glück an der Seite einer Gattin zu —2* 
welche mir nichts in die Ehe bringt als — ein mehr oder weniger 
abgeblühtes Geſicht, um dann zeitlebens in die Karre eines kümmer— 
lichen Haushalts eingeipannt, mit Sorge von einem Tage in den 
anderen zu bliden. Dazu mögen andere Leute Ausdauer und — 
Neigung beſitzen — ich nicht!“ 

„Wenn Du nur verfucht hätteit, jolche Ausdauer zu zeigen, jo 
würdeit Du handeln wie ein ehrlicher Mann. Aber jo —“ 

„Run? So? Wie handle ich jo, Herr Ollner?“ fragte Waldau 
gefpannt. „Etwa nicht wie ein ehrlicher Mann? Während ich doc) 
— froh jein fann, mich eines — Gejchöpfes entledigt zu haben, das 
jich nicht jchämt, mir zu gejtehen, fie habe hinter meinem Rüden mit 
anderen Männern — XLiebjchaften unterhalten Waldau Hatte in 
höchjter Aufregung gejprochen und jein Vis-A-vis ihm mit fieberhafter 
Spannung augehört. Zulegt jprang Ollner auf. 

„sch will Dir jagen, wie Du gehandelt haft. Nach den Lügen 
— ja, ich betone das Wort — nad) den Lügen, welche Du jo eben 
über Fräulein Römer ausgejprochen, hajt Du nicht nur BEER wie 
ein Niederträchtiger, ſondern biſt auch einer, ein — Schurke!“ 

Wie von einer Natter gebiſſen fuhr Waldau auf den Freund zu. 
Diejer griff nach jeinem Hute und jagte, jeine Erregung befämpfend: 
„Sch bin nicht zweifelhaft, welches die Folge diefer Auseinanderjegung 
jein wird, Zu reden haben wir icdenfalls nichts mehr miteinander.“ 
Damit verließ er das Zimmer. 

Drei Tage jpäter flüjterte man unter den „Bären“ von einem 
Duell zwiichen Waldau und einem jeiner früheren Befannten, einem 
„ziemlich objfuren Menjchen“, der es gewagt hatte, Waldau gröblich 
zu beleidigen und der froh jein dürfe, mit einer ungefährlichen Ver— 
egung am rechten Oberarm davon gekommen zu jein; denn Waldau 
war em anerkannt guter Pijtolenjchüge. Dem Iegteren, dem Helden 
des Tages, war indeß Feineswegs jo wohl zu Muth wie jeinen leicht: 
lebigen Freunden. Er war ſich bewußt, welchen Freund er an Dllner 
verloren hatte und ebenjo, daß er auf Hildegards guten Namen einen 
Sleden geworfen hatte, dejjen er fich jchämen mußte. Er hätte Ollner, 
der jett an jeiner Wunde darniederlag, bitten mögen, ihr nicht3 von 
dem Borfalle zu berichten; denn er fühlte, daß ihm die Meinung, 
welche Hildegard Römer von ihm hegte, troßdem daß er fie aufgegeben, 
dennoch nicht gleichgiltig jei. Die Abjendung feiner VBerlobungsanzei- 

en hatte er vor dem Duell jelbftverjtändlich unterlaffen, nun mußte 

He ichleunigjt erfolgen, da er der Geliebten gegenüber um einen Vor— 
wand für noch längere Verzögerung verlegen gewejen wäre, und zudem 
fam der erite Auguft, der Termin, an welchem er jeine Wechjel deden 
jollte, näher und näher. 

Es war am Tage nach dem Duell; Waldau hatte am Mor— 

36* 


532 Auf Ummegen. 


gen die Karten zur Poſt gegeben, dann „ihr“ einen Beſuch abgeitattet 
und war auf dem Wege nach feiner Wohnung. Ber Rivati lie man 
ihn jedoch nicht jo ungehindert pafjiren; denn während er grüßend an 
der Veranda vorübergehen wollte, wo Torjten und Liſſen jich mit 
einigen anderen Herren niedergelaffen hatten, rief erjterer fräftig und 
laut genug, daß der Betroffene es hören mußte: „Da ijt ja unjer 
Glüdlicher, der Löwe des Tages! est ——— Sie uns nicht ſo 
leichten Kaufes, Waldau! Nur immer heran, alter Freund, daß man 
Ihnen doch wenigſtens gratuliren kann!“ So mußte Waldau näher 
treten und wurde ſofort mit Glückwünſchen überhäuft. 

„seht wird er uns auch wohl einmal eine Chance geben, ſeine 
liebenswirdige Braut kennen zu lernen“, meinte Wellheim. 

„Darf ich bitten, mich dem Herrn vorzuftellen?“ wandte ich jetzt 
bejcheiden ein Herr in Civil an den leßteren. 

„Ah, pardon, im Eifer ganz überjehen! Herr von Dernburg — 
Herr Fritz Waldau, cand. med. und glüdlicher Eroberer der Baronin 
von Garlowa.“ 

„Erſter Schönheit der Stadt“, fügte Liſſen hinzu. 

So geitatten Sie auch mir, Ihnen meinen Glückwunſch darzu= 
bringen, Herr Waldau“, jagte der Fremde, der Haltung nad) ein Offi- 
zier ın Civil. 

Waldau dankte Man redete noch über diejes und jenes, und 
auch an Anspielungen auf das gejtrige Duell fehlte es nicht, doch be— 
mühte ſich Waldsed, welcher für Waldau jekundirt hatte, dem Ge— 
ſpräch eine andere Wendung zu geben. 

Liffen und Torjten unterhielten ſich mit Dernburg, der joeben 
erzählte, wie ein ihnen gemeinjamer Bekannter, ein Freiherr von Eller: 
jen, wegen einer ——— zu halbjähriger Feſtungshaft ver— 
urtheilt worden ſei. „Am meiſten wurde er wegen ſeiner allerliebſten 
Maitreſſe bemitleidet, die man ihm leider nicht gejtattete, auf die 
Feſtung mitzunehmen, und die er nun auf Treu und Glauben für 
ein halbes Lahr verabjchieden mußte. Das Mädchen, eine wirklich 
frappante Schönheit, hat ihm Summen gefojtet, welche eben nur ein 
Majoratsherr und vaterlojer Beſitzer von mehr als einer Million 
Baarvermögen aufbringen fonnte und muß fich ein nicht unbeträcht- 
liches Vermögen allg er er haben. Gott weiß, wo jie jegt 
itedt und ob der arme Kerl, welcher übrigens in zwei Monaten jeine 
Freiheit zurüderhält, fie überhaupt wiederfindet.“ 

„Ra, in jehs Monaten läßt jich jchon 'was vergefjen“, warf 
Wellheim nachtäjiig hin. 

Waldau und die übrigen waren in eifrigem Sera. begriffen. 
Da fuhr plöglich ein Leichter Ponywagen vorüber; die Dame, jeine 
einzige Inſaſſin jah forjchend auf die Gruppe der jungen Männer. 

„Donnerwetter, da — kommt jie!” rief Dernburg und fuhr un— 
willkürlich von feinem Site empor. 

„Wer denn?“ fragte Wellheim gleichgiltig. 

„Die jchöne Pauline, die Maitreſſe des unglüclichen Ellerjen, der 
auf der Feſtung nad) ihr jchmachtet. Bei Gott, fie hat nod) immer 
diefelben Augen wie früher! Doc fie grüßte ja — fenmen Sie die 
Dame?“ wandte er jich verwundert an Waldau, der die Equipage erit 


Auf Ummegen. 533 


im legten Augenblide gejehen und ſich jchnell erhoben hatte, um den 
Hut zu ziehen. Ein vertraulicher Gruß mit der Hand war die Ant- 
wort darauf, der Wagen hielt in geringer Entfernung vom Café und 
Waldau beeilte ji), an denjelben heranzutreten, ohne den Fragſteller 
einer Antwort zu würdigen. Er hatte Dernburgs letzte Worte wohl 
gehört, und das Blut war ihm in die Schläfen gejtiegen, aber er be- 
mühte jich, beim Fortgehen jeine volle Ruhe zu behalten. 

Um jo unruhiger waren die anderen Herren geworden. Bejtürzt 
wandten jie jich an Dernburg: „Um Gottes willen, wie können Sıe 
jo unbedacht jprechen? Die Dame it Waldaus Braut, eine verwitt- 
wete Baronin Carlowa. Sie müfjen fich irren!“ 

Dernburg klemmte jein Glas ins Auge. 

„Sonderbar“, murmelte er. „Dieje Achnlichkeit! Ich Fenne die 
Ichwarzen und doc jo janft blidenden Augen der teufliichen, maje- 
ea Pauline zu gut. Nein, nein, fie iſt's dennoch, fie muß es 
jein. Und dies — Mädchen da wäre die Braut des Herrn Waldau ?“ 
wandte er ſich an Lijjen. 

„Wir jagten es Ihnen ja joeben. Waldau it jeit gejtern mit 
— verlobt. Sie ſoll allerdings bürgerlicher Herkunft ſein, doch von 
ihrem Gemal, einem reichen, alten Baron, ein ziemlich bedeutendes Ver— 
mögen ererbt haben.“ 

„Famos!“ lachte Dernburg. „Ich ſchwöre darauf, meine Herren, 
daß die Dame da nichts weiter iſt als eine gewöhnliche Kokette, die 
frühere Maitreſſe meines Freundes Ellerſen, der ſie — ich weiß nicht 
mehr recht, in welcher Provinzialſtadt — aufgeſtöbert und ſeiner Zeit 
nach Berlin mitgebracht hat. a fie ſich einbildete, Talent fürs 
Theater zu haben, jo jpielte fie zwei, dreimal an einer Eleinen Bühne, 
dann aber entjagte fie jeder Hoffnung, fic) auf den Brettern Ruf zu 
erwerben und verjuchte dajjelbe mit Hilfe ihrer Schönheit und — man 
muß ihr das lajjen — Klugheit allein.“ 

Inzwiſchen war der gen mit der Baronin abgefahren, und 
Waldau trat wieder an den Tiich auf der Veranda. Er ging fofort 
auf Dernburg zu. | 

„Sie haben vor wenigen Augenbliden eine Bemerkung —— 
welche den guten Ruf der Dame, die da ſoeben abgefahren und ‚meine 
Braut tft, in Frage ſtellt“, jagte er halblaut, vor Erregung zitternd, 
während Dernburg ihm ruhig zuhörte. „Sch muß Sie bitten“, fuhr 
Waldau fort, „Ihre Neuerungen über die Dame jofort zu revociren.“ 

„Sch kann mir denken, Herr Waldau, wie jehr Sie durch meine 
Nede getroffen werden mußten. Hätte ich ahnen Fünnen, daß jene 
— Dame diejelbe ift, zu deren Eroberung id) Ihnen vor einer halben 
Stunde Glück wünjchte, ich hätte ficherlid) meine Worte zurüdgehalten 
und Shnen — in mehr jchonender Weiſe Aufklärung über die Ver: 
gangenheit jener — Ihrer Braut gegeben.“ 

„Sie wollen doc damit nicht jagen, daß Sie bei Ihrer Ausjage 
bejtehen?“ rief Waldau aufs äußerſte gebracht. 

„Da ich überzeugt bin, daß ich mich nicht getäujcht habe, da ich 
die Dame vielleicht genauer kenne als Sie, jo muß ic) — leider — 
bei meiner Behauptung beharren.“ 

Waldau war freidebleich vor Aufregung geworden. 


534 Auf Ummwegen. 


„Sie — Sie — find ein — — nein, Sie werden — von mir 
hören!“ Er hielt ſich — an der Stuhllehne, um nicht umzu— 
ſinken; die Beleidigung, welche Dernburg gegen ſeine Braut und ihn 
ausgeſprochen, war zu entſetzlich! Einen Augenblick zögerte er, dann 
— ſich, er bat Waldseck, ihn zu begleiten und verließ mit ihm 
das Cafe. 


* * 
* 


Der — Tag neigte ſich ſeinem Ende zu, als ſich, etwa eine 
halbe Meile vor der Stadt, die Gegner in einem Gehölze trafen. Waldseck 
hatte es übernehmen müſſen, Dernburg die Forderung des unglücklichen 
Mediziners zu überbringen, und hatte nicht verhindern können, daß 
diefer auf der jchärfiten Beitimmung, fünf Schritt Barriere, dreimalis 
ger Stugelwedhiel, beitanden hatte. Es Jollte alfo ein Kampf werden, 
dejjen Musgang für einen der Gegner tödtlich jein mußte. Waldau 
weigerte ſich entichteden, irgend welche von den Erklärungen anzu— 
nehmen, welche Dernburg geboten hatte; noch) heftiger verwarf er den 
Gedanken, die Baronin auch nur im leiſeſten ahnen zu lajfen, in weld) 
ernite Berwidelungen er jich ihretwegen und zur VBertheidigung jeiner 
eigenen Ehre eingelajjen hatte. 

Wenige Minuten vor jehs Uhr erichien er mit Waldsed auf dem 
Plate, wo er den Arzt und Lieutenant Wellheim, welch legterer als 
Unparteitijcher fungiren jollte, bereits antraf, und bald darauf fam auch 
der Wagen, welcher Dernburg und jeine Sefundanten brachte. Die 
Diftanzen wurden bejtimmt, der Unparteiiiche unterfuchte die Waffen 
und machte, jelbjtverjtändlich ohne Erfolg, den üblichen Sühneverſuch, 
die Gegner nahmen ihre Pläte ein. Da hörte man plöglich auf dem 
etiva Mebzig Schritt vom Orte vorbeiführenden harten Wege den 
Icharfen Hufſchlag eines Pferdes. 

„Halt!“ rief Wellheim. „Die Waffen fort!" Man machte eine 
Pauſe, um abzuwarten, daß der Reiter den Ort paſſirt hätte; doch nad) 
einer fleinen Weile Höre man, dat das Pferd jtand, und wenige Augenblide 
jpäter betrat die Waldeslichtung ein Mann im eleganten Reifeanzuge, die 
Neitpeitiche in der Hand. Es war eine jtattliche —— das 
Männliche in dem Geſicht erhielt durch den Ausdruck lachenden Ueber— 
muths, — aus den Augen ſtrahlte, etwas ungemein jugendliches 
— hätte nicht das ſorgſam friſirte dunkle Haar an den Schläfen und 
am Schnurrbarte etwas ins Graue geſpielt, ſo würde man geglaubt 
haben, einen Jüngling von dreiundzwanzig Jahren vor ſich zu ſehen. 
So aber mußte der Herr für einen Mann gehalten werden, der ent— 
weder die vierzig überſchritten oder in jüngerem Alter etwas raſch 
gelebt hatte. 

„Ellerſen! Bei Gott, er it es!“ rief Dernburg in höchſtem Erſtaunen. 

„Allerdings, alter Kerl, ich bin's.“ Oskar von Ellerſen ſtellte 
ſich mit höflicher Verbeugung den Anweſenden vor, welche ſich die 
Scene noch nicht ganz klar zu machen wußten. „Wie ich ſehe, komme 
ich noch zu rechter Zeit, einen ernſten Kampf zwiſchen den Herren hier 
zu vereiteln.“ Waldau war ſprachlos, und in namenloſer Spannung 
(En jein Auge an den Lippen des Fremden. „Sie wiſſen, meine 
Herren“, fuhr diejer fort, „Daß ich wegen einer Kleinigkeit ſechs Monate 


Auf Ummwegen. 535 


hinter den en verjchwinden follte und daß ich erit in 
circa ſieben Wochen in ‚Freiheit zu ſetzen war. Gejtern ijt mir indeffen 
der Nejt meiner Büßerzeit erlajjen, und jo fomme ich heute Nach: 
mittag bier an. Auf dem un treffe ich Toriten, der mir Die 
ganze Geichichte, welche ja wohl gejtern Morgen zwijchen Herrn 
Waldau und Dernburg ſich abipielte, haarklein erzählt, Ich eile zu 
dem leßteren, Torjten zu dem anderen Herren, aber unglücklicherweiſe 
treffen wir niemanden zu Haufe. Selbjtveritändlich galt dann mein 
Beluch der — Braut diejes Herrn, und ich hatte das Glück in ihr meine 
jchmerzlich entbehrte Pauline wiederzuerfennen. Im eriten Augenblid 
zwar wollte fie von mir nichts wijjen, doch war es für mich ein leich- 
tes, ihr Gedächtniß ein wenig aufzufriichen, jo daß jte bereit iit, ſich 
dieſem Herrn gegenüber“, dev Nedner wies mit einer Kopfbewegung 
auf Waldau Hin, „vollitändig ſchuldig zu bekennen. Mittlerweile war 
e3 jpät geworden, Toriten borgte mir deshalb jein Pferd, und — da 
bin ich, um Ihnen zu jagen, was ich eben jagte.“ 

Waldau hatte während diejer Rede jtarr wie eine Bildjäule da= 
gejtanden; bald überlief es ihn heiß, bald falt, während er Ellerjens 

dorte vernahm. Er wollte vorjpringen, aber die Kräfte verlichen ihn 
plöglid), und noch ehe der Fremde ausgeiprochen, war er zu Boden 
gejunfen. Der Arzt eilte hinzu, und ihm gelang es, ihn bald wieder 
zum Bewuhtjein zu bringen. Wire jchaute er um fi), jprady ein 
paar unverjtändliche Worte und reichte dann Dernburg die Hand. 

„sh — danke Ihnen“, jtöhnte er, während er ſich erhob. „Und 
— Ihnen auch, Herr Baron“, fügte er, zu Ellerfen gewandt, hinzu. 
Weiter fam fein Wort über jeine Yıippen. 

Wie Waldau nad) Haufe fam, wußte ev nit. Er wußte nur, 
daß er betrogen worden, mit faltem Blute, mit Ueberlegung hinter: 
gangen von einem Weibe, deren Geliebten er ſich gewähnt hatte, deren 
Sklave er in Wirklichkeit gewejen war, und jein ganzer Mannesitolz 
bäumte ſich auf gegen die Nievertracht mit welcher ihn diefe — Dirne 
behandelt hatte — er hätte mögen laut aufjchreien vor Wuth umd 
Sammer und Schmerz, al3 er wieder zwijchen jeinen vier Wänden jic) 
befand und vajtlos im Zimmer aufs und niederichritt. Er 308 ihren 
Ring vom Finger und warf ihn in eine Ede, doch im nächiten Augen— 
blide nahm er ihn wieder auf und jtedte ihn gi ih. Ihr Bild ſtand 
auf einem Spiegeltiichchen. Er zertrat den Rahmen mit den Füßen 
und zerriß die Photographie in hundert Stüde, er nahm ihre Wriefe 
und verbrannte diejelben im Ofen, dann fuhr er wieder fort, das 
Zimmer zu durchmefjen. Ueber dem Sopha hing eine Eleine Pijtole, 
ein Hinterlader, dejjen jaubere Arbeit er oft bei Waldsed bewundert 
und den diejer ihm zum Geſchenk gemacht hatte. Er nahm die Waffe 
herab — er wollte jeinem Leben ein Ende machen, doch da befann er 
jich, daf man nachher jagen würde, er habe jich ihretwegen erjchojfen, 
und das wollte er nicht, dieſes Weib jollte nicht auch noch den 
Triumph haben. Endlich nahm er feinen Hut und eilte ins Freie. 
Die Dämmerung war mittlerweile hereingebrochen — er hatte nicht 
darauf geachtet. Ohne Zwed und Ziel irrte er umber, und dennoch 
fand er ſich zulegt — vor ihrem Haufe Er wollte vorübergehen, 
aber, er wußte nicht wehhalb, er trat ein. Die Zofe bejchted ihm, 


536 Auf Ummegen. 


ihre Herrin ſei abwejend. Er hörte nicht darauf, ſondern jchritt hajtig 
an dem ängſtlich ausweichenden Mädchen vorüber in ihr Boudoir. 
Die Dienerin hatte auf Befehl gelogen. Pauline war zu Haufe; jie 
lag nachläſſig in einem Schaufeljtuhl, während jie mit den Fingern 
in einem Sournal blätterte. Ber jeinem Eintritt fuhr fie empor, doc) 
nur einen Augenblid drückte ihr Antlig eine gewijje Beltürzung aus, 
dann blickte jie ihn müde durch die halb gejchlojjenen Augen an, ohne 
ji) zu erheben. 

Ich Pause daß Annette Dir gejagt hat, ic) jei nicht zu ſprechen“, 
jagte jie gleichgiltig, ihn nur mit einem einzigen Augenaufichlag jtreng 
mujternd. 

„Nicht zu Sprechen? Hahaha!“ lachte er bitter. „Aber — bis- 
her war man zu jprechen, wie? Die Frau VBaronin von Carlowa 
war für ihren ergebenen Diener zu Haufe, die — Dirne ijt für den, 
welchen fie ſchnöde belogen und betrogen hat, natürlıd) unfichtbar!“ 

Ihr Blid flammte auf. 

„sch werde die Polizei rufen lafjen, wenn Sie nicht verjtehen, 
ſich zu mäßigen“, jprad) ſie gelajjen. 

„Die Polizei! Werb, weißt Du, daß ich Dich fünnte als gemeine 
Betrügerin, als Hochſtaplerin anklagen, daß Du hinter die Gitter eines 
Kriminalgefängniſſes gehörteſt? Aber jet ruhig, ich werde meinen guten 
Namen nicht dadurch bejudeln, daß ıch dulde, er werde noch länger 
mit dem Deinen in Verbindung gebracht.“ 

„Sehr richtig, mein Herr! Site werden fi) in Ihrem eigenen 
Intereſſe wohl hüten, unjere Sache an die große Slode zu hängen; 
und zuden, wejjen fünnte man mic) bezichtigen?“ fragte jie, während 
fie den blaujeidenen Pantoffel auf der Spite ihres linken Fußes 
balanciren ließ. „Sch habe mir erlaubt, einen andern Namen anzu— 
nehmen — voiläa tout. Alles übrige, was zwijchen uns vorgefallen, 
it nicht Sache der Gerichte. Ich habe es für gut befunden, mid) mit 
Ihnen ein wenig zu amüjiren, und ich denfe, daß Sie ſich dadurd) 
wel geehrt fühlen jollten. Ob ich) nun aber damit ein Staats: 
verbrechen begangen habe, weiß ich nicht.“ Sie blidte gleichgiltig 
auf die Spitze des PBantoffels, während cin verächtliches Lächeln ihren 
jchönen Mund umijpielte. 

„So iſt's recht“ lachte er. „Nachdem das Spiel aus ijt, zeigt 
man jich in jeiner wahren Gejtalt, und der legte Nejt von Scham 
ſchwindet, den man in jeder weiblichen Bruſt vermuthen follte, ſelbſt 
in der einer —“ 

„Einer rau meines Schlages, wollen Sie jagen? Sagen Sie 
e3 immerhin, mich wird's nicht Fränfen, viel weniger als mich die 
taufend Beletdigungen gekränft haben, denen ich früher ausgejeßt ge— 
wejen bin. Ein Mädchen niederen Standes, was ift es für ud) ? 
Eine Waare, die man fauft für Geld und wegwirft, jobald man ihrer 
überdrüſſig it! Ich babe geichiworen, mid) einmal für die Stellung 
zu rächen, welche die Männer mir gegeben haben, und id) habe es in 
dDiefem Falle fertig gebracht. Nachdem ich einmal von einem Eures 
Schlages ſchändlich hintergangen war, hatte ich) nur die eine Idee, 
mich und mein Gejchlecht zu rächen an Euch, an diejer feigen, hinter: 
lijtigen, hochmüthigen, geldjtrogenden Welt von Geden, und in Herrn 


55 


— 


en 


Auf Ummegen. 537 


von Ellerfen fand ich mein erjtes und — dankbarſtes Opfer. Ich 
war jchön, ich wußte es, und ic) war Flug genug mic) zu jchonen.“ 
Sie erhob ſich plötzlich. „DO, wie glüdlid) war ich jedesmal, wenn ich 
den hochmithigen Narren neue Koften verurjacht hatte“, jagte fie halb- 
laut. „Mein Plan war, ihn ganz zu ruiniren — nicht daß ich —** 
geldgierig geweſen wäre — ich brauchte das Geld meiſt nur, um es 
u brauchen. Leider entging der Aermſte, für eine Zeit lang wenig— 
ung meinen theuren Ketten. In dieſer Zwiſchenpauſe kam ich hierher 
— ich ſah Dich, und Du ſchienſt mir das richtige Subjekt, eine Rache 
anderer Art zu empfinden. Ich ſehe, daß ich mich nicht getäuſcht 
hatte. Ich hatte —“ 

„Weib, bring mic) nicht zum Aeußerſten!“ ziſchte er. 

Sie fuhr gelafjen fort: „Sch hatte mir für derartige Fälle Geld 
genug erjpart, brauchte aljo auf Deine Börje nicht zu jpefuliren. Daß 
wir uns nie heiraten würden, war jelbjtveritändlich, aber eine Ver— 
lobung genügte mir zunächſt. Sch wollte einmal die offen erklärte 
Braut eines jogenannten anjtändigen Menjchen fein, um mich nachher 
an dem Aerger, an der hal Wuth dejjelben zu weiden. Dazu 
brauchte ich den angenommenen Namen — leider, denn meinen eige- 
nen halte ic) immerhin weit höher. Auf ein bißchen geheuchelte Liebe 
konnte es mir zudem nicht ankommen — dieſe — gehörte ja zu mei— 
nem Beruf, zu dem Beruf, zu welchem Ihr mich getrieben, Ihr, die 
beuchleriichen, gemeindenfenden Kreaturen von abgelebten Bonvivants!“ 
Ihre Stimme war bis zur Heftigkeit gejtiegen; jetzt fuhr fie wieder 
ruhiger fort: „Du biſt nicht der Schlimmite unter diejen gewejen; ich 
nahm Dich nur, weil ic) den anderen nicht Gefühl genug zutraute, 
für meine Rache empfindlich zu ſein. Somit dürfteit Du Dich noch 
— fühlen, daß ich Dich gewählt habe. Aber der Letzte wirſt 

u nicht ſein, welcher von mir betrogen wird“, redete ſie heftig wei— 
ter. „Als mich der erſte Mann, deſſen Worte nichts waren als eine 
lange Kette von Lügen, hinterging, als die Leute mit Fingern auf 
mich zeigten, da habe ich Rache geſchworen, Rache nicht dem Einzelnen, 
ſondern Euch allen, Euch feigem, wortbrüchigen Geſchlechte, und ſo 
lange ich meine Reize noch unverwelkt erhalten kann, werde ich den 
unternommenen Kampf fortſetzen. Was liegt daran, wie er für mich 
einmal endet! Was ſetze ich aufs Spiel? Ein Leben, das mir ſelbſt 
eine Qual iſt! Und wenn ich dieſes verliere, was ſchadet es der 
Welt? Der eine oder der andere unter Euch wird dumm genug ſein 
zu ſagen: ſchade, war eigentlich ganz paſſabel, während er ſich freuen 
jollte, an mir einen Feind zu verlieren. Im übrigen wird die Welt 
froh jein, von mir, von einer — Dirne befreit zu ſein“ Bei den 
legten Worten war fie wieder auf ihren Sit zurüdgejunfen und 
jtüßte den jchönen Kopf, von welchem die dunklen, glänzenden Haare 
in langen Wellen den Naden berabfielen, in die Hand, während es 
offenbar heftig in ihr wogte. Das zeigte die lebhafte Röthe ihrer 
zuvor bleichen Wangen, das Beben der halbgeöffneten Lippen, das 
Wogen der vollen Büſte. 

Waldau war während ihrer Rede auf einen Stuhl geſunken und 
ſaß vornübergebeugt, die Hände zwiſchen den Knieen verſchlungen, 
während ſein jtarrer Blick ſich auf den Boden heftete. Der Kopf 


538 Auf Ummegen. 


ſchwirrte ihm bei jo viel Bosheit, Rachſucht, Gemeinheit, bei dem 
Wahnwitz diefes dDämonenhaften Weibes. Er wuhte nicht, was er er- 
widern jollte, ihre legten Worte hatten auf ihn nicht den geringiten 
Eindrud ausgeübt. Er war fich nur der einen Thatjache bewußt, daß 
eine Dirne, die Maitrejje eines reichen Junfers, ihr Spiel mit ihm 
getrieben habe. Er erinnerte jich aber, daß er ihren Ring noch in 
der Tajche hatte, er zug ihn heraus und warf ihn ihr vor die ‚Füße, 
indem er aufitand Ins ohne ein Wort zu jagen, das Zimmer verlieh. 
Ein Hohngelächter folgte ihm nad). 


* * 
* 


Es dauerte lange, ehe Fritz Waldau von einer Krankheit, welche 
anfangs einen ſehr ernſten Charakter anzunehmen drohte, aber zum 
Glück im Keime erjtidt wurde, genas — erjt nad) acht Tagen durfte 
er das Bett verlajjen, der Arzt hatte ihm abjolute Ruhe geboten und 
jede Aufregung jtreng unterjagt. Er war entjchlojjen, den Rath) des 
bewährten Mannes zu befolgen und gab jich deßhalb Mühe, Das 
Brüten über die Vergangenheit zu unterlajjen. Aber nad) und nad) 
traten ihm deren Bilder immer jchärfer vor die Scele, doch es war 
feine Spur von Liebe mehr in ihm zu der Betrügerin, und jelbjt der 
Ingrimm, mit welchem er ihrer gedachte, war reichlich mit Verachtung 
gemischt. Nachdem jeine Gedanken klarer geworden waren, befiel ihn 
indeſſen wieder die Sorge um die Summe, welche er jchuldete, und 
die hagere, gebücte Gejtalt des alten Veit Yavınburg trat vor feine 
Augen, drohend wie ein graues Geſpenſt, das ihn jagte und ihm feine 
Ruhe ließ bei Tag und Nacht. Die Summe war ja an und für ſich 
nicht jo bedeutend, daß jein Oheim fie nicht hätte ohne weiteres zah— 
len fünnen, aber er fannte den jtreng rechtlichen Sinn des leßteren. 

Einmal hatte er ihn gebeten, einen ungleich kleineren Schuldbetrag 
für ihn zu zahlen, und noch erinnerte er fi der heftigen Scene, 
welche er mit dem Alten gehabt hatte. Schließlich hatte diejer ge 
zahlt, aber mit der feiten Verſicherung, er werde aufhören, ſich um 
den Neffen zu fümmern, jobald er höre, dal diefer wieder die gering- 
jten Schulden mache. 

„Sc gebe Dir deßhalb einen jehr anftändigen Wechjel“, hatte er 
gejagt, „damit Du nicht nöthig haft, bei anderen Leuten zu borgen. 
Brauhit Du einmal eine Heinere Summe für außergewöhnliche Aus- 
gaben, jo wende Dich getrojt an mid) — Schulden erniedrigen den 
Mann, geben ihm das Gefühl der Abhängigkeit gegen Fremde, und 
ichlieglich lernt der, welcher avig borgt, jich jelbjt mihachten. Wem 
aber Selbjtachtung fehlt, der iſt auf dem 3* Wege ein ſchlechter 
Menſch zu werden. Habe die Güte, Dir das als meine per— 
ſönliche am einzuprägen und behellige mich nicht wieder mit 
dem Anfinnen, Schulden zu bezahlen, die Du leichtfinnig fontrahirt 
haft.“ Fritz hatte fich Diele „perlönliche Meinung“ feines Oheims frei: 
lid) feſt genug eingeprägt, jo feit, daß ihm jchauderte, wenn er an die 
Konjequenzen dachte, die jein Leichtſinn nad) ſich ziehen könnte. 

Und noch ein zweiter Gedanfe quälte ihn: der an Ollner. Knorr, 
welcher ihn in feiner Krankheit ein paar Mal bejuchte, berichtete zwar 


Auf Hmwegen. 539 


von dem außerordentlich günitigen Verlauf, welchen die Heilung der 
Wunde an Ollners Arm nähme, aber nichtsdejtoweniger fühlte ic) 
Fritz Waldau jehr unbehaglic, wenn er daran dachte, daß er dem 
alten Freunde jeiner Kindheit mit der Waffe in der Hand gegenüber: 
geitanden, ja, daß er eigentlich durch die furchtbare Beſ ulbigund) 
welche er gegen age Römer —— den Kampf mit Oll— 
ner provozirt habe. Aber dennoch wollte jic) feine wahrhaft verjühn- 
liche Stimmung gegen den legteren jeiner bemächtigen. Er fühlte, 
daß er Hildegard bitteres Unrecht zugefügt habe, aber er war eines— 
theil® zu halsitarrig, überhaupt Abbitte zu thun und hatte anderer: 
jeit3 auch nicht die geringite Luſt, zu irgend einem weiblichen Wejen 
wieder in Beziehungen zu treten. Eine hatte ihn jchamlos hinter: 
gangen — zum zweiten Male wollte er nicht der Spielball von 
MWeiberlaunen werden! Und wenn er auch gewollt hätte, würde nicht 
jegt ihr Stolz jede ermeuerte Annäherung zwijchen ihr und ihm ver: 
boten haben? Und dann — zunächſt fehlte ihm nichts nöthiger als 
Geld, alſo etwas viel materielleres als Männerfreundjchart und 
Frauenliebe. 

Das Baare aber wußte er nirgend zu finden. Knorr hatte er 
jeine Berlegenheit eingeitanden, aber deſſen Verjuche, bei den „Bären“ 
für ihn Geld zu borgen, waren erfolglos — Waldsed, der einzige, 
auf welchen Fritz rechnete, war jelbjt nicht bei Kaffe gewejen. End— 
lich) fam der lange gefürchtete erjte Auguſt, und als am folgenden 
Tage die Wechjel noch nicht eingelöjt waren, Elopfte gegen Abend Beit 
Lavinburg an Waldaus Thür. 

„Nehmen Sie mir's nicht übel, Herr Waldau, wenn ich komme, 
Eie zu erinnern an die Kleinigkeit, welche Sie haben vergejjen geitern . 
zu zahlen“ Damit holte er aus feiner umfangreichen fettglänzenden 
Xedertajche die beiden Wechjel hervor. 

„Sch bin Leider auferitande, Ihnen das Geld gleich zu geben, 
Herr Lavinburg“, eriwiderte Waldau. „Wie Sie jehen, bin id) franf 
und war deshalb verhindert, die Summe zu beſchaffen, während die 
Gelder, welche ich von Hauſe erwartete, ausgeblieben find.“ 

. „Sehr gut, Herr Waldau. Sie werden nicht jagen, daß der alte 
Lavinburg bedrängt jeine Leute. Werde ich warten bi3 morgen, big 
iibermorgen, nein, drei Tage, und mer dann erlauben, Sie zu bejuchen 
von neuem.” Und der Alte ließ die Papiere wieder in feiner Brief— 
tajche verichwinden, die er, als veritände ſich die Sache von jelbit, 
gleihmüthig einjtedte. 

„Sc werde — vorausjichtlicy auch dann noch nicht imſtande jein 
— die — Summe zu zahlen, Herr nn jagte der Student 
gepreßt. „Ih — ig wollte Ihnen den Vorſchlag machen, mir die 
Kleinigkeit bis über drei Monate zu prolongiren; ich werde dann ſicher 
imſtande ſein, Ihnen den ganzen Betrag einzuhändigen.“ 

„Wie haißt Kleinigkeit? Fünfzehnhundert Mark ſind for mic) 
keine Kleinigkeit!“ ſchrie jetzt der Jude, während er lebhaft mit den 
Händen in der Luft herumfocht und unter ſchmerzlichen Geſichtsver— 
zerrungen im Zimmer umherlief. „Habe ſelbſt zu machen ein großes 
Seichät in acht Tagen, wo ich werde brauchen alles Geld, was ich 
fann auftreiben.“ 


Pl 


540 Auf Ummwegen. 


„ber ic) habe jegt ganz einfach fein Geld!" jagte Waldau mit 
Beitimmtheit. 

„Sp werde ic) lajjen die Wechjel gehen unter Protejt, und man 
wird jchreiben an Ihre Angehörigen, was Sie find for ein Mann, 
und werde ich haben mein Geld von Ihren Angehörigen“, jagte der 
Jude entrüitet. 

„Mein Oheim wird ganz einfach nicht zahlen, Herr Lavinburg; 
es wäre alſo unmüge Mühe, jich an diejen zu wenden. Mir freilich 
würden Sie große Unannehmlichkeiten dadurd) bereiten, ohne jelbit 
dutzen davon zu haben. 

„Gut, jo werde ich Sie lajjen pfänden und verfaufen, was Sie 
haben!“ 

„Geſetzt, dies geichähe — aus meiner Habe würden Sie nicht den 
fünften Theil der Summe löjen.“ 

Lavinburg jah ſich im Zimmer um. 

„Bott Abrahams, jo bin ich ein geichlagener Mann und gefon- 
men um mein Geld!“ wehklagte er. „Aber ich werde Sie anzeigen 
bei Gericht, werde —“ 

„Sch möchte Ihnen einen anderen Vorſchlag machen“, jagte Wal: 
dau mit erheuchelter Ruhe. „Zie prolongiven mir die Wechjel auf 
neue drei Monate, während ich Ihnen eine angemejjene PBrovifion im 
voraus baar auszahle.“ 

Der Geldmann überlegte lange. 

„So geben Sie mir lieber gar nichts“, jagte er endlich. Ich 
werde Ihnen geben zweihundert Mark baar, und Sie jchreiben mir 
zwei neue Wechjel à 1000 Mark auf drei Monat. Ich ſchwöre Ihnen, 
daß ich nicht kann laſſen das Geld billiger! Ich hätte fünnen ver: 
dienen hundert Prozent in acht Tagen, wenn ich gehabt hätte Ihr 
Geld.“ 

Waldau war des Streitens müde — ſolchen Scenen war feine 
ſchwache Gejundheit noch nicht wieder gewachien. Er willigte ein, 
ohne auch nur im entferntejten zu wijjen, wie er die. Summe jpäter 
aufbringen wollte Jetzt hatte er wenigitens Zeit gevonnen, und er 
hatte Recht, wenn er zu ich jelbit jagte, er fünne leichter zweitaujend 
Mark in drei Monaten als jechzehnhundert in drei Tagen auftreiben. 

Acht Tage jpäter erhielt er einen Brief von jeinem Oheim, wel: 
cher bejorgt anfragte, ob er noch nicht bald jeine ‚serien beginnen 
wolle; doch vergingen noch mehrere Tage, ehe Fri Waldau ftark ge 
nug war, die Reife nach Gellheim zu unternehmen. 


* * 
* 


Während alledem hatte in dem weitläufigen ſtillen Hauſe am 
Markt zu Rhedern auch nicht ewiger Sonnenschein gejchienen. Tante 
Fannys fortwährendes Unwohlſein hatte ſich nach und nach als chroni— 
Des Magenleiden feitgejegt, welches zulegt jo heftig wurde, daß die 
Patientin das Bett nicht verlajjen Fonnte. Dabei wurde aucd Tante 
Betty, welche ſah, wie die Schweiter ihrer Auflöjung entgegenging, 
jelbit jo angegriffen, daß Hildegard in ihr eine zweite Kranke zu ver: 
pflegen hatte. Mit bewundernswürdiger Ausdauer fam fie ihren 


Auf Umwegen. 541 


Pflichten nach; man hätte fie tapfer nennen dürfen wegen der Stärke, 
welche jie in diejer Zeit und bei ihrem eigenen Seelenzuftand an den 
Tag legte. an wachte jie über der Kranken, und wenn fie 
ji einmal ein wenig Ruhe gönnte, um Tante Betty den Poſten am 
Bette der Schweiter zu überlafjen, jo war jie jicher nad) ein bis zwei 
Stunden wieder im Sranfenzimmer, um ihren Dienjt von neuem auf- 
zunehmen. SKopfichüttelnd un der alte Kreisphyſikus Ollner das 

reiben eine Weile an, bis er endlid) energijc) auf Annahme einer 
Diakoniſſin en 

Eines Abends hatte Hildegard wieder die Nachtwache bei der 
Kranken übernommen, bis gegen Morgen Tante Betty eintrat. 

„Aber Tante, weßhalb ließeſt Du mich nicht wachen bis zum 
Morgen?“ 

„Sch konnte ohnehin nicht ruhig jchlafen, liebes Kind. Laß mid) 
deßhalb ein Stündchen an Deine Stelle treten.“ 

„Sch bin aber gar nicht müde“, warf Hildegard ein. 

„Du gutes Mädchen!“ jagte die Tante, während fie einen Kuß 
auf die bleiche Wange der Nichte drüdte „Geh jetzt zu Bett, ich 
bitte Dich, und jchlaf ein wenig; Du mußt Dich jchonen. Thue es 
mir zu Liebe.“ 

„Dann thue ichs, Tante“, erwiderte Hildegard leiſe und jchlich 
aus dem Zimmer. Mit feuchtem Auge jah ihr Tante Betty nad) und 
blidte dann bejorgt auf die Kranke, welche in einen ruhigen, wohl— 
thuenden Schlaf verjunfen jchien, a ee zeugten davon Die regel— 
mäßigen Athemzüge, unter welchen die Brust jich leife hob und ſenkte. 

Tante Betty mochte recht gehabt haben, als jie jagte, fie habe 
unruhig gejchlafen. Sie ſchien jehr abgejpannt; noch eine Weile 
tümpfte ſie mit Macht „gegen die Müdigkeit an, welche jie überfam, 
dann jchlojjen jic) ihre Augen und jie ſank in einen unruhigen Schlaf. 
Plöglich fuhr fie aus demjelben empor und öffnete die Augen — fie 
ſchämte N vor ſich jelbit; wie lange mochte fie wohl geihlafen haben? 
Die Heine Uhr an der Wand zeigte auf ſechs — zwei Stunden aljo; denn 
um vier Uhr hatte fie ihren Boiten angetreten! Sie jah auf die Kranfe 
— erjt jet bemerkte jie die unheimliche Stille im Zimmer, das nur das 
leife Ticken der Uhr durchtönte. Leiſe näherte fie ihr Ohr dem Munde der 
Schweiter — fein Athemzug war hörbar, fein Hauch verrieth, ob nod) 
Leben in der Gejtalt war, welche unter der weißen Dede des Bettes 
ruhte. Das Geſicht fam ihr plöglich jo bleic), jo jteinern vor — ein 
namenlojer Schred ergriff fie — fie faßte nad) der Hand der Schwe- 
ſter — diejelbe war falt wie Eis. Bon furchtbarem Entjegen ergriffen, 
rief fie laut den Namen: ‚„Fanny! Schweiter Fanny!“ Das waren 
ihre legten Worte. Mit einem unterdrüdten Schrei jtürzte fie neben 
der todten Schweiter zu Boden. Der Schred hatte fie — und 
die Diakoniſſin, welche Dr. Ollner verſchrieben hatte, konnte nichts 
thun, als zwei Leichen in ihre Särge betten. 

* e 


Es dauerte lange Zeit, bis Hildegard, welche der plötzliche Tod 
der beiden Perſonen, die von früher Kindheit an Mutterſtelle bei ihr 
vertreten hatten, wie ein Donnerſchlag getroffen hatte, ſich etwas er— 


Are 


542 Auf Ummwegen. 


holte. 5 hatte ſie in der Familie des würdigen Dr. Ollner, 
der in früheren Jahren ein vertrauter Freund ihres Vaters geweſen 
war und nun, im Verein mit ſeiner gutherzigen Frau die Freundſchaft 
für den Vater auf deſſen Tochter übertrug, ein Unterkommen gefunden. 

Der Ernſt, welchen ſie eingenommen hatte, würde in Schwermuth 
ausgeartet jein, wenn nicht ihre gejunde Natur, die ihr jeden Müßig— 
gang von jeher unmöglich gemacht hatte, jie getrieben hätte, die Auf: 
merfjamfeiten, welche ihr ım Ollnerſchen Hauje zutheil wurden, der 
tüchtigen Hausfrau durch ihre Unterjtügung im Hauswejen zu ver: 
gelten. So wurden durch das rege praktische Schaffen der Hände 
aus ihrem Kopfe Gedanken verbannt, weldye für ihren Gemüthszu— 
ſtand von nachtheiligen Folgen hätten jein können, und deßhalb Lich 
der alte Ollner jie getrojt fich den Eleinen Bejchäftigungen bingeben, 
welche die Führung eines Haushaltes erfordert, wenn jchon jeine 
Frau gern Hildegard von jeder Arbeit fern — hätte. 

Obgleich mittlerweile der Auguſt ſeinem Ende nahte, war Felix 
Ollner noch nicht — Hildegard gegenüber hatte er ſeine 
Theilnahme durch einen ausführlichen Brief an den Tag gelegt und 
ugleich ſeine Freude darüber ausgedrückt, daß ſie das Anerbieten 
Deines Vaters angenommen habe; er jelbjt werde binnen furzem jeine 
Arbeiten an der Univerfitätsbibliothet beendet haben und jich freuen, 
dann jeine alte Freundin im elterlichen Haufe begrüßen zu künnen. 
Bon der wahren Verzögerung jeiner Abreije, der Verwundung am 
Arm, jchwieg er jelbitverftändlich, Doch war der Heilungsprozep fajt 
fo gut wie beendet, jo daß er in der That wenige Wochen jpäter in 
Nhedern eintraf. 

Zwiſchen ihm und Hildegard bildete jich bald ein noch freund- 
Schaftlicheres Verhältniß, als es u. der Fall gewejen war — durd) 
den gemeinfamen Schmerz um die Todten, welchen auch Felix Ollner 
die unbedingtejte Verehrung gezollt hatte, waren fie ſich erheblich 
näher gerüdt. Zudem exijtirte zwijchen ihnen noch ein anderes, ge— 
heimnißvolles Band, welches fie beide ahnen ließ, daß ihr Denken 
nicht jelten auf einem und demjelben Punkte zujammentraf. Hilde— 
gard Fonnte nicht aufhören, Frig Waldaus zu gedenken, ihre Gedan- 
fen nicht in Stetten jchlagen, um zu verhindern, daß fie immer und 
immer wieder zu ihm hinüberflogen, der fie vor einem Jahre noch jo 
heiß, jo leidenschaftlich geliebt, und Felix trauerte beinahe um den 
verlorenen Freund wie um einen Todten, ohne daß jemand im Haufe 
eine Ahnung davon hatte, was zwijchen ihm und Waldau vorgefallen 
war. Bier und da freilich wurde der ame des legteren genannt, 
doch vermied der junge Ollner, ein Gejpräch über ihn einzugehen, 
und Hildegard lohnte ıhm feine Schweigjamfert, welche jie jıch nicht 
anders als durch die Rückſicht zu erklären wußte, die er auf ihren 
Gemüthszuſtand nahm, durch einen danfbaren Aufichlag ihrer großen, 
ernſt blidenden Augen. Sie ſchrak jedesmal zulammen, wenn durd) 
eine Wendung des Gejpräches Fritzens Name genannt wurde, umd« 
dennoch! — wie gern hätte fie gewußt, was er treibe, und ob er in 
jeinen Studien rüſtig voranſchreite; denn neben aller Entjagung, welche 
fie ſich jelbit vorpredigte, feimte ihr doch tief im Herzen ganz leije 
etwas wie Hoffnung, daß Waldau eines Tages als gemachter Mann 


Auf Umwegen. 543 


vor jie treten und ihr von neuem fein Herz antragen werde, daß er 
nur für die Dauer feiner Studienjahre frei von allen Feſſeln fein 
wollte, welche das dauernde Gebundenfein an ein weibliches Wejen 
= fräftigen Entwidelung jeiner Geiftesthätigkeit vielleicht anlegen 
Önnte, 

Ein Zufall jollte ihren Wünſchen in gewiſſer Hinficht entgegen- 
fommen. Eines Tages war fie in einem Zimmer, welches hur durd) 
eine Thür von der Wohnftube getrennt war, mit einer — be⸗ 
ſchäftigt, während der Phyſikus und ſein Sohn ihre Mittagscigarre 
rauchten und über dieſes und jenes plauderten. 

„A propos“, warf Dr. Ollner gleichgiltig hin, „Du warſt doc) 
kürzlich längere Zeit in H.; biſt Du denn dort nicht mit dem jungen 
Waldau zujammengetroffen? Ihr waret dod) früher unzertrennlic), 
wie ich meine?“ 

Bei Nennung des Namens fuhr Hildegard, welche durch die halb— 
geöffnete Thür fait Wort für Wort veritand, unwillkürlich empor, 
ſie hielt mit ihrer Arbeit inne und lauſchte gejpannt dem Fortgange 
des Geſpräches. Auf die ‚Frage des Alten 3 eine kurze Pauſe, 
bis ſie Felix antworten hörte: „Ich bin ſelten mit ihm zuſammen— 
gekommen, da er wenige Tage nad) meiner Ankunft ſchon in die 
Ferien reiste und zudem — —“, der Student jtodte. 

„Kun, was denn? Ihr habt Euch doch nicht überworfen?“ fragte 
jein Vater. „Ich habe Fritz Waldau eonft immer für einen Menſchen 
gehalten, welcher das Zeug zu etwas tüchtigem hat, und — was ſei— 
nen Charakter angeht, jo fam er mir wie ein junger Mann vor, der 
gern das Rechte Bucht und es verhältnigmäßig leicht findet.“ 

„Bon einem — eigentlichen — Zerwürfniſſe zwiſchen ung ijt auch 
nicht die Nede“, war die Antwort. „Fritz pflegte nur einen — für 
meine Mittel und meine Neigung etwas zu — noblen Umgang und 
mag mit demjelben aud) wohl jeine Anjichten geändert haben — kurz, 
mir jchien, wir pahten nicht mehr jo recht zujammen.“ 

„gm, hm! Ei, das ijt mir unlieb zu Pören“ knurrte der Doftor, 
„Freilich, der Junge wurde von feinem Onfel ein bichen verwöhnt, 
hatte immer die Tajchen voll Geld, dejjen Werth er wenig zu jchäßen 
wußte. Da kommen denn die noblen Baflionen leicht von jelbit, be— 
ee wenn der alte Major, jein Onfel, ihm den nötigen Wechjel 
iefert.“ 

„Sch fürchte faſt, Papa, Waldau lebt über feine Mittel hinaus 
— id) — glaube, er madıt hier und da Feine Schulden“, jagte der 
junge Ollner zögernd. „Sch hörte, daß es mit feiner pekuniären Lage 
nicht bejonders bejtellt ſei.“ 

„Dann wünjche ich ihm, daß jein Oheim nicht hinter feine Schliche 
kommt. So weit ich den alten Soldaten fenne, würde er wenig Feder— 
leſens mit dem Neffen machen!“ 

„Das Scheint auch Fritz zu befürchten, da er, anftatt feinen Onfel 
um Unterjtüßung zu bitten, mit einem als wenig jErupulös bekannten 
Geldleiher in Verbindung getreten ift.“ 

„ie? So weit ift er jchon gefommen?“ rief der alte Ollner 
entrüftet aus. „Dann bedaure ich in der That den alten Major, der 
jeinen Stolz auf den Jungen jeßte.“ 


544 Auf Umwegen. 


„Sch glaube, Du urtheilit etwas zu hart, Water”, jagte Felix 
Heinlaut. „Wer weiß, wie viel Verführungskünſte dazu gehört haben, 
um Fritz Waldau, der nun einmal in ariftofratischen Övefien ji) woh⸗ 
ler rüblte als in der Gejellichaft jeiner bürgerlichen Kommilitonen, 
dahin zu bringen, daß er genöthigt wurde, von Beit Lavinburg zu 
borgen!“ 

„Das Ändert an der Sache jo gut wie nichts. Werm ein junger 
Mann, vornehmlich auf der Univerfität, einmal einen dummen Streich 
und eim bischen Schulden macht, jo mag * das hingehen. Wenn 
aber ein Student beſtändig über ſeine Mittel hinaus lebt und endlich 
gezwungen iſt, Wechſelſchulden zu kontrahiren — dann hört bei mir 
doch die Gemüthlichkeit auf. Mich geht die ganze Gejchichte nichts art, 
aber jo gern ich Fri Waldau früher in meinem Haufe Jah, jo iit es 
mir diesmal doc lieb, zu hören, daß Du nicht mehr jo inttm mit ihm 
ftehft wie früher.“ Damit jtand der alte Herr erregt auf und durch— 
maß unruhig das Zimmer. 

Hildegard hatte mit Beſorgniß, zulegt mit Schreden vernommen, 
welcher Art das Leben fei, das Fritz Waldau auf der Hochſchule führte, 
und ihre Brujt wogte heftig, während der alte Dllner Fritzens Hand 
[ungsweije jo vernichtend verurtheilte. Sie rang nad) Athem — ihre 
Lippen, aus denen alles Blut gewichen war, bebten leife aufeinander, 
fie ließ die Arbeit, welche jie in Händen hielt, zu Boden gleiten, und 
frampfhaft ſchloſſen fich ihre Finger ineinander wie zum Gebet. Ihr 
anzer Stolz war gebrochen, nun ıhr nicht mehr erlaubt war, auf ihn 
ſtolz zu jein; fie Nelbit, die ihn troß all’ der Wunden, welche arg 
Liebe ihr geichlagen, für den edeljten, männlichiten Charakter hielt, 
war gedemüthtgt, indem fie hörte, wie tief ihr Geliebter unter dem 
Niveau ſtehe, über welches jie ihn jo hoch erhoben hatte. Jet hätte 
fie ihn beinahe haſſen fünnen, da er ihr nun aud) den letzten Schims 
mer von Glück —— hatte — aber es war nur die Stimme des 
beleidigten Mädchenſtolzes, welcher zu ihr ſprach — ihre Liebe wur— 
zelte zu feſt, als daß ſie ihn hätte wirklich aufgeben mögen. Hun— 
dert Gedanten auf einmal durchkreuzten wirr ihren Kleinen Kopf. Fritz 
fonnte verleumdet, fonnte betrogen jein von Leuten, die fich jeine 
— nannten, und am Ende befand er ſich gerade jetzt in größter 
Noth! Lange ſaß ſie da, endlich faßte ſie einen Entſchluß, ſie wollte 
zunächſt mit Felix Ollner reden. Sie erhob ſich und ging in das 
anſtoßende Gemach. 

Der Phyſikus hatte daſſelbe verlaſſen, und ſein Sohn allein ſaß 
nachdenklich in einem Seſſel. Bei ihrem Eintritt erhob er beſtürzt 
den Kopf — ſein erſter Gedanke war, daß ſie Ohrenzeuge des ganzen 
Geſprächs mit ſeinem Vater geweſen ſein mußte. 

„Mein Gott — Fräulein Römer!“ 

Sie ließ ihn nicht zu Worte kommen. 

„Jawohl, Felix, id) habe alles gehört, und —“ fie rang einen 
Augenblid nad) Athem — „ih bin Ihnen dankbar dafür, da — Sie 
si über — Ihren Freund — jo gut unterrichtet Haben.“ Ein wenig 
Bitterfeit lag in dem Tone, in welchem jie die Worte herausprefte; 
e3 war, als zürne fie dem Freunde, welcher ihr über das Treiben des 


3 


nd 
































Schneelawine in 





Colorado. 








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Auf Ummegen. 545 


einjtigen Geliebten die Augen geöffnet hatte, und Felix Ollner be 
merfte es. 

„Bet Gott“, ſprach er, „hätte ich ahnen fünnen, daß Sie meine 
Worte hörten, ich hätte nicht geredet — ich —“ 

„And weßhalb nicht? Weßhalb mic) fortwährend im Zweifel 
laſſen über einen Gegenjtand, der mic) — Sie wuhten e8 ja — bis- 
her mehr interejlirte als —“ 

„IS er es verdiente, wollen Sie jagen? Ich verjichere Sie, 
Fräulein Hildegard, Fritz Waldau ijt Ihrer Liebe umwürdig. Er 
hat“ — doc) nein, wie konnte er jeinen Freund jo furchtbar Bei ihr 
anklagen und zugleich ihr eine ſolche Wunde beibringen! Er ſchwieg. 

„Sprechen Sie nur weiter, Herr Ollner“, jagte Hildegard fait 
ftreng. „Sie erzählten joeben, Fritz habe leichtjinnig gelebt, er ver: 
fehre in wahrjcheinlich frivoler Sefeltichaft, bat e — iſt er — — o 
Gott, ich muß es wiſſen, und ich beſchwöre Sie, ſagen Sie mir die 
Wahrheit! — liebt er eine andere?“ Angſtvoll hing ihr Auge an ſei— 
nen Lippen, während ſie ſich ihm gegenüber auf einen Stuhl ſinken 
lieg und das Tuch, welches fie in der Hand hielt, zujammenpreßte. 

Ihr Gegenüber blidte einen Moment verlegen zu Boden, endlich 
ſchien er mit jich jelbit einig. 

„Rein, Hildegard, nein! Ich ſchwöre die Wahrheit zu jprechen 
— er liebt feine andere Frau!“ Er wuhte ja, daß er infofern nicht 
log, als Waldau nad) der Katajtrophe mit der faljchen Baronin jede 
Hindeutung auf jein Berhältnig zu diefer mit Entrüftung zurüdge- 
wiejen hatte. 

Erleichtert athmete Hildegard tief auf. Ein Gedanke durchſchoß 
ihr Hirn — fie glaubte ein Mittel gefunden zu haben, ihn zu retten. 

„Sie jagten, Fritz Waldau habe — nicht unbeträchtliche — Schul- 
den gemacht.” Das lebte fam zögernd über ihre Lippen. 

„Ich weiß nur, daß er wahrjcheinlich ein paar Mal gejpielt hat, 
daß er verlor, und, da ihm die Mittel fehlten, die fehlende Summe auf: 

ubringen, einem Juden Wechjel in einer für die Verhältnijfe eines 
Studenten beträchtlichen Höhe gab.“ 

„Und wiſſen Ste das bejtimmt, F Ollner?“ 

„Leider ziemlich genau. Ich habe die Nachricht von einem ung 
gemeinjchaftlichen Freunde, welchem er jelbit geitand, daß er, um eine 
frühere Wechjelichuld zu deden, jeinem Gläubiger neue Wechjel im 
Betrage von zweitaujend Mark übergeben und bis dahin noch feine 
Ahnung hat, womit er diefe Summe zahlen joll.“ 

Ste fümpfte eine Jet lang mit ihrem Stolze, dann wandte fie 
ſich entjchloffen wieder dem jungen Manne zu: „Sch habe eine Bitte 
an Sie, Herr Ollner. Ste müfjen mir helfen, ihn von weiteren Schri= 
ten zurüdzuhalten. Wollen Sie das thun?“ Angjtvoll fragend jchau- 
ten die erniten Augen zu ihm auf. 

„Es iſt Ihnen befannt, daß ich — jein Freund war, und wie 
gern ich mich Ihren Wünjchen füge, wiſſen Ste gleichfalls“, verſetzte 
er aufrichtig, indem er ihr fejt ins Auge jah. 

„sc danke Ihnen, Felix. Ste kennen den Namen von Waldaus 
Gläubiger?“ | 

Der Salon 1887. Heft XL. Band II. 37 


F 


546 Auf Umwegen. 


„Er ijt ein Jude namens Veit Lavinburg, Fräulein Hildegard. 
Doh Sie wollen doch nicht — —“ 

„Sie verſprachen mir beizuftehen, Herr Ollner! Suchen Sie die 
Wechſel in Ihre Hände zu befommen — löjen Sie fie ein; ich werde 
Shnen die nöthige Summe übergeben, morgen — nein, heute nod). 
D Gott, wie froh ich bin, die Summe deden zu können! Wollen Ste 
zur Sparkafje gehen und für mich den Betrag entheben? Sagen Sie, 
ıh hätte andere Verwendung für das Geld, oder was Ste jonit 
wollen! Aber Fritz — Waldau darf unter feinen Umftänden erfahren, 
daß ich es bin, welche die Wechjel ın Händen hat.“ 

Ollner — alles. 

„Sie ſind ein Engel, Hildegard. Gott IE Ihnen, was Sie 
an meinem Freunde thun!“ jagte er, während jeine Augen jich mit 
Thränen füllten. 

E3 war das erjte Mal, dat das junge Mädchen fait etwas wie 
Freude über ihre Selbititändigfeit empfand. Sie war einzige Erbin 
ihrer Tanten geworden, welche fein bedeutendes, aber dennocd ein weit 
größeres Vermögen hinterlafjen hatten, al3 irgend jemand in Rhedern 
je vermuthet hatte. 


* * 
* 


Die Ferien nahten * Ende, und Fritz Waldau fühlte ſich, je 
näher der Termin ſeiner Abreiſe von Gellheim rückte, immer beklom— 
mener — wußte er doch, daß am erſten November der unerbittliche 
Veit Peine ihn wieder aufjuchen werde, um jeine Wechjel zu 
präjentiren! Da erhielt er eines Tages von diefem ein Schreiben, ın 
welchem der alte Wucherer in den höflichiten Ausdrüden von der 
Welt „Sr. en dem Herm Studenten“ von neuem jeine 
Dienste anbot. Noch merkwürdiger als der Brief jelbft war die Ein— 
lage — die beiden Papierftreifen, welche den Aussteller fajt zur Ver— 
— getrieben hätten. Vergebens zerbrach ſich Waldau den Kopf, 
wer die Wechſel eingelöſt haben könnte — die wenigen Zeilen Lavin— 
burgs boten auch nicht den geringſten Anhaltspunkt. Knorr, ge 
um jeine Verlegenheit gewußt hatte, fonnte unmöglich über folche Be— 
träge verfügen; dennoch nahm jid) Waldau vor, ihn bei eriter Gelegen- 
heit zu befragen — möglich, daß er ihn wenigſtens auf eine Fährte 
bringen fonnte. Sein Oheim ließ durch nichts merfen, daß er von 
der Geldverlegenheit des Neffen etwas wußte, und wenn feine Gattin, 
die ſonſt wohl bereit gewejen wäre, ihrem Liebling zu — als 
ütige Fee ſeiner Geldnoth ein Ende gemacht hätte, würde ſie doch 
chwerlich geſchwiegen haben. Jedenfalls war Waldau eine Centner— 
laſt vom Herzen genommen, doch fühlte er ſich auch noch jetzt etwas 
unbehaglich, da er nicht wußte, als weſſen Schuldner er 19 zu be= 
trachten habe. Unbedingt wollte er aber mit Veit Lavinburg feine 
nähere Belanntichaft mehr pflegen. 

So reijte er wieder zur Univerfität ab, mit den beiten Vorſätzen 
und dem Entjchluß, jein möglichjtes zu thun, um Licht in das mär- 
chenhafte Dunfel zu bringen, welches die Perjon des ihm jo holden 
deus ex machina umgab. Einer feiner. erften Gänge war zu Knorr, 
der aber von der ganzen Sache nichts wilfen wollte. 


Auf Umwegen. 547 


„Sei frob, daß Du Deiner Schulden ledig bit, Kerl!” jagte er 
leihthin. „Sch wollte, meiner nähme fid) auch "mal irgend ein Hein— 
zelmann an, der mir mit ein paar taufend Marf unter die Arme 
greift Ic jage Dir, es würde ein famoſes Leben! Alle meine 

chulden würde ich wen und ein Semejter lang jchiwelgen wie ein 
angehender Gott! Was Deinen Wohlthäter angeht, jo habe ich natür- 
lid von ihm feine Ahnung. Aber — gräme Dich nur nicht deßwegen!“ 

Ungern nur betrat Waldau das Haus Lavinburgs, um einen 
Verſuch zu machen, zu erfahren, wer ihm die zweitaufend Mark aus: 
gegantt habe. Aber der Jude, welcher ihn übrigens mit den tiefiten 
Büudlingen und der ausgejuchtejten Höflichkeit behandelte und fich wie- 
derholt zu allen möglichen Dienjten anbot, wollte entjchieden nicht mit 
der Sprache heraus. beſchwor hoch und theuer, daß er nicht an- 
ders geglaubt habe, al3 der fremde Herr, der ihm die Summe über: 
brachte, habe im Auftrage des Ausitellers der Wechjel gehandelt, zu— 
mal er ihn beauftragt habe, die Papiere Parse ER an Waldau 
abzufenden. 

„Und Sie haben feine Ahnung“, fragte Waldau, „wer die Berfon 
it, welche bei Ihnen war?“ 

„Will ich doc) jterben auf der Stelle, will ich fein pe be vor 
dem Gott Iſraels, wenn ich's weiß!“ verjegte der Jude FF elzudend. 
„War ein jchlanfer, großer Herr mit blondem Haar, welcher ijt ge- 
fommen Fr mir und hat gejagt —“ 

„Schon gut, Herr Lavinburg, ich ſchenke Ihnen den Reit“, unter- 
brach ihn Waldau. „Wann war der Herr hier, jagten Ste?“ 

„E3 war am jechzehnten Oktober, und ich habe nicht gezögert, 
Ihnen zu jchiden die Wechjel, die Sie müfjen erhalten haben am 
jiebzehnten.“ 

Waldau jah ein, daß Lavinburg nicht mehr jagen fonnte oder 
wollte. - Er verließ deßhalb Die Ic Kenne des legteren und jann nad). 
Entweder en die räthjelhafte Perſon, nad) der er — in der 
Stadt, oder ſie hatte ſich nur kürzere Zeit da aufgehalten. Aber in 
welchem Haufe? Waldau kam auf die abenteuerliche Idee, die Frem— 
denliſten ſämmtlicher Hötels der Stadt zu revidiren, um zu ſehen, ob 
dieſelben ihm vielleicht irgend welchen Anhalt böten. ittlerweile 
erſchien ihm die Sache immer unerklärlicher. Auf der Straße traf er 
mit Graf Torſten zuſammen — er wollte ausweichen, wurde aber mit 
derſelben Familiarität begrüßt wie —— 

. „Schön, daß Sie wieder da find, Waldau! Ich habe mid, ordent— 
lich nad) Ihnen gejehnt. Notabene — vor kurzem traf ich auch Ihren 
Gegner von damals, den Herrn — Dllner; jo war ja wohl jein 
Name? Hat ficd) wundervoll erholt feit jener Affaire. Konnte aller- 
dings nur wenige Minuten mit ihm zujammen jein, wollte gerade 
abreijen, al3 er anfam. Sagte, er hätte hier nur einen bis zwei Tage 
% thun, erfundigte fich übrigens auch nad) Ihnen, d. h. danach, ob 
ie hier wären.“ 

‚Wiſſen Sie nicht mehr, an welchem Tage Sie ihn hier getroffen 
haben?“ fragte Waldau lebhaft. Ihm Fam — ein Gedanke. 

Laſſen Sie ſehen! Am zwölften kam ich aus der Schweiz zurück, 
am achtzehnten war die Hochzeit meiner Schweiter, zwei Tage vor: 

37* 


548 Auf Ummegen, 


her fam ich zu Haufe an — richtig, am jechzehnten vorigen Monats 
war es, nachmittags gegen drei Uhr! Genauer fünnen Sie's doch nicht 
verlangen?“ fuhr der Graf lächelnd fort. 

„sch — danfe Ihnen“, verjegte Waldau und eilte davon, ohne 
dem verblüfften Toriten ein Wort weiter zu jagen. Jetzt hatte er es 
heraus: Ollner mußte es gewejen jein, der an Yavinburg die Summe 
gezahlt hatte — Ollner, dem er noch wenige Wochen zuvor mit der 
Piſtole in der — gegenüber geſtanden, und mit welchem er ſeit 
jener Zeit jede Verbindung abgebrochen hatte! Ollner! Ein anderer 
wäre ihm lieber geweſen, als dieſer ſtrenge Sittenrichter, wie er ihn 
nannte — es war zu beſchämend für ihn, daß er gerade dieſem ſeine 
Rettung danken ſollte. 

Noch an demſelben Abend ſchrieb er an ihn einen ausführlichen 
Brief. Die Antwort ließ nicht lange auf ſich warten, und ihr Sinn 
war für Fritz Waldau nicht weniger durchſichtig als ihre Abfaſſung 
fur; und bündig. Sie lautete: 

„Lieber FJo 
. Ich muß jeden Dank für einen Dienſt, den ich Dir geleiſtet haben 
foll, ablehnen, da id) viel weniger Dir als vielmehr einer Perjon 
dienjtbar jein wollte, deren Infognito Du reſpektiren — X 
ein F. O.“ 

Jetzt wußte Fritz Waldau genug. Das Blatt entſank ſeiner 
Hand, als er die Betten gelejen; er barg jein Haupt in den Händen 
und — weinte. 


* * 
* 


Ein Jahr nahezu war vergangen. Wieder grünte und blühte 
draußen der Sommer, und wieder rüjtete ſich Waldau zur Ferien— 
reife. Er wollte zunächſt einer Einladung feines Freundes Knorr fol- 
gen, um nach langer Zeit einmal wieder den Reiz des Familienlebens 
in einer kleinen Stadt zu fojten. Herzlich wurde er von dem Vater 
des Freundes empfangen. 

„Sie fommen gerade zu rechter Zeit, Herr Studioſus“, jagte am 
Abend der alte Herr, ein verwittweter Beamter. „Uebermorgen haben 
wir hier großes Volksfeſt mit Vogelichiegen, Mufif, Tanz und —“ 

„Borrührung Jämmtlicher in Freiheit drejfirten Töchter von Klinge— 
bühl“, ergänzte Knorr jun. 

„Kun ja, ohne Damen geht's doc) nicht. Jedenfalls ijt dieſes 
dreitägige Feit an unjerem Orte das Hauptereignig im ganzen Jahre. 
Ich hoffe, Sie werden ſich amüſiren. Als ich jung war, gab's für 
mich nichts jchöneres als unjer Sommerfelt. Sie fünnen eine ganze 
Anzahl junger Damen fennen lernen, die werth jind, daß man fi fie 
jie intereſſirt.“ 

Klingebühls Hauptfeittag im Jahre war gefommen, und Häufer, 
Straßen und Menſchen wetterferten in ihren lien Gewändern mit 
einander. Auf dem Seltplage hatte ji) Waldau mit dem Freunde an 
einem Tiſche unter dem Hauptzelte niedergelajien, von wo aus die 
beiden bequem das Treiben der Menge beobachten und ihre Bemer— 
fungen über Ddiejelbe austaufchen fonnten. Knorr erging fich nad) 
jeiner Weiſe in Sarkasmen über die vorbeidefilivende Menjchheit, be= 


— 


Auf Ummwegen. 549 


jonders über deren „bejjere* Hälfte, von welcher er jelten ein Exem— 
plar pajjiren lieh, ohne in jeiner Weije einen Stommentar zu der Ber: 
jon zu liefern. 

„Sieh da“, wandte er Jich beim Erjcheinen einer neuen Gruppe 
an den za, „Familie Fernkuppel, Vater, Mutter und drei hoff: 
nungsvolle Töchter. Erjterer trichtert jenen Gymnaſiaſten die Weiss 
heit des Pythagoras in die harten Schädel, während die Frau Mutter 
ihre Töchter, einjt alle drei Sterne eriter Größe an unſerem Gejell- 
Ichaftshimmel, zur gefälligen Anficht und Abnahme jeit acht Jahren 
vergebens in und um Klingebühl jpazieren führt. Fräulein Amalie, 
die Ältejte, wäre einmal beinahe Frau Doktorin geworden, wenn nicht 
der arme Doktor Scheibel eingejehen hätte, daß er bei den äußerſt 
günjtigen ſanitären Verhältniſſen unferer Stadt auf die Dauer ohne 
gefichertes Nebeneinfonmen nicht wohl leben fünne, und deßhalb die 
dicke Wittive eines Dampfmühlenbejigers vorzog. So mahlt die jetige 
rau Doktor nach wie vor per Dampf Mehl, während ihre frühere 
stonkurrentin, Fräulein Amalie, ſich bemüht, ihre Nebenbuhlerin mit 
der Schärfe ihrer Zunge zu zermahlen. Fräulein Elvire, die zweite 
Tochter, hatte ein ähnliches Schickſal mit dem Proviſor der Stadt: 
apotheke zu erleiden, und die bejte von allen, Fräulein Malvine — 
doc), Donnerwetter!” unterbrach er jelbjt jeinen Redefluß, „da iſt ja 
ein Anhängjel, das ich noch gar nicht gejehen habe — Du fennjt die 
Dame?“ wandte er ſich plögli im höchſtem Erjtaunen an Waldau, 
der ſich grüßend erhoben hatte. 

Der legtere konnte jeine Verlegenheit nicht verbergen. 

„Zufällig“, murmelte er, „— ſie iſt aus Nhedern, weißt Du.“ 

„Bei Gott, die tit von anderem Schlage, als unjere Schönen!“ 
fagte Knorr bewundernd, indem er einen Fräftigen Zug aus jeinem 
Weinglaſe that. „Diejes Geficht, diefe Haltung! Uebrigens trägt ſich 
die Dame für unjere Verhältniſſe außerordentlich einfach) — das 
jchwarze Gewand ſcheint auf Trauer zu deuten.“ 

Se Waldau hatte ſich von feiner anfänglichen Beſtürzung be— 
reits völlig wieder erholt. _ . 

„wet Verwandte von ihr find vor ungefähr einem Jahre ges 
ftorben, daher wohl die dunklen Farben.“ 

„Die fie übrigens ausgezeichnet Heiden. Dieje jchweren, blonden 
[echten jehen falt aus, als ob jie durch ihre Fülle dem Stopfe die 
tolze Haltung gäben, welche neben dem ernſt blickenden Auge die 

Trägerin unnahbar zu machen jcheint.“ 

Auf Hildegard Römer — denn fie war es, welche Knorr den 
bevundernden Nusruf entlocdte — hatte das plößliche Wiederjehen des 
einstigen ©eliebten und Freundes ihrer Kindheit einen ähnlich ver- 
wirrenden Eindruck a wie auf den letteren jelbit, und fie hatte 
alle ihre Willenskraft zujammennehmen müſſen, um ihre Befangenheit 
vor den Augen ihrer Begleitung zu verbergen. Ste war zufällig mit 

rau Dr. Dliner, welche in Klingebühl in der Gattin des Gymnafial- 
ehrers Fernkuppel eine Jugendfreundin bejuchte, hierher gekommen 
und hatte jich bald an die jüngjte der drei Töchter des Mathematifers 
inmig angejchlojfen. Die veränderte Umgebung, der Wechjel in ihrem 
Berfepr. hatten jo wohlthätig auf fie gewirkt, daß die mütterliche 


550 Auf Ummegen. 


Freundin bei ihrer Abreife das junge Mädchen gern noch einige Tage 
ım gajtlichen Haufe des alten Fernkuppel zurüdlieg und Hildegard 
jogar zur Theilnahme an dem Sommerfejte, dem Haupttage im Alma- 
nad) von Klingebühl, ermunterte. E3 war jeit dem Tode der Tanten 
das erjte Mal, da das junge Mädchen eine Feſtlichkeit bejuchte, und 
wennſchon jie weit heiterer gejtimmt war als je zuvor, jo wußten ihre 
drei Freundinnen doc genau, daß fie in ihr feine Rivalin beim Tanz 
zu befürchten hatten — um jo lieber jahen fie Hildegard mitgehen. 

Nachdem dieje ſich mit der Familie an einem Tijche niedergelajjen, 
fand ſie Re jih zu jammeln, indeß war ſie keineswegs darauf ge- 
faßt, mit Fritz Waldau zujammenzutreffen, und umjomehr erjtaunt, ja 
bejtürzt, als fie jah, wie diejer ſich mit einem Male in Gejellichaft 
Knorrs und im Schlepptau Doktor Fernkuppels ihrem Sitte näherte. 

Der bei jolchen Gelegenheiten recht aufgeräumte alte Herr hatte 
die beiden Freunde an ihrem einjamen Tiſche entdeckt und konnte nicht 
umbin, nachdem er mit Waldau befannt gemacht worden, die Herren 
Studiojen als jchägenswerthe Acquifition für jeinen Familientiſch ab— 
zuführen. Knorr hatte mit Freuden eingewilligt und jein Freund fand 
feinen Grund zurüdzubleiben, jo daß nach ein paar Minuten der 
Mathematitus mit jeiner Eroberung und einem gewifjen triumphiren- 
den Lächeln neben ee Ehehälfte erjchien. 

„Hier bringe in Dir zwei junge Herren von der Medizin, liebe 
Amalie“, wandte er ſich an ſeine Gattin, welche mit dem freundlichſten 
Lächeln den beiden Studenten entgegenkam. „Herr Knorr iſt ja ein 
alter Belannter, aber hier — Herr Kandidat Waldau, meine rau, 
meine Töchter Amalie, Elvire und Malwine, Fräulein Hildegard Römer.“ 

Die drei Töchter machten ebenjoviele ſüß lächelnde Gefichter und 
vorschriftsmäßige Verbeugungen, während Fräulein Römer in größter 
Befangenheit vor ihrem alten Freunde jtand. 

— meine, Du genöſſeſt die Ehre, von Fräulein Römer gekannt 
zu ſein?“ fragte Knorr ein wenig verwundert den Freund, während 
die erſtaunten Blicke der ganzen Geſellſchaft von dieſem zu ſeinem 
Vis-a-vis und von da wieder auf Waldaus Geſicht wanderten. Hilde— 
gard ſtand da, wie mit Purpur übergojjen, ein Umjtand, welcher den 
drei jungen Damen am Tijche nicht entging; doch verjuchte Frig Wal— 
dau Io unbefangen wie möglich zu erwidern: 

„Allerdings habe ich die Freude, eine alte Bekanutſchaft zu er- 
neuern, was mir um jo angenehmer jein kann, als ich in meinen 
Knabenjahren längere Zeit mit Fräulein Römer in demjelben Haufe 
wohnte.“ 

„Aber das ijt ja ein merfwürdiges Zujammentreffen! Nein, wie 
hübjch ſich das trifft! Da fünnen Ste am Ende von Fräulein Römer 
manches über Berjonen hören, die Ihnen früher nahe ſtanden!“ ſchwirrte 
es durcheinander, während der Herr Papa feineswegs außer Faſſung 
fam und nur in wenigen beifälligen: „jo, jo!“, „da wird ſich Fräulein 
Römer freuen!“ jeine Freude über die umerwartete Begegnung der 
beiden kundgab. 

Es währte nicht lange, bis Knorr mit Fräulein Amalie zum Tanze 
abjichwirrte, und da deren Schwejtern ebenfalls von ein paar tanzlujtigen 
jungen Leuten abgeholt waren, jo blieb es Frig Waldaus Aufgabe, 


Auf Umwegen. 551 


für Hildegards Unterhaltung zu ſorgen. Wennſchon ihm dies jchwer 
genug wurde, jo empfand er dennoc) etwas wie jühe Qual, einmal 
wieder in ihrer Nähe zu jein — er hätte auch für nichts in der Welt 
den Pla an ihrer Seite an einen anderen abgetreten, als fie ſich 
erhob und er mit ihr dem Doktor und dejfen Gattin folgte, um dem 
Tanze, an welchem jie nicht theilnehmen wollte, zuzujchauen. Sie 
hatten — eine Weile über Rhedern und deſſen Bewohner miteinander 
eſprochen, aber wenn auch allmählich die Rede glatter von ihren 
'ippen floß und fie lebhafter wurde im Fragen und Erzählen, immer 
lajtete e8 wie ein Alp auf beider Brujt; denn zu eng waren Die 
Grenzen ihrer Unterhaltung gezogen, zu leicht famen he hart an das noli 
me tangere des Geheimnitjes heran, welches fie miteinander verfnüpfte 
und dennoch ferner von einander hielt, als wenn fie ſich eine Stunde 
zuvor völlig fremd gegenüber gejtanden hätten. 


Das würdige Ehepaar, das ihnen vorausgegangen war, hatten 
fie in der dämmerigen Abendluft bald aus den Augen verloren und 
beide fühlten num, da fie allein waren, mehr als zuvor das drückende 
ihrer Situation. Eine Weile jchritten fie jchweigend in geringer Ent- 
fernung vom Tanzzelte nebeneinander her, endlich brach er das Eis: 

an Römer, ich — doch nein, ich will nicht von mir reden. 
Aber iſt es nicht wunderbar, daß wir uns hier, beide fremd am Drte, 
jo plöglich treffen?“ Er wußte mit einem Male nichts bejjeres zu 


agen. 

Site blieb jtehen und jchaute ihn aus ihren großen blauen Augen— 
iternen einen Augenbli nachdenklich an. 

„Allerdings, Herr Waldau, es ijt ein merfwürdiges Zujammen- 
treffen nach —“, erjchredt hielt fie inne, als fürchte fie, mehr zu jagen, 
als fie wollte. 

„Rad zwei vollen Jahren der Trennung, wollten Sie jagen? 
Der bitteren Trennung — für mich, der ich den Tag jegnen möchte, 
wo ich Sie wiedergefunden!“ 

„Sie wollen damit doc) nicht etwa jagen, dat Sie diefen Tag 
berbeigewünjcht haben?“ Der Ton, in welchem fie ſprach, Elang gleich- 
giltig, fait rau. — 

gehe Und weßhalb nicht?“ 

„Weil es Unrecht von Ihnen wäre — nein, weil ich Ihnen nicht 
zutrauen mag, daß Sie — charakterlos genug find, nad) dem, was 
zwiſchen uns vorgefallen, aud) noch ein erneutes Zufammentreffen her— 
beizujehnen!“ 

Bei dem Worte „charakterlos“ war er zujammengezudt, als habe 
ihm jemand einen Schlag verjegt, doch nur einen Moment — im näch— 
jten jtand er wieder aufrecht und jchlagfertig ihr gegenüber. 

„Und wenn ich num gefommen wäre, mich bei Ihnen für Ihre 
— Großmuth zu bedanfen ?“ 

Jetzt fuhr fie unmerklich zujammen — fait beftürzt warf jie den 
Kopf empor und jchaute ihm * end in die Augen. 

„Wer — wer hat Ihnen — Herr Waldau, dag — —“ 

„Wer mir's geſagt hat! Sie ſehen, daß ich es weiß, daß Sie — 
Großmuth übten, wo ich als — Niederträchtiger an Ihnen handelte. 


De. 


552 Auf Ummwegen. 


Sie wijjen freilich nicht, wie tief Sie mid) dadurd) vor mir jelbjt er— 
niedrigten, Sie fünnen den Schmerz nicht verjtehen, mit welchem ich 
von Ihrem Opfer hörte, Sie —“ 

„O bitte, jchweigen Sie, Herr Waldau!“ flehte jie angitvoll. 

„Nein, nein, ich werde nicht ſchweigen, ich werde nicht eher auf- 
hören zu Ihnen zu veden, bis Sie mir jagen, daß Sie mir verziehen 
haben, da Sie einen Fehler, welchen ich hundert-, taujendmal bitter 
bereute, mir nicht mehr nachtragen!“ 

Ste kämpfte einen jchweren Kampf. Krampfhaft hob ſich ihre 
Brust; jie wandte ihm den Rüden — als er ihr wieder ins Auge 
blickte, ja er es voll Thränen. 

„Ich — ich habe Ihnen verziehen“, jprach fie leiſe, fait un— 
hörbar. 

„Hildegard!“ rief er außer ſich. Alle die lange und — ver⸗ 
haltene Leidenſchaft brach mit einem Male hervor wie ein Vulkan — 
Liebe, Entzücken, bange Erwartung, namenloſer Schrecken malten ſich 
in den drei Silben. „Wollen Sie zu Ihrer Großmuth, zu dem Ge— 
ſtändniß der Verzeihung noch das Ihrer — Liebe fügen? Leugnen 
Sie es nicht!“ vief er aus, „Ste lieben mich noch, und ich —“ 

„Herr Waldau!” unterbrach ſie ihn faſt jchroff, indem fie einen 
Schritt zurückwich. „Sch habe Ihnen feine Erlaubniß gegeben, jo zu 
mir zu reden! Ja“, fuhr jie ruhiger fort, „ich liebte Sie und — Yo 
wahr als ein Gott über den Sternen da oben wohnt, ich liebe Sie 
noch mit aller Kraft meiner Seele! Ic habe verfucht gegen mern 
Herz anzufämpfen, und werde dieſen Kampf fortſetzen, bis ich darin 
jiege oder — untergehe. Gehen Sie, ıch bitte, ic) beichwöre Sie: 
laffen Sie mid) jegt allein!“ 

„And wenn ic) ungehoriam wäre? Wenn ich es wagte, Ihnen 
zu jagen, was ich Ihnen einſt jo oft ungejtraft jagen durfte — daß 
ih nur Ste je wirklich geliebt habe, daß ich nur mit Ihnen glüdlich 
werden kann, daß Sie mein guter Engel waren, jo lange ic) Sie die 
Meine nannte? O, ſeien Sie es auc) jeßt wieder, jtrafen Ste mich 
nicht zu hart, und ich werde mein Leben lang zu Ihren Füßen liegen!“ 
Faſt hätte er ich vor ihr auf die Kniee niedergelafjen. 

„us — — Dankbarkeit?“ 

Die Worte berührten ihn wie ein Donnerjchlag. Er richtete ſich 
wieder völlig auf und trat einen Schritt zurück. 

„DO, wenn es das tjt, Fräulein Römer, jo will ich arbeiten und 
Ihnen zeigen, daß ich ein anderer Menjch jein kann als der, welcher 
ich einjt war; und wenn ich mir eine Stellung errungen en welche 
Ihrer wirdig tt, wenn ich Ihnen die Summe, welche Sie für den 
leichtjinnigen Studenten opferten, mit Zinſen — mit Wucherzinjen 
meinethalben — zurüdzable, wenn von Dankbarkeit feine Nede mehr 
jein Tann, werden Ste mich auch dann noch zurüchveiien?“ Er hatte 
in großer Aufregung gejprochen, und bange erwartend jchauten jeine 
Augen auf ihr hiebliches Geficht herab, das jegt einen Zug von Ent— 
jchlojjenheit zeigte, wie er ihn jelten bei ihr bemerkt hatte. 

„Dann — — dann werden wir jehen“, ſprach fie leife und veichte 
ihm die Hand. 





Auf Ummegen. 553 


„Hildegard!“ rief er jubelnd und wollte einen Kuß auf die ſchma— 
len Finger drücen, doch ſie entzog ihm diejelben und eilte hinweg. 
„Kommen Ste, man jucht uns!“ 


* + 
* 


Drei Jahre find dahingegangen, und noch weilt Hildegard Römer 
im Haufe des Kreisphyſikus. Wieder it es Sommer, und ſie weiß 
ganz genau das Datum des Tages, als jie am Fenjter ſteht und auf 
die einjame Straße des Städtchens hinabjicht — es jind genau drei 
Jahre jeit dem Sommerfejt in Klingebühl. Wie viel jehnjuchtsvolle 
Gedanken an ihn, wie viel heiße Gebete zu Gott für ihn jind ihrem 
Herzen entjtiegen während dieſer Zeit! Da jieht jie draußen eine 
wohlbefannte Perjönlichkeit, den alten Weegener, der ihr jchon von 
weitem ein ziemlich ‚umfangreiches Couvert zeigt. In wenigen Augen— 
blicken it jie an der Hausthür. 

„Für mid)?“ fragt fie eritaunt, als fie das gewichtige Schreiben 
in Händen hält. 

„Für Fräulein Römer“, antwortet der Bote jchmunzelnd. „Aber 
eingejchrieben; muß deshalb um eine Empfangsunterjchrirt bitten.“ 

Verwundert wiegt jie den Brief mit der von unbekannter Hand 
gejchriebenen Adreſſe zwiſchen den ‚Fingern, dann entziffert fie den Poſt— 
ſtempel: „Gellheim“ — bebend unterzeichnet fie die Quittung und er: 
bricht hajtig das Couvert. Es enthält nicht viel — nur ſechs Bank— 
noten zu je fünfhundert Mark umd einige Zeilen von „ſeiner“ Hand: 

— 2000 Mark nebſt 1000 Mark Zinſen ſeit dem ſech— 
zehnten Oktober 187 .. Die Quittung nehme ich ſelbſt in Empfang.“ 

Keine Unterjchrift. Aber eine Stunde jpäter ijt er da, nicht mehr 
der leichtlebige Student, jondern der praftijche Arzt Dr. Fri Waldau, 
deſſen Name jeit einem Jahre in der Gelchrtenwelt jchon guten Klang 
hat und der jeßt fommt, um — die Quittung zu holen. Und jtatt 
derjelben hat er fie, er hält jie in feinen Armen und küßt von ihren 
Wangen die Thränen, welche immer von neuem den jchönen Augen 
entjtrömen. Ihr Köpfchen ruht an jeiner Bruft, während er mit der 
Linken janft über ihre Locken jtreichelt. 

„Und wie bit Du nun mit den Zinſen zufrieden?“ fragte er 
lächelnd. 

„Pfui, Du Garſtiger“, verſucht ſie zu ſchmollen, aber ihr Lächeln 
bricht wieder wie Sonnenſchein über das glückverklärte Geſicht, wäh— 
rend ſie leiſe flüſtert: „Es war doch ein gut angelegtes Kapital.“ 


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Die Muſe des Sonetts. 


Bon Herman Hemmig. 


fie. Einer 
ea künſt⸗ 





es war eines lateiniſchen rk ae we wegen, „Afrika“ betitelt, 
a3 gelehrte Poem ijt unvoll- 
endet geblieben, es ſchmerzt dies niemand, denn niemand fragt danach. 
Nur eines liest man noch von ihm, joweit überhaupt europätiche 
Bildung gedrungen iſt, es find dies jeine italienischen Sonette, Kan— 
zonen und Sejtinen, worin er jeine Liebe zu der fjchönen Laura de 
Sade gejungen hat; eine Fremde, eine Franzöſin begeifterte ihn zur 
Dichtung in jeiner italienischen rg 
Am 6. April 1327, dem Montage der Charwoche, früh ſechs Uhr 
jah er zum eriten Mal die reizende Seftalt voll Anmut) und Würde; 
es war zu Avignon in der Kirche der Klarijfinnen, wohin er zu beten 
gegangen war, bald nachher erichien auch die Fromme junge rau (geboren 
1308, war jie 1325 an den jungen Hugo von Sade vermält worden) 
und jofort ergriff ihn mitten im Gebet die glühendite Liebe. Aber 
vergebens waren alle Berjuche jeiner jtürmijchen Leidenjchaft, das Herz 
der Geliebten zu gewinnen, jte wohl gar zu verführen; die feujche 
Frau hat ihre Pflicht als Gattin nie verlegt. Freundlich nahm fie 
die Huldigungen des berühmten Mannes auf, jtreng wies fie dus 





Die Mufe des Sonelts, 555 


Anjtürmen jeiner Liebesglut zurüd, die ihn, der vergebens jeine 
Leidenjchaft zu bezwingen juchte, zwanzig Jahre lang an die ſchöne 
rau age jelt hielt. . 

ohl mochte jie jich gejchmeichelt fühlen, von dem angejehenen 
Dichter in Liedern gefeiert zu werden, die ihren Namen durch ganz 
Europa trugen. Verlangte e3 doc) alle Fremden, die nach Avignon 
famen, die gepriefene jchöne Frau zu jehen! Huldigte ihr doc) Pr 
Karl von Luxemburg, jpäter Kaiſer Karl IV., bei einem Bejuche in 
Avignon, indem er jie auf einem Balle auf Stimm und Augen küßte! 
Aber fie wahrte a und treu den jittlich veinen Auf ihres Namens, 
und dies ijt um }o höher zu jchägen, als fie geh ganz glücklich weder 
als Gattin noch als Mutter war; denn ihr Mann quälte fie durch 
wunderliche Yaunen und ihre ältejte Tochter bereitete ihr ſchweren 
Kummer. 

Als Petrarka jie zum legten Male jah, lag es wie eine düjtere 
Ahnung auf ihrer beider Herzen. E3 war im September 1347; unter 
ihren häuslichen und mütterlichen Sorgen und Beſchwerden war ihre 
—— ſehr verblichen und ihr Anblick machte einen um ſo er— 
greifenderen Eindruck auf ihn, als ſie in ernſter ſinnender Stimmun 
und ganz ſchmucklos gekleidet war. Sie ſah ihn noch einmal — 
an; es war der letzte Blick, den er von ihr erhielt, der wie ein 
rührender Abſchiedsgruß auf dem tiefſten Grunde ſeiner Seele verſank; 
Thränen ſtanden in ſeinen Augen, er ging — auf Nimmerwiederjehen. 
Wenige Monate nachher raffte e die jurchtbare Bet, die damals 
in Europa wüthete, der ſchwarze Tod genannt, hinweg. Wunderbares, 
jchmerzliches Zufammentreffen! Sie jtarb jujt am 6. April früh um 
6 Uhr 1348: zu gleicher Stunde und an gleichem Tage hatte er fie 
einundzwanzig Jahre früher zum erjten Male gejehen! Er erhielt 
die Nachricht wenige Tage darauf in Verona. 

In jpätern Schriften hat er berichtet, wie veredelnd dieje Liebe 
auf ihn eingewirkt habe, wie ihm geträumt, jte ſei ihm wieder er: 
ſchienen und habe ihm freundlich die Hand gereicht. Mag auch) diefe 
Erjcheinung nur eine Dichtung fein, für die Nachwelt wandeln Pe- 
trarfa und Laura Hand in Hand durch das himmlische Reich der 
Poefie und unter dem Namen Laura haben jpätere Dichter, jo aud) 
unjer Schiller, den Namen der eigenen Geliebten verjchleiert. Der 
Liebe au der jchönen Franzöſin allein aber verdankt der Italiener 


Petrarfa jeine Unjterblichkeit, denn, wie der Verfaſſer diefer Skizze 
vor Ling» als zwanzig Jahren auf den Trümmern des Ne Le 
ae bailards Geburtsjtätte, bei Eliffon an der Grenze der Vendée 
ang: 

Nichtig, ach! ift alles Streben Den ganz „Afrika“ nicht retten 

Nach des Ruhmes ſpröder Gunft; Konnte, jelbft Petrarfas Ruhm 

Nur die Liebe ift das Leben Fand in winzigen Sonetten 

Und das Wiſſen eitler Dunft. Ein unfterblih Heiligthum. 

Trieb's doch aus dem Farabiefe Was nur wie zu furzer Weile 

Schon das erfte Eiternpaar; Feiernd fang fein liebenb Herz, 

Südlich machte Heloiſe, Amor grub's mit feinem Pfeile 

Nicht das Wiffen Abailarb. Ein in unvergänglihd Erz. 


Und jo ift denn auch mit dem Sonett der Name PBetrarfa auf 
immerwährende Zeit verbunden, durch Petrarka hat dieſe Gedicht- 


556 Die Mlufe des- Sonetts. 


gattung ihren literarischen Weltruf erhalten und auch vorzugsweije 
die Beitimmung, Luft und Leid der Liebe zu feiern, das Lob der 
Frauen zu fingen, nöthigenfalls auc) den Schmerz verjchmähter Neigung 
u verfünden. Das Sonett, das zuerit auf franzöfiichem Boden er: 
lüht war und deſſen Kunſtform wahrjcheinlich ſich aus der jüdfran- 
zöſiſchen provengalischen Verskunſt entiwidelt hatte, war dann mit Pe— 
trarfa nach Italien ausgewandert; in der Zeit der Nenaijjance, im 
jechzehnten Jahrhundert, fchrte es wieder nach Frankreich zurüd, von 
wo c3 dann auch nach Deutjchland verpflanzt wurde. An der Spitze 
der franzöfiichen Dichterplejade jtand damals Ronjard (1525—1585). 
Schreiber dieles bat jeine Heimat durchwandert und das ländliche 
Schloß La Poiſſonnière bejucht, wo der Sonettijt geboren war und 
das acht Stunden weſtlich von Vendöme am Loir gelegen ift; er hat 
ſich auch mit jeinen eigenen Mugen überzeugt, daß ſich die Mädchen 
der nahen Stadt Blois, von denen Ronjard manche geliebt hat (ein 
Dichterherz hat mehr als zwei Kammern), durch zierliche Eleganz aus- 
zeichnen. „Voluptati et Gratiis* lautet eine Weihe-Injchrift auf dem 
Schloſſe La Poijjonniere, „Der Liebeslujt und den Grazien“ hat 
Ronſard aud) in feinen Sonetten geopfert; das mit dem Verſe: 
„Quand vous serez bien vieille, le soir & la chandelle* beginnende 
fteht in Frankreich in allen Anthologien, es iſt einer fchönen Helene 
gewidmet, wir geben e3 in unſerer Leberjegung wieder, den Schönen 
zur Mahnung, gegen die Dichter, denen ſie vor allen ihre Verherr— 
lihung verdanken, nicht zu jpröde zu fein: 


Wenn Ihr einft bodhbejabrt, des Abends bei dem Lichte 
Am Herde fitt und fpinnt bei trauten Plauderein 

Und meine Berje fingt, dann fprecht Ihr ftolz wohl drein: 
Da ib nod jung war, pries mich Ronſard im Gedichte. 


Dann habt Ihr feine Magd, die nicht ihr Haupt aufrichte, 
Und nidte fie auch ſchon müd' bei der Arbeit ein, 

Bon meines Namens Klang erwedt, ſegnend zu weib'n 
Den Euern, der nun glänzt im Tempel der Gejchichte. 


Ih bin dann lange ſchon begraben in ber Erde, 
In Mivrtenbainen beilt mein Geift von feinem Schmerz, 
Ihr aber fanert dann als altes Weib am Herde, 


Bedauernd, daß hr ftolz verſchmäht mein treues Herz. 
D lebt, ja glaubet mir, wollt nicht auf morgen warten, 
Und pflüct die Rojen heut' ſchon in des Yebens Garten. 


Gleichzeitig mit Ronſard lebte in Lyon eine Dichterin, die ung 
ebenfalls anmuthige Sonette hinterlaffen hat: Louiſe Labe! Die 
allerdings etiwas emancipirte Dame war an einen reichen Seiler ver- 
heiratet; ihr zu Ehren heit die Straße, wo fie gewohnt hat, noch 
heute die „rue de la belle Cordiere.“ 

Kurze Zeit nach der romantischen Schule, die zuerjt das Sonett 
wieder zu Ehren brachte, iſt dieſe Dichtform vorzugsweiſe von einem 
Dichter aus der Bretagne gepflegt worden: Evariite Boulay-Paty, 
geboren im Jahre 1805 in dem Dorfe Donges bei Saint-Nazaire anı 

usflug der Loire, gejtorben 1864 in Paris, ift aqewifjermaßen der 


Die Alufe des Sonetts. 557 


Erneuerer des Sonetts in großem Maßſtabe; jeine Sammlung „Sonnets 
de la vie humaine* (Paris, Firmin Didot, 1852) wurde von der 
Akademie gekrönt, ſie zerfällt in fünf Bücher: Liebe, Kuuſt, Familie, 
Natur, Philoſophie. Jede Mutter darf fie ihrer Tochter in die Hand 
geben; jie jei Daher den Familien, worin franzöfische Poeſie gelejen 
wird, warm empfohlen. 

Kecker in Gefühl und Gedanfen, muthwillig und jchalkhaft wie 
Theofrit, dejjen Oariſtys er reizend in ein Sonett zu drängen ge— 
wußt hat, gedanfenjprühend wie ein Sreigeilt der Nenaiffance, und 
dann wieder aud) tief elegijch, ja jentimental tjt der jüngjte franzöſiſche 
Sonettijt, der in Lyon lebende Joſephin Soulary, der feine Sonette 
und übrigen Boejien in drei Bänden bei Lemerre in Paris heraus— 
gegeben hat. "Der Dichter hat ſich jüngjt um einen Sig in der fran— 
zöſiſchen Akademie beworben, er that es im gerechten Gefühle jeines 
Werthes und e3 gereicht der Akademie nicht zur Ehre, ihm den Ber: 
fajler der Operette „la belle Helene“, L. Halevy, vorgezogen zu 
haben. Da Soulary in Deutjchland, wo das Vorurtheil nun einmal 
nur an Paris hängt, nicht befannt ijt, jo theilen wir eines feiner 
Sonette im Original mit; es ift „Les deux Cortöges, die beiden Kirch— 
gänge“ betitelt: Ä 


Deux corteges se sont rencontres à l’eglise, 

L’un est morne: — il conduit le cercueil d’un enfant; 
Une femme le suit, presque folle, &touffunt 

Dans sa poitrine en feu le sanglot qui la brise. ' 


L’autre, c’est un baptöme! — au bras qui le defend 
Un nourrisson gazouille une note indeeise; 

Sa mere, lui tendant le doux sein qu’il épuise, 
L’embrasse tout entier d’un regard triomphant! 


On baptise, on absout, et le temple se vide. 
Les deux femmes, alors, se croisant sous l’abside, 
Echangent un coup d’eil aussitöt détourné; 


Et — merveilleux retour qu’inspire la priere — 
La jeune mere pleure en regardant la biere, 
La femme qui pleurait sourit au nouveau-ne! 


In unjern Tagen ijt num aber das Sonett aud) in der Heimat 
einer Muje und zwar in der Elangvoll melodiöfen Sprache der 
hönen Laura, im Neuprovengalijchen, wieder erwacht. Eine Schaar 
junger Dichter in diefer Sprache — Félibres nennen ſich dieſe modernen 
Troubadours — haben ſich um den mwdernen provengalijchen Homer, 
Miftral, Verfaffer des reizenden Poems Miireille, gejchaart und ver: 
einigen ſich alljährlich zu poetijchen Feten und Wettgefängen. Aus 
Avignon fam der Führer diejer ſüdfranzöſiſchen Dichterichule, Theodor 
Aubanel, geboren 1829; er führte 1874 den Borjit bei den Jeux 
floraux de Petrarque zu Avignon, der 500jährigen Gedächtnißfeier 
von Lauras Eänger, der 1374 gejtorben war; hatte man doch Aubanel 
jelbjt den Beinamen des „Franzöfiichen Petrarka“ gegeben. Es ijt 
ein fortwährendes Feſt der Poeſie, das dieje Felibres feiern, herz- 
erfreuend in unferm Zeitalter des Peſſimismus und Materialismus, 


558 Die Alufe des Sonetts. — „Ad, die Nächte ohne Schlummer* — 


und wenn es den Lejerinnen diejes Blattes gefällt, bin ich bereit ihnen 
eine ‚Schilderung dieſer Troubadours des neunzehnten Jahrhunderts 
mit Ueberjegungen zu geben. Heute lege ich mit diefen Worten einen 
Lorbeerkranz auf das Grab Aubanels; am 2, November 1886 hat 
man den liebeglühenden Sänger in Avignon, feiner VBaterjtadt, zu 
Grabe getragen. 








„Ad, die Nächte ohne Schlummer“ — 
ZEDSUK, ch die Nächte ohne Schlummer 
gs EN Und die Tage voller Noth 
SZ Und die Augen kei und roth. 
"Armes Kind, was joll das geben? 
Und Du haft Dein junges Leben 
Raid) verjpielt und früh verthan; 
Wild und thöricht jelbjt geraubt, 
Seh ein jtilles Loos gemieden, 
Willſt Du_ficheres Gelingen, 
Luft und Freude erdenmwärts, 
Kaltes Blut und wenig Herz! 
Hermance Potier. 


Und die Wangen bleid) vor Summer 
Dornenreich ift Deine Bahn 
Halt Dir Glüd und haft Dir Frieden 
eiß geliebt und leicht geglaubt. 
Schaffe Dir vor allen Dingen 
ROT 


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Ein Modemärden. 


Ton Slifabeth Polaclek. 
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\ Sn 

77 n einem grauen Novembertag, an dem der Himmel 
a )i | unabläfjig feine falten Thränen auf die große Stadt 
S herabfluten ließ, ging ein junger Mann rajchen Schrit- 

te3 durch eine der Sn 





Herzensfreude jchufen, die allein der an rg diejer Ejjenkehrer, 
der gewohnheitsgemäß alles rußig machen muß, was in feine jchwarze 
Nähe kommt, vielleicht durch die Deutung verdunfelt hätte, dat der 
fleißige Jünger Merkur, — denn ein ſolcher war unſer Märchenprinz 
— in der nüchternen Wirklichkeit, ſich zufällig einmal mit einem Tinten- 
finger unter der Naje durchgefahren de. 

„Berdammt“ rief er nochmals und mit verjtärftem Nachdrud, 
denn in demjelben Augenblide rafjelte ein eleganter Herrichaftswagen, 
mit der ihm eigenen Wichtigthuerei hart ans Trottoir und hielt 
mittel des bekannten, effeftvollen Rudes an, der die weichmäuligen 
Braunen fajt auf die Hinterfüße jegte und unjerem Prinzen mit einer 
dauerhaften Glaſur unverfäljchten Straßenkothes überzog. 

Die Stadt nämlich, in der ſich unfere ebenjo —— als 
märchenhafte Erzählung zutrug und die im übrigen ihren Weltruf 
wohl verdient, hängt mit einer ſo ſtrengen Treue an dem Altherge— 
brachten, daß dieſer Lokalkonſervativismus es nicht einmal über ſich ge— 
winnt, den traditionellen Straßenſchmutz zu beſeitigen. Wenn Regen— 
Ban die Straßen in ein Wattenmeer gewandelt, greifen wohl eine 
Anzahl Fee 3 Öajjenkehrer zu ihrem Beſen, — aber nur 
um ſich längs den Rinnfteinen eine Reihe anmuthender Denkmäler zu 

jegen, die, als Eondenfirter Schlamm, ruhig einer neuen Wolfenjpende 
harten, welche fie wieder in ihren Urzuſtand auflöft. 

Diejem beiläufigen Umſtande verdankte unfer Held die Kraft feiner 


560 Ein Modemärden. 


unfreivilligen Douche. Doch jedwede Berwünjchung erjtarb auf jeinen 
Lippen, als ſich der Schlag des rüdjichtslojen Vehikels öffnete und 
eine junge und felbjtredend jchöne Dame ihr Fühchen zögernd auf den 
Tritt jtellte und ängitlich das jeidene Gewand an ſich zu raffen juchte. 
— Seines feineswegs vorichriftsmäßigen Aufzuges vergejjend, hinzu— 
fpringen und der Dame den zum Glück wenigitens heilen, wenn aud) 
baumwollnen Negenjchirm mit jeinem jchönjten Büdling anbieten, war 
das Werf eines Augenblids. — Das Fräulein dankte durch einen 
zündenden Blick — und jo ging es Elopfenden Herzens einige unver: 
eßliche Schritte neben ihm und da diejer Stern, der jo plöglich als 
Blendend an feinem grauen Lebenshimmel auftauchte, nad) allen Re— 
geln der Modevorjchrift gekleidet war und nur ganz Kleine, zappelnde 
Schrittchen machen fonnte, wurde zu feinem Glück und Unglüd die 
Zahl derjelben verdoppelt — bis die holde Unbefannte in der ge 
öffneten Thür des großen Modewaarenmagazind verſchwand, vor der 
ihr Wagen vorgefahren. 

Der junge Mann, — nennen wir ihn Hugo, — der Name paht 
fo nett zu der ganzen Situation, — jtand eine Weile wie traumum— 
fangen; — der Kutſcher „ihres“ Gefährtes jchlug Fluchend feinen 
Mantelfragen im die Höhe und die Pferde bijjen unwillig auf die 
Trenſen und jehüttelten die najjen Ohren. — Endlich Kleben Hugos 
Augen auf feinen eigenen einzigen Paletot, auf dem ihres Wagens 
Näder eine ganze Himmelsfarte entworfen; — aber troß „ihrer“ und 
trog alledem, blieb es radifaler —— wurde nicht vor ſeinen 
ſtaunenden Augen zu rothem Gold. — Denn ach! — in den Märchen 
unſerer realiſtiſchen Tage muß man ſich jedes Tüpfelchen Gold auch 


erſt durch Handel und Wandel erwerben, erſpekuliren; — geſchenkt 
und angezaubert wird einem nichts mehr; und wenn ja, — dann iſt 


es, bei Licht beſehen, ganz gewiß Talmi. 

Und ſo blieb unſerem Hugo ſchließlich nichts anderes übrig, als 
ſeufzend heim zu eilen, — ſeufzend nach einer Bürſte zu greifen, um 
wider Willen jede äußere Erinnerung an ein Ereigniß zu tilgen, das 
eine hoffnungsloſe Liebe in ihm zurück ließ und bie jichere Anwart— 
ichaft auf einen Stodjchnupfen. 


* * 
* 


„An meine ſchöne Unbekannte, Dienſt. Morg, Br.6 Modewaaren— 
magazin.“ 
Du biſt an meines Himmels Saum, — 
Ein Sternbild — aufgegangen; 
Ich ſeh' Dich wachend und im Traum 
Und ſeufze in Verlangen. 


Ich folge Deiner Tritte Spur, 
Um jedem Wink zu lauſchen; 
Ach, könnt ich einmal, einmal nur, 
Ein Wörtchen mit Dir tauſchen! 
Bis in den Tod getreu. 


„Bis in den Tod getreu!“ — Erwarte Brief, unter E. W. pojtl. 
Poſtamt I. — Die jchöne Unbekannte u. ſ. w., u. ſ. w. 


Ein Modemärden. 561 


Der geneigte Lejer wird das Erforderliche jchon zwiichen den 
Zeilen gefunden haben; — Langeweile auf der einen, Schwung und 
—— Ergebenheit auf der anderen Seite, mit einem Anhauch jener 
dichteriſchen Inſpiration, die man heutzutage ja en gros beziehen 
kann. — Auf der einen Seite ein unterbrochenes Gähnen, dabei aber 
ein promptes, zielbewußtes „Draufgehen“, ohne Zeit- und Wortver— 
ſchwendung, was bei Inſerationen zweifelsohne doppelt empfehlens— 
werth; — auf der anderen dagegen, eine lebhafte Neigung zu unpraf- 
tiichen, jchlaflojen Träumereien, — Realismus und Idealismus, — 
wie die beiden gewöhnlid) jo zujammen fommen zu ihrem eigenen, 
unabweislichen Schaden. 

Wundern fann man jich nur darüber, daß es jo jchnell ging; — 
aber das iſt ja gerade das Gute unjerer eleftrijchen Zeit. Und darum 
will ic) mich auch jo kurz fajjen, als thunlic). 

Er dichtete fie an und verjorgte damit alle Abonnenten dejjelben 
Tageblattes mit einer erbaulichen Morgenkaffeelektüre, — fie jchrieben 
ſich —— — der mittel- und konnexionsloſe Handlungscommis 
und die glänzende Bankierstochter, — es iſt ja nur ein Märchen! — 
dürfen Ste nicht vergefien — und das Ende vom erjten Kapitel war, 
daß er vor ihr auf den Knieen lag und an nichts thatjächliches mehr 
dachte. — Nicht an die graufe, joziale Kluft, die zwijchen ihnen 
gähnte, — nicht einmal, daß jeine zum Himmel gewendeten Stiefel: 
johlen, mit rüdjichtslojer Offenheit nach mehr denn einem Flicken 
jchreien, troßdem der alte Flickſchuſter im Hinterhofe, der ſonſt den 
Muth nicht jo leicht verlor, fie längjt zu feinen hoffnungslojejten 
Patienten zählte. 

Und ſie? — Sie wies ihn nicht mit dürren Worten ab! — Be: 
wahre! dann wäre die Gejchichte ja aus gewejen. Mit Lächelndem 
Munde und einem bethörenden Blit gab ſie ihr Ultimatum — und 
als Tochter des Gejchäftes fannte jie die Bedeutung jolcher ſchwer— 
fälliger Worte des praftiichen Lebens jehr genau. 
Wenn Sie in der Lage jein werden, mir einmal alles zu er- 
füllen, was ich wünfjche, — auch nur einen einzigen Tag lang, in dem 
num anbrechenden Weihnachtsdom, als mein Führer und Kavalier, mir 
alles zu Füßen legen fönnen, was ich bejigen möchte, — dann bin ic) 
mit Herz und Hand die Ihre!“ 


* * 
k 


Ein ebenſo ſterblich, wie hoffnungslos liebender Merkursjünger 
zählt, glaube ich, keineswegs zu der Spezies rara avis. Dieler 
aber hatte doch jchon einige Ziee zu viel aus dem berauſchenden 
Feuerbecher gethan, um feinen Kater nach ein paar Jammertagen eins 
I wieder abzujchütteln. Er führte ihn Abend für Abend an den 
einfamjten Ufern der breiten, gligernden Gewäſſer Ipazieren, an denen 
jich die ſchönſten Stadtanlagen binziehen und fütterte ihn mit Seufzern 
und Stöhnen, zu einem jo unbändigen Ungethüm heran, day ihm 
NE jelber davor bange wurde. — Wie es inzwiſchen um feine 
Sflichten al3 nügliches Mitglied der menjchlichen Gejellichaft im all» 
gemeinen und als vierter Commis des großen Handelshaujes „Braun 
Der Salon 1887. Heft XI. Band IL 38 


AT 


562 Ein Modemärden. 


und Gelblich“ im befonderen jtand, kann man fich ohne Anſtrengungen 
vorſtellen. 

Ich kenne jemanden, der mit unanfechtbarer Sicherheit jeden Stoff, 
von Seidengaze bis zum Kameelgarn, für Bombaſin ausgiebt; — 
ſo ungefähr erging es unſerem liebesleidenden Handlungsbefliſſenen 
der Manufakturwaarenbranche auch; — wenn zwar aus anderer Ur— 
jache und mit einer weniger harmlojen Wirkung Was galt ihm noch 
Meter, Gentimeter, Diagonale, Perkale; — ſtand er hinter dem Laden— 
tijch jeiner Prinzipale und dachte an „jie" —, war ihm alles — Bom- 
bafın. — Ah und die Folgen diejes unjtatthaften Nachtwandelns 
mitten im Tagewerf liegen nicht auf fich warten. Er hatte nur ein 

aar verblüffende Proben davon abgelegt, — als ihn der Eher jchon 

—— beiſeite nahm, einen Knopf ſeines Rockes erfaßte und 
ihm eine kleine Anſprache hielt, die mit: „Na, hören Sie 'mal, mein 
Lieber“, anfing und damit endete, daß der Knopf abgedreht und der 
arme Hugo jener Stellung ledig war. 

Am Abend diejes verhängmpvollen Tages juchte er auf den un— 
vermeidlichen, einjamen Spaziergängen die abgelegeniten Wege und 
vor feinen Augen ſchwebte unabläffig, in tiefjter Druderjchwärze, eine 
Notiz im „Tagesbericht“ der nächiten Meorgenzeitung. 

„Seitern Abend juchte und fand em junger, hoffnungsvoller 
Mann jeinen Tod in den Wellen der Außen..... ; — unbeilbarer 
Viebesgram joll das Motiv diejer beflagenswerthen That jein.“ — Und 
als ein Glück für unferen Hugo darf man es anjehen, daß der Winter 
vor der Thür jtand und das Waſſer gar zu kalt war. 

Gerade als ihm die Sache langweilig wurde und er den ver— 
nünftigen Entſchluß faßte, heim und ins Bett zu gehen, jah er im 
Zwielicht eine weibliche Geſtalt auf ſich zukommen, die einen ſonder— 
bar ungejchiekten Gang zu haben ſchien. — Und richtig, — als er 
fie faſt erreicht hatte, glitt jie auf dem abjchüjjigen Wege aus und 
hätte zweifelsohne ein unfremvilliges Bad genommen; Hugo aber, in 
dem jeit jeinem Minnetraum der Ritter zu einem wahren Neden erwuchs, 
erfaßte ſie mit jtarfem Arm und führte die Wankende auf ein geebnetes 
Terrain. — Doch jeltjam, ihm jchmerzte der Arm von jeinem Retter- 
werf, denn als er die ſüße Laſt auffing, war es ihm gerade, als fiele 
ihm ein Bündel Scheitholz entgegen, und als er nun jo dicht neben 
ihr dahin jchritt, Fam ihr die ganze Erjcheinung wahrhaftig genau jo 
vor, wie eine der großen Modellpuppen in feiner Prinzipale Schaus 
fenfter. Und doc) zeigte feine Begleiterin bis ins Eleinfte Detail 
Tournure und Toilette einer Dame von Welt. Aber als jie endlich 
jtehen blieben und das Yicht des Mondes, der langjam am Himmel 
aufitieg, voll auf das Antlig der Nätbjelhaften fiel, jah Hugo mit 
gelindem Haarjträuben, wie ſich dafjelbe, unter dem feujchen, reinen, 
feierlichen Mondesglanze richtig in die grell bemalten, hölzernen Züge 
eines veritablen Haubenjtocds verwandelte. — Während er jie noch, aller 
Höflichkeit vergejiend, mit offenem Munde anjtarrte, drehte fie ihr 
Geſicht in den Schatten und lächelte ihm dann wieder, als fchöne 
Dame, mit demjelben Lächeln entgegen, das ihm jchon einmal lebeng- 
gefährlich geivorden. 

„Sie möchten wohl wilfen, wer ich bin, mein Herr“, begann Die 


Ein Modemärchen. 563 


Unbegreifliche. — „Sa, jtaunen Ste mich nur an; ich bin fein gewöhn- 
liches Frauenzimmer. — Ich bin eine Fee! — eine Göttin! wenn Sie 
wollen! 

„Donnerwetter“ dachte Hugo und glücklicherweiſe blieb es beim 
„Denken“; — „die hätte ich mir anders vorgeſtellt!“ 

„Sch bin die legte der Feen, die einjt ein unſeliges Gejchid unter 
die Menſchen bannte, die aber jeither zu ihrer unbejchränften, mächtigen 
Herrjcherin wurde. — Bor langen, grauen Jahren lebten wir, — eine 
luftige Feenſchaar auf den jonnigen Matten eines weltfernen Thales; 
in mir jedoch regte jid) immer fchon ein unbeftimmter Drang — 
hinaus, — der mich den naturfchwärmenden Schwejtern mehr und 
mehr entfremdete. — Zum Ueberfluß verirrte fich in jenen Tagen das 
erite Menſchenkind in unſer Thal, -— ein armer Wanderdmann zwar 
nur, aber ein Schlanker Geſelle. Durch ihn erfüllte ſich mein Schidjal! 
— Ich überjchüttete ihn mit allen Schägen einer Feenliebe, — ich) 
Hletdete ihn in Monditrahlen und wob ihm eigenhändig Jilberfädige 
elle ich tanzte ihm meine ſchönſten Reigen und fredenzte ihm 
Morgenthau. Aber der Fremde war eines Morgens verſchwunden und 
verzweifelt irrte ich durd) die Haine. Meine Liebe und meine Trauer 
hatten mir jeden Frieden geraubt, deßhalb jollten nun andere auch 
keinen Frieden mehr haben; — ich quälte und ärgerte die Schweitern 
von Stund ab, jo unabläffig, daß jie mic) zulegt erboſt aus ihrem 
Neich stiegen und einen Bannjpruch hinter mir her jangen, der mir 
fir immerdar jede Rückkehr unmöglic) machte. 

Ich durchjtreifte nun die weite Welt und juchte nach dem Ber: 
lorenen und ſiehe da! als id) einjtmals im Dämmern durch die Straßen 
einer großen Stadt jchwebte, jah ich ihn plößlich in einer offenen 
Thür jtehen, — nicht mehr dünn und jchmächtig, wie zu den HYeiten 
unjerer Liebe; — nein, did und behäbig, mit einem jehr jelbitzufrie- 
denen Lächeln in dem feiſten Geficht. 

Ich flog auf ihn zu, — er aber prallte drei Schritte zurüd und 
ftredte die Sände abwehrend gegen mich aus. Alle guten Geijter! 
— murmelte er betroffen. — „stennit Du mich denn nicht mehr, Du 
Undanfbarer, immer noch Geliebter?“ 

„Proſte Mahlzeit, — ich danke!” lachte er. „Set bin ich anders 
in der Wehr, wie dazumal. O Jemine! wenn ich noch an den Hunger 
denfe, der mich damals ausdörrte*, fuhr er fort und faltete die Hände 
über den Magen. — „Denkſt Du denn gar nicht mehr daran, was ich 
für Dich gethan; — wie ich Dich tränfte, Fleidete und glücklich machte?!“ 
— „Bub!“ lachte er grob, — „Regenwajjer und Spinngewebe; — id) 
war nur froh, als ıch erjt wieder die verzividten Berge im Rücken 
hatte. Und ſchau! dahier traf ich gleich ein mafjenhaftes Glüd an. 
Die reiche Wittwe eines erjten Stleidermacjers fand Gefallen an dem 
ſchmucken Gejellen und was ich an ihr fand, wirt Du jchon denfen 
fünnen. Sie fpeifte mich mit richtiger Hausmannskoſt, allemal mein 
Leibgericht und Regenwaſſer hat fie mir meiner Tage nicht vorgejekt; 
— aud, ihr Gold bejteht die Feuerprobe, und iſt landesüblicd) geprägt. 
— Eiehjte, jo iſt's gekommen! — Das iſt mein Gejchäft, — auf dem 
Schneidertifch braucht der Meijter jchon nicht mehr zu boden — und 

38* 
— 


564 Ein Modemärchen. 


bier iſt meine liebe Frau“, fuhr er grinjend fort, als eine feijte Ge— 
jtalt aus dem Hintergrunde auf ihn zu watjchelte. 

ch floh, — entjeßt und vernichtet! — Alſo der Gegenitand 
meiner Liebe, — die Urjache aller meiner Noth, — meiner Verſtoßung 
aus dem Feenreiche, — ein Schneidergejelle! und noch dazu einer, der 
mich um einer diden Frau Meijterin willen hohnvoll verlieg! — Ich 
fluchte ihm und ihr und that einen fürchterlichen Schwur, mic durch 
alle Jahrhunderte meiner Fortexiſtenz, graujam, ſchwer und uner— 
bittlih an dem ganzen edlen Menjchengejchlecht und ganz bejonders 
an ihren Weibjen zu rächen! — Und, ziſchelte fie und ihre Pupillen 
funfelten wie Natteraugen, dab den armen Hugo eine Gänjehaut über 
lief, „ıicd) habe meinen Schwur gehalten! Seht Euch und jeht Eure 
„beilere Hälfte“ nur einmal darauf an! Sie zog einen Kleinen Spiegel 
aus ihrem Kleide und jchwenkte ihn triumphirend um ihr Haupt; kalte, 
Icharfe Strahlen züdten aus dem Glasjcherben. 

„Mit diejen Strahlen“, ſprach fie weiter: „lähme ich den freieften 
Willen, — zerichneide ic) die Fraftvollen Muskeln des ſtärkſten Mannes: 
armes, der jich wider mich erheben möchte. Durch diefen Zauberjtab 
habe ich mir den hyperklugen, hochmüthigen Menjchen, der fich den 
Herren der Erde nennt, zu meinem willen: und vernunftlojen Sklaven 
gemacht, der ohne Nachdenken thut, was ich verlange, — nicht weil 
es gut, nüßlich, hübjch, oder aucd, nur angenehm wäre! — nein, das 
Widerhaarigite, Unbequemſte, einfach weil ich es diftire!“ 

„ber ich bitte, — wer, im Namen alles Glaubhaften find Sie 
denn —— wagte Hugo endlich —— einzuſchieben, als ſein 
Gegenüber auf einmal einen längeren Athemzug thun mußte. 

„Wer ich bin?“ Die Fremde lächelte und dieſes Lächeln hätte 
als die Quintefjenz aller auf diejem Erdenrund vorhandenen, weib— 
lichen Selbjtgefälligfeit gelten fünnen. „Wer ich bin!“ ſagte fie mit 
einem Knix, der bei aller Vorjchriftsmäßigkeit, lebhaft an das Rad— 
ſchlagen eines — erinnerte. 

„sch bin die Mode!!! Begreifen Ste nun, mein Lieber?!“ 

„sn der That“ rief der junge Mann mit einem Seufzer der Er— 
leichterung aus dem Banne einer unheimlichen Furcht: „In der That! 
Nun iſt mir nichts mehr unwahrſcheinlich!“ 

„Sc bin Madame la mode!“ fuhr ſie fort und warf fich noch 
nachdrüdlicher in die Bruft. „Und die jtolzejte Schöne, die ihre Freier 
mit der Fußſpitze fortweit, — vor mir liegt fie ergeben im Staube 
und vergiät in abjoluter Unterwerfung der eigenen Würde, — nur 
um die Erjte zu jein, die meines Winfes gewärtig iſt. Ja, mein Beiter, 
nun willen Sie, wem Sie die Ehre hatten dienſtlich zu fein. — Ich 
bin Madame la mode — und deutjch rede ich jonit in En Deutſch⸗ 
lande nicht, weil das ja gewöhnlich, — beinahe natürlich wäre. Das 
iſt ja gerade mein Triumph, — daß Eure Töchter und Frauen, die 
mit ihren Thränen und dem Herzblut ihres Liebſten auf der Welt, 
dem Baterlande die höchjten Opfer bringen, — jobald der legte 
Schlachtenlärm verhallt, doch wieder mit der alten Andacht und Be— 
geiiterung die Blide nac) der Stätte richten, wo ich meine tolljten 
und fragenhaftejten Jdeen ausbrüte und ihren Siegeszug durch die 
Welt antreten laſſe, — troßdem dieſe Stätte die Hauptjtadt ihres 


Ein Modemärden. 565 


Erb> und Reichsfeindes bedeutet — und die Hand, die den begehrten, 
bunten Tant anfertigt, vielleicht dieſelbe blutbefledte Hand ift, — die 
von ihrem Leben einjt den Glanz der Liebe herabriß. — Verftehen 
Cie wohl, welche Genugthuung in diefem Gedanken allein fie mic) 
liegt! — Ich bin Madame la mode — und für ein faljches Herz, 
das mich betrog, habe ic) Euch jo viele Falſchheiten angehängt, bob 
Ihr jelbjt nicht mehr wißt, wo die Wahrheit aufhört und der Betrug 
beginnt. Und Eure Frauen! Damen wollte ich jagen“, — hier ficherte 
Madame und rieb ſich die Hände, die in allen Gelenken Enadten, bis 
e3 dem armen Hugo flau im Magen wurde. „Eure Damen! was habe 
ich nicht jchon alles aus denen gemacht!” — Aus dem Kichern ging 
ein Lachen auf, das jujtament wie eine Blechklapper ang, mit der 
man Spaben aus den Saaten jcheucht. 
„M = wie ein Jahrzehnt unjeres Jahrhunderts durchwandelten 
— als Glockenklöppel, unter Stahl und Eiſen. — Das Motiv zu 
ieſem epochemachenden Gedanken fand ich einſt auf einem Hühnerhof, 
in den ich zufällig gerietd. — Und als die * der Krinolinen im 
Wettſtreit ihrer begeiſterten Trägerinnen einen Umfang erreicht hatte, 
daß man ernſtlich auf eine Reform der Baumethode und einen ſo— 
fortigen Umbau aller Ein- und Ausgänge ſinnen mußte, — da ſprach 
ich: Halt! — und Reif und Bügel fiel und kurz darauf ſtand das 
Extrem in ſeiner höchſten Vollendung da. Ich band meinen Getreuen 
die Füße zuſammen, wie man die Pferde auf der Weide ſpannt und 
preßte ſie in eine faltenloſe Schaale, zu der das Modell in jedem 
Schlachterladen hängt. — Heute thürmen wir uns die Haare pfund— 
weiſe zu kunſtvollen Gebäuden auf und die ſenſibelſte Schöne, die dem 
niedriger Geborenen nicht einmal die Spitze ihres behandſchuhten 
Fingers reichen würde, — trägt mit chriſtlicher Duldſamkeit auf ihrem 
eigenen, juwelenſtrahlenden Haupte das Haar, das auf dem wüſten 
Kopfe einer landſtreichenden Dirne gewachſen iſt. — Morgen raufen 
wir ung eine Hand voll Haare aus, um nur ja die knappſte Friſur 
und das jchüchternjte Zöpfchen im Naden zu präjentiven. — Und was 
für eine glorreiche Idee habe ich nun nicht wieder gezeitigt, welche 
Triumphe gefeiert, als die Beherrjcherin Eurer Einficht, Eurer Gedan- 
fen und jelbit Empfindungen! — wo jogar das Schielichfeitsgefühl 
Eurer Frauen verjtummte, weil ich es verlangte; — ganz abgejehen 
noc) von der Aeſthetik, die Ihr jo viel im Munde führt und die ich 
damit unbarmberzig verhöhnt habe! — Auf die Details meiner Er: 
findung kann ich Ihnen — ja leider nicht eingehen, da Sie ein 
Herr nd.“ — Madame lächelte hier mit einer ganz impertinenten 
Berjchämtheit. „Aber im Vertrauen gelagt, bin ich einen Tag lang 
mit dem Gedanken umgegangen, ein Kleines Sättelchen, — vielleicht 
nad) dem Muſter der neuejten Kavalleriefättel — geſchmackvoll darauf 
anzubringen, — die Schabrade natürlich im Tone der Robe, mit 
Silbermonogramm in den Eden. Damit die Mutter ihr Jüngites, 
junge Damen Fleinere Gejchwijter u. ſ. w. bequem überall mit ic) 
führen könnten. — Doch wäre das für mic) zu praftiich gewejen und 
arum lieg ich den Gedanken fallen! Mir wird jchon bald ein an- 
derer und genialer fommen! i 
Aber nicht allein in dem, was Ihr um- und anzieht, beſtimme ich 


566 Ein Modemärden. 


Euern Willen und vegele Euer Thun und Laſſen; — fait in 
allem, was Ihr denkt, was Ihr treibt, meint, oder redet, Tpreche ic) 
mit — und nicht die legte Stimme. Selbit die ungezügelten, wilden 
Leidenichaften, mit denen Ihr Euch unter einander vernichtet und zer— 
jtört, habe ic) gewiljermaßen an meiner Leine; — geht doc) mein Ein: 
fluß bis zu der Art, wie Ihr zeitweilig Verbrechen begeht. — Darwin 
war ganz mein Mann, als er der Menjchheit ihren famojen Urahnen 
auftiſchte; — ein Erbtheil habt Ihr allemal, — den Nahahmungstrieb! 
— Und jieh mein Freundchen, — an diefem unfichtbaren, aber unzer- 
reißbaren Faden, führe id) Euch eben durch did und dünn, ſelbſt 
durch die Pfügen der Lächerlichkeit und Korruption, und fühle meine 
Rache, die Schon Jahrhunderte alt iſt. Und wenn ich über kurz oder 
lang, für Euch), die Herren der Erde, himmelblaue Mullfrads und 
pfirfichblütenfarbige Papierpantalons erfinde, als Kopfbedeckung einen 
rofenumfränzten Yampenjchirm etwa — und für Eure Damen —“ 

Hier traf fie ein voller, leuchtender Mondjtrahl wie ein Klapps 
auf den rajtlojen Mund; — der Mond jtieg gerade bei einer Bucht 
in feiner ganzen, jtillen Herrlichkeit über den Wipfeln vor ihnen auf. 
Es war, als jpiele auf jeiner blanfen Scheibe ein jpöttijch mitleidiges 
Lächeln, als er jo die Flut jeiner Strahlen über dieje wunderliche 
Erde wogen ließ. Madame, eben noch jo jiegesficher, wand ſich förm— 
lich unter ihnen — und ließ ihr Gebein dabet wie trodene Hajelitöde 
flappern. Das unleugbar, quer hölzerne und nur aus dem Groben 
geichnigte Haubenjtodantlig mit den grellroth angejtrichenen Wangen 
und den wajlerfarbenen Augen zeigte ein hilfloſes Grinjen, während 
fie aus dem Bannfreis des reinen Simmelslichtes heraus hajpelte und 
ſtoßweiſe hervor piepte. 

Ih habe nur einen überlegenen Feind, der mir immer wieder, 
ohne jegliche Courtoijie, einen Fußtritt giebt; — das ijt dieſe abjcheu- 
liche, unbejiegbare Natur! Ich juche ſie zwar zu vernichten, auszu— 
rotten, wo ich nur fann — und bei Eud) Meichen gelingt es mir 
auch wohl. ber auf ihrem eigenen Grund und Boden erdrüdt fie 
mid) mit ihrer plumpen Riejenfauft, — wijcht mich förmlich —** — 
als ob Madame la mode nur ein Schmutzfleck wäre! — Ad, dieſes 
gräßliche Licht! — O meine Nerven! meine Nerven! — Ich gehe ſonſt 
auc) nıe weiter, als der Schein von Gas und anderen Lampen reicht; 
— aber heute it einmal mein Unglüdstag. Bitte, halten Sie mid) 
feit, junger Mann, — id) kann auch dankbar jein! — Sprechen Sie 
nur! — Ach! ic) kann nicht mehr!“ 

Bor ihnen lag eine längere, jchattenloje Strede; — für die 
nächſten Minuten herrichte aljo Schweigen. — Hugo, dem zu Muthe 
war, als jet joeben eine Lawine hart an jeiner Seite zu Thale ge= 
gangen, überfam es wie ein durjtiges Verlangen, auch einmal wieder 
jeine eigene Stimme zu vernehmen und akt von diejem langent= 
behrten Genuß, jprach er jo haſtig umd ohne Athembolen, daß er 
gerade mit dem legten Kapitel jener Liebes» und Leidensgejchichte 
fertig wurde, als jie unter der eriten Gaslaterne anlangten und Mas 
dame nad) einigem Stöhnen und Schütteln wieder als vollendete Dame, 
recte allmächtige Fee vor ihm jtand. Als Hugo den Namen jeiner 
Angebeteten ausjprach, lächelte Madame bedeutungsvoll: 


Ein Modemärcen. 567 


„Ei, das iſt ja eine meiner Lieblinge! — Die Geichichte interejjirt 
mich in der That und aus Erfenntlichkeit für geleiſtete Dienjte will 
ih Ihnen zu Ihrem Glüd verhelfen! — ber, junger Mann, Sie 
dürfen dann auch nicht vergejjen, dat nur meine Macht es iſt, der ſie's 
verdanfen.“ 

Hugo jtammelte einige Danfesivorte und jah nicht wenig geipannt 
zu, als jeine Gönnerin aus ihrer Taiche einen winzigen Gegenstand 
hervorzog: 

„Hier iſt der Schlüſſel zu Ihrem Paradieſe, mein Beſter, und 
zugleich mein neueſter Gedanfenblig; ein reizendes Portemonnaie 
aus Froſchleder, in das man zur Bequemlichkeit genau nur ein kleines 
Goldſtück praktiziren kann! Sehen Sie, wie hübſch und zweckmäßig, 
nicht wahr? Wechſelt man unterwegs andere Münzen ein, ſteckt man 
das Portemonnaie in die eine und das Geld in die andere Taſche. 
Sie werden gewiß nicht oft den Fall erleben! — Hier nehmen Sie — 
und ſo lange Sie dies Goldſtück in meinem Dienſte, im Dienſte der 
erhabenen Mode ausgeben, wird dieſe Börje niemals leer jein. Nun 
gehen Sie, geradeswegs ins Glück hinein und vergejien Sie nur nicht, 
day nur Madame la mode, die legte und mächtigjte der een, Ihnen 
die Thore dazu öffnen konnte!“ 

Ein Wagen rajjelte heran, ehe Hugo nod) feinen Dank erjchöpft; er 
mußte ausweichen und als er ſich dann umschaute, war Madame gleich 
einer Hand voll Spreu vor jeinen Augen entihwunden. Einen Augen: 
bi jtieg ein Gedanke an den jchnöden Schneidergeiellen, an Regen- 
wajjer und Spinngewebe in ihm auf; — aber nein! das Eleine runde 
Ding, das er nur mit Mühe aus dem moderniten Portemonnaie her: 
vor flaubte, war zweifelsohne eine gangbare Münze. Hugo ſchwin— 
delte es vor Glüd; vor jenen trunfenen Augen stieg das Silo jeiner 
nächſten Zufunft empor. Arm in Arm mit ihr, in jeligem Geplauder, 
— während er ihre Aufmerfjamfert bald auf dieſen, bald auf jenen 
Gegenſtand lenkte und, Schon im voraus durch ihren ſüßen Danf belohnt, 
jeine Liebjte mit all dem ſchmückte und erfreute, was dem Schönheits— 
finn einer vollendeten Dame gefällt. Die einigermaßen jonderbare Form, 
in die jie ihre Ablehnung gekleidet, war ja nur die Form, jo viel als: 
„Wenn Du einmal in meine Verhältniffe paßt“ u. j. w.; oder: „Wenn 
Du reich genug bijt, eine Frau, wie ich, jtandesgemäß zu erhalten, — 
dann magſt Du wiederfommen!“ 

Und er war jegt reich genug — und er fam auch! 





# ® 
* 


Die halbe Nacht hatte er mit der Verjchönerung feiner eigenen 
bejcheidenen Perſon verbracht; — jobald die Schiedlichfeit es erlaubte, 
jtand er, den Hut in der zitternden Hand vor dem fofetten Stuben: 
müdchen jeiner Angebeteten und bat, — ein wenig ftammelnd zwar, 
aber unverhohlen um eine Audienz. Einen Augenblick ipäter jah er 
ſich in dem reichüberladenen Empfangszimmer und jammelte gerade 
um dritten Male jeinen Hut vom Teppid) auf, als „fie“ ins Zimmer 
Üonwebte — Sie jtußte erſt und es jah \, aus, als juche fie in der 
großen Rumpelfammer, die man Erinnerung nennt, nod) raſch nad) 


568 Ein Modemärden. 


einem verlegten Gegenſtande. — Lieber Himmel, wer wollte in unjerem 
Quedjilber- Zeitalter einer jungen Dame verargen, wenn jich das 
Bildnig eines ihrer Nitter nicht allzu lange — — wenn ſie die 
allgemeine Zeitdeviſe: „Schwamm darüber!“ auch zu der ihren machte. 

Hugo, in dem natürlich auch nicht einmal eine Ahnung ſolcher 
Vorkommniſſe auftauchte, ſprach unterdeſſen mit der ganzen Slut jeiner 
Empfindungen von dem Glüd, das ihm durd) eine Erbſchaft unver: 
muthet in den Schoß gefallen und das ihn jet Fühn genug mache, 
nad) den Tagen der abjoluten Finiternig jeine Dame wieder zu juchen 
und jie zu mahnen an ihr letztes Wort. — Jetzt jolle fie ihn nur auf 
jeinen Wert oder Unwerth prüfen, — jo lange es ihr gefiele. — Er, 
der Glücklichſte aller Sterblichen, habe jegt zu dem Willen aud) die 
Macht, jeiner Angebeteten jeden Wunjch erfüllt vor die fleinen Füße 
legen zu können. 

ährend er noch jprach, hatte das Vergangene immer feitere Um— 
rifje vor den Augen Ellas angenommen; — als er geendet und fich 
im Drange jeines Herzens, als einjtweiliges Pfand, jelber vor ihre 
Heinen Füße gelegt hatte, — entzog fie ihm zwar ihre Hände, aber 
nur um jie freudig zujammen zu jchlagen. 

„Nein! das ijt ja herrlich! Das iſt ja wunderbar! — Papa er= 
laubt gewiß, daß ich mitgehe; — zudem reiſte er ja auch) gejtern nach 
Berlin — und Tante Lilienzweig iſt bier, die joll uns begleiten! — 
Nein! Alles kaufen zu können, was man ſich wünjcht, was für ein 
Spa! — Warten Ste, — warte Du nur einen Augenblid; ich hole 
rajch meinen Mantel und Tante Liltenzweig!“ 

Der arme Hugo hatte fait zu ficher auf eine Stunde der Weihe, 
der beiderjeitigen thränenfeuchten Rührung gerechnet! — Doch was 
nicht ift, — fann ja noch werden! — Duldfam und noch immer ge- 
tragen von jeliger Zuverficht, machte er die Bekanntſchaft von Tante 
Liltenzweig, deren Zungengeſchwindigkeit ihn lebhaft an den letztver— 
lebten Abend erinnerte. — Dann hüpfte Ella, reizend, himmlijch koſtü— 
mirt herein und die Wanderung wurde unverzüglich angetreten. Ella 


an Hugos Arm! — D, wie jchlug der Puls diejes beneidenswerthent 
Armes! — Aber ac), lange jollte das Glück nicht dauern; — ſchon 


das nächjte Schaufenjter einer Putzmacherin entrig Hugo jeine holde 
„Begleiterin für alle Zukunft.“ 

„Hier müſſen wir zuerit hinein!“ 

„za“, meinte Tante Lilienzweig, „nur immer jyftematisch! fangen 
wir aljo mit den Hüten an.“ 

Weit über eine Stumde wurde gewählt, geprüft, probirt, denn der 
Vereinfachung halber bejtellte man gleich ein volles Dugend Kopfbe— 
deckungen aller Art. — Anfangs jchaute Hugo, dem man in disfreter 
Entfernung einen Stuhl geboten, in jtiller Beglüdung den Metamor- 
phojen des hübjchen Köpfchens, mit dem jtreng ausgeprägten Typus 
zu, das er, der Begnadete vor allen anderen, ſein Eigen nennen ſollte. 
— Endlich aber ermüdet auch das größte Maß von Seligkeiten ſelbſt 
ven Eterblichen doch; Hugo fuhr aus einem Halbjchlummer empor, 
als Ella jchalkhaft lächelnd mit einer kurzen, aber inhaltsſchweren 
Rechnung auf ihn zutrat und ihm dieſelbe mit einem bezaubernden 
Lächeln in die Hand drückte: 


Ein Modemärcen. 569 


„‚Willſt Du, bitte!“ 

Ach wie jchmeichelnd Hang ihre Silberjtimme. 

Hugo griff entzüct nach jeinem Wunderportemonnaie und ſiehe 
da! die Gabe der großen Fee ließ ihn nicht ım Stich. Nur dauerte 
es etwas lange, bis er ein Geldjtücd nad) dem andern hervor klaubte 
und jeßte ihn nicht wenig in Verlegenheit, da die Sache ja nicht auf: 
fallen durfte. 

„Lieber Hugo, wir gehen einjtweilen weiter; — im nächiten Ge- 
jchäfte findeſt Du ums wieder!“ flötete Ella, die allezeit Praktiſche, um 
feine Zeit zu verjäumen. 

Und jo ging es fort; — Hugo fam immer gerade recht, um jein 
Liebesglüd in Geld zu überjegen — und als die Dinerjtunde jchlug 
und Tante Lilienzweig unweigerlich heim verlangte und Hugo die 
Damen ritterlic) in ihre Wohnung begleitete, fühlte er bereits einen 
Krampf in den Finger feiner Nechten, der nicht einmal ſchwand, als 
Ella ihm dieſe Hand drüdte und auf dem dunfeln Borflur unter 
Verabreichung eines eiligen Kuſſes zärtlich flüfterte: 

„Liebjter, wir fünnen Dich ja leider nicht zu bleiben bitten, da 
Papa nicht ‚zugegen it; — aber Morgen fommjt Du ja zur rechten 
Zeit, hörjt Du!“ 

Und der glüdliche Hugo trat gehorſam ab und den einjamen 
Heimweg mit Gefühlen an, die, zu jeiner Fünftigen Mannesehre nicht 
ganz ungetheilt waren. 

Und jo ging es ein paar weitere Tage. Ella kaufte und Dune 
zahlte; jo jpann jich das Liebesleben der beiden fort. Anfangs 
träumte der Glücdliche, wenn er den Spuren der Geliebten von Laden 
zu Laden folgte, noc) immer von einem Ende jeiner Prüfungszeit, von 
einem jeligen Lohn, der jeiner harre, wenn der Ntaufteufel, der feine 
Holde jegt inne hatte, erjt wieder abgefahren jei. Als aber der Zähl— 
frampf in jeinen ‚Fingern in demjelben Maße wuchs, wie das Magazın, 
das Ella fich in ihrer väterlichen Behauſung zulegte, da dachte er 
überhaupt nicht mehr. Ihm jelber unbewußt und von Ella natür— 
[ich abjolut unbeachtet, vollzog jich jedocd) in dem Liebenden Jüngling 
ein Wandlungsprozeh, jtill und unmerklich, aber jo volljtändig, wie 
etwa aus dem formlojen Amphibium nad) Abſchluß des letzten 
Stadiums der vollendete Froſch wird. Und am vierten Tage, als 
er bereits jeine Zuflucht zu der Linken nehmen mußte, um feinem 
goldnen Tagewerfe nachzukommen, trat dieje Wandlung plöglich in 
ihrem ganzen Ausdrud hervor; — gerade wie der junge Froſch eines 
ichönen Sommertages mit einem Male in jeiner ausgeprägten Körper: 
und Charaftereigenthümlichkeit pabig im Schlamme da fißt. 

Man pilgerte matt und müde von des Tages Mühen über den 

roßen Markt; bier in den Eleinen Buden gab es für Ella natür— 
ich nichts zu thun. Unmuthig ob der langen Baufe, trat fie endlic) 
unter das ‚Zelt eines Korbmachers und hielt gewohnheitsmäßig Um— 
ichau, ob nicht doch noch etwas ihrer Wünſche würdiges zu finden 
je. Dadurch gewann Hugo zum alleveriten Male Zeit, auch jelbjt 
einen Gegenjtand zu kaufen. 

„Sit hier denn gar nichts anftändiges zu haben!?“ meinte Ella 
verstimmt und jchmollend. 


570 Ein Modemärden, 


„Doch, mein liebes Fräulein“, wurde hier Hugos ſeltſam veränderte 
Stimme in friichem, freiem Tone laut; aud) der kleinſte Anklanı 
an jchmachtende Sentimentalität war daraus verſchwunden. — "Doc 
mein Fräulein. Sehen Sie, hier iſt das Einzige, was ich meiner künf— 
tigen Frau zu unjerer Hochzeit jchenfen werde, damit fie darin die be- 
jcheidenen — — unſeres gemeinſamen Lebens ſelber ins 
Haus tragen kann. Es iſt zwar nur ein ſimpler, aber ſehr achtbarer 
Marktkorb; für eine feine Dame, wie Ste, verehrtes Fräulein, 
allerdings nur als Symbol da! Empfehle mich Ihnen!“ — Sprach's 
und drückte der Schönen einen derben Korb in das zarte Händchen 
er ließ jie mit Tante Yilienzweig, ihrem Korbe und dem Weiteren 
allein. 


* * 
* 


Draußen ſchüttelte ſich Hugo wie ein Pudel, der einem unfrei— 
willigen Bade entrann; dann trat er ordentlich feſter und ſicherer 
auf, als ſei ein ganzes Selbſtbewußtſein über ihn gekommen und ohne 
ſich länger zu beſinnen, ſchlug er den altbekannten Weg ein und ſtand 
bald darauf in dem kleinen Comptoir, vor dem Pulte ſeines ehemaligen 
Chefs. Als er ſeine kurze, unverhohlene Beichte beendet, klopfte ihn 
der alte Kaufmann wohlwollend auf die Schulter: 

„Freut mich, mein Lieber, freut mich! Zeigt mir, daß Sie ein 
ehrlicher Junge ſind, der geradeaus geht. Na! habe Ihren ſeligen 
Vater auch zu gut gekannt, um von dem Sohn nicht eigentlich eben— 
falls etiwas gutes zu erwarten. Sehen Sie, das gefällt mir, — jo 
frijch von der Leber weg und unverzagt wieder umfchren, wenn man 
einmal falſch gegangen. Das joll Ihnen nicht vergejjen werden! 
Morgen treten Ste ohne weiteres in Ihre alte Stellung ein und wenn 
dann nichts dazwiichen fommt, wollen wir beim Jahresichluß "mal 
weiter jchauen!“ 

Co froh und leicht war unjerem Hugo noch nimmer zu Muthe 
gewejen; er fühlte jich wie einer, der emer jchweren Gefahr ent— 
rann und im Bollbewußtjein dejjen jenem Schöpfer Danf gelobt, 
nicht in Worten allein, jondern in jeinem ganzen fünftigen Verhalten. 

Am Abend machte er nod) einmal, der Gewohnheit folgend, einen 
einjamen Spaziergang; ohne Scufzen jchritt er diesmal, leije pfeifend, 
an dem winterlichen Ufer entlang, das das jtille Wajjer umjäumte, 
auf dem der Glanz des Mondes flimmerte. 

„Halt!“ rief er plöglich laut: „Hier war es ja!“ Und mit jpigem 
Singer zog er einen winzigen Gegenjtand aus der Tajche und warf 
ihn weit in die gligernden ‚Fluten hinaus. — Wir wollen es nur eins 
geitehen, — er jpudte ihm jogar nach) und während er jo einen 
Augenblid in die dunkle Tiefe jtarrte, murmelte er deutlich vernehm— 
bar: „Sch wollte nur, ich hätte Madame hier ruhig hineinfallen lajjen!* 

„Und ich würde nichts Dagegen einzuwenden haben!“ 





Kapitulirt.®) 
Schwanf in einem Akt von Hans von Reinfels. 
(Berfaffer von „Im Neglige”, „Eßbouquet“ zc.) 
Perfonen: 


Steffen, Major a. D., Bürgermeifter. — Illy Sedania, feine Tochter. — 
Peters, Gutsbefiter. — Lieshen, feine Tochter. — Julius Neumann, Feld- 
mwebel. — Biltor von Sommer, Einjährigefreimilliger. 


Ort: Eine Heine Garnifonftadt. Zeit: Die Gegenwart. 


(Das Stüd fpielt in dem wohnlich ausgeftatteten chambre garni Viktors mit Mittel: 
tbüre und Seitentbire links. Rechts vorn ein Fenfter, links daneben ein Klavier. 
Links vorn ein Etabliffement von Tiſch, Sopba uno Fauteuils. Stühle vertbeilt im 
Zimmer, fo auch vorm Fenſter. Auf diefem Stuhl Tiegt verkehrt, aufgefchlagen 
Heines „Buch der Lieder“. Im Hintergrunde, rechts von der Thür, ein Kleiner 
Schrank, in dem einige Flaſchen Wein und Gläſer fteben, links von der Thür Rauch— 
tiſch mit Requifiten, Cigarren ꝛc. An der Wand Photograpbien in Rahmen. Im 
ber Ede links Kleiderftänder mit Militärröden, Beinkleidern, Müten x. Dabinter 
Gewehr, Säbel mit Koppel. [Rechts und links find vom Zufchauer aus angenommen.]) 


Erite Scene. 
Biltor. Bald darauf Julius. 


Viktor. (Eist am Mlavier. Er trägt Militärbeinfleiter und einen leichten Civilrod. 


Etwas komiſch in feiner Erſcheinung und verlegen-hüchtern im Auftreten. Er fpielt, ſobald der Bors 
ang aufgeht, mit flärfftem Forte das bekannte Lied: „Ad, wenn Du wärft mein eigen“, dabei unter 
autem Seufzen einige verbimmelnde Kopfbewegungen machend. Dur bie Mufit hindurch bört man 

einige Mal Klopfen an ber Mittelthüre.) 


Julius. (Junger, ſchneidiger Bonvivant, Infanteriſt, im Exrtraanzug. Er trägt ein 

fleines Badet. Gr reift, nachdem er draußen einige Mal ſtark angellopft, baftig bie Thür auf.) 
iktor. (Unterbricht das Spiel kurz, ſpringt verlegen vom Seſſel, macht endlich Front 

und legt die Hand ſalutirend an bie Ecläfe.) 

Julius. (as) Rührt Euch! (est fein Padet auf den Tiſch Linte.) 

Viktor. Gliat wiederholt verlegen auf feinen Rod, bann geht er an ven Rauchtiſch und 
holt Eigarren und Feuerzeug.) j , — 

Fuliug, Sagen Sie um alles in der Welt, Sommer, find Sie 
denn über a erg geworden ? 

Viktor. iejo, werhalb? 

Julius. Erſt lafjen Sie mic) da draußen zehnmal anklopfen, 
ohne herein! zu rufen und dann paufen Sie hier drinnen Klavier, als 
ipielten Sie einer alten tauben Erbtante etwas vor. 


— 


*) Den Bühnen gegenüber Manuffript. 





572 Kapitulirt. 


Viktor. Entjchuldigen Sie nur, aber ic) hörte Sie wirklich 
nicht, ih) war etwas in Gedanken. (Spielt verlegen mit ben Gigarren.) 

Julius. Etwas? Na, da möcht ich Sie nicht erit ganz in 
Gedanken jehen. Menſch, laſſen Sie ſich das nicht mal im Dienſt 
einfallen. Aber das Klavierſpiel? 

Viftor. (Bol Eifer und Neberzeugung.) Das mußte jo fein. 
— Julius. Groniſch) Ach, was Sie jagen! Ich dacht’ mir das im: 
mer ganz anders. Zum Beiſpiel jo: (ericht lötend, elegiſch „Ach, wenn 
Du wärjt mein eigen!“ Wie Sie es aber jpielten, heißt's: (iereit barib 
und polternd) „ch, wen Du wärſt mein eigen!“ 

Viktor. (Seite) Ja, ja, hier Elingt das jo, wie zuleßt, aber da 
unten. (Zeigt auf den Außboten und hält im Sprechen inne.) 

Julius Aha, ich merfe "was! Da unten, nun? 

Viktor. Da Elingt es weich, ſüß, wie zuerit. 

Julius. Alſo Sie, Schwerenötbher, jpielen hier oben jemand da 
unten etwas vor. Vermuthlich feiner alten Erbtante, jondern — 

Viktor. (Mengflih einfallent.) Witte, bitte. 

Julius. Gertſahrend. Sondern allem Anfchein nach einem reizen- 
den, lieben Backfiſch. 

Viktor. Nein, neu. 

Julius Nun, vielleicht der Enurrenden Schwiegermutter? 

Viktor. Sie hat ja gar feine Mutter mehr. 

Julius. Aljo gefangen, junger Freund. Ich wußte, daß es cine 
„Sie“ und eine junge „Sie* fein würde Doc das iſt Ihr Ge 
heimniß. 

Viktor. Sie ſollen es auch wiſſen. Aber vorerſt bitte. Er dalt 
Julius einine Cigarren bin, damit er fih eine nehmen fol.) . 

<ulius, Danke! Nimmt alle Cigarren und befieht fie lächelnd.) 

Viktor. Meißt ein Zündhölzchen an.) 

Julius. (Stett alle Eigarren gemüthlich in die Tafhe) Puſten Ste nur wie- 
der aus, che Sie fich die Finger verbrennen. Die Cigarren werde ich 
erſt trodnen lajjen, Ste haben fie ja ganz naß gerieben. 

Viktor. «Sieht ihn etwas verbugt an, löfht dann aber das Holzchen aus.) Darf 
ich Ihnen mein Geheimniß anvertrauen? 

Julius. Eines nur? Losgejchofien! 

Viktor. Sch liebe jie! 

—— Mich? Alle Wetter, Sommer, das laſſen Sie hübſch 
bleiben. 

Viktor. Machen Sie mich doch nicht verwirrt. Ich meine die 
Tochter des Bürgermeiſters. 

Julius. So, ſo. Und liebt ſie Sie? Geigt beim erſten Sie auf die 
Diele, beim zweiten auf Sommer.) 

Viktor. Greudig) Wir find einig, jchon lange einig. 

Julius. Und der Alte? 

Viktor. Der weiß von gar nichts, kennt mich nicht einmal, ob- 
wohl mein Vater mit u Ihon einen Prozeß gehabt hat. 

Julius. wasr) Das jind ja famoje Ausfichten. Ihr Herr 
Scwiegerpapa bat natürlich den Prozeß gewonnen? 

Viktor. Nein, er hat ihn in allen  nftanzen verloren. 

Julius. Ereniſch Das iſt ja Herrlich! Leichteres Spiel können 


Kapitulirt. 573 


Sie gar nicht haben. Da gratulire ich herzlichit. «Reit ihm die Hand Hin, 
die Bitter nicht nehmen wit.) Na, nehmen Sie doch! 

Viktor. (Berübrt die dargebotene Hand leicht. Verlegen) Wie Sie ſpotten 
können. 

Julius. Mein bitterer Ernſt, junger Mann. Denken Sie doch 
nur, wie ſich der Bürgermeiſter freut, wenn er ſeine Tauſende, die er 
ür den Prozeß ausgegeben hat, wieder erhält! So viel koſtet er 


j 
doch: 
Sr * ja. Kid) aud 
ulius. Gehört ſich auch jo für einen anjtändigen Prozeß. 

Viktor. Das Geld ift dad aber verloren? BERN 

Julius. Im Öegentheil! Wenn Sie des Bürgermeifters Töch- 
terchen heiraten, lajjen Sie jich die Prozeßkoſten auf die Mitgift an- 
rechnen, da hat fie der Alte wieder. Was jagen Sie nun? 

Viktor. (Berwirt.) Wer wird gleich an die Ausſteuer denken. 
So projaiih — — — 

Julius. (Unterbrigt ihn. Legt feinen Arm um Liktors Hals, führt ihm auf das Fenfter 
zu und nimmt bas Buch vom Stuhl. Beim Spreden ſchlägt er tann das Titelblatt auf.) Sind: 
nur die Feldwebel, meinen Sie, nicht wahr, Landsmann? Sie ftudi- 
ren Heine Buch der Lieder und — Ihr Mädchen mittels des 


Klaviers durch die Dielen an. Seufzt fie auch jo? ccregt das Buch auf den 
Tiſch. Hinter der Scene. Man bört binter der Scene, am beiten von unten berauf, auf dem 
Klavier das Lied jpielen: „Ad wie iſt's möglih dann? 


Viktor. lufgeregt und gtüdtih.) Hören Sie? Hören Sie doch! Ad, 
Du liebſte, beſte Illy! 

Julius. Geiter) Willy, ſagten Sie? Willy iſt ja ein Mannes— 
name. 

Viktor. (Wie osen) Illy! Illy Sedania! Doch fragen Sie nicht, 
ein andermal erzähle ich Ihnen die Geſchichte dieſes Namens. Jetzt 
laſſen Sie mich, lieber Sem, id) muß fort. 

Julius. Das Geflimper war wohl ein Signal zum Aufbruch? 
Paßt mir übrigens ganz prächtig. 

Viktor. iejo? Wollten Sie mich forthaben? 

Julius Ja, hören Sie. 

Beide. (Seren fi) lints.) 

Julius. Ecnſter ats font.) Mir geht's nämlich fait ebenjo wie 
Ihnen, lieber Sommer. Auch ich bin verliebt, jeit vielen Jahren jchon 
und zwar in Lieschen Peters, Ihre Spielfameradin, Ihres Herrn 
Baters Nachbarn Tochter. Auch wir find einig, jeit langer Zeit, aber 
der alte Peters will’s nicht haben. Er will höher hinaus. Sie 
wijjen, ich bin armer Eltern Kind, mußte die Schule Leider früher ver: 
laffen als mir lieb war und habe mein Brod als Inſpektor auf Pe— 
ters Hof verdienen müſſen. Da lernten wir uns fennen, die finnige, 
gute Lieje und ich, der Springinsfeld, und nicht lange währte es, da 
hatten ſich unjere Herzen gefunden. Wir verlebten mit me heim⸗ 
lichen Liebe köſtliche Stunden, eine Zeit des reinſten, edelſten Glücks. 
Anfangs zeichnete mich Peters ſehr aus, weil ich den franzöſiſchen 
Krieg mitgemacht und das eiſerne Kreuz erhalten hatte. Sch, der 
arme Injpeftor, als einziger im Dorf! Als er aber hörte, wie es mit 
mir und Liejen jtand, behandelte er mich jchroff und jagte mich vom 
Hof. Den Schimpf konnt’ ich nicht im Ort erdulden. Ich ging un 


574 Kapitulirt. 
die Stadt und trat wieder ins Militär. Fünf Jahre find darüber 


vergangen, ich bin avancırt und habe jegt zu leben, 
Vıltor. Gou Theilnahme) nd Liefer? 

Julius. Iſt noch nicht verlobt. Man jagt, fie habe alle ‚Freier 
abgewieſen und ſei noch ftiller geworden. 

Viktor. Haben Sie von ıhr jelbjt nichts gehört? 

Julius. D ja, wir jchrieben uns heimlich, fie jandte mir mehr- 
fach ihr Bild und Handarbeiten, die ich natürlich als theures Ange: 
binde aufbebe. 

Viktor. (Mit Emppaie) Das fenne ich! | 

Julius. Nun denken Sie fic) die Ueberrajchung, als ich geitern 
einen Brief vom alten Peters erhielt, in dem er mir mittheilt, daß er 
mich heute befuchen wolle. 

iftor. Er iſt aljo zur Vernunft gefommen? 

Julius. Bielleicht, wer weiß. Ich bin nun aber in großer Ver— 
legenheit. Jch wohne in der Kaſerne, es fieht jchlicht und nüchtern 
dort aus. Der Alte aber ijt eitel und giebt auf Neuperlichfeiten viel. 
Da wollte ich ihm nun imponiren und dachte daran, daß Sie mir 
vielleicht auf den halben Tag Ihre Wohnung abtreten. 

Viktor. (Steht auf) Von Herzen gern, thun Sie ganz fo, als 
wenn Sie hier zu ‚Daule wären. Sch —* Sie nicht. 

Julius. Vielen Dank, revanchire mich gern. Nun muß ich aber 
bitten, daß Sie Ihre Sachen dort (eigt auf die Kleiter m. ſ. w) ins Neben⸗ 
zimmer bringen und auch die Bilder abnehmen. 

Viktor. Was joll denn dafür dorthin? 

Julius. Meine Bilder, Lieschens Photographie befonders. Ihre 
Bilder fann ich doch nicht in meiner Stube lajjen. ch habe meine 
Requisiten gleich mitgebracht. 

Viktor. Schön fann gejchehen. Eilt nun wiederholt von der Bühne Iınta 
ab, erit mit ten Bildern, dann mit ben Gffeften.) 

Julius. (Widett fein Padet auf, in dem einige Photograpbien, zwei Meine gehäfelte 


Sophadeden und ein geftidter Vorleger (Meiner Teppich) enthalten find. Er hängt bie Bilder an vie 
Stelle ber abgenommenen, legt ben Terpih vor das Klavier uud bie Deden aufs Sopba. Beim 


Shen fpriht er.) So mein Liebchen, Hier kommſt Du und Deine Arbeit 
mehr zur Geltung. Dieje Umgebung paßt bejjer für Dich. 

iftor (Iſt von links eingetreten, um bie leiten Sachen fortzubringen.) 

Julius. Einjährig - zsreiwilliger, machen Site, daß Sie fort: 
fommen. 

Viktor. Geuer) Zu Befehl, Herr zeldwebel, will mich nur 
noch in Gala werfen, um zu verjchwinden. Eints ab.) 

Julius. Jetzt werde ich mich hier benehmen, als wenn ic) mein 
Lebtag nod) nicht wo anders logirt hätte. Nefognosziren wir einmal 
das Terrain. Was iſt dort, ein Fort? (Deffnet ven Scrant) Mein! Ei 
Wetter, das paßt ja vortrefflich. Na warte, Alter, Du jollit Augen 
machen. Ecghießt den Schrank und gebt nad inte.) Und hier? Cigarren en 
masse und feine geringe Sorte. Na, da wollen wir den Raub von 
vorhin nur auch noc dazu thun. Er legt die Eigarren in ten Kaften.) 

Bıltor. Econ lints in voller Uniform.) Melde mich! 

Julius. (Hätt ihm eine Eigarre bin.) Da, jteden Sie ſich nur noch eine 
ins Geficht, wer weit, ob Cie nachher noch etwas vorfinden. So 
bleibt Ihnen wenigitens die Erinnerung. Na, feine Hiererei. 


Kapitulirt, 575 


Viktor. Mimme) Danke! Beim Abgehen bei Seite) Muh ich mich 
noch für mein eigenes Kraut bedanten! (aut) Adieu, Herr Feldwebel, 
viel Vergnügen mit dem Alten. 

Julius. Dito mit der Jungen, aber jeufzen Sie nicht zu viel. 

Viktor. (Dur die Mitte ab.) 


Zweite Scene. 
Julius. 

Jetzt iſt das Feld frei und wer daran zweifelt, daß dies meine 
rechtmäßige Wohnung iſt, der kann ſich au drei Tage Mittelarreit 
gefaßt machen. Ja jo, den Alten kann ich doch nicht einjperren Lajjen, 
für den muß ich etwas anderes erjinnen. Schwer genug fann man 
dies Ungeheuer eigentlich nicht bejtrafen, denn wie hat e& mic), behan- 
delt, wie hat es Lieschen gepeinigt. Eegt die Toppel ab, Lüfte ben Not und legt 
ſich aufs Sopba) Fünf Jahre ſind's, daß ich von jeinem Hofe lief, auf 
dem ich zwölf Jahre gewirtbichaftet hatte. „Sie Hungerleider“, jagte 
er zu mir — ich vergeß es mein Lebtag nicht — „Ste erfühnen ſich 
meine Tochter zu lieben? Das kann Ihnen wohl paffen, ſich in die- 
jes reiche Bauerngut hineinzuheiraten, aber che ich nicht ſelbſt bei 
Shnen bettele, ehe werden Ste meine Tochter nicht befommen. Bilden 
ſich wohl wer weiß was auf Ihr Kreuz ein! Jetzt entfernen Sie fich 
und laffen jich nicht wieder vor mir ſehen.“ Es ift mir, als wenn’s 
erjt gejtern pajlirt wäre und die Wuth jteigt in mir auf, gerade jo 
wie damals, wo ich ihn am liebſten bei der Surgel gepadt und in Die 
Miitjauche geworfen hätte. (Er feht auf) Aber Gottlob ich beherrjchte 
mich und jo brauchte fich Lieschen meiner nicht zu ſchämen. Die Zeit 
heilt alle Wunden, das ıjt richtig, aber zu gewilien Zeiten ſchmerzen 
fie doch recht jehr. Ah bah, fort mit den Grillen. Es muß etwas 
fehr wichtiges jein, daß Jich der alte ‘Peters zu mir bequemt. Nun 
er ſoll jehen, daß ich vergeben kann, wenn ich's auch nicht zu vergeſſen 
vermag. (Seiter.) Der liebe Sommer jorgt doc, für alles, hält er mir 


da den herrlichjten Weinkeller. Heraus mit einer Lafitte. Er öffnet den 
Schrank und nimmt eine Flaſche Rotbwein nebit wei Gläſern heraus, Er fett bie Gläſer auf den 
Tiſch, enttkorkt die Flaſche und ſchänkt fihb ein Glas Wein ein. Klopft fib felbit auf vie Bade.) 


Profit alter Junge, profit Lieschen! «Geht auf eine Photographie an der Wand 
zu und Fingt-mit bem Weinglafe an das Glas bes Bildes. Dann leert er das Glas, während es 
Hopf) Herein! (Gr eilt an ben Tiſch, fett fih und blättert im Heine.) 


Dritte Scene. 
Julius. Peters. 
eters. (Fehler, beftimmter Charalter. Dann von circa fünfzig Jahren; friſches, ro⸗ 


buſtes Ausſehen. Anfänglid etwas finfter, im Berlauf der Ecene freundlicher. Er tritt durch bie 
Mitte ein und bleibt dann an der Thür fteben.) Guten Tao. 

Sulius, Schön Dank. (Er fteht auf und geht Peters entgegen.) 

Peters. (Sieht fih erftaunt im Zimmer um.) Iſt's erlaubt näher zu treten? 

Julius. Greuntich. Aber gewiß, mein lieber Herr Peters. ch 
freue mic) ungemein Ste in meinem Heim begrüßen zu dürfen. Bitte 
tegen Sie Kid, (Er nimmt ibm Hut und Stod ab und führt ibn an einen Fauteuil, 

e 


gießt ibm und ih Wein ein und bolt Cigarren nebſt Feuer.) 
Peters. (Muftert während deſſen das Zimmer, fiebt auf bie Bilder, die Sophabeden 


und fest fih dann. Bei Seite.) Verdammt nobel hier und wie gewählt der 
Junge ſpricht. 


576 Kapitulirt. 


Zuliusd So, mein lieber a Peters, nun erjt eine Cigarre in 
an gejeßt und dann laſſen Sie uns wie alte Freunde gemüthlich 
plaudern. 

Peters. (Unrubig. Salblaut, Alte Freunde? Gemüthlich? 

Julius Ja, oder finden Sie es hier bei mir ungemüthlich? 
* wohne ja nur ſehr einfach, aber es genügt bei beſcheidenen An- 
prüchen. 

eters. Einfach, beicheiden? Site jcheinen ja recht bedeutende 

Fortichritte gemacht zu haben. 

Julius. Das lernt ſich, ich hatte ja Zeit genug. Aber ſonſt 
bin ich noc immer der Alte. (Er hätt ipm tie abgefänittene Eigarre und cin bren- 
nendes Streichbolz bin,) 


Peters. (Nimmt beires.) Danke. (Raust) Was koſtet denn dieſe ein— 
fache beſcheidene Wohnung? 

Julius. Sie iſt billig, fünfundzwanzig Mark. 

Peters. Wie verdienen Sie das? 


Julius. (Ohne langes Befinnen.) Ich gebe Stunden. (Er züntet fich chen- 
falls eine Cigarre an, 


eters. Unterriht? Na, nu hört alles auf! Worin unterrich- 
ten Ste denn? 

Julius. (Bei Ceite) Was jag’ ich denn nur? (aut) In — — in 
Muſik. 

Peters. (Eritaum) Spielen Sie denn jetzt auch Klavier? 

Sulius Ja, natürlih. Das gehört heute zum guten Ton. 

Peters. Sieh, jich! Was doch alles aus Ihnen geworden ift. 
Zeigen Sie 'mal, was Ste fünnen. 

Julius. (Bei Seite) Donnerwetter, das fehlt auch noch. (aut) Es 
thut mir herzlich leid Ihnen diefe Bitte abjchlagen zu müfjen, aber 
unten iſt ein Kranker, ein Schwerfranfer. 

Peters. Ber Ihrem ehemaligen Hauptmann? 

Julius. (Meberrafse.) Meinem Hauptmann? 

Peters. Nun Ju Bürgermeiiter Steffen iſt Doch im Kriege Ihr 
Hauptinann gewejen: 

Julius. (Bei Seit) Daran hab’ ich gar nicht mehr gedacht. «Laut ) 
Ja wohl im Striege, veriteht ſich. Ja, jene Tochter soll im Sterben 
liegen, jedes Geräuſch kann von jchweren Folgen für fie jein. 

Peters. Der arme, bejanmernswerthe Mann. Aber was ijt 


das? Da wird ja unten jelbit geipielt? «Hinter ver Ecene. Man hört bie 
Gavotte „Heimliche viebe“ von Reich ipielen.) 


Julius. Ja, das begreif' ich nicht. Sollte e8 vielleicht der Wunsch 
einer Sterbenden jein? Oder tt fie gar jchon genefen? Jedenfalls 
brauche ich jegt auch feine Rüdjicht zu nehmen. Sch werde gleichfalls 
jpielen. (Steht auf und geht Yangfam auf das Ravier zu. Bleibt dann fiehen. Bei Seite.) 
Wenn ich nur könnte (aut) Uebrigens iſt es entjeplich verjtimmt. 

Beters. (Hat mebaniih nah dem Heine gegriffen, ven Dedel geöffnet und lieft Sommers 
Name.) Laffen Sie e3 dann lieber, Julius. Viktor von Sommer? das 
iſt ja unſeres Herrn Sohn! 

Julius. (Bei Seite.) Gott ſei Dank. Eaut, beim Zurüdgeden) Jawohl, 
er hat mir das Buch geliehen. 

Peters. Sie verkehren mit ihm? 

Julius. (Mit Betonung) Er geht hier aus und ein. 


9 
| hr. 


f — 


Farbenftudien. 


Nah dem Originalgemälde von Emma Mitller. 





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Kapitulirt. 577 


Peters. Das freut mich, Umgang bildet. 

Julius. (nrupie) Was ift das eigentlicd; für ein Prozeß ge— 
wejen, den der alte Sommer und Steffen geführt haben? 

Peters. Grenzitreit natürlich. Sommers rechter Nachbar war 
ein Onkel Steffens und hatte ihm fein Gut vermacht. Bei der Ueber: 
nahme famen Sommer und der Major wegen der Grenzen in Streit 
und flagten. Der Bürgermeifter hat verloren. 

Julius. Das erzählte mir Viktor Schon. Was führte Sie nun 
aber hierher, Herr Peters? Ich bin wirklich begierig, ob ich Ihnen 
dienen kann. 

Peters. Crintt aus und lebt auf) Cie und fein anderer. Mein 
Rieschen — — — 

ulius. Gon Iehhaft unterbrechend) Wie geht es Fräulein Lieschen, 
iſt ſie wohl? 

Peters. Nicht wie es ſein ſoll. Sie iſt ſchweigſam und 
magert ab. 

Julius. Cengklich und erregt.) Da müſſen Sie aber den Arzt zu 
Nathe ziehen. 

Peters. u ihr Leiden en nicht?. (Bei Seite) Ich will ihn 
auf die Probe jtellen. (aut) Sie fieht das jelbit ein und hat mir 
einen Auftrag für Sie mitgegeben. 

Sultius. Der wäre? 

Peters. Sie möchten ihr die Bilder und Handarbeiten zurüd- 
jenden, die fie Ihnen einjt im Uebermuth gegeben hat. 

Julius. Ecnſt und beftimme) Im Uebermuth? Wer das jagt, lügt 
und jet fie es ſelbſt! Aus Liebe hat fie mir alles gejpendet und 
niemals gebe ic) es zurüd, es jei denn Lieschen holte es jich jelber. 
Alto deßhalb juchten Sie mich auf, um fich noc) einmal an meinem 
Schmerz zu weiden? Ich Thor, ich hoffte, Sie brächten mir Ihren 
Gegen! 83 war nicht jchön von Ihnen, Herr Peters. (Er gebt Tinte 


ins SJimmer.) 
Peters. Das war wohl ein wenig zu jtark, ich muß ihn wieder 
verjöhnen. Er ijt doch ein charmanter Kerl geworden. (£ints nad.) 


Vierte Scene. 
Steffen. Peters. Julius. 

Ste fen. (Im Givilrod, das eiferne Kreuz I. Kl. an ber linfen Seite. Er gebt am 
tod, das linte Bein etwas nachziehend. Sonſt jugendlich elaftiih. Friſches Weſen. Zritt burd bie 
Mitte ein) Alſo hier wohnt der Soldat, von dem mir Illy alle Tage 
ihwärmt? Sch mußte ihren Bitten nur nachgeben und mir jelbjt den 
jungen Herrn aufjuchen, um ihn kennen zu lernen. Es tjt nicht jehr 
ehrenwerth) von ihm, meiner Tochter ernjtlich den Hof zu machen und 
mich dabei volljtändig zu übergehen. Nichts will Illy verrathen, 
weder jeinen Namen ie bejondere Kennzeichen, ich joll den Solda— 
ten — anders nennt fie ihn nicht — in feiner eigenen Wohnung auf: 
juchen und prüfen, ob er ihrer werth it. Sie be 7 darauf nur ihn 
heiraten zu wollen. Nun wohl! Aber das Neit ift leer, mein Klopfen 
wurde jchon nicht gehört. Doc) halt, da kommt ja Geſellſchaft. (Zieht 
fig in den Hintergrund zurüd. ) 

Steffen und Julius. (Remmen von inte.) 

Der Ealen 1887. Heit XL, Band IL 39 


578 Kapitulirt. 


Steffen. Wer wird fich immer gleich jo aufregen, das läßt ſich 
doch auch in Ruhe bejprechen. 

Julius. (Bemertt ven Majer und eilt nah vorm. Bei Seite) Alle Wetter der 
Major. 

Steffen Gortretend) Gehorſamſter Diener, meine Herren, id) 
hoffte nur einen Feind vorzufinden und nun jtoße ich auf deren zwei. 

Julius. (Bei Seite.) Kenn ich mich nur verfriechen könnte, jetzt 
platt die Bombe. (Bredt Steffen ven Rüden zu.) 

Peters. Aber der Herr Major jollten uns beide doch für gute 
Freunde halten. 

Steffen. Das wird ſich zeigen. (Zu Yulins, heiter commantirent.) Kehrt, 
junger Freund. 

Julius. (Mast furzum Kebrt.) 

Steffen Was jeh ih, Neumann, find Sie's oder find Sie's 
nicht!? (Bei Seite) Er it der Soldat, das hatt’ ich nicht erwartet. 

Julius Zu Befehl, Herr Major, ich bin's. 

Steffen. (Reist und ſchüttelt ihm die Hand.) Seien Sie mir herzlichit 
gegrüßt. Aber jagen Cie um alles in der Welt, Neumann, find Sie 
denn damals nicht vom Militär abgegangen? 

Julius. Jawohl, Herr Major, aber id) bin vor fünf Jahren 
wieder eingetreten. Sie jelbit waren mir durch Ihre Empfehlung 
dazu behilflich. 

Peters. (Bei Seite, emft) Sch auch! 

Steffen. Wichtig, jetzt entjinne ich mich. Und da haben Eie 
es übers Herz bringen können mich noch nicht aufzujuchen? Ich bin 
fait ſchon ein Jahr bier am Ort, Sie wohnen mit mir unter einem 
Dach und können ſo aufführen? Da charmirt das Volk aber 
lieber hinter den Rücken der Väter mit den Töchtern und kümmert 
ſich um die Alten gar nicht. 

Peters. Das war richtig geſprochen, Herr Bürgermeiſter. Ich 
habe ihm ſchon früher — gemacht, daß das — nicht 
ritterlich ſei. Die jungen Mädchen Eger ji) 'was in den Kopf, wer- 
den frank, ejjen und trinken nicht, heulen die ganze Nacht und — 
und jchlieglich jegen fie ihren Willen durd, will man ſie nicht d'rauf 
gehen jehen. 

Steffen. Juſt jo ſteht's und geht's mit meiner Tochter. 

Peters. Und wenn die Kinder noch zu einander paßten! Er iſt 
aber ein armer Teufel und fie — — Sie erlauben, daß ich's in Ihrer 
Gegenwart jage, Herr Major — — fie hat doc) ein, jtattliches Ver— 
mögen und obendrein noch das jchöne Gut. Er, ein bloßer Feld: 
webel — — fie, die Tochter — — — 

Steffen. (Unterbrigt ipn) Schmähen Sie mir nicht die Feldwebel. 
mein lieber Herr Peters. Das iſt der Stolz unjerer Arme. Was 
wäre 1870—71 wohl aus uns ohne unfere Unteroffiztere und Feld— 
webel geworden? Was mich betrifft, jo winde ich meine Tochter 
ruhig einem Feldwebel anvertrauen, zumal einem jolchen, wie Neu: 
— der ehrenwerth, gebildet iſt und dem ich mein Leben ſchul— 
dig bin. 

ö Julius. GEGeſceiden ablehnend) Aber Herr Major. 

Peters. (Mufmertiam) Was? Ahr Leben? 


Kapitulirt. 579 
Steffen. Nun ja; wijjen Sie das nicht? 
Peters. Nein, — nur, daß Julius in Ihrer Compagnie 
geſtanden und ſich bei Sedan das eiſerne Kreuz verdient hat. 
Steffen. Ja, weil er einer der Tapferſten und Kühnſten war 
bei Erſtürmung der ſteilen Höhen von Floing und mich mit eigenſter 
Lebensgefahr ins Gehölz von Illy führte. Wäre er damals Feld— 
webel geweſen, hätte man ihn ſogar zum Offizier gemacht. Doch er— 
lauben Sie, daß ich mich ſetze, meine Wunde rührt ſich immer, wenn 


mein Gedächtniß bei jenem denfwiürdigen Tage verweilt. (Er fest ſich, 
Peters dicht zu ibm, genau zubörend. Julius tritt etwas in ben Hintergrund und holt nad einer 
eile noch eine Flaſche Wein und ein Glas aus dem Schrant, beides ftill auf den Tiſch ftellend.) 


Steffen. Es war am 1. September gegen 1 Uhr, feit 6 Uhr 
morgens tobte der Kampf. Unſere vereinigte Armee umſchloß wie ein 
eijerner Ring Sedan. In einem verhältnigmäßig Eleinen Raume kämpf— 
ten über 350,000 Mann; fie kämpften muthig und wüthend, den Tod 
verachtend. Die Deutjchen jiegesgewiß heranftürmend, die Franzoſen 
hoffnungslos, trogig, jeden Fuß Boden bis auf das Aeußerſte ver- 
theidigend. 

en Das muß ein großartiges Bild gewejen fein. 

Steffen. Ja, aber auch ein furchtbares! Um 1 Uhr gings zum 
Angriffe gegen Floing. Faſt ohne einen Schuß zu thun erflommen die 
Bataillone der 22. Divijion, unjere braven 32er, worunter auch Julius 
und ich waren, ungeachtet großer Verluſte die jteilen Höhen. Kaum waren 
wir angelangt, als der Feind verjuchte uns durch wahrhaft glänzende 
Reiterangriffe wieder den Anhang herunter zu werfen. Aber e3 ges 
lang ihm nicht, wir behielten feiten Fuß und befanden uns nun im 
Nüden der feindlichen Hauptjtellung, weſtlich von Illy. Sch wurde 
am Bein ſchwer verwundet und wäre eine jichere Beute des Todes 
geworden, wenn nicht mein tapferer Julius mic) feinen Klauen noch 
einmal entrijjen hätte. 

Julius. Jeder andere, Herr Major, hätte jich aud) Ihrer an: 
genommen. Laſſen Ste uns darüber jchweigen. 

Peters. Mein, Herr Major, erzählen Sie weiter. 

Steffen. Nun wohl. Julius jah — fallen, nahm ſich meiner 
an und brachte mich mit unmenſchlicher Mühe und Anſtrengung an 
ein ſicheres Plätzchen des Gehölzes von Illy. Er blieb bei mir, bis 
man mich ins Lazareth brachte. Dort dachte ich an meine arme Frau, 
von der ich wußte, daß ſie in dieſen Tagen ihrer ſchweren Stunde 
entgegen ſehen mußte. Ich gelobte mir, daß, wenn mir eine Tochter 
geboren werden ſollte, ich ihr zur Erinnerung an jenes mich rettende 

ehölz den Namen Illy und zum Gedächtniß an die glorreiche 
Schlacht ſelbſt den Beinamen Sedania geben wollte. Und ſo geſchah 
es. Wahrſcheinlich iſt mein Kind die einzige Trägerin dieſer Namen, 
die jie übrigens abgöttijch liebt. «Steht wierer auf.) 

Peters. Erdebt fih geihiane) Mädchen jind wunderbar, und zäh 
halten jie an ihren Phantasien feit. 

Steffen. Dieſe Anhänglichkeit an ihren Namen übertrug fie 
nun auch längjt auf meinen Lebensretter, den jie gerne einmal bei 
mir jehen möchte Nun finde ich ihn ungeahnt in meinem eigenen 
Haufe, aber er findet mich nicht. 

39* 


580 Kapitulirt. 


Julius. Wenn Sie erlauben, Herr Major und Ihr Fräulent 
Toter — — — 

Steffen. Zum Kudud nochmal, Herr, die brennt ja darauf, 
Sie unten zu jehen. 

Peters. Iſt Ihr Fräulein Tochter jegt wieder ganz genejen? 
Sie jpielte vorhin ſchon Klavier. 

Steffen. Genejen? 

Julius. (Tritt von hinten an Steffen beran und ſtößt ihm wiederholt an. Dann vor— 
tretend.) Herr Peters meint, ob das Klavierſpiel hier oben Sie unten 
jehr jtört? 

Steffen. Na, offen geitanden, lieber Freund, genußreich find 
dieje albernen Melodien: „Ach wenn Du wärjt mein eigen“, „Ach 
wie iſt's möglich dann” und das jonjtige Liebesgewinjele nicht. Ein 
vernünftiger Menjch kann dabei verdreht werden. Da lieb’ ich mir 
ein offenes, ehrliches Wort. 

Julius. Ich gelobe Ihnen feierlich, Cie nicht öfter mit meinem 
Spiel zu beläftigen. 

Steffen. (Bei Seue, Der Menſch jcheint jchlecht zu begreifen. 
Mehr kann ich doc) nicht jagen! 

Peters. (Bei Seite) Ich muß dem Spiel ein Ende machen, jonjt 
verlobt er ſich noch mit der Illy. 

Julius. (Bei Ceite) Wenn ich die beiden bloß erſt los wäre! 
=. Kun, meine Herren, laffen Sie uns auch nicht das Trinken 
vergejjen. 

R Steffen. Bravo. Alfo auf Ihre Verlobung, Neumann. 

Peters. Woher wiſſen Ste, Herr Major? Nun gut, Julius, 
auf Dein und Lieschens Wohl! 

Julius. Etxfreut, Wirklich? Vielen Dank, mein lieber Herr 
Peters. (Cie ftoßen an.) 

Steffen. (Stößt gleichfalls an, vorſichtig fragen.) Auf Lieschens Wohl? 
Wer tit das? 

Peters. Meine Tochter, da hängt fie. Sie find jchon feit ſechs 
Sahren heimlich verlobt, ic) wollt'S nur nicht zugeben. Nun aber der 

Major dem Julius jolche Lobrede hielten und meinten ihm mit 

uhe jelbit Ihre Tochter zu geben, kann ich doch nicht länger widerjtehen. 

Steffen. Da thun Sie brav, alter Freund. (Bei Exit) Hier 
hätte ich fast eine große Thorheit begangen. Arme Illy. 

Julius. Wo ift Lieschen, Schwiegerpapa? 

Ben In der Stadt, fomm, wir wollen zu ihr gehen. 

Steffen. Biel Vergnügen, junger Freund, ich muß in mein 
Bureau zurück. Auf Wiederſehen. (Reicht beiden bie Hände und gebt. Beim Ab— 
geben für fib.) Wie man ſich doch in einem Menjchen irren fanı, Arme 
Illy, verjchmähtes Kind, ich Hatte es jo gut mit Dir im Sinn. (Durs 
die Dlitte ab. ı 

Julius. (Findet Koppel und Säbel um, fest fib die Mütze auf, reicht Peters Hut 


und Stod., Nicht wahr, Papa Peters, mit dem Abholen der Sachen 
haben Sie nur geigerst 

Peters. Gewiß, alter Junge. Ich war mit meinem Plan längjt 
fertig, ich wollte Dich nur auf die Probe jtellen. Du halt fie glän= 
zend bejtanden. 


Kapitulirt. 581 


Julius. Alſo find Sie zufrieden mit mir? 
Peters. Mehr als das, ich bin ftolz auf Dich. Beite durd die 


Mitte ab.) 
Fünfte Scene. - 
Biltor. Bald darauf Illy. 

Viktor. (inter der Scene) Bu Befehl, Herr Feldwebel. (Auf ver 
Bühne, laut. Beſtellt mich der Menſch zum Hüter jenes, nein, meines 
Bimmerg, das iſt arg. Und wie es hier ausfieht! Mein Wein jcheint 
ihnen gemundet zu haben, auch meine Cigarren haben fie nicht ver: 
jchmäht. Nun meinetwegen, was frage ich danad), hätte ich Illy nur 
—— Sie war unbegreiflicherweiſe nicht auf dem bekannten Platze. 
Es tlopft. Laut und ſchnarrend) Herrrrein! Alle Wetter, Illy in höchſteige— 
ner Perſon. 

Illy. (Iunges Madchen, naiv aber ſicher im Auftreten. Sie iſt im geſchmackvollen Haus⸗ 
Kleid, ohne Kopfbebedung) Entſchuldigen Sie, Herr von Sommer, daß ich Sie 
bier aufjuche. Ich komme aber mit Erlaubniß meines Vaters. Ich 
habe mit Ihnen zu jprechen. 

Viktor. Verlegen) Aber Sy, liebſte Illy. 

Sy. Beleidigen Sie mich nicht, mein Herr, mit der vertrau— 
lichen Anrede. Für Sie bin ic) fortan nur noc Fräulein Steffen. 

Viktor. Diejer Ton, mein Fräulein, ich verstehe nicht. 

Illy. Fahren Sie nur fort in Ihrer Komödie, mein Herr, 
aber rechnen Sie nicht auf meinen Beifall. Ein halbes Jahr lang ijt 
es Ihnen gelungen mich zu täujchen, bitter, jehr bitter war die Er— 
fenntniß für mich, aber Site follen mir Nede ſtehen. 

Viktor. ch begreife wirklich nicht — — 

Illy. Auch ich konnt' es nicht begreifen und begreife es noch 
nicht, wo Sie den traurigen Muth bernaimen, mir Liebe zu beucheln, 
mein Herz zu bethören und mic) unglüd ich zu machen. 

Viktor. Das hätte ich gethan? Mein Wort — — 

Illy. Halten Cie ein, laden Sie nicht noch eine neue Lüge auf 
ih. Sie haben wahrlich) jchon genug zu tragen, wenn Sie die 
Meineide alle mit ſich durchs Leben jchleppen, die Sie mir geleitet 
haben. 

Viktor. Illy, theure Illy, was it Dir denn nur? 

Illy. Ich verbiete Ihnen, mich noch einmal jo zu nennen. 
Glauben Sie e8 vor mir verantworten zu können, jich zu veritellen, 
jo denken Sie an jene dort, (eigt auf die Bilder) der Sie Ihre Hand heute 
Be haben. 

iftor. Sch ſchwöre, ich bin unschuldig, Fräulein. 

Sy. Das thun alle Verbrecher. Leugnen Cie dieſen hand» 
greiflichen Beweijen gegenüber auch noch? (Greift bie beiden Sophadeden, ballt 
fie zufammen und hält fie ihm drohend dicht vors Geſicht. Sind dies nicht Ihre Sachen? 
Iſt dies nicht Ihre Stube? Sind das nicht Ihre Bilder? Und Sie 
wagen wirklich noch mich für ſo einfältig zu halten, daß ich Ihnen 
nur noch ein Wort glauben ſoll? Soll ich erſt meinen Vater 
herbeirufen, daß er Ihrer Erinnerung nachhilft. Haben Sie ſchon 
vergeſſen, was Sie erſt vor zehn Minuten hier geſagt haben? 

Viktor. Ich war ja gar nicht hier. 

Ihly. east) Ha, ba, ha! Es wird immer beſſer. Sagen 


4 


582 Kapitulirt, 


Sie doc) Lieber gleich, Sie haben meinen Vater nicht gejprochen, auch 
Ihren (mit nid Schwiegerpapa nit. Es jollte Sn ſchwer wer- 
den Ihr Alibi zu beweifen. Sie find zwar dem Namen nad) ein 
Edelmann, Herr von Sommer, aber mir und meiner Familie gegen 
über haben Sie ſich weder edel noch ald Mann benommen. 

Viktor. Um Gottes willen, Fräulein, hören Ste auf, Ste machen 
mich rajend. E3 kommt jemand. 

Illy. Haben Sie je daran gedacht, daß auch ich könnte über 
ihrer Handlungsweife den Verftand verlieren? Vertheidigen Sie jich 
doch, wenn Sie es können. 

Viktor. Gewiß, Sie jollen alles erfahren. Ich nehme feine 
NRüdjicht mehr. Doch es fommt jemand, bitte gehen Sie dort ins 
Zimmer, nur raſch. nz er 

Illy. Ich bleibe, ich fürchte niemand, Ich bin nicht heimlich 
gekommen. ‚ EN 

Viktor. D bitte, gehen Ste, ich muß Sie noch jprechen. Sie 
dürfen jo nicht von mir gehen. «Er vrängt fie inte ins Zimmer.) 

Illy. Es fei, ſchon der Neugier wegen. Eints a6.) 

Julius. (Oeffnet die Mittelthüre, burd bie Licecen tritt.) 


Sechſte Scene. 

Biltor. Lieschen. 
Lieschen. Gunges Mädhen, in einſacher geihmadvoller Toilette. Möglichſt dunfel. 
Etwas angegriffene Geſichtsfarbe. Eie bleibt erfhroden auf der Schwelle ftehen. Beihämt.) Mein 


err. 

Viktor. Mit einladender Bewegung) Bitte, mein gnädiges Fräulein, 
womit kann ich Ihnen dienen? 

Lieschen. (If naher getreten. Freundlich) Sie kennen mich nicht mehr, 
Herr von Sommer? 

Viktor. Ic habe wirklich nicht die Ehre — — (Raute) Ah, 
Jräulein Lieshen. Wie mid) das freut. Bitte Pla zu nehmen. 
{ 


rüdt ihr einen Seſſel beran.) 

Lieschen. St Herr Neumann nicht ji Hauje? 

Viktor. Nein, augenblidlich nicht, doc) er muß jofort wieder 
fommen. Er bat mich jo lange hier zu bleiben. 

Lieschen. So, jo. Er wohnt wirklich allerliebit. 

Viktor. D ja. 

Lieschen. Site werden erjtaunt fein, daß ich ihn bejuche, 

Viktor. — Ich kenne ja Ihre Geſchichte, ſie ſpricht 
hier aus jedem Stück Möbel. 

Lieschen. Nicht — es iſt traurig. Mein Vater verſprach 
mir mit Julius ſich auszuſöhnen und dann ihn mir zu bringen, aber 
ich wartete und wartete und ſie kamen nicht. Warten iſt ſchrecklich, 
nicht wahr? 

Viktor. Wem ſagen Sie das? Höllenqual iſt Honig dagegen. 
(Lei Seite) Ach Illy! 

Lieschen. Vielleicht iſtss Papa wieder leid geworden. Fünf 
Jahre haben wir ums nicht geſehen und da hielt es mich nicht länger, 

id) mußte ihn um jeden Preis aufjuchen. Denken Ste nicht böje von 
mir. Wenn er doch nur fommen wollte! 


Kapitulirt. 5853 


Viktor. Ich werde ihn juchen. Berweilen Sie nur einige Minus 
ten. Vielleicht lefen Sie jo lange in Heines Buch der Lieder. (Giebt 
ihr das Bud.) 

Lieschen. Ich danke Ihnen, Sie find jehr freundlich. 

Viktor. Wie es jich für Ihren ehemaligen Spielfameraden ge- 
hört. Ich komme bald wieder. Adieu! 

Lieschen. Adieun. (ief.) 

Viktor. (Durd die Mitte ab.) 


Siebente Scene. 
fieshen. Illy. 

Illy. (Deffnet leiſe die Thür links, beobachtet einige Augenblide bie Leſende und tritt 
tann näber.) Guten Tag Lieschen. 

Lieschen. (Läßt erihroden das Buch fallen und fpringt auf.) Ach Illy, wie 
Du mich erſchreckt haſt! 

Illy. Das will ich meinen. Auf dieſe Ueberraſchung warſt Du 
wohl nicht vorbereitet? 

Lieschen. In der That nein. Doc) wo fommjt Du ber? 

Illy. Da heraus. 

Lieschen. Aber Illy! 

Illy. Du jchauderit vor mir zurüd. Ja, ja, ich bin ein ent- 
jesliches Ungeheuer, mache Herrenbejuche und laß mic) einjperren. O, 
ic) Jige jchon eine ganze Zeit lang, aber unjer Liebhaber läßt mid) 
eben ſitzen, er nimmt Dich. 

Lieschen. Unjer Liebhaber? 

Illy. Ja, mein Herz. Schau Did) nur um. Dort Deine Bil: 
der, bier die Sophadeden, die ich zerdrüdt habe, da der Vorleger, 
alles Angebinde von Dir. Von mir nicht ein Stüdchen und doc 
verjicherte mich der Bejiger Ddiejes Zimmers jeit Monden jeiner uns 
wandelbaren Liebe, jchwärmte mich auf dem Piano ar und leijtete 
mir alle Tage neue Schwüre jeiner Treue. 

LYieschen. Das iſt unmöglich Illy. Er jpielt gar nicht Klavier. 

Illy. Ob er jpielt! Siehit Du, aljo aud) vor Dir hat er etiwas 
verheimlicht. Nun, Du bit dafür die Auserkorene, tröſte Did). 

Lieschen. Illy, Du jprichjt da große Bejchuldigungen aus. 

Sy. Die ich beweiien fan. Komm mit in mem Zimmer und 
ic) werde Dir jeine Briefe zeigen. 

Lieschen. So hätte er mich betrogen, er, dem ich jo fejt ver- 
traute. O, das würde ich nicht überleben. (Sie weint.) 

Sy. Du wirt es überleben, wie ich es überlebte. Was ver: 
langſt Du denn? Er liebt Dich ja, er will Dich heiraten, iſt mit 
Deinem Bater einig und ein Herz und eine Seele. 

Lieschen. (Erfreut) Was jagit Du? 

Illy. Mein Papa war Zeuge, wie man auf Euer Wohl an— 
jtieß. Dort jtehen die Neite des Verlobungstranfs. Gratuliren fann 
ich Dir zu dem Gewinn nicht, denn ein jolcher Charakter bringt einer 
Frau fein Glück. 

Lieschen. Ich faſſe es nicht, ich kann es nicht glauben und 
wenn Du es immer wieder beſtätigſt. 

Illy. Natürlich! Du willſt es eben nicht glauben. Es paßt 


584 Kapitulirt. 


bejjer in Deine Berechnungen. Wohlan, ic) werde Dir nicht im Wege 
jtehen, obwohl ich auch von Dir hätte erwarten können, da Du mir 
Deine Freundichaft etwas angenehmer bewiejen hättelt. 

Lieschen. Glaube mir, July — — — 

Illy. Ich traue feinem Menjchen mehr, nur meinem Papa. 

Lieshen. Faſt fange ich an mich zu ängjtigen. Iſt es Denn 
wirklich) und wahrhaftig wahr? 

Illy. Glaubjt Du, daß ich mit meinem Ruf jpiele? Hat man 
Urjache mit einer verfchmähten Liebe zu prahlen? 

Lieshen. Und liebit Du ihn aufrichtig? 

Illy. Ich liebte ihn, jegt hab ich's überſtanden. Mimmt das Bus 
auf und fpielt fih nach linle. Beim Aufblättern des Titelblattes, bei Seite.) Sein Bud 
und da wagt jie noch zu leugnen. 

Beide. Weinen.) D ich Unglüdliche! 


(Beide ſetzen fih, auf den Stuhl rechte Pieshen, auf einen andern links Illy. Sie drüden ihr 
Taſchentuch ans Geſicht und ſchluchzen. 


Achte Scene. 
Die Borigen. Steffen. Peters. 


Steffen. (In Majoreuniform mit dem eifernen Kreuz I.) Peters (in feiner Be- 


gleitung. Auf der Schwelle der geöffneten Thür bleiben beide fteben und feben auf die jungen Mäp- 
en. Batblaute Unterbaltung.) 


Steffen. Da haben Sie die Beſcheerung. Was der junge 
—— nun angerichtet hat. Hätten Sie es nur für möglich ge— 
alten? 

Peters. Nimmermehr! Aber er ſoll ſeine Rechnung ohne den 
Wirth gemacht haben. 

Steffen. Ich gehe nachher gleich zum Oberſten, er muß ihn ver— 
ſetzen laſſen. (Sie geben einige Schritte näher. Etwas lauter, aber voll Mitleid) Kommt 
her, Mädchen. 

Illy. Lieschen. (Beide geben weinend auf ihre Väter zu und bergen ihr Geſicht 
an deren Bruft. Stellung: Ily, Major, Peters, Pieschen.) 

Peters. Siehft Du, mein Kind, wie recht ich hatte. Sch meinte 
es jo gut mit Dir und num dieſe Enttäujchung. 

Steffen. Tröftet Euch beide, meine Kinder. Ihr jeid vor einem 
Unglüd bewahrt worden. Ein Menjch, der jic mit ruhigem Gewijjen 
mit zwei Mädchen verloben kann, ijt fein edler Charakter. 

a Wir haben daher beſchloſſen — — 

Beide Männer — — daß er feine von Euch befommen foll. 

Peters. Ich entziehe ihm Deine Hand wieder. 

Steffen. Und ich werde ihn gleichfalls abweijen, wenn er fich 
erdreiiten jollte um Dich zu werben. 

Beide Mädchen. Edglughen laut.) 

Beters. Tröjte Dich doch, mein Kind. 

Steffen. Du bijt gerächt, mein Herz, beruhige Dich). 

Beide Mädchen. (Föfen ſich von ihren Vätern los, geben einen Schritt nah vorn, 
fehen fih einen Augenblid an und fallen fi dann ſchluchzend in die Arme.) O, Dir jind zu 
unglüclich! (Berbarren in der umſchlungenen Stellung) Wir gehen in ein Klojter! 

Sterfen. Sie find mir nicht böfe, lieber Peters, daß ic) Ihnen 
reinen Wein eingejchenft habe. Ich hielt mich dazu für verpflichtet. 

Peters. Ich Ihnen böfe, Herr Major? Danfbar bin ich Ihnen 


Kapitulirt, 585 


von Herzen, dab Sie diefen Don Juan bei Zeiten entlarvt haben. 
et ai Herr Feldwebel hat in den fünf Jahren Stadtleben recht viel 
gelernt. 

Slly. Mufsorgene.) Feldwebel? Fünf Jahre? 

Steffen. Ic) liebte Neumann jchon als er noch in meiner Com: 

agnie als Freiwilliger ſtand. Freudig hätte ich ihn zum Schwieger- 

* genommen, trotz ſeiner einfachen Stellung. 

p Illy. Eäßt Lienen los, neugierig.) Neumann, Deinen Lebensretter, 
apa? 

Peters. Jawohl der Feldwebel Neumann, der geweſene Verlobte 
Lieschens. 

Neunte Scene. 
Die Vorigen. Neumann. Biltor. 

Neumann und Viktor. (Xretem durch die Mitte ein, bleiben im Hintergrunde 
ſtehen und bören Peters legte Worte.) 

Neumann. Der Gewejene? Hat fi) was zu gewejen! (Faut und 
freudig.) Lieschen!! 

Lieschen. «Sieht ſich um und eift mit freudigem Nusruf an ihrem Vater vorbei in 
Iulins’ geöffnete Arme.) Ad Julius! 

Sy. (Erftaun.) Mas ijt das? 

Viktor. Begreifen Sie jet, mein Fräulein? 

Sy. Ich fange an. Viktor, ich habe Dir Unrecht gethan, jei 
mir nicht böje. Ich bin die Deine. (Läuft wie Sieden Bitter in die Arme. Im 
Hintergrunde alſo zwei Liebeeraare.) 

Steffen und Peters (ehen fih ſprachls an. Baufe.) 

Steffen. Fort da, Ihre Mädchen! Gu ven Militärs commandiren.) 
Stillgeſtanden! — Richt! Eud)! 

ulius und Viktor. (Mayen Front.) 

Steffen. Feldwebel Neumann, wen haben Sie da mitgebracht? 

Julius. Den Einjährig- greiwilligen Viktor von Sommer. 

Steffen. Von Sommer? Sohn des Wittergutsbefigers von 
Sommer, meines Nachbarn und Klägers? 

Viktor. Zu Befehl. 

Steffen. Was wollen Sie hier? Haben Cie hier etwas zu 
uchen ? ; 
Viktor. Zu Befehl. 

Illy. Papa, er wohnt ja dod) hier. 

Peters und Steffen. (Beide gedehut, Er wohnt hier? 

eterd. Mit Neumann zujammen? 

Steffen. Ruhe, Ruhe! Antworten Sie, Teldwebel Neumann, 
two wohnen Sie? 

Julius. In der Kajerne, Herr Major. 

Steffen. Und diejeg Zimmer? 

Julius. Bewohnt der Einjährigezreiwillige von Sommer. 

Illy. (9m ten Ton des Majors verfallend) Und jene Bilder, die Sopha- 
deden, der Borleger? 

Julius. Gehören mir. 

Illy. Wie kommen die Sachen hierher? 

Julius. Ic habe fie mitgebracht. 

Illy. Bu welchem Zwed? 


586 Kapitulirt, 


Sulius. Um hier meinen Schwiegerpapa anjtändig zu empfangen. 

Lieschen. (Mit Eifer) Du halt Dir das Zimmer nur geliehen, 
Julius, nicht wahr, um Papa nicht in die Kaſerne führen zu müſſen? 
Und meine Bilder und Geſchenke brachteft Du mit, um fie al3 Be- 
weisitüde Deiner Liebe ins —* zu führen. Iſt's nicht ſo? 

Julius. (Hält nicht länger an ſich, in militäriſcher Haltunz, Stimmt, mein 
liebe3 Bräutchen. «Seiter) Herr Major, ich halt's nicht länger aus, 
bitte, „rührt Euch!” zu commandıren. 

Steffen. Nun wohl, aljo „rührt Euch!“. Doc, Halt, mein ge= 
ehrter Herr von Sommer, noch ein Wort mit Ihnen. 

Viktor. (Geht zum Major und fpricht mit ihm.) 

Sy. Gu vLieechen, Kannſt Du mir vergeben, Lieschen? Ich habe 
Dich vorhin gefränft. 

Lieschen. Ich Habe Div nicht? zu vergeben, Du Gute Du 
hast ebenjo viel gelitten, wie ich. 

Peters. «(Der mit Iulius gefprosen.) Du bijt ja ein ganz gefährlicher 
Menſch. Lebit Du immer jo großartig wie hier, Rothſpohn und echte 
Importen? Dann wirft Du mein Gut bald klein befommen. 

Julius. Habe feine Angit, Papa. Diefe Bewirthung zahlt der 
Einjährig-Fretvillige von Sommer. 

Steffen. «aut) An der ganzen Gefchichte ijt alfo nur Illy 
ſchuld. Warum jagteft Du mir denn nicht den Namen Deines An— 
betere? Du ſprachſt nur immer von einem Soldaten, der bier wohne. 

Illy. Gäntie) Aber Väterchen, hätte ic) Dir Viktors Namen 
genannt, wärſt Du nie zu ihm gegangen. Ich kenne ja Deine Vor— 
liebe für die Familie. 

Steffen. Du Schalt! So richteteſt Du aber noch größeres 
Unheil an. Nun, mein lieber Peters, da werden wir beiden Alten 
wohl fapituliren müjjen, gelt? 

Peters. Iſt schon gejchehen, Herr Major. Julius jol uns mın 
aber noch etwas vorfpielen, zum Beiſpiel (nimmt ein Glas in die Hand und 
tanzt bamit) „Sp leben wir, jo leben wir, jo leben wir alle Tage!“ 

Julius. (Seite) Ich kann ja gar nicht jpielen, Schwtegerpapa. 

Peters. Wa— was? 

Julius. Die Lügen gehen gleichfalls auf Rechnung des Einjährig- 
Freiwilligen von Sommer. 

Steffen. Die ſchwere Krankheit meiner Illy auch, nicht wahr? 
Da wäre der Bräutigam fait eher Wittwer als Gatte geworden. 
Nun alles vergeben und vergejjen. 

Peters. «Mit Betonung zu Julius, ihm bie Rechte Hinbaltend.) Alles? 

Julius. (Schlägt ein) Alles! Das iſt die Grundbedingung der 
Kapitulation. 

Der Vorhang fällt. 


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Wiener Zörief. 
Wien, 7. Juli 1887, 

Neue jei das erjte Zeichen einer ernftlichen Beſſerung — jo jteht 
im Andachtsbuche zu lejen, folglich) muß es wahr jein! Nun denn — 
ic) empfinde Reue, daß ich mit meinem legten Briefe Ihre Geduld jo 
lange in Anjpruch genommen und er weit hinausgegriffen über die 
Dimenfionen dejjen, was im „Salon“ üblich; um Ihnen die Aufrichtig- 
feit dieſer Reue zu dofumentiren, will ich mich heute jehr kurz faſſen; 
es wird mir dieſes Vorhaben durch den Umſtand erleichtert, daß wir 
in der saison morte leben, in welcher wenig bemerfenswerthes inner: 
halb der Stadtmauern ſich zuträgt, aus denen alle, die es nur halb- 
wegs fünnen, hinauseilen in die freie, frijche, grüne Gotteswelt. Nach- 
dem ich einen flüchtigen Bli in die durch heißen Brodem unerträglich 
gewordene Reſidenz geworfen, will auc) ich dem Beifpiele der ande- 
ren folgen und eine furze Zugsvogelwanderung antreten in die „Wies 
ner Sommerfrijche”. Die Schaujpielhäufer find gejperrt — man rüstet 
Jich für die Wintercampagne, aber man thut es im geheimen und der 
Fremde, welcher in der heißeſten Sommerszeit nad) &ien fommt, muß 
einen jeltjamen Begriff erhalten von dem Wiener theatralijchen Dar: 
jtellungsvermögen, denn als einzigen Mujentempel jteht ihm das 
Fürſttheater im Prater offen, in welchem man nur die Lofalpojfe 
derbiten Kalibers kultivirt. Auch das Künftlerhaus hat feine Säle 
gejperrt und nur im Kunſtverein befindet jich mit Rückſicht auf die 
‚sremden, welche während der Sommermonate die Metropole Ichen 
wollen, eine in diefem Jahre ‚ziemlid) nambafte Nusitellung, in der ein 
Gemälde älteren Datums, „Salvator Roja unter den Räubern“ dar: 
jtellend, von C. Schorn bejondere Erwähnung verdient; auch Felix 
Poſſart und Michael von Jihn jind nambaft und mit tüchtigen 
Leiſtungen vertreten. Allerliebit jind Zichys Rothitiftzeichnungen, die 
Skizzen zu dem in Petersburg erjchienenen Prachtalbum „letude des 
femmmes“, während wir jeine meist jo graue LYebensanjchauung in dem 
Gemälde „Das Loos armer Waijenmädchen“ vollitändig wiederfinden. 
Im übrigen jehen wir noch nennenswerthe Landichaften von Haanen 
van Remi, alte Calames und andere. Jet ijt in Wien die Mera der 
SGartenmufifen und Tingel-Tangel; im Volksgarten, Stadtpark, im 
Rathhauspark, im Prater, auf der Hohenwarte, beim Domeyer in 
Hieging, begegnet man erjteren und in einer Menge fleinerer oder 
größerer Vorſtadt- und Vorortlofalen, den legteren. Wer an Die 
Stadt gebannt ijt, jchnappt des Abends Luft in einem der Gärten; 
wenn nicht anders wenigitens im Stadtparf, in welchem die durch den 
Sonnenbrand des ganzen Tages glutwarme Atmoſphäre ſich mit den 
Miasmen fufionirt, die aus dem immer noch nicht regulirten Wien- 
fluffe emporjteigen. Die Straßen der Stadt werden bet der Zunahme - 
der Temperatur immer öder und öder und das echte und rechte, raſtlos 


588 Am Kamin. 


eichäftige, eilig haftende Wiener Treiben begegnet ‚uns nur an den 
Babnhören, an welchen fic die Reijenden und Sommerfriichler ſtauen, 
welche jich ein mehr oder minder fernes oder nahes Ziel geſetzt haben, 
an dem ſie fich erholen wollen von der Strapaze des Winters, an 
welchem jie jenen Waldduft, jene Quantität Ozon einathmen, durch 
die ſie widerjtandsfähig ſind gegen die Dunstichichten, welche jahraus, 
jahrein über unjerer alten Bindobona Liegen und zu ihr gehören, wie 
das Amen zum Gebet. Der Wiener muB, wenn es nur halbwegs an- 
geht, jeine Sommerfriiche haben, iit aber in dem Begriff deſſen, was 
er unter Sommerfrijche verfteht, häufig nur allzu genügjam; er hält 
das auch jchon für eine gefunde Abwecjjelung, wenn er mit Kind und 
Kegel 3 bis 4 Wochen aufs Land geht, in einem Stall wohnt, Der 
von irgend einem jpefulativen Bauern für die Sommermonate zum 
Zimmer adaptirt ward, welches räumlich höchſt bejchränft einer un— 
glaublichen Menge von Menjchen Obdach und Schlafitelle bieten muß. 
Dazu zählt er eine kleine Wiejenfläche, oder einen jtaubigen Hof mit 
einer Eleinen Holzbude, genannt „Salettl“, in welches die Augen der 
Nachbarn bequemen Einblid haben und das nennt er einen Garten. 
Bei jotanen Umjtänden it es dann eine wahre Wohlthat, dat die Süd— 
bahn ſich endlich erbarmt hat und jo viel es nur angeht auf der Strede, 
welche ſie paſſirt, für anſtändige, billige und gute Unterkunft der Some 
merfriichler Sorge getragen hat. Südbahn, Weftbahn und wohl auch 
noch) Franz-Joſephsbahn, im Volksmunde „Jeſus-Maria-Joſefsbahn“ 
genannt, ſind es, welche während der Sommermonate die meiſten 
Paſſagiere auf Reiſen und in die Villegiaturen zu befördern haben — 
und auch dieſe theilen ſich, wenn man die Sadıe näher beleuchtet, in 
drei Naten. Mit der Franz Sofephsbahn fahren zumeijt jene, bei 
denen Schmalhans Küchenmeiſter ijt und die jich 5*— bemüßigt 
ſehen, mit einfachem Sommeraufenthalt zufrieden zu ſein, wofür ſie 
allerdings durch die abwechſelungsvolle Gegend im ganzen Donau— 
gebiete, den Tullnerboden und den Wiener Wald reichlich entſchädigt 
werden. Kritzendorf, Greifenſtein mit ſeiner impoſanten Burgruine, 
Altenberg, Sanct Andrä, Wordern, das find lauter Aufenthaltsorte, die 
von der Kultur noch nicht bis zur Unerträglichfeit beledt find — ja 
es ließe jid) ihnen jogar ein etwas höherer Grad von Civiliation im 
Intereſſe der P. I. Sommerparteien wünjchen, eine Givilifation, die fich 
in Gejtalt nicht allzu primitiver Schwimmjchulen und bequemer Zim— 
mer geltend machen künnte Die Wejtbahn befördert abgejehen von 
jenen, welche in den a tan Stationen Hütteldorf mit dem alt: 
renommirten Braubauje, in Neulengbach oder Rekawinkl — ihr Tus— 
fulum juchen, zumeiſt jene beneidenswerthen, denen es vergünnt 
ilt, den ganzen Sommer hindurch eine Idylle leben zu können, 
das heißt ih gar nicht um die Stadt umd ihr Treiben zu be: 
fümmern brauchen, jondern weit fort können nach dem herrlichen 
Luftkurorte Aufjee mit jeinen inmitten von Wäldern gelegenen „Alpen: 
heim“ nach Gmunden, Iſchl, Ebenjee, St. Gilgen, Mondfee und wie 
dieje Perlen der Natur alle heigen mögen. Auf der Südbahn wie 
derum iſt der regjte Verkehr, einerjeits weil man durch ihn in ver: 
hältnißmäßig Fürzeiter Zeit mitten in das Herz unjeres Alpengebietes 
hinein verjegt werden kann, amdererjeitS weil die Kommunifatıon die 


Am Kamin. 589 


bequemjte und jeit der Errichtung des großen Südbahnetablijfement 
auf dem Semmering, in Toblad) und in Abbazia man auch zu jeder 
Zeit des Jahres einen Endpunkt weiß, an dem man fic) gütlich thun 
fann. Natürlich iſt im Sommer für das Semmeringhötel die Glanz- 
periode und was bejonders anerfennensiwertb nicht nur für jene, welche 
Befiger des goldenen Kalbes jind, jondern auc für Minderbemittelte, 
die in den Dependencen um geringen Preis nette Wohnungen umd 
treffliche Kojt erhalten. Der alte Bildhauer Schünthaler war es, 
welcher vor etwa jieben Jahren die erjte Anregung zur Erbauung des 
Prachthoͤtels gab, welches num mit Necht ein Stolh der Wiener ge— 
worden; er machte den Generaldirektor von Schüler auf die Stelle 
aufmerfjam, von der aus jic) der prächtigjte Rundblick bietet und er- 
baute ſich jelbit am Waldesjaume in unmittelbarer Nähe ein aller: 
liebjtes Patzenhäusl — wie geichaffen als Jlluftration zur „kleinſten 
Hütte“ für das „Lebende Paar“ zu dienen. Das Panorama auf der 
Semmeringhöhe wird jelbit von gewiegten Schweizfennern als eines 
der ſchönſten im dem europäijchen Bergen bezeichnet — und jo un— 
glaublich das auch Klingen mag, „in die Mode“ iſt es Doc) erit ges 
fommen, jeit die Südbahn wu gejorgt hat, dag man auch 896 Meter 
über der Meeresflähe Seefrebfe und Champagner, Bodbier und 
Nehbraten, heiße Frankfurter und G'ſpritzten in Brimaqualität erhält 
und anjtatt auf imjeftenbevölferten Strohjüden in anjtändigen Betten 
liegen fan. Auf dem Plateau vor dem Hötel jtehend jehen wir die 
Raxalpe, den Schneeberg und den Sonnwenditein, jene Eldorados der 
mit Knieftrümpfen und Lederhoſen befleideten „Bergfexe“, die womöglic) 
in Wien über den Graben fahren, um mit dem Ailpenjtod zu para— 
diren, mit dejjen Hilfe fie die höchjten Koppen erflimmen. Dann jehen 
wir Die ganze feenhaft ſchön jich dahinjchlängelnde Semmeringbahn 
mit der Weinzettelwand und den übrigen durch die Berge gehauenen 
Tunnel3 und Biaduften, die Ruine Klamm, jetiges Eigenthum des 
regierenden Fürjten Johann zu Lichtenftein, die beredt zum Herzen 
jpricht in ihrer wundervollen Pracht und deren jtummes Mauerwerk 
uns zu erzählen jcheint von Raubrittern und Burgfräulein, von Mens 
ichenleid und Menjchenlujt, welche jenen längjt entjchlafenen Genera- 
tionen ebenjo weni as geivejen wie ung Nachgeborenen. Zu Führen 
von Klann, den Markt Schottwien, durch den die alte Poſtſtraße über 
den Semmering führt, dann die Wallfahrtskirche Maria Schub, in der 
Tauſende alljährli) von der Gottesmutter Die und Beiſtand er— 
flehen, Wartenshein, das Schloß der Prinzeſſin Luitpold v. Bayern, 
einer geborenen Prinzeſſin Lichtenſtein, Schlöglmühl, die bexühmte 
Papierfabrik, in der Terme der Markt Gloggnitz mit feinem Schloß, 
dem alten einjtigen Eijterfienjerklofter und der Othmar-Kapelle einer 
Reliquie aus dem 13. Jahrhundert; ungezählt und unzählbar find die 
herrlichen Bunfte in diefem Panorama und unwillfürlich möchte man 
mit Hölty, dem Poeten ausrufen: 


„O, wunderſchön ift Gottes Erde 
Und wertb, darauf vergnügt zu fein; 
Drum will ich, bis ich Aſche werde, 
Mich diefer ſchönen Welt eriveu'n. 


590 Am Kamin. 


Und mit diefer Apotheoje auf das Schöne in der Natur biete ih Ihnen 
für heute Lebewohl, doc) da das Abjchiednehmen ein häßlich Wort, 
füge ich gleich Hinzu: „Auf Wiederjehen.“ 


Mar von Weigenthurn. 


— — — — 


Nippfaden. 

Fine neue „Goulenr’ und zwar eine recht eigenartige, bat ben bereits be— 
ftebenden farbentragenden Studentenverbindungen Wiens mit Beginn des Sommer- 
ſemeſters ihre Konftitnirung angezeigt. Sie beißt „Freya“ und ift im Gegenfat zu 
den althergebrachten Burſchenſchaften eine „Mädchenſchaft“. Mitglieder fönnen junge 
Damen werden, die entweder außerordentliche Hörerinnen an der Univerfttät find — 
e8 giebt namentlich bei einigen Profeſſoren der Medizin folhe Hörerinnen — oder 
das Koniervatorium frequentiren und das 16. Pebensjahr erreicht haben. Die „Freva“ 
wird eine fonjervative „Mädchenſchaft“ fein, obne jedoch ihre Mitglieder zu ver 
pflichten, ſelbſt „loszugehen“. Man wird der Verbindung vorausfichtlih Die gemöhn 
liben Anertennungsmenfuren erlaffen. Im übrigen foll der Berfebr mit Couleur 
ftudenten ein freundfchaftlicher fein, während der mit Offizieren nur von Fall zu Fal 
geftattet ift. Der „Mäpdchenlonvent‘ der „Freya“ erweiit fi in ftudentiihen Dingen 
als ſehr kenntnifreih. Den Kopf des Schriftftiides ziert der übliche Zirfel — Virat. 
floreat, crescat Freya! Die Statuten find commentmäßig, nah Form und Inhalt, 
und die Interjchriften der beiden Chargirten, des weiblichen Seniors und der Schrift- 
führern, ermangeln nicht der entfprechenden Anzabl liegender Kreuze. Alles in allem: 
Iſt auch die Zulaffung weiblicher Studenten feitens unſeres Kultusminifteriums noch 
nicht abgefeben, ift den milfensburftigen Damen aud die Alma mater noch ver- 
ichloffen, die Kneipe, der Bummel ift ihnen doch ſchon gefichert. 

Befugniß des Ehemannes zur Eröffnung der Briefe feiner Ehe: 
frau. Im Paris ift vor kurzem die Frage lebhaft erörtert worden: ob der Ehemann 
das Recht babe, Briefe, die an feine Frau gerichtet find, ohne Erlaubniß zu öffnen. 
Die Parifer Advokatenkonferenz bat die Frage, wie berichtet, bejabt, in der franzöftichen 
Preſſe baben fich jedoch viele Etimmen gegen dieſe Anficht ausgeſprochen. In Deutic- 
land find in Bezug auf die Frage, ob der Ehemann berechtigt fei, die Briefe feine: 
Ehefrau zu eröffnen, zwei Urtheile böchfter Gerichtsböfe ergangen. Das vormalia: 
töniglich ſächſiſche Ober-Appellationsgeriht in Dresden bat in einem Erkenntniffe 
vom 30. November 1874 ausgeſprochen, daß, wenn aud einem Ehemanne die Be— 
fugniß, an feine Ehefrau gerichtete verichloffene Briefe eigenmächtig zu eröffnen, nid: 
unbedingt und umter allen Umftänden würde abgejproden, ein derartiges Beginnen 
vielmehr nad Befinden und unter gemiffen Borausjegungen als ein moblberecdhtigtes 
würde bezeichnet werden können, dennoh dem Ehemanne, und zwar gleichviel, ob dic 
ebelihe Gemeinſchaft noch in vollem Umfange beftehe oder eine zeitige Trennung der 
Eheleute eingetreten fei, eine desfallfige Berechtigung im allgemeinen keineswegs zu 
ftebe. In dem der Enticheidung unterliegenden Falle habe der Ebemann die Er 
öffnung des Briefes an feine Ehefrau — nad der ganzen Sachlage — unbefugter 
weife vorgenommen, dieſe Keftftellung fer aber nicht ausreichend, die Anwendbarkeit 
des S 299 des Reichs-Strafgeſetzbuches: „Wer einen verichloffenen Brief oder eine 
andere verſchloſſene Urkunde, die nicht zu feiner Kenntnißnahme beftimmt ift, vorfät- 
lid und unbefugterweife eröffnet, wird mit Geldftrafe bis zu dreibundert Mark ober 
mit Gefängniß bis zu drei Monaten beftraft” zu begründen. Der Angeflagte jeı 
vielmebr freizuiprechen, da ihm das Bewußtjein des Unrechtmäßigen feines Gebabrene, 
der kriminalrechtliche Dolus, nicht nachgewieſen ſei. — Anders entjchieden bat dus 
vormalige königlih preußiſche Obertribunal (Erlenntniß vom 21. Oktober 1858) in 
einem Falle, im welchem der Ehemann einen von feiner Ehefrau an einen Offizier 
gerichteten, mit der Adreſſe des letzteren verjebenen, zu feiner Kenntnißnabme nicht 
beftimmten, mit der Poſt angefonmenen Brief eröffnet hatte. Im dem betreffenden 
Erkenntniß wird ausgeführt, daß ber Angellagte als Ehemann befugt geweien jet, 
ben in Rede ftebenden Brief feiner Ehefrau zu öffnen, daß dies fhon aus den Rechten 


Am Kamin, 591 


bes Ehemannes als Hausherren, insbejondere aber aus ben ibm vermöge ber ehelichen 
Gewalt oder Beigtichaft iiber die Ehefrau zuftehenden Rechten von jelbft folge. So 
lange jener Brief noch nicht in die Hände des Adreflaten gelangt gemejen ſei, babe 
dem Angellagten die Ausübung feiner maritalen Befugniß ganz unbeſchränkt frei» 
geftanden; demgemäß habe er den Brief nicht nur von der Poft reffamiren und beffen 
Auslieferung fordern, fondern auch, fobald er deſſen Befit anderweitig erlangt hatte, 
ibn an ſich behalten und öffnen bürfen; die Mitwirkung einer Behörde (amtliche Be- 
ſchlagnahme und Oeffnung des Briefes) fei bierzu nicht erforderlich gemwejen. — Die 
Erkenntniffe der beiden deutſchen Gerichtshöfe behandeln infofern verſchiedene Fälle, 
als es fich bei dem Urtbeile des Dresdener Ober-Appellationsgerihts um einen an 
die Ehefrau gerichteten, bei dem Urtheile des preußifchen Ober-Tribunal® um einen 
von der Ehefrau abgejandten Brief handelte. Nach dem Erkenntniſſe des Ober- 
Tribunal® wird aber dem Ehemanne auch die Berechtigung zugeftanden werben 
müſſen, die an feine Frau gerichteten Briefe an ſich zu behalten und zu eröffnen, 
da die letztere Befugnig aus der Boigtfchaft (dem Mundium) des Ehemannes über 
die Ehefrau, mit melder das Ober-Tribunal feine Entſcheidung begründet, in gleicher 
Weiſe abzuleiten ift. Ein Erlenntniß des Neichsgerichts ift über bie Frage noch nicht 
ergangen. 

Führer durch Leipzig. Bearbeitet von Paul Benndorf. Nebft einem 
Plane von Leipzig. Entworfen und gezeihnet von Ad. Yiebers. Preis elegant 
gebunden 1 Markt 25 Pfg. Yeipzig, Berlag von Dtto Dietrid. Fremden und 
Einheimiſchen wird hier ein Werkchen geboten, das mit Recht Anerkennung verdient. 
Wer fich dieſes neuen „Führers durch die werdende Großſtadt bedient, wird nie 
mals feinen Weg verfehlen. Aber nicht in trodener Weife, nach Art der fpottbilligen 
Reifeliteratur, bietet fidh der Führer dar, fondern die eingeftrenten, auf Grund ein- 
gebender Studien gefammelten biftoriichen Notizen über Yeipzig, geben dem Buche 
die einem „Reiſeführer“ gewöhnlich fehlende belletriftiiche Färbung; deßhalb empfiehlt 
es ſich nicht allen durch jein geſchmackvolles Aeußere und die beigegebenen Ficht- 
drudbilder. Unſchön macht ſich hinter dem Titelblatte die buchbändleriihe An— 
preifung. 

Hußiger Galanthomme. 
(Mit Muftration.) 


Dirnlein, fieh ihn gnädig an Lange blieb fein Herz in Ruh; 
Deinen ſchmachtenden Galan! Du nur Kati, Du nur, Du 

Iſt er auch von Kopf zu Fuß Haft 8 ihm endlich angethan 
Schwarz und raub von Rauch und Ruß, | Dem bejcheidenen Galan! 
Kannſt's ihm gut und gern verzeib'n, Seiner Liebe Flamme lobt 

Iſt fein Herz doch treu und rein! Hell nun wie ein Brand im Schlot. 
Sieb, er kennt die Welt genau, Wack'res Dirndl, falle Mutb, 
Bon der Dächer höchſtem Bau Löſche feines Herzens Glut, 
Schaut er ihren bunten Lauf — Gieb dem Trefflichen Gebör, 
Friſch umd freundlich zu ihm auf grage nicht nach der couleur, 
Nickt gar manches Mägdlein ſchlank, eich die Hand getroſt und fromm 


Manch Geſichtchen, hold und blank. Dem berußten Galanthomme! Sx. 

Der erjte Urlaub. (Mit Illuftration.) Ein höchſt einfacher Vorgang, den 
unjer zweites Bild barftellt. Zum erften Dale ift er auf Urlaub aus der glänzen- 
den Nefidenz Wien im fein beimatliches Dorf gekommen, der öfterreichiiche Infanteriit, 
ber da in bebaglicher Legere, im Heinen Dorfwirthshauſe feine Birginia rauchend, 
auf dem Stuhle fit und feinem Vis-a-vis, der netten Wirthstochter, einige Piebens- 
witrbdigeiten jagt. Er bat ihr gewiß; viel zu erzählen aus bem Leben ber Haupt- 
ftabt, das aus dem früher fo linkiſchen Bauernjohne jo fchnell einen jungen Manıt 
mit befleren Manieren gemacht bat. Er verfichert ihr im Laufe des Geipräces, daß 
er fein Heimatsborf in dem Glanze der Grofftabt nicht vergeflen babe und bie 
Schönheit und die Grazie der MWienerinnen ein gewiljes Bild in jeinem Herzen 
nicht zu verdunkeln vermögen, welche zarte Anfpielung das Mädchen ganz gern, aber 
dod ein wenig ungläubig anbört. Der Enbrefrain feiner Schilderungen des Wiener 
Yebens, des Praters, des Ringes und anderer ichöner Partien. klingt aber immer: 
„s giebt nur a Kaiferftabt, 's giebt nur a Wien! 


592 Am Kamin. 


Revanche, 

(Mit Illuftration.) 
Frech haft Du mit Deinen Wigen, Haft fogar in den Arkaden, 
Deinen Späfen, Fügen, Spiten, Wohin Gino ich geladen, 
Mindione, mich verletet. Uns erfchredt mit Deinem frechen 
Haſt's jogar gleich Geifelbieben Fahen und geftört, Du Ungeheuer, 
Bosbaft ins Pasquill geichrieben, Unfer boldes Abenteuer, 
Daß der Hof ſich drob ergötzet. Warte, Schall, ih will mich rächen! 
Mas geht's Dich an, Erzverbreder, In den Weinfrug, den Du leereft, 
Daß ich geftern in dem Fächer In das Mabl, das Du verzebreft, 
Meines Gatten Pagen fandte Miſch' ih Säfte, die, ich mette, 
Ein Sonett voll Nedereien, Böſewicht, Dich toll beraufchen, 
Kleinen Liebeständeleten, Daß Du heut’ vergift das Lauſchen 
Harmlos heit're und galante. | Und Di mwälzeft krank im Bette. 


Wenn Dih dann in Deiner Kammer 

Furchtbar quälet Katenjammer, 

Will ih Dir ein Ständen bringen; 

Wie man Narren fuftig narret 

Will ih Dir, der ängſtlich barret, 

Zu der Mandoline fingen!“ 

Ludwig Sopyanr. 
Schneelawinen in Colorado. (Mit Iluftration.) In Utah, Colorado und 

anderen weftlihen Staaten und Territorien der Bereinigten Staaten von Nordamenta 
find in den gebirgigen Theilen dieſer Gebiete Schneelawinen, welche nicht felten 
großen Schaden an Menſchenleben und Eigenthum anrichten, durchaus nicht unge 
gewöhnliche BVorkommniſſe. So wurden am 21. Dezember des Jahres 1883 in ber 
Nähe der virginifchen Bergwerfe bet Ouray, Colorado, durd eine von den Höhen 
berabdonnernde ee ſechs Menſchen getödtet und mehrere andere ſchwer ver 
legt. Die Lawine begann ihren Weg an dem Gipfel des Sneflesberges, an befien 
Fuß die Bergwerle ſich befinden, ſchwoll beim Abmwärtsftürzen zu einer ungebeuren 
Maffe an und zertriimmerte unter furchtbarem Brauſen ein Gebäude, welches den 
Bergleuten als Reſtaurationslolal diente und in welchem ſich gerade elf Menſchen 
der Ruhe bingegeben batten. Fünfzehn bis zwanzig Fuß tief begrub der Schnee die 
Menjhen zwiſchen Losgerifjenen Feljen und ben Trümmern des Gebäudes. Nachdem 
fi die Verwirrung einigermaßen gelegt und das gewaltige Donnergetöje, welches 
den Sturz der Yawine begleitet hatte, vorliber war, begannen andere Bergleute, bie 
inzwiſchen aus den Schachten ber Minen and Tageslicht befördert waren, ibre ver 
ſchütteten Kameraden aus den Schneemaflen berauszugraben und es gelang ihnen 
auch, fünf Männer lebend aus ihrer furdtbaren Page zu befreien; ſechs waren fe 
reits tobt. Kurze Zeit darauf, als eine Abtheilung von dreißig Perſonen während 
eines ftarfen Sturmes von Duray aufgebroden war, um auf Schlitten die Todten 
von dem Unglüdsorte abzuholen, entging auch dieſe "bei ihrer Rücklehr nur mit ge 
nauer Noth dem Untergange dur eine andere Pawine. Die Schlitten mit ven 
Leihnamen wurden 2000 Fuß boch eine Bergwand hinuntergeſchleudert und an einen 
500 Fuß boben Abhang geworfen, über welden fie jpäter in die Tiefe binabftürzten; 
bier mußten die Todten bis zum nächſten Frübjahr liegen bleiben, um dann et 
beerdigt zu werben. Aebnlihe Vorkommniſſe werben in jedem Winter aus jenen 
Gegenden berichtet. Unſere Illuſtration bringt ein Bild, auf welchem ein vollftän 
diges Maulthiergejpann, daß feinen Weg über eine abjchitffige Gebirgspartie einge 
ichlagen hatte, von einer Lawine ereilt wird; Menſchen uud Thiere find umrettber 
verloren und finden ein gemeinjames Grab im Schnee. 


— S— 





Neueſte Moden. 


Ar, 1. Lapote aus einem Gpibentud). 

Der Rand der Capote ift mit einem Heinen Bauſch aus jchwarzem Sammet 
ringsum eingefaßt. Ueber dem Kopf ift ein cremefarbiges Spitentuch faltig gelent, 
jo daß bie beiden hinteren Enden glatt auf dem Hut aufliegen und die vorderen 
fächerartig bochftehend einen Zwein Maafliebehen, welcher am vordern Rande bes 
Hutes herabgeht, ftügen. Die Bindebänter find von ſchwarz- und weißgeftreiftem 
Band. 





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Nr. 1. Gapote aus einem Spitentud. 


Nr, 2. Iadientaille, 

Dieſe Jaden fertigt man von Sammet oder hellgranatrother Faille an. Die 
glatt anliegenden Vordertheile geben jchräg übereinauder und bilden an der Hüfte, 
durch nur einen Knopf geichloffen, unten ein vierediges, latartiges Theil. Der 
Rüden endigt in einem glatten, geipaltenen Schooß. Der Ausſchnitt der Bordertbeife 
ift nicht fehr tief. Der aus reicher Guipüre beftebende Ueberſchlagkragen geht vorn 
und im Rücken weit berab, tbeilt fih au dem Seiten in Spiten und läßt die Aer— 
mel frei. Dieje find am untern Rand mit einer ebenfolden ausgezadten Guibire- 
ſpitze verjeben. 

Der Salon 1887. Heit XI. Banb Il. 40 


594 Neueſte Moden. 


Nr. 3. Vaillenjadie, 

Die Vordertheile der aus bunfelheliotropfarbiger Faille angefertigten Taille 
fteben von oben bis zum Taillenfchluß weit offen und haben einen berrenrodartigen, 
mit feidener Soutache beftidten Aufichlag, fowie einen gleichfarbigen Sammetkragen. 
Die vorn langen Schößchen find von der Taille an ebenfalls wieder zurüdgejchlagen. 
Ein mit feidener Soutache beftidter Lay und Stehkragen füllen die offenen Border: 
tbeile, fowie die unten offenen Schößchen. Die Berzierungen der anliegenven balb- 
fangen Aermel beftehen aus einer ebenfolhen Stiderei von feidenen Soutachegold- 





Nr. 2. Iadentaille, 


füden, Perlen und Chenille, wie Latz und Auffchläge Der Rüden ift glatt uud der 
lange Schooß gefpalten. Dieje Taillenjade ift ſehr praftiih und Tann zu jedem 
Rod getragen werden. Man fertigt dieſelben in Wolle und Tuch ꝛc. in allen 
Karben. Sehr ſchön und elegant ift weißes Tuch mit Weiß- oder Goldftiderei. An 
Stoff wird dazu verbraucht: 4 Mir. 50 Gentm. Seide. 15 Centm. Sammet vom 
Stück geſchnitten und ein Stück Soutache. 


Nr. 4. Anzug für. Nädchen. 
Der Anzug ift aus niagarafarbiger Sicilienne und feihtem Sammet ange- 
fertigt. Der Rod, aus Doppelfalten von Sammet und Sicilienne gebildet, ift an 
der Untertaille befeftigt. Die Borbertbeile derjelben find in Weftenform mit Spite 


Henefle Moden. 595 


belegt und endigen m einem Gürtel. Die darüberfallende Jade aus leichtem Sam- 
met ftebt nach unten meit auseinander und bat breite feidene Aufichläge, welche 
mit großen Metallknöpfen befett find. Auch die Aermel baben ſeidene Auffchläge. 
Der Rüden endigt in Doppelfalten. Der Stehkragen ift von Gicilienne. Hoher 
Strobhut, mit an den Seiten hoch aufgebogener Krempe, welche mit Sammet be- 
legt ift, und mit großer Schleifenrofette auf dem Kopfe des Hutes. Rings um den- 
jelben find drei Bandrollen aelent. 





Nr. 3. Taillenjacke. 


Nr. 5. Anzug aus glattem und bedrudtem Monfleline de laine. 


Der erfte Rod aus glattem Monffeline de laine ift im tiefe Falten gelegt. Die 
Tunika aus bedrucdtem Mouſſeline de laine bleibt an der rechten Seite offen, ift 
in der Taille mit einigen Falten befeftigt und fällt glatt bis zum Rand des erjten 
Rockes herab. Auf der linken Seite ift biefelbe gerafft und bildet hinten einen 
Puff, welcher an der rechten Seite glatt bis zum Nand des erften Rockes berabreidht. 
Die Taille aus bedrudtem Stoff bat balblange, aus glattem Stoff angefertigte Aer- 
mel, jowie ein in falten gelegtes Latztheil, weldes die vorn berzförmig offenen 


40* 
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ouffeline de laine 





























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598 Neueſte Moden. 


Vordertheile derſelben ansfüllt. Die Heine Mantilfe ift aus Spite und aus mit Berlen 
beftidtem Sammet bergeftellt. Der Rücken derjelben wird aus gefültelten Spiten 
gebildet, ebenfo die offenen Kragenärmel. Steblragen, Adfelbänder und Gürtel find 
von Eammet und reich mit Perlen nnd Schmelz verziert. Born am Gürtel und auch 
an ben Tragbändern befindet fich ein fang berabhängendes und an den Enden mit 
Berlenpaffenienten verziertes Spitentheil. Die Kalten der Spitenärmel werben auf 
der Schulter Durch eine Sammetipange und Schleife feitgebalten. Der bobe Stroh— 
hut bat einen breiten, zadigen Auffchlag an der Seite, welder mit Sammet belegt 









































Nr. 7. Schürze für junge Mädchen. 


it und am Rand Einfaffung von Goldborde hat. Der Kopf des Hutes ift mi 
Perlen beftidt und mit einem Spitenbaufh nebſt Schlupfen 'aus Sammetband 
und Berlenblättern verziert. Großer Sonnenfhirm aus Spitenftoff. 


Nr. 6. Anzug aus Faille und Wollencröpe. 

Der erite Rod diefes Anzugs ift aus myrthengrüner Faille angefertigt. Der: 
felbe bildet auf der rechten Seite drei tiefe alten, ift fonft ganz glatt und bat nur 
am untern Rand ein Pliffe von 30 Gentm, Breite, Der zweite Rod beftebt aus be- 
fidtem Wolleneröpe, weldyer an der Taille eingereibt ift und glatt berabfällt. Die 
ebenfalls glatte Taille von demfelben Stoff ift an der Seite berab geſchloſſen und 
bildet am linken Vordertheil im Oberftoff Falten, welde am Gürtel vermittels 
Perlen befeftigt werden und nad ber Mitte zu ſich verlängernd, ſchnebbenartig aui 
den Rod fallen. Die rechte Seite der Taille bat eine Gilrtelfpange, welhe, mie 


Neueſte Moden. 599 


der Stebfragen und die Aermelverzierungen, aus einem beftidten Sammetftreifen 
bergeftellt find. An der Schulter beim Schluß der Taille ift ein ebenfolcher befticter 
Sammetftreifen angebracht, welcher bis zum Rande des Nodes reicht und die Ver- 
bindung des zweiten Rockes mit dem erften vermittelt. Vom Gürtel fallen drei 
große Stoffjchlupfen auf die Faillefalten des erften Rockes herab. Die Heine Strob- 
capote ift mit Sammet eingefaßt und bat vornauf eine mit Spigen umrandete 


Sammetrofette. 
Ar. 7. Schürze für junge Mädchen. 

Zu diefer Schürze ift Eerufarbene Seide mit farbiger Stiderei verwendet. Der 
untere Rand berjelben ift mit Guipüreſpitze befett, über welcher eine breite Stiderei 
angebracht ift. Der Pat bat diejelbe Stidereiverzierung, fowie auf ben Achjeln 
Heine, farbige Bandjchleifen. In der Taille ift der glatten Schürze ein Stofftheil 
untergenäbt, durch welches auf beiden Seiten des Latzes die Bindebänder hindurch— 
geleitet werden und bie Schürze fich beliebig in Halten ziehen läßt. Die mit Stiderei 


— 












Nr. 8. Beintleid für Damen. 


verjebenen, der Schürze aufgefegten Taſchen find ebenfalls am obern Rand mit Gui- 
pürejpite befetst und haben unten einen Schleifenabichluß. 


Nr. 8. Beinkleid für Damen. 


Man fertigt diefe Beinkleider aus Percale, Dem Bordertbeil ift an der Taille 
ein Bundtheif untergejegt; am Rückentheil zwar ebenfo, doch werden bier zwei Bän- 
der hindurchgeleitet und nad Belieben zugezogen. Der untere Rand ift im tiefe 
Zaden geichnitten. Diefe Zaden find mit Heinem Streumufter beftidt und bie 
Nünder languettirt. Unterhalb derſelben befindet fich ein zweiter, ebenfo beftidter 
Streifen mit einem beftidten Zwiſchenſatz und daran befindlicher Kante, welcher, im 
Falten gelegt, angejetst und mit einem farbigen Band und Schleife verziert ift. 


Nr. 9. Haus-Anzug. 

Das Prinzeßkleid ift aus otterfarbigem, beige und roſa geftreiftem Pelinetaffet 
angefertigt. Die vorn offenen Vordertheile baben ein glattes, ſchräg zuſammenge— 
fetstes Latztheil. Eine Draperie aus Spigen begrenzt den Pat und bildet Die Border- 
theife am Rod. Der Stehlragen befteht aus gefältelten Spigen und bie unten wei— 
ten, jpit auslaufenden Aermel haben am untern Rande eine breite Spitgenfalbel. Auf 
der linken Schulter befindet fich eine Bandſchleife. An Stoff ift zu dieſem Anzug 
erforderlih: 11 Mtr. 70 Centm. Taffer von 55 Centm. Breite; dieſer wird ein— 
getheilt in 3 Mir. zu vorn, 2 Mir. 7O Centm. für die Seiten, 4 Mtr. 40 Centm. 


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600 Ueueſte Moden. 


zu den binteren Rodfalten, 1 Mir. 10 Centm. zu den Uermeln und 50 Centm. | 
zum Rücken. 





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Nr. 9. Haus⸗Anzug. 


Üedaction, Verlag und Drud von A. H. Vahne ın Reupnig bei Yeipyig. 


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Erſte Liebe. 
Novelle von 8. Wismar. 
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ZI, i ieh", Väterchen, wie gut es Dir ſchmeckt! Nicht wahr 
— A ep . h f 
2] Schinken und Eier Toaten vorzüglich ?“ — 

„Sanz vorzüglich, ſchänke mir noch eine Taſſe 
Thee ein.“ 

Die junge Dame, der dieje Worte galten, blinzelte 
vergnügt zu Ihrem Vater, dem alten Paſtor emeritus 
F Blank, hinüber. Glücklicherweiſe lie der große, grüne 

Schirm, welcher das Licht der Lampe dämpfte, die Schelmin 
im Schatten, die ihm jet mit leifem Lachen jeine frijch gefüllte 
Taſſe hinüber reichte. 

„Es iſt ja nn ihon die dritte, Molly, etwas mehr Rum, fo, 
danfe Dir; lachteſt Du?“ 

„D, Gott bewahre, Bapa!“ 

Und doc) lachte fie, ja, nun preßte fie gar das weiße Taſchentuch 
vor die frijchen Lippen, die zu ſchwach jchtenen länger ein freiheits- 
a Lachen zu bändigen. 

„Du bijt recht ſchweigſam, Molly.“ 

„Gewiß nicht, Bapa.“ 

„Brauchit Dich nicht zu geniren, Kınd, ich finde Deine Sammlung 
fehr natürlich!“ 

„ber Bapa!“ 

„Lachſt Du?“ 

„Sa, ja, ja!“ rief die Kleine —— reſolut und lachte mit der 
ganzen ausgelaſſenen Friſche ihrer ſiebzehn Jahre. Verblüfft — 
der alte Paſtor auf, er ſchüttelte völlig faſſungslos feine langen, 
weißen Loden. Die guten, hellen Augen erjtarrten in — 
* e. — mein gutes Väterchen, ſei doch vernünftig“, bat 
Molly und umfing den Vater mit einer ebenſo neckiſchen wie ſtür— 
miſchen Zärtlichkeit. „Gott im Himmel, haſt Du wirklich denken kön— 
nen, ich jei im mich gegangen? Siehſt Du denn nicht ein, daß es 
unmöglich ijt. Bor zwei Jahren habe ich noch mit meinen Puppen 
gejpielt und nun — nun joll id) jelber als Puppe fungiren; denn 

Ter Salon 1887. Heft XII. Band IL 41 






at ı 


a 


602 Erſte Kicbe. 


ſag's nur gerade heraus, zu was fann mich der Doftor anders brau— 
chen als zur Puppe, mit der er jpielt, wenn er aus jeiner Praris 
heimkehrt?“ Ihre —— Augen leuchteten in feurigem Troß, 
nn F— die vollen Lippen ſchwebte der harmloſeſte Muthwillen von 
er 

„Du biſt eine heilloſe Närrin, Molly!“ rief Blank entrüſtet, machte 
Be; — weichen Kinderarmen frei und trippelte ſchwerfällig zum 

eifentiſch. 

„Das iſt mein Amt, Papa“, meinte Molly energiſch, vertrat ihm 
he den Weg, wählte auf dem reich bejegten Tijch ſeine Lieblings- 
pfeife, die fie mit drolliger Anmuth reinigte, jtopfte, in Brand brachte 
und dem Vater nun binhielt. Seiner böſen Miene achtete fie nicht. 

— kannſt es ja doch nicht ſo ſchnell“, ſchmeichelte ſie ſanft— 
müthig. 

Der alte Herr antwortete ihr kein Wort, ſein Blick wich ihr ſo— 
ar aus und er vergaß die Pfeife zu rauchen, ein ſchlimmes —— 
Molly lachte nicht no Sie beobachtete ihn, wie er ſich müde und 
jchmerzerregt in das alte, bequeme Lederjopha fallen ließ. Eine Weile 
wanderten ihre ermjt gewordenen Blide durch das weite, behagliche 
Gemach; dann blieben jie an dem breiten Bücherjchrant daften, der 
— mit theologiſchen und anderen wiſſenſchaftlichen Werken ge— 
üllt war. 

„Sch will Dir vorleſen“, meinte ſie kleinlaut und lehnte ſchmeichelnd 
die rofige Wange an jeine runzelige Hand. 

Blank erwiderte nichts. Da tropfte langjam Thräne auf Thräne 
aus den blauen Augen, wie Thauperlen jchimmerten jie an den lan- 
gen, braunen Wimpern. 

Immer noch beharrte der Vater in jeinem harten, ablehnenden 
Schweigen. Und fie war ſonſt von ihm jo verwöhnt, die Eleine Molly! 
Wie brachte er's nur fertig? 

Neugierig ftreifte ihn ihr fcheuer Blick DO, wie er jebt paffte 
und rauchte und wie die Hand zitterte, die wie Frampfhaft das Pfeifen- 
rohr umjpannte. 

Frohfinn und Schelmeret fehrten auf dem lieblichen Gejichtchen 
zurüd. Feſt lehnte fie jich an den Vater und jagte: 

„Alter Papa, der Doktor Helmjtätt jagte einmal in diefem Zim— 
mer zu Dir, als er Michaelis, Semler, Spalding und Herder in Dei- 
nem Schranf prangen Ich: „Sie [ind auch noch ein Theologe aus 
der guten, alten rationellen Schule, ic) habe das gleich am erſten 
Abend unjerer Bekanntichaft herausgefühlt! Die Bücher heimeln mich 
merkwürdig an. Mein jeliger Vater wird mir wieder lebendig, die 
Knabenjahre in dem ftillen Pfarrhaufe leben in mir auf und Die 
ganze ſüße Luft des Heimwehs padt mid) an.“ 

„Molly, jo genau weißt Du, was er vor Wochen jagte und —* 
der Paſtor hatte fich ihr geſchwind in froher Erregung zugewandt — 
„Du willſt behaupten, Doktor Helmjtätt nicht zu lieben?“ 

„Sch Liebe ihn. ja wie jeden guten, alten Onfel; aber ich will nicht 
zu ihm als jeine — **— kommen: denn ſeine Frau kann ich Doch um- 
möglich vorjtellen, eines jo gejegten, vernünftigen Mannes rau! Er 
lacjt nur, wenn er einen plaujibeln Grund bat und id) weiß eigent- 











Erfte Siebe. 603 


lich nie, warum ich lache, jpringe und finge. Väterchen, Deine theolo- 
giſchen Schriftiteller jind jo rationell“, und ihn von uuten auf jchalf- 
haft anjehend, bat jie leije und Eleinlaut, „jet doch auch) ratio und 
jieh es endlich ein!“ 

„Hu, en meinte Paſtor Blank ärgerlich, „was verlangit Du 
von Deinem Zulünftigen, etwa daß er ein Milchgejicht zeigt und ein 
ewig lachender Narr iſt?“ 

„Ber Leibe fein Narr, Papa“, antwortete die Kleine jchnell im 
gefränften Ton, „aber beräig und jung möchte ich ihn — jo — jo wie 
etwa der Lieutenant von Wigleben ift.“ 

„der junge Ged, der beim Gerichtsrath; mit Dir tanzte?“ 

„Er ih Fehr liebenswürdig, Papa, auch erzählt er jo amüjant 
und walzt entzüdend.“ 

„Um ſolchen Geden zu bewundern, habe ich Dich aljo mit aller 
Sorgfalt auferzogen — Molly, Molly!“ 

„Lieber Papa —“ 

„Rein, geh’ auf Dein — ich ertrage Deine Albernheiten nicht 
mehr. Gott, daß ich zu ſchwach bin, Dir das einfach anzubefehlen, 
was für recht und gut halte!“ 

„Darf ich die Anna erſt abräumen laſſen? Der ee Ne 
ſich rein hin, wie ich mich hinweinen werde, wenn Du mir böje wirit, 
Papa“ Wie ihr die Stimme zitterte! 

„Molly, noc einmal, morgen will er Bejcheid, er ift dreißig 
Jahre alt, das ijt jung für einen Mann. Kind, und er iſt jo brav 
und liebt Dich unbeſchreiblich. Sei mein verjtändiges Hausmütterchen, 
re noch einmal.“ 

n eigenjinniges Schütteln des braunen LZodenköpfchens, dann 
ein liebes, gerührtes Gefichtchen, das ſich ihm willig zum Gutenacht- 
3 niederbeugte und Die leichte graziöſe Geſtalt — aus dem 

immer. 
Vernehmlich ſchlug jetzt ununterbrochen ein melancholiſch plät— 
ſchernder Regen gegen die € E3 war im November. 
Der Herbit ging zur Rüſte, Schnee und Eis wollten ihr Recht. Der 
alte Paſtor emeritus wollte auch fein Recht, ausruhen von einem 
— mühevollen Leben, im geſicherten häuslichen Glück ſeines 
es 


Ob es ihm noch wurde, ehe der Tod ihn abrief? 


ll. 

„Sehen Sie bloß, Fräulein, die ganze Nacht und noch) heute früh 
hat's geregnet, was vom Himmel wollte und nun jieht das Wetter 
wieder ganz unſchuldig aus und es ift warme Luft draußen. Vor 
Weihnachten befommen wir feinen Froſt!“ 

Diefe Worte ſprach Anna, Paſtor Blanks flinfes Mädchen für 
Alles. Und die, an welche fie gerichtet waren, Molly Blank, jtand 
am Herde und hantirte eifrig zwijchen den KKochtöpfen. Es war zwölf 
Uhr mittags; pünktlich um eins mußte gegejjen werden. 

„Laß nur Deine Wetterprognofe, fieh nach, wer draußen Elingelt, 
ic kann hier nicht abfommen!“ en 

Mit welcher allerliebjten, hausfraulicden Wichtigkeit das gejagt 

41* 


604 Erfte Siebe. 


wurde! Anna rümpfte reſpektwidrig die häßliche Stumpfnaje: Wie 
gewaltig doch immer Fräulein Molly am Herde that, als wenn ihrer— 
eins das nicht auch bejorgen könnte! Aber fie ging jchnell hinaus. 

Eine Luft war eg, Molly in der Kleinen blitzblanken Küche zuzu— 
jchauen. Ihr fehlte noch die überlegene Ruhe der geübten Wirthin, 
dafür Hleidete jie eine gewijje fahrige Umjicherheit bei ihrem großen 
Eifer ganz allerliebjt. Sie probirte die Bierfuppe, jchüttelte die dunf- 
len Locken, that entjchloffen etwas Gewürz und Zucker nad), Eojtete 
wieder und lächelte nun jehr befriedigt: 

„Die hätte ich getroffen!“ 

Bedächtig wurde das Schmorfleijch mit der Gabel geprüft, 
dann das Ddreizinfige Injtrument nod) einmal kräftig in das wider: 
jpenjtige Fleiſch geſtoßen. Du lieber Himmel, wollte e8 denn gar 
nicht mürbe werden? „Es muß heftiger ſieden!“ raunte fie ſich jelber 
Trojt zu. Behende z0g jie den Topf zurüd, um geſchickt mit dem 
eiſernen Haken einige —— herauszuwerfen. Das Feuer iſt nicht 
hell; aber eine ſchöne Glut — da hat's keine Gefahr mit dem An— 
brennen! 

Ihr Geſichtchen glühte noch vom Feuerſchein, als Anna langſam 
zurückkam. 

„Der Herr Lieutenant von Witzleben läßt ſich Ihnen empfehlen, 
one bier ift auch feine Karte. Wie die duftet, jo nad) Ora— 
kalonch!“ 

„Es heißt Eau de Cologne, Anna. Haft Du Herrn von Witz- 
leben in die gute Stube genöthigt?“ fragte die junge Herrin rajch. 

„Bewahre“, rief das Mädchen im Bewußtjein ihres Schidlichkeits- 

efühls — förmlich überlegen jchaute ihr breites, jommerjprojfiges 
Seficht drein, „jo viel Habe ich auch jchon in der Stadt gelernt: Der 
Herr Paſtor find ja nicht zu Haufe!“ 

Die blauen Augen jprühten ihr entrüftet entgegen. 

„Unſinn, ich bin ein Theil der Herrichaft. Vergiß nicht, dab ich 
‚meine jelige Mama vertrete, Du hättejt mich rufen müſſen.“ 

„ber Fräulein konnten doch hier nicht abfommen“, jchaltete Die 
Setadelte jchüchtern ein. 

„sh hätte Div Beſcheid jagen können“, meinte Molly etwas un— 
jicher und viel freundlicher. 

„Es Eingelt jchon wieder, Fräulein, joll ich nachjehen ?* 

„Natürlich“, jagte Molly, welche die Heine Enttäufchung nicht jo 
rajc überwinden konnte, ergriff die Topflappen, fahte den Topf är- 
gerlich bei ſeinen Ohren und ließ das Fleiſch recht unſanft rouliren. 

Da trat Anna zutraulich pfiffig heran: 

„Der gar Doktor Helmjtätt wartet vorn!“ 

„Uber Bapa ijt doc) gar nicht zu Haufe“, plate Molly betroffen 
‚heraus. 

„Fräulein wollten ja die jelige Frau Paſtorin vertreten!“ 

olty glättete verlegen ihre Heidjame, blaue Hüftenſchürze, ſtrich 
die Locken aus dem bla gewordenen Geſicht, befahl Anna auf den 
Schmortopf zu achten und fonnte gar nicht vom Fleck kommen. 

Endlid) — ſie vor dem Doktor. Der, ein mittelgroßer; 
breitichultriger Mann mit intelligenten, ernjthaften Zügen, feurigen, 


Erſte Kebe. 605 


rauen Augen und einem ſchwarzen Krauskopf mit dito Schnurrbart, 
—* ihr voll unruhiger Erwartung beide Hände entgegen: 


„Nun, hat der Papa geredet, was giebt meine kleine Fee mir zu 
hoffen ?* 

Seine Augen drangen in ihr Geficht, heiß, zärtlich, jehnjuchtsvoll! 

Sie jchlug verwirrt die Augen nieder und zupfte linkiſch an den 
Franſen des alten Fauteuils: 

„Wollen Site ſich nicht jegen, Herr Doktor?“ 

Vie herber Schmerz der Enttäufchung zudte es über die erregten 
Züge des Arztes, dann begegnete ihr Jcheufreundlicher Aufblid feinem 
gewaltjamen Lächeln. 

„Das heißt mich kalt ftellen, Fräulein Molly — nun ich fie — 
à pardon!“ Er jprang wieder auf, „erit die Dame“, und machte eine 
höflich einladende Bewegung nad) dem kleinen Sopha. 

Molly ließ ſich wie in großer Bejcheidenheit in die entferntefte 
Ede des Sophas nieder. Er lächelte noch, aber es war jeßt ein weh— 
müthiges, zärtliches Lächeln und jo traurig! Schweigend nahm er 
feinen Pla wieder ein. Molly jchwieg auch. Nur der kleine Kana— 
rienvogel in jeinem blanfgepußten Häuschen zwitjcherte, leiſe, als wollte 
er jie diskret mahnen an die legten Sonnenjtrahlen des Herbjtes, die 
eben goldig durch das Fenſter lugten. 

Wie traulih war dies Fleine, blumengejchmüdte Gemach mit 
jeinen hellen Tapeten ımd jchönen, alten Kupferitichen. Der Doktor 
fannte jeden Gegenftand in ihm, er hatte es ſich hier oft wohl fein 
laſſen, oft hier * höchſtes Glück erträumt und nun? 

Jäh ergriff er eine von Mollys Händen, die ſie ängſtlich im 
Schoße barg und auf die ſie ſo beharrlich blickte, als gelte es aus 
ihnen eine Prophezeiung zu leſen. 

„Sie zittern?! — ſollen Sie nicht vor mir, mein Kind. Ich 
bin ein ungeſtümer Geſelle“, entſchuldigte er ſich. Langſam ließ er die 
kleine Hand wieder frei. 

„Molly will mich nicht, nein?“ fragte Helmſtätt mit jchonend 
unterdrücter Leidenschaft. 

Die Kleine jchlug die Blauaugen auf, kleinlaut meinte fie: 

„Weil ich zu dumm, zu kindiſch, weil ich es nicht werth bin, 
Herr Doktor.“ 

„Sit das alles, Eleine Fee?“ 

Wie prüfend er jie anichaute! Ganz wie ein alter Onfel, warum 
fonnte ihr nur eine Weile jo beflommen werden? Treuherzig lächelte 
fie ihm entgegen: 

„Darf ich alles jagen?“ 

„Sch bitte“, flüſterten ſeine erblaßten Lippen. 

„Sch, ich möchte nicht ohne an und Luft heiraten — jo recht 
von Herzen müßte ich mich hinjehnen fünnen, da, wo er ift — nichts 
müßte ich denen fünnen als ihn, und — mein Herz müßte wonnig 
aufflopfen, wenn er mir nahte! Ach, es ijt gewiß eine große Thor- 
heit“, entſchuldigte fie Jich, blutroth im Geſicht und ſenkte wie. fchuld- 
bewußt die langen Seidemwimpern, „gewiß iſt's Thorheit, dergleichen 
mag es gar nicht geben auf der Welt; aber ich hab's mir nun ein= 


606 Erfte Siebe. 


a in den Kopf gejegt. O, werden Sie mir nicht böje darum, Herr 
oftor!“ 

Helmſtätt hatte jich weit in feinen Sejjel zurädgelehnt. Er hielt 
die Augen geſchloſſen und biß die Lippen wund im Schmerz. | 

„Sit Ihnen nicht wohl?“ fragte das Junge Mädchen, raſch auf— 
ſpringend, in dem beſorgten Tone eines ängſtlichen Kindes. 

Erſt jetzt bemerkte Nie jeinen feinen, Schwarzen Gejellichaftsanzug. 
Warum er jid) nur jo gepugt hatte? 

Der Doftor war wieder Herr über ſich geworden: 

„Etwas Kopfichmerz, Fräulein Molly, ich Habe zu feit und hart— 
nädig in die Sonne gejehen.“ 

Ich thue das auch oft, aber ich kann es jehr gut vertragen“, 
fagte ſie wie befreit, haltig einen unbefangenen Plauderton ans 
ſchlagend. 

„Ich habe zwar genug von Ihnen auf meine Frage gehört“, meinte 
Helmjtätt wieder in der behaglich überlegenen Art, welche ihm eigen 
war; „dennoch werden Site die weitere Frage gerechtfertigt finden: 
Haben Sie jonjt etwas gegen meine Perſon, ‚Fräulein Molly?“ 

Warmblütig bot fie ihm ihre Hand. 

„Gewi nicht, Herr Doktor, Papa jchägt Sie höher als jeden 
a un ich kann mir feinen bejjeren, treueren Hausfreund denken, 
als Sie ſind.“ | 

Wieder Hujchte ein Zucken jchmerzlicher Enttäufchung über Die 
fräftigen Züge des Arztes, aber fein Mund lächelte gleich darauf 
und die Stimme bebte nicht, als er heiter jagte: 

„Bortrefflich, da büße ich ja hier den mir unentbehrlich geworde- 
nen theuren Platz nicht ein!“ 

Cie jah ihn einen Augenblid heftig erjchroden an: „Sch begreife 
wohl, Sie hätten ein Recht mir zu zürnen und fern zu bleiben, es iſt 
jehr lieb von Ihnen, daß Sie es nicht thun wollen!“ 

„Würden Sie den Freund vermißt haben?“ Seht bebte jeine 
Stimme doc und jie klang jo eigenthümlich weich. » 

„Ueber die Maßen, bittere Thränen hätte ich darum geweint.“ | 

„Glück auf, Fräulein Molly, ic) gebe nichts verloren; erlauben 
Sie, daß ic) nichts verloren gebe?“ En Augen jprachen deutlich 
genug die friſche Farbe war in ſein Geſicht zurückgekehrt. 

Kein, hoffen durfte er nicht! Seine Frau wurde fie niemala. 
Aber wie jollte jie ihm das Bun: 

„sch glaube mein Schmorfleijch brennt an“, jtammelte jie endlich 
in der argen Verwirrung ihres guten Herzens. | 

„Das muß gerettet werden, ohne Verzug“, rief er nedend, „ich gebe. 
Auf Wiederjehen, Fräulein Molly!“ 

„Herr Doktor.“ 

„Was 1jt?“ 

„Schlagen Sie ſich die Liebe zu mir aus dem Sinn!“ Die blauen 
Sterne flehten, jie bejchworen ihn fürmlid). | 

Er zauderte lange, jeine Augen lajen auf ihrem thaufrifchen 
Antlig, gutmüthig wie ein alter Onfel lachte er auf, nidte ihr be 
ruhigend zu, küßte fie jo raſch wie flüchtig auf die Stim und gimg 
voll Würde hinaus. 


Erfte fiebe. 607 


„Bott jei Dank", murmelte Molly, „er hat es eingejehen, er war 
jo väterlich .zu mir, ficher, er hat fich bejonnen!“ | 

Und ihr wurde leicht ums Herz, jauchzend jtimmte ſie mit ein, 
als Hänschen im Bauer luſtig jchmettertee Papa mußte es ja nun 
auch einjehen, war es denn anders möglich? 


Auf der Treppe begegnete der alte Bajtor dem Doktor. Blank 
hielt die jchmächtige Gejtalt gebeugt, er blidte Helmſtätt fummervoll 
entgegen. 

„Bin mit Willen aus dem Wege gegan en, Freund. Aber Sie 

ſind gefaßt“, und ihn plößlich lebhaft bei den Schultern nehmend, 
„sagen Sie raſch, gab Molly Hoffnung?“ 
' „Molly eigentlich nicht und Molly wieder doc), natürlich will fie 
nicht meine rau werden. Allein was jie mir da jagte, war a ſchön, 
ſo kindlich unbefangen und knoſpenhold — daraufhin hoffe ich! Ihre 
Tochter, Herr Paſtor, kennt ihr Herz noch nicht, wie dieſes die Liebe 
nicht kennt. Ich muß hoffen, Freund“, ſtieß er in heißer Verwirrung 
hervor, „ſchon der bloße Gedanke, daß das Herz dieſer ſüßen, kleinen 
Schwärmerin für mid) nicht aufblühen wird, iſt unerträglich.“ 

„Sie iſt eigenfinnig und phantaftiich“, warnte Blank bedächtig. 

„Ich Hoffe, Herr Paſtor“, und Helmſtätt lächelte träumeriſch. 
„sndejjen reden wir nicht mehr davon, vor allen Din — Sie 
bei Fräulein Molly mit jedem ——— Mit der Zeit pflückt 
man Roſen; ich ſage Ihnen für einige Tage Lebewohl, Herr Paſtor!“ 
Der alte Herr jchüttelte hinter ihm De den weißen Kopf. Der nahın 
es leicht, der fannte Molly nicht ... . 


II. 


Weihnachten war vorüber, das alte Jahr hatte nur noch drei 
Tage zu leben. Doktor Helmjtätt trug längjt wieder das Geficht des 
uten Onkels und biederen regen wenn er an den langen 
benden mit Paſtor Blank jeine Schachpartie machte. Und Molly 
lachte ganz wie früher, jpielte die are neuen Noten, die ihr am heili- 
gen Abend geichenft wurden, bejorgte nach Kräften die Heine Haus— 
wirthfchaft und jtopfte noch immer mit derjelben allerliebiten, ernſt— 
haften Gravität die Pfeifen des Papas. 

„Bilt Du Schon wach, Papa?“ Ungeduldig Iugte Mollys frijches 
Augenpaar durch die Thürjpalte. 

„Du ſagſt's ja“, lächelte der alte Herr, „muß ich da nicht?“ 

„Es it drei Uhr und F habe den Kaffee fertig“, entjchuldigte 
fie za uk ihr rüdfichtslojes Vorgehen. 

y un, bringe ihn nur ber“, lächelte der Paſtor und erhob ſich 
etwas jchwerfällig von jeinem Lederjopha. _, 

Als Molly ihm nad) alter Gewohnheit ein Tiichchen tigen 
die Zeitung darauf legte und dann die große Hausvatertafje mit dem 
kräftig duftenden Mokka daneben plazirte, lächelte der alte Herr. 

„Heute hajt Du etwas bejonderes vor, jprich, Heiner Schelm, 
was giebt s? 

olly erröthete wie eine ertappte Sünderin. 
„Ach, Väterchen, Thekla und Hedwig Braun waren ein Stünd— 


608 Erfie Siebe. 


chen bei mir, ſie freuen jich jo auf den Sylveiterball.” Das Hang 
beflommen wie taujend Seufzer. 

„Die thörichten Dinger“, jagte der Paſtor und jchlürfte wohl- 
gemuth jeinen Kaffee. | 

„Sie find nicht thöricht, Papa; ein Ball muß jehr jchön jein“, und 
plößlich energiich vortretend, rief fie haſtig und leidenjchaftlih: „Ich 
bin = a daß ich jo gar nicht davon mitiprechen kann!“ 

„Molly!“ 

0, ja, Papa, es ijt wirklich jchade darum, ich bin doch auch 
ung!“ 

3 Db fie jung war? Des alten Herrn helle Blicke Liebfojten jchier 
die gejchmeidige, reizende Eleine Gejtalt, das wunderhübjche Gejichtchen. 

„O, Du läßt Dich noch erweichen“, jubelte Molly, „ich habe mir 
auch jchon alles mit Thekla und Hedwig ausgedacht.“ 

„Wie ich mit Dir die Polonaiſe marjchiren joll“, jpottete Blanf. 

Plötzlich verdüjterten jic) die blauen Augen. Sie jcjmollte: 

„Wie häßlich Du mit mir jprichjt, Papa.“ 

„Sa, Sind, wenn Deine Mama noch lebte, ich kann doc) unmög— 
lic) in meiner Stellung und meinem Alter eine Ballmutter für Dich 
abgeben ?“ 

e „Paſtor Türk ijt auch voriges Jahr mit feiner Käthe dort ge— 
wejen, das geht gewiß, Papa!“ 

„Lab mich in Ruhe, Närrchen, überdies weist Du, daß ic) abge- 
agt habe.“ 
no Ein leichtes Klopfen wurde überhört. 

„Störe ıch die Herrichaften?“ 

„Sie kommen wie gerufen“, lächelte Molly dem Doktor Helmſtätt 
zu, der eben eintrat. 

„Hoffentlich auch die Botjchaft, die ich bringe“, gab diejer heiter 
zurüd und begrüßte den Freund, 

„Herr Paſtor, Sie werden nichts u einzuwenden haben“, 
hub er dann fröhlich an, „rau Räthin Braun jchict mich mit der 
Pitte an Sie, Ihr Fräulein Molly für den Sylvejterabend anzuver— 
trauen.“ 

„Die Ballmutter wäre gefunden“, Flatjchte die Kleine voll Lujt 
in die Hände. 

„Und der Beſchützer ebenfalls“, meinte der Doktor herzlich, „wenn 
Sie auf den Ball gehen, bejuche ich ihn —— bern — 

„Das beſtimmt — als das höfliche Anerbieten der Räthin“, 
ſagte Blank erfreut. „Molly, denke an Deine Toilette, Du ſollſt auf 
den Ball!“ 

Liebſter, beſter Papa!“ ſchmeichelte die Tochter gerührt und küßte 
dem Vater die Hand. 

Es durchrieſelte den Doktor und der Starke floh ans Fenſter. 

„Haben Ste ſchon Kaffee getrunken?“ fragte hinter ihm ein Liebes 
Stimmehen. 

Er hatte getrunfen aber aus ihren rofigen, Heinen Händen nahm 
er alles, auc) die jet freundlich gebotene zweite Tajje. Dann jeßte 
er ji) zu dem Bajtor und beide ‚waren bald in einen interejjanten 
Fall aus des Doktors Praris vertieft. 


Erfte fiebe. 609 


Molly Hatte Teife das Zimmer verlafjen. Seht kam fie wieder 
herein — jchüchtern gögernd, über dem Arm hing ihr ein ausgeblaß- 
tes, jchlaffes Seidenkleid von unbeitimmter Farbe. 

„Bäterchen, erlaubt Du? Es it noch von Mama, fie hätte es 
mir gewiß gern zum Ball geſchenkt!“ Die Kleine war in nicht ge— 
ringer Aufregung. 

Wie ein Füngling erröthete der alte Paſtor: 

„Laß es unentiwegt hängen, mein Goldfind, wie Liebe und Jugend 
mir in der Erinnerung hängen geblieben jind; ich werde Dir ein neues 
Kleid kaufen.“ 

„Du lieber Bapa“, jtammelte die Tochter gerührt, „aber es muß 
noch heute jein, Somit wird es nicht mehr fertig zu übermorgen. Und 
ſchön joll eg werden, Bapa; ich möchte einmal recht ſchön fein!“ 

Wie jchwer wurde dem Doktor die aufgezwungene Onfelrolle, 
an wetterleuchtete durch die Maske über ihren Liebreiz, ihre 
Fınfalt. 

„Kommt der Lieutenant von Witleben auch auf den Ball?“ 
fragte jie plößlich den Doktor etwas unvermittelt. 

„Natürlich!“ 

„O es iſt jo hübjch von der Frau Näthin und Ihnen, Herr 
Doktor, dag Sie mir zu dem Ball verhelfen!“ 

„Bir wiſſen wohl, wer am meisten dabei gewinnt“, antwortete. 
er ihr zum erjten Mal in galantem Ton. 

Das veritand fie gar mit. 

„Kennen Sie den Lieutenant näher?“ 

„Sanz nahe, Fräulein Molly, ich bin der Hausarzt der verwitt- 
weten reellen; Mutter. Ein prächtiger Titel, nicht wahr? Aber es 
ift ein armjeliges Scheinleben, welches dieje Van erg adeli- 

en Leute führen. Excellenz leidet an hochgradiger Neuralgie, die alte 
— ſucht zu angeſtrengt nach einer reichen rau für den flotten 
Herrn Sohn.“ 

Mollys Augen flammten jtolz auf: 

„Die nimmt er nicht.“ 

Beide Herren jahen ſich eritaunt an. 

„Nein, nein“, verficherte Molly warm, „ich Habe ihn bei Brauns 
fennen gelernt, er iſt gewiß a eigennüßig!* 

Der Doktor lächelte mitleidig ſarkaſtiſch. 

„Aber er wird doch heiraten wollen, Fräulein Molly; eine Arme 
fann er nicht gebrauchen — welches vernünftige Mädchen wird auch 
mit ihm ungern wollen?“ 

„Sede, die ihn lieb hat“, hauchte Molly ſchämig und räumte Elir- 
rend die Tajjen fort. 

Helmftätt war blaß geworden. Das janfte Geficht des Paftors 
röthete ein jäher Schreden. 

„Du bijt — und weltfremd, Molly. Kind, es iſt beſſer, 
Du gehſt nicht auf den Ball!“ 

ch „Aber Väterchen! Lieber Herr Doktor, nun bitten Sie für 
mid.“ 


610 Erfte Liebe. 


IV. 


Im großen Saale der Flora wirbelten luſtig die tanzenden Paare 
Durcheinander. ohe Spiegelpfeiler jtrahlten die prächtige Toilette 
der Damen, den jchwarzen Frack oder die bliende Uniform der Herren 
urüd. Mitternacht war vorüber, die Luft im Saal wurde heißer, 

rüdender. Einige der jungen Baare traten in das diskret illuminirte 
Balmenhaus, um ich hier in der reinen, feuchten Luft zu erfrijchen, 
andere juchten hier nichts als die Einfamfeit zu zweien. 

Auch Lieutenant von Wißleben wandelte mit jeiner a 
unter den Palmen. Er war ein jehr hochgewachiener Jüngling, blidte 
aus jeurigen, leichtjinnigen Augen und trug ein fofett aufgewirbeltes 
Schnurrbärtchen. 

„Kolojjales Exemplar“, rief er wichtig vor einer riefigen Palme 
jtehen bleibend, zu deren Krone man hoch aufjchauen mußte. 

Seine Tänzerin jah nicht die üppig gejchweifte Krone, fie jah 
nur ıhn. 

„Aus Südamerika“, las er auf dem angebundenen Zettel. 

R „Da Lebt mein ältejter Bruder“, jagte die junge Dame an jeinem 
ım. 

„Das müfjen Ste mir erzählen, Fräulein Blanf, wollen wir uns 
nicht niederjegen?“ 

Molly nahm auf der gewundenen Holzbant Platz und achtete 
dabei jorgfältig auf ihr neues, weißes Tüllfleid, damit fie feine der 
angeſteckten rojenrothen Schleifen zerfnitterte. 

„Wie allerliebit Sie heute Abend find, Fräulein Blank.“ 

Molly erröthete jehr tief, ihr Athem ging etwas ungleich. 

„Nein, nein, auf Ehre!" Wir haben ja brillantere Damen hier, 
aber feine ift wie Sie, jo jung, zart — wie foll ich gleich jagen — 
jo lenzesfrisch.“ 

„Es iſt ja auch mein erjter Ball“, meinte jie mit einer holdfeligen 
Schüchternheit und vor dem gejtidten Tüllfichu, das züchtiq anmuthig 
den weißen gr verhüllte, zitterte der Kleine Roſenknoſ —— 

„Aber Sie müſſen — nicht ſo anſehen, Herr Lieutenant, es 
macht mich arg verwirrt und — ich wollte Ihnen doch von meinem 
Bruder in Südamerika erzählen.“ 

Er zwang ſich ſichtlich zur Aufmerkſamkeit. 

„Es wird mich ungeheuer intereſſiren.“ 

„Er heißt Hans“, meinte ſie treuherzig, „und iſt als Miſſionär 
dahin gegangen.“ 

Nein, die Geſchichte konnte er unmöglich mit anhören, um alles 
in der Welt keine Frömmelei! 

— Sie nur den einen Bruder, gnädiges Fräulein?“ 

„Nein, unſer Jüngſter, der Felix, lebt im Elſaß. Er hat den 
Krieg mitgemacht und blieb dort verwundet zurüd. Seine jegige Fran 
— ihn damals — er iſt Ingenieur und iſt recht glücklich im Elſaß 
geworden.“ 

Kennen Sie — Schwägerin?“ fragte er zerſtreut und blickte 
der ſchönen, koketten Majorin von Freienſtein nach, die eben in kurzer 
Entfernung vorüberrauſchte.“ 


Erfte Liebe. 611 


„sa, fie iſt jehr liebenswürdig, unjere gute Blanche. Als wir 
vor drei Jahren noch in unjerm Pfarrdorf wohnten, als meine liebe 
Mama noch lebte, da war fie beinahe ein halbes Jahr bei ung.“ 

„Run weiß ich auch), was für ein unjagbares Etwas Sie fo hold 
umjchwebt: es iſt die reine umverfälichte Natur, unverfäljcht wie die 
liebe Gottesluft auf dem Lande.“ 

„Ach, ſchön war unjer Wokuhl, Herr Lieutenant; könnte ich den 
ganzen Tag davon erzählen, jo fünnte ich doc) nicht alles jagen. In 

em erjten Jahr in der Stadt nach Mamas Tod, habe ich viel Heim- 

wel, danac) gehabt. Aber ich habe es treulich heruntergewürgt“ ge- 
Itand jie ihm, zutraulich näher rückend, „denn nun mußte ich ja mei- 
nem armen Papa die Mama zu erjegen juchen. Er hatte noch mehr 
Heimweh nad) ihr als nad) jenem jchünen, lieben sr 

Den ſeeliſchen Duft diejer reinen Menjchenblüte veritand Lieutes 
nant von Wißleben nicht, deito mehr und ausjchlieglicher wußte er 
ihre junge, berücdende Schönheit zu jchäßen. 

„Sie jind ein Engel, Fräulein Molly“, itammelte er total ver: 
wirrt, beugte jich bligjchnell und ſehr leidenfchaftlich über ihre fleine 
Hand und Fühte den rundlichen, feinen Arm, gerade, wo der drei- 
Tnöprge, weiße Handſchuh aufhörte, 

„Das war nicht vecht“, rief Molly bebend, ihre blauen Augen 
ftanden voll Thränen. 

„Fräulein Molly, jo jchön und jo grauſam?“ 

Sie fühlte feinen heißen Athen und wurde ganz bejtürzt. Aengjt- 
lich jtand fie auf. Er gewahrte die Bläße des lieblichen Geſichts. 

„Um des Himmels willen, jeten Sie mir nicht böje, liebes, gnä- 
diges Fräulein“, bat er, unwillkürlich unruhig geworden. 

„Sch bin nicht böſe, Herr Lieutenant, bitte, fommen Sie wieder 
in den Saal zurüd, mir wird recht bange hier.“ 

„Sc jtehe zu Ihren Dienſten, gnädiges Fräulein,“ 

Es war abh tlih in faltem, höflichem Zon gejprochen und ab— 
ſichtlich neigte er jeine jtolze Figur jo ceremoniös wie — 
Die Kinderaugen prüften ſcheu ſeine zurückhaltende Miene. 
„Wollen Sie lieber hier bleiben?“ fragte Molly ſchüchtern. 
ſich bewegte nur verneinend den Kopf und ließ ein troſtloſes Ge— 

icht ſehen. 

* ich Sie vorhin gekränkt?“ 

„Ja, ich meinte es gut mit Ihnen und Sie haben mich kalt zurück— 
gewieſen; man * auch ſein Herz’ 

Wie er fich ſelbſt zu jeinem Kunſtſtückchen gratulirte, als nun 
Molly betroffen jtammelte: 

„Sch meinte das gewiß nicht unartig.“ 

Ein Glücksſchimmer der Eitelkeit Teuchtete von jeinem Antlitz. 

„Beweijen Sie mir das, gnädiges Fräulein; ich erbitte mir eine 
Roſenknoſpe aus Ihrem Sträugchen als Gnadenzeichen!“ 

Mollys rothe Lippen lachten wieder, ihr Gejichtchen jtrahlte glück— 
verflärt und ohne Beſinnen löjte fie für ihn die halbgeöffnete weiße 
Roſe, die inmitten ihrer beiden rojigen Schweitern an ihrem Buſen 


prangte. — 
* nahm ſie langſam aus der kleinen, bebenden Hand, ſeine 


d 


612 Erfte Kebe. 


blitzenden Augen jprachen wie mit taufend Zungen. Molly jenfte die 
Seidenwimpern, ihre Bruſt athmete ſüß und bang. — — 

„sch bitte Sie, Herr Lieutenant“, rief laut und unwillig Doftor 
Helmjtätt3 Stimme, „wie können Sie uns Fräulein Blank jo lange 
entführen? se Räthin Braun jucht bejorgt nad) ihrem Schützling, 
bitte, klären Sie die Dame auf! Und Sie, Fräulein Molly, gewähren 
mir gewiß diejen Walzer, ich habe heute noch fein einziges Mal 
etanzt.“ 

: Der Lieutenant eilte nicht ohne Schuldbewußtjein fort. Molly 
aber ließ es wie im Traum gejchehen, daß Helmjtätt ihre Hand durch 
jeinen Arm 309. 

„Serällt Ihnen der Ball?“ 

„Sch bin jehr gern hier“, lächelte fie. Die blauen Augen erzähl- 
ten ihm mehr. Sie jprachen dem tödtlich erjchrodenen Manne von 
der glühenden Werdelujt diejes jungen, jeligen Herzens. Er hatte 
lange nicht getanzt und betrachtete Ddiejes Vergnügen überhaupt als 
ein zweifelhaftes. Nun hielt ev Molly im Arm. Wie anders, wie 
anders! Feſter umjchlang jeine Hand die reizende Taille, verführeriich 
ihimmerten die braunen Loden dicht unter jeinen Augen. Er konnte 
nicht umhin, leije neigte er die Stirn darauf. Dabei fuhren jie mit 
einem Paare zujammen und mußten mitten im Takt jtehen bleiben. 

Ste lächelte über das komiſche, entjeßte Geficht des Eleinen, dür— 
ren Herrn, der mühjam mit feiner diefen Dame walzte. Doktor Helm- 
ftätt lächelte auch jelbitvergejien, glüdlih! Die Kolliſion ging raſch 
vorüber. 

„Wie viel Spaß man hier hat“, flüjterte ihm Molly naiv zu, als 
dag Paar weitertanzte „Warum haben Sie nicht eher mit mir ge— 
tanzt, ich tanze je mit Ihnen“, plauderte ſie lebhaft. 

Heiße Zärtlichkeit und wilde Angſt um ihren Verluſt Sprachen 
aus ſeinem Geſicht. Er wollte ungeſtuͤm weiter tanzen. 

„Ich nein, nicht noch einmal“, bat fie plötzlich ängſtlich. 

Als er fie num ſchützend zur nächſten Bank führte, meinte fie 
beflommen: BR 

„Sie find doch gar nicht jo ernithaft und gejegt, ich habe das 
bisher nur nicht gewußt.“ 

Da fam die Pauſe. Sednig und Thekla durchichritten Arm in 
Arm tänzelnd den Saal. Molly nicdte Helmftätt jcheu zu und Tief 
den Freundinnen entgegen. 

Als ſie wieder mit dieſen an dem Doktor vorüberkam, der jetzt 
intereſſiit mit einem alten Militär ſprach, flüſterte Hedwig in 
Mollys Ohr: 

„Wie ſtattlich Herr Doktor Helmſtätt ausſieht, ich finde ihn wirk— 
lich Sehr Schön: O, ich ſchwärme für ihm und ich nicht allein, fie 
mögen ihn alle, alle!“ 

Das wunderte Molly über die Maßen. Hedwig wurde auch erit 
achtzehn Jahre und fie jchwärmte für jo einen alten Onkel; aber war 
er denn alt? 

Da näherte jich der Lieutenant mit fernen ſüßen Reden den jun: 
gen Damen und entführte Molly zum Tanz. — — 

Eine Stunde jpäter legte der Lieutenant in der Vorhalle ſorg— 





Erſte Liebe. 613 


lich den Mantel um Mollys Schultern, der Doftor that der Frau 
Räthin denfelben Dienjt. Thekla und Hedwig hatten einander gehol- 
fen, während der Herr Rath pelzverhüllt in der offenen Thür ſchnar— 
rend nach dem Kutſcher rief. Dann ftiegen die Damen ei. 

„Wideln Sie fich feit in den Mantel, Fräulein Molly, die Luft 
it rauh und Sie find erhigt”, rief der Doktor noch hinter dem 
jet einfteigenden Rath in den Wagen hinein. Molly achtete nicht 
auf ihn. Sie jah gerade den leuchtend zärtlichen Blick, den der Lieu— 
tenant auf das weiße Röschen in jeinem Knopfloc warf. Jetzt ver: 
neigte er fich vor den davonrollenden Herrichaften, den abſchiednehmen— 
den Blick wie in heißer Bewunderung nur auf fie gerichtet. Wie fie 
darüber frohlodte auf der furzen Fahrt! 

Und hernach — war das 2 ihr einfaches Stübchen mit dem 
ichlichten, weißen Gardinenbett? ie eine kleine Königin überjchritt 
fie jeine Schwelle. Sollte wohl je zuvor ein Mädchen jo unerhört 
bewundert, jo geliebt worden fein und alles im Flug, gerade wie im 
Märchen? 

Bis an den hellen Morgen träumte fie von dem Lieutenant. 

Nur wenige Straßen weiter jtand ein ernjter, jtolzer Mann an 
dem Fenſter feiner Studirjtube. Schon dämmerte der Tag. Wohin 
waren feine Hoffnungen! Hatte er es verfehrt angefangen? Würde 
niemals die holde, Kleine Geitalt durch dies Zimmer hujchen und in 
jeinem Haufe walten? Würden dieſe blauen, Ichönen Schelmenaugen 
ihm nie in liebender Sorge entgegenjchauen?! — Seine Patienten 
jpürten am Morgen nichts von der qualvoll durchwachten Nacht. Er 
war im Dienſt jeiner Kranken aufo end thätig wie immer. a, die 
Armen und Elenden fanden heute al Weiſe noch herzlicher, ſelbſt 
jeine Stimme lang wie voll Liebreichen Erbarmens. 


V. 
Erſtes Blatt aus Mollys Tagebuch. 
* * * 


Mancher Tag bringt gar nichts neues, mancher iſt langweilig und 
dann wieder kommt einer, an dem man mehr erlebt als in der ganzen 
Woche. So einer war der letzte Sonntag im März. Da komme ich 
am Nachmittag zu Brauns und frage die Frau Räthin * Hedwig; 
denn Hedri iſt eigentlich doch nur meine Freundin, Thekla thüt 
immer ſo apart. 

„Sie iſt oben, Herzchen“, (Frau Räthin ſagt immer Herzchen zu 
mir, nur auffallend, wie falt ſie das liebe Wort ſpricht.) 

Ich laufe Leife die Treppe herauf, gehe auf chen durch alle 
Stuben bis zur Tüchteritube, die Thefla und Hedwig gemeinjam be= 
wohnen. Ohne anzuflopfen, jchlüpfe ich durch die Thür. Hedwig 
jigt mutterjeelenallein darin vor ihrem Schreibtiich und jchreibt in ein 
dies Diarium, wie ich noch feinen Menjchen habe fchreiben jehen — 
Bun, glücklich! 

„Ei, was machſt Du da?“ rufe ich. 

Hedwig ſchrickt empor, fährt herum, ſchlägt das Buch blitzſchnell 


614 Erſte Liebe. 


en ich Ieje neugierig auf der weihen Etifette „Mein Tagebuch.“ 
n mußte jie beichten. 

„3a, Du wozu iſt denn das Ding?” fragte ic) immer wieder. 

Hedwig lachte und jeufzte abwechjelnd. 

„Weißt Du, Molly, man jchreibt hinein, was man erleben möchte 
und was leider nicht in Erjcheinung treten will, überhaupt alles, was 
man jchwer auf dem Herzen trägt und an niemand ſonſt los werden 
fann oder mag.“ 

Wie mir das einleuchtete! (Sonderlid) gern habe id) Feder und 
Tinte nie gehabt; aber mit Ignaz Loyola muß mir der Zwed Die 
Mittel heiligen) Ich bin denn jehr zeritreut gegen Hedwig gewejen 
und war froh, ala Thekla zurüdfam und ich wieder gehen fonnte. 

Zu Haufe ſaß Doktor Helmjtätt mit Papa beim Schadhjpiel. 
So ein dummes Spiel und wie ernithaft jie es betreiben! Ich und 
—* la ichnell das Abendbrod — Papa ißt immer jchon um 
ieben Uhr. 

"Salt Du wieder Unfinn mit Hedwig Braun a fragte 
= plöglid) Bapa beim Eſſen. ie —5 — mein Väterchen iſt, er 
teht ſich auf die Molly! 

„Run? 

„Nein und ja“, jagte ich; denn lügen mag ich nicht und er hatte 
mir ja dod) jchon etwas verdächtiges angemerft. 

„Muß ich es jagen?“ fragte ich Iedt Eleinlaut, „es gilt diesmal 
gewiß feinem Ball, Papa, und ich behielt es lieber für mich.“ 

„Schweige nur, Töchterchen!” So gut ift mein Väterchen immer. 
Aber der Doktor, den ich durchaus —88 angehe, der blickte unaus- 
geſetzt in mein rothgewordenes Geſicht, gerade wie es in der Bibel 
heißt, als wollte er mir Herz und Nieren prüfen. Nun weiß ich auch, 
warum ich mich ſtets unbequem in ſeiner Nähe fühle, darum gerade, 
— darum! Nie kann ich mich gehen laſſen — er beobachtet alles, 
alles! 

Und wie thöricht — hatte ich es nöthig? Sicher nicht! Ich 
Närrin rückte plötzlich unter ſeinem zwingenden Blick mit der Geſchichte 
von ag Tagebuch heraus. 

ie der Bapa tiber jeinen Kleinen Hajenfuß lachte! Und wie 
* eh hinterdrein ärgerte, Doppelt, ala Doktor Helmjtätt überlegen 
pöttelte: 

„sangen Sie fein Tagebud) an, Fräulein Molly, Es it jo un- 
nüß und birgt mehr Gefahren, als Ste ahnen.“ 

„Warum?“ en ic zum erjten Mal etwas troßig ihm gegenüber 
und blickte böje auf. 

„Sn Ihren Jahren Herricht es als Epidemte unter dem jungen 
Volk. Tagebuch bedeutet, den zug ii buchen. Was hat nun ein 
junges Mädchen wie Sie zu buchen? Nichts! Es iſt aber angefangen, 

ies omindjfe Machwerf: es joll und muß gebucht werden — aber 
was? Da liegt des Pudels Kern! Erſt giebt 3 Sentimentalitäten in 
Ermangelung der Nealitäten. Schlechter macht ſich niemand als er 
ift, vollends ein junges Mädchen nicht. Wie ſchön lieſt ſich überdies 
jo etwas ideales, recht überjchiwengliches!“ Und mich plöglich mit jehr 


Erfte Siebe. 615 


viel Liebe und Treue in jeinen Ip jo jcharfen Augen anjehend, 
ſprach er mit janftem Nachdrud und jo eindringlid): 

„Fräulein Molly, die Wahrheit über alles!“ 

Er mag recht haben; denn es jtimmt ziemlich genau mit Hed— 
wigs Worten überein. O, Helmftätt ift oft überrajchend Hug, brav 
meint er es ohne Zweifel auch) — aber er joll nicht recht behalten, 
diesmal nicht. Freilich, der Falte Menjc weiß nichts von Gefühlen, 
De nicht3 von Sehnen und Hoffen. Und er will mic) geliebt haben. 

ie lächerlih! Da jigt er neben Papa in aller Seelenruhe, fie ſpie— 
len, jie reden, fie Ddisputiren und er denft gar nicht mehr an jeine 
Dummheit; denn als eine Dummheit betrachtet er es jebt gewiß. — 

Sa, was ich biöher gejchrieben habe, dem hat es eigentlich nicht 

ee wollte ich anfangs nicht jchreiben. Meine Güte, wie 
Lutroth ich werde! Nur zu, nur zu — Konft führe ich mic) ja jelber 
an der Naje herum. — — — 

Er heißt Arthur... . Arthur!! Wie das Elingt, jo edel, jo ritter- 
lich! Lieber Arthur, nein, ich bringe nichts mehr zuftande, ic) ſchäme 
mich zu jehr. — — — 


VI. 


„Papa, ehe Du fortgehſt, muß ich Dir etwas jagen — hier, hier 
it Dein Stod, haft Du auch Dein —— wieder eingeſteckt?⸗ 
Paſtor Blank nahm den Stock, griff in die Taſche, klinkte die 
Thür auf und ſah feine Tochter fragend an. 
. — wieder zu, Väterchen, ſo zwiſchen Thür und Angel 
geht das nicht.“ 
* alte Herr nahm den Hut geduldig wieder ab und harrte 
nge. 
Molly legte verjchämt ihr Gefichtchen an feine Schulter. 
Kur J nur für den Fall, | er Dir begegnete.“ 


” 
1u 


Ach, ! 

„Halt Du geſtern dem Schlächter die Rechnung a bezahlt?“ 

„Gewiß doch — nein, ich meine den Lieutenant von Wileben — 
der, der hat mir geitern, als ich De mit Hedwig auf der Promenade 
—* nete, geſagt, daß — daß er Dich ſo von Deren gern — 

—* Aber — er ſeine Karte bei uns abgegeben, hätteſt Du 
* noch keines Blickes gewürdigt. Ich ſollte doc agen, ob — ob 
u jeinen Beſuch erlaubtejt ?“ 

Die Worte fielen Blank an ſich auf, 5— vielmehr noch that 
es dieſe ſeltſam verzögerte Redeweiſe. Der Paſtor ſtülpte entſchloſſen 
ſeinen Hut wieder auf. 

„Sc werde den Leichtfuß auch in Zukunft nicht beachten!“ 

„Auch nicht, wenn ich Dich injtändig darum bitte, liebes, gutes 
Väterchen, wenn ich Dir aufrichtig geftehe, dab ich den Lieutenant 
jehr, jehr gern habe. O, ‘Papa, = habe ihn ja lieb!“ 

- Voller Schred ſank Blank auf den nächiten Stuhl. 

„Und das ſagt Du ſo ſchlechthin, als wäre es die größte Harm— 
loſigkeit von der Welt. Kind, Unglückskind, weißt Du, was Du da— 
mit gejagt halt?“ 


616 Erſte ficbe. 


Mollys Lippen zitterten, fie war lilienweiß geworden, nur ihre 
Augen leuchteten jtolz auf. 

„sc weiß es, Papa, und er weiß es auch!“ 

„Er weiß es auch“, rief Blank heftig, „hat er gewagt, mein Kind 
an ſich zu reißen?“ | 

„Bapa, gewannjt Du Mamas Liebe nicht auch, ijt das Sünde?“ 

Wie ein lebendiges ssragegeichen jtand die Kleine Geſtalt vor ihm, 
alles an ihr jchien auf Antwort gejpannt zu warten. 

„Um Gottes willen, Ihr, Ihr wollt heiraten?“ Der alte Herr 
hr den Hut auf dem Kopf, jo ganz eingenommen war er von dem 

ehörten. 

„Roc nicht, Papa, noch hat er nichts gejagt. Wie würde ich 
hinter Deinem Rüden dergleichen auch hören wollen! Du, Du jolljt 
ihm bloß erlauben zu fommen, jollit ihn fennen lernen und mit mir 
lieben und dann —“ 

„Dann?“ 

„AH, Du mein Väterchen“, ſchluchzte Molly glüdjelig auf, glitt 
an ihm nieder, küßte jeine Hände, jah ihm wieder und wieder ins 
aufgerente Antlis, „Du wirft das Glüd Deiner Tochter wollen!“ 

„Molly, er iſt arm, Du bijt arm, es geht nimmermehr!“ 

„D, wir warten, Väterchen; erſt vorgeitern hat er bei Brauns 
erzählt, dat u Better num heiraten fünne, er ſei Major geworden.“ 

„Du liebe Unjchuld, Du weißt nicht, was Du jprichjt. Herzens 
find, hier in meine Hand thue das Gelübde mit Gott und aus gan 
zem Herzen: rede niemals mehr mit ihm, es jei denn vor meinen oder 
anderer Leute Augen und Ohren.“ 

Molly leijtete das Gelübde, fromm mit jtammelnden Munde. 

„Du thujt jo feierlich, Papa“, jagte ſie hernach beflommen ath— 
mend, darf er kommen?“ 

„sch jelber werde ihn dazu auffordern und zwar noch heute“, 
antwortete ihr Blank mit jtahlharter Stimme. 

Molly wußte nicht, jollte fie jubeln oder weinen. Was hatte nur 
der — recht war's ihm nicht und doc wollte er jelber ihm 

reiben? — — 
ſch Paſtor Blank ſtützte ſich ſchwer auf den Stock, als er hin— 
ausging. 

u olly trat ans Fenſter um ihm nad) zu jehen, wenn er vorbei: 
ſchritt. Sr Väterchen war alt, jehr alt. Er ging jo gebeugt, jo 
theilnahmlos. Und die Apriljonne jchien doch verführen) ihön; im 
fnojpenden Ahorn vor der Hausthür zwiticherten die Staare, der 
Himmel blaute und die Luft wehte einen an wie ein Kup! — — 

Einige Tage jpäter erjchien der Lieutenant bei dem alten Paſtor 
emeritus. 

„Ihrer freundlichen Einladung Folge letitend, erlaube ich mir —“ 
Sp förmlich trat er ein und fürmlicd) blieb dieje erſte kurze Viſite. 

Molly zitterte am ganzen Leibe. Er nannte fie nur „Fräulein 
Blank“ oder „gnädiges Fräulein“ und fein einziger jener Blide wurde 
ihr, die bisher ihr ganzes Entzüden, den ganzen Sonnenjchein ihres 
jungen, liebebedürftigen Herzens Ausmachten. 

Ein anderes Mal erichten der Lieutenant zum Thee. Der Bajtor, 


Erfte Liebe. 617 


ag durch den volllommenen Reſpekt, den der Lieutenant gegen 
jeine Zochter bewahrte, war weniger zurüdhaltend, der Lieutenant 
jelbjt ımbefangener und bedeutend geſpraͤchiger. Es gelang ihm jogar, 
en alten Blank über einige Soldatenanefdoten hei lachen zu 
machen. Und Molly erhajchte wieder einen Sonnenjtrahl, den eriten 
jeit langer Zeit des Hangens und Bangens. Es war, ala Papa nad) 
dem Kiſtchen Cigarren auf feinem Schreibtifch Tangte. 

Zum dritten Mal jprach von Wibleben am Vormittag des Se 
zehnten April vor, um jich für einige Wochen zu verabichieden. Er 
wollte mit jeiner Mama zu Verwandten aufs Land. Neuhof war ein 
roßes Wittergut in der Udermarf von über zweitaufend Morgen 

real mit prächtigem Wald» und Jagdgrund. Man wollte die Oſter— 
tage dort verleben und verjprach fich viel Amuſement; denn Better 
Krämer Iebte als reicher Mann auf großem Fuß und kannte die Guts— 
bejiger der ganzen Umgegend. So erzählte der Pastor feiner Molly, 
als jie von einem Einkauf heimfehrte. | 

Du lieber Gott, wie fie erſchrak, fort, auf Wochen und fie hatt 
ihn nicht mehr gejehen! 

Am jelben Nachmittag jah fie ſehnſüchtig durch das Fenſter auf 
die Straße herab, immer Hi Gedanken He Welche endlos lange 
zeit mußte vergehen, bis er wiederfam. Erft der fünfundzwanzigite 
April brachte das liebe Oſterfeſt. f 

Trat er nicht eben aus dem Eigarrenladen gegenüber? — Ja, er 
war's! 

Sie wollte fich zurüdlehnen. Er hatte fie indeſſen jchon bemerkt, 
grüßte und jah — inauf, ſich weidend an dem holden Erröthen 
des liebreizenden Mäd a Heiß glühten jeine dunklen Augen 
auf, > nun warf er veritohlen, ganz verjtohlen einen Kukfinger 
hinauf. — — — 


vo. 


Es war der zweite Oſtertag. Doktor Helmftätt jpeitte bet Blanks 
zu Mittag. Eben hatte er in herzlich friicher Weiſe die Gejundheit 
des alten Paſtors ausgebracht, da Elingelte es. Molly jprang erregt 
auf: ſollte er jchon zurückkommen, erfüllte auch ihn dieſe peinigende, 
ſüße Sehnſucht? — 

Anna war ihrem Fräulein zuvorgekommen. Sie hatte im Korri— 
dor dem Postboten einen Brief abgenommen und überreichte ihn nun 
dem Herrn Paſtor. 

„Aus Neuhof in der Uckermark“, ſagte der. 

Mollys gm Ihlug bis in den Hals hinauf. Schon jetzt und 
jchriftlih? Sie hätte es jo viel lieber von jeinen Lippen gehört! 
Ihre Augen fieberten förmlich, fie fühlte daß der Doktor fie beobach— 
tete und wandte den Bli nicht von ihrem Vater ab. J 

Der trank den Wein aus, dann erbrach er etwas nachläſſig das 
eleganten Couvert. Plötzlich ballte er die Hand: 

„Sch hab's gewußt, gewußt!“ „Und heftig ſchob der alte Dann 
jeinem jungen Freund den Brief Hin. 

Wie empört Helmjtätt ausjah! 


Ter Salon 1887. Heft XIL Band IL 493 


618 Erfte Liebe. 


Molly bebte gleich dem Ejpenlaub, Erklärung heiſchend wander— 
ten ihre Augen von einem zum andern. 

R „Molly, fragen Sie nicht, e8 würde Ihnen den jchönen Tag ver- 
ittern!“ 

Wie unheimlich ſich beide benahmen: Was war nur? Eine unge— 
kannte Angſt wuchs jäh in ihr empor: 

„Gieb den Brief her, Papa!“ 

Schweigend reichte ihn Blank hin. 

Hajtig wollte der Doktor das Blatt der Heinen Hand entreigen. 
Vergebens, Molly umjpannte es feit, ihre Augen überflogen durſtig 
den Inhalt. 

„Es war nicht recht“, ſagte traurig der Arzt und fchüttelte vor— 
wurfsvoll den Kopf gegen Blanf. 

Die Buchftaben flimmerten tanzend vor Mollys Bliden, kaum 
fonnte jie die Widerjtrebenden entziffern: 

„Erlauben Sie, Hochehrwürden, daß ich Ihnen und Ihrem Fräu— 
lein Tochter meine heutige Verlobung mit Fräulein Adele Krämer, 
Tochter des ah or Krämer auf Neuhof, hiermit ergebenjt 
anzeige. Um freundliche Theilnahme bittet 

Ihr hochachtungsvoll ergebener 
Arthur von Witzleben.“ 

Ein leifer, durchdringender Schrei, Molly wankte. Der Doktor 
fing die zarte wie lebloſe Gejtalt in feinen ftarfen Armen auf. Meit 
der Zärtlichkeit einer Mutter hob er fie empor, trug fie zum Sopha 
und ließ fie hier achtſam niedergleiten. 

Der Paſtor -beugte ſich ängjtlich iiber jein geliebtes Kind. 

„Eine leichte Ohnmacht“, flüfjterte der Doktor, „feuchten Sie vajch 
ein Tuch mit dem Johannesberger!“ Darauf rieb er der Patientin 
mit dem naſſen QTuche Die Schläten. Den alten Herrn trieb das Ge- 
wiljen umher. Er vermochte — auf einem Ki zu verweilen. 

„Sehen Sie in die andere Stube, Herr Pajtor, e8 hat durchaus 
feine Gefahr, nur etwas Ruhe winjche ıch.“ 

Endlich ſchlug Molly die Augen auf, wirr, faſſungslos. Der 
Doktor richtete jie janft in die Höhe: 

„Liebe Kleine, mein einzig Herzblatt“, flüfterte er bebend. 

* - ja) ihn mit großen Bliden an, jchraf zufammen und jchluchzte 
wild auf: 

„O, wie jchäme ich mich vor Ihnen!“ 

„Fräulein Blank“, jagte Helmjtätt raſch, „das it nicht an Ihnen, 
das gebührt ihm allein!“ 

Nun lief auch der Paſtor herbei. 

„Schilt mich nicht, Papa, ich kann doch nichts dafür, dab ich 
ihm glaubte!“ 

„NRubig, mein Kind, jet gut, ich will Dich hinfort doppelt Lieben, 
jpric) nicht mehr davon, Du thuft mir jo Leid!“ 

Molly brach in ein erjchütterndes Weinen aus. Als ihre Thrä- 
nen endlich aufhörten, lag ihr Kopf an des Baters Bruft — der 
Doktor war gegangen. Gegen Abend fehrte er zurüd. Blank kam 
gerade aus Mollys Zimmer. 

„Bott jei Dank, Freund, fie jchläft, aber auch im Schlaf zudt 


Erfte Kebe. 619 


der liebe Mund, wenn wird die Arme wieder froh werden? Sch könnte 
weinen über meine thörichte Schwäche, die dem Finde immer nachgab, 
auch dann, wenn es ihr Schaden bringen mußte. Weit Gott ich gübe 
mein Leben darum, dies Kind glüclich zu jehen!“ 

„Belter Herr PBaitor, nur Geduld, auch die Zeit fommt, muß 
fommen bei ihrer blühenden Jugend. Denken Sie nur, wie wenigen 
Müttern iſt es vergönnt, ihr eritgeborenes Kind groß werden zu jehen, 
meist jiecht e8 im eriten Jahre dahin. Aber ein anderes Kind folgt 
nach, kräftiger entwidelt, Tebensfähig! Es iſt Mollys erjte Liebe — 
der erſte Schmerz der Enttäufchung, das geht vorüber! Reiſen Sie 
2 — den Rhein, ins Elſaß, wohin Sie wollen; es wird Wun— 

er wirken.“ 


Aus Mollys Tagebuch. 


* * * 


— geht es wieder in die Heimat zurück. Ich freue mich 
arauf. 
Felix und Blanche ſind betrübt darüber, ſie waren zu uns die 
Liebe und Güte ſelbſt und ſchön iſt es hier, friſch und grün, wenn 
auch ſchon etwas herbſtlich. 

Was wohl Hänschen daheim in ſeinem Bauer macht und ob ihn 
— ae auch beſucht, wie er mir verſprochen hat, jeden Tag 
zweimal: 

Er ijt doc) jehr lieb und anhänglich, vielleicht hat er mich noch 
ebenfo gern, als in der Zeit, wo er feine große Dummheit machte! 
Was war ich bloß für ein eitles, oberflächliches Ding — jo kurzweg 
einen Mann abzuweiien, jolchen Mann! Mir ift bittere Vergeltun 
geworden, vielleicht ar Se als ich fie verdient hatte. Zuerſt 
fonnte ich nur mit taufend Thränen an den Lieutenant denken, Goethes 
Liebesklage: 

„Ach, wer bringt die ſchönen Tage, 
Gene Tage ber erften Liebe, 

Ab, wer bringt nur eine Stunde 
Jener holden Zeit zurüd! 

Einfam nähr' ih meine Wunbe, 
Und mit ftets erneuter Klage 
Trau'r ih ums verlorme Glück.“ 


wollte mir gar nicht aus dem Sinn. 

ch mußte weinen, wo ich ging und jtand. Einmal traf mich 
Blanche jo, al3 ic) morgens in meinem Bett auffaß und weinte. Gie 
lächelte, jtricy meine Wangen und meinte mütterlid): 

„Liebe Thörin, ic) weiß alles vom Water, erjchrid nicht, e3 geht 
jeder von uns ähnlich, bis wir den Rechten gefunden haben. Hoch— 
achtung und unbedingtes Vertrauen find ebenjo nöthig für den Eheitand 
wie die Liebe, faſt noch nöthiger, kleine Schwägerin. Wie glüdlid) 
biſt Du gerettet!“ 

Und num glitt fie in ihrer jtillen, anmuthigen Art darüber weg. 
al3 wäre nichts gejagt worden, plauderte von ıhrer Wirthichaft und 
bat um meine Hilfe beim Preielbeereneinktochen. Flint genug war 

42* 


620 Erſte ficbe. 


ic) aus dem Bett und habe mich wader gerührt den Tag, jo hurtig, 
daß ich nun immer helfen mußte, dabei wurde ich wieder lujtig und 
ein Baar rothe Baden habe ich zu Papas Freude befommen, gerade 
wie jo ein frijches eljajjer Bauermädel. Denke ic) jegt daran, daß 
mir vielleicht binnen kurzem in D. auf der Straße der Lieutenant 
begegnen wird, jo geht ſich mein Herz nur noch ein ganz, ganz Klein 
wenig zujammen. Es war hübjd) von der getreuen Sehe. daß fie 
mir über jeine Verlobung jchrieb. Ic muß un ja verachten, feine 
Braut ijt viel älter als er und joll herzhaft häßlich ſein. Eine Geld- 
go jchrieb Hedwig; pfui, Doktor Helmjtätt würde nie ums Geld ein 
Mädchen freien! 

Schnell das Bud) weg, Papa kommt durch den Garten, wir 
müſſen unjere Sachen paden. — — 

Am zwanzigiten September. 

Gott jet Dank, wir jind wieder in D. Alles iſt beim alten ge- 
blieben, mein Hänschen jchmettert jein Lied jo lujtig wie jemals und 
Anna ijt noch eben jo flink und die und —— Nein, eins 
iſt anders geworden, Helmſtätt iſt nicht der Alte geblieben. Er iſt 
um vieles jünger geworden, er lacht und ſpricht in einem fort. Oft 
begegnen ſich unſere Augen und wir lachen zuſammen auf ohne jeden 
vernünftigen Grund. Neulich hielt er mic) bei beiden Händen feft 
und erzählte mir jo eine —J.5 Geſchichte aus ſeiner Landpraxis. 
Ich denke wohl an Felix und Blanche in dem ſchönen Land zurück, 
aber ich vermiſſe ſie nicht. Daheim iſt es doch am beiten! — — 


VIII. 


Der erſte Oktober war's, Mollys Geburtstag. 

„Nun bin ich ſchon achtzehn Jahre“, ſagte ſie, als der Vater voll 
Rührung ihr gratulirte, ſie herzte und küßte. 

Von Blanche war prompt eine große Kiſte mit allerlei Herrlich— 
keiten eingetroffen — in einer Schachtel Putztand, daneben Leckereien 
aus Blanches Speiſekammer der Jahreszeit angemeſſen. 

„Die Gänſeleberpaſtete wird — efallen“, lobte Blank, 
„Die ſetze nur heute Abend auf den Tiſch, mir Sind Wurjt und Schin- 
fen und der gute Wein Lieber.“ 

Hedwig und Thekla Braun famen, aber fie fonnten nicht bleiben, 
fie hatten jchon für den Abend eine Einladung beim Kommiſſionsrath 
Grimm zum the dansant angenommen. 

„Weißt Du, es handelt jich eigentlich um Lieutenant von Witz— 
[eben und jeine Braut. Sie iſt hier wieder aus Neuhof auf Beſuch 
u der alten Ercellenz gekommen; dem jungen Paar zu Ehren ftrengen 
dich Grimms nun einmal außergewöhnlid; an. D, ich bin jehr neu- 

ierig auf den Verlauf. Du mußt ung jet gehen lafjen, unjere Toi- 
etten ſind noch — in Ordnung, aber morgen komme ich in aller 
Frühe und berichte Dir alles haarklein.“ 

Wie ruhig ſah Molly der Freundin nach, ſie war gar nicht neu— 
gierig, gan, und gar nicht! 

Am Nachmittag wollte der Paſtor mit feiner achtzehnjährigen 
Tochter jpazieren geben. 


Erfte Liebe. 621 


„sch mag heute nicht, Väterchen, ich will gleich an Blanche ſchrei— 
ben, ich habe ihr jo viel zu jagen.“ 

Imgrunde aber erwartete Molly den Doktor. Er fonnte doc) 
unmöglich bis auf den Abend warten, wie Bapa glaubte. Und er 
fam, gerade einige Minuten jpäter, als Blank das Haus verlafien 
hatte. Einen reizenden Strauß üppiger Roſen brachte er ihr mit. 

„Es find die legten aus meinem Garten, Fräulein Molly, tagtäg- 
lich habe ich fie auf ihren Zweck Hin prüfend angejchaut, tagtäglich 
2 Ihr Wohl gewünſcht. Tauſend, tauſend Glüdwünjche, Eleine 

D 
ie entzog ihm Die vn nicht, die aus der feinen den duftigen 
Strauß empfing und jo feit gehalten wurde, aber jeinem Blick wich 
ſie erglühend wie die Burpurroje im Strauß aus. 

„Die Blumen duften gar zu jtarf und jüh“, flüjterte fie, ihre 
Derlegenheit entichuldigend. 

„3a, der Sturm der vorlegten Nacht hat ihnen nicht gejchadet“, 
jagte er jonor und ließ ihre Hand frei. „A propos, eben jah ich den 
Lieutenant von Witzleben mit jeiner Braut.“ 

„sh will nichts von ihm hören“, warf Molly aufgeregt hin, 
„glauben Sie vielleicht, daß ich nicht geheilt wäre: o, ich habe mir 
damals —— was nicht war.” 

a D y!“ 

„Sch glaubte, daß er mich liebte; nun dieſe Vorausſetzung wegge— 
fallen iſt, denke auch ich ihn nicht mehr lieben zu dürfen. Es geht 
auch gar nicht mehr; denn —“ | 

„Denn, Molly?“ drängte er die zaghaft Stodende. 

„Es wäre eine einjame, nutloje Liebe und ich achte den Lieutes 
nant von Witleben auch nicht mehr.” 

„Sie empfinden jehr richtig, mein Fräulein, Liebe ohne Gegen— 
liebe bleibt das unverjtändigite Ding auf Erden.“ 

„Warum jagen Sie das jo falt, Herr Doktor?" 

„sc bin gewiß nicht kalt gegen Sie.“ 

* Doktor!“ 

„Fräulein Molly, glauben Sie wirklich, daß Liebe, unermeßlich 
tiefe, warme Liebe nicht Gegenliebe erwecken kann?“ 

„Wenn der andere Theil jolcher Liebe werth ijt“, ftammelte fie 
jonangeieE . 

r ſchwieg. Sie glitt geräujchlos an ihren Geburtstagstiſch, 
küßte die jchönen Roſen und legte fie behutjam_ auf denjelben. Dann 
lief fie hinaus und fam bald mit einem großen Stelchglas, welches 
bis zur Hälfte mit Waſſer gefüllt war, zurüd. Dahinein ſetzte jie 
feinen Geburtstagsitrauß. 

„Er joll in der Mitte jtehen, weil er mir das Liebite von allem 
iſt“, jagte fie weich. 

Raſch fam der Doktor heran. 

„Molly, jagen Sie mir mehr — ein fleines Wörtchen mehr!“ 

Das junge Mädchen lächelte jchalkhaft und jchämig zugleich und 
Lijpelte, ihn janft anjchauend: 

„Lieber Herr Doktor!“ 

Helmſtätts Bruſt hob ſich unter heftigen Athemzügen: 


622 Erſte Siebe. 


„Slauben Sie, dab Liebe, die wahre einzige Liebe, Gegenliebe 
erweden kann, ja oder nein? Sehen Ste denn nicht, Kind, wie id 
nad) einer Antwort fiebere?“ 


" 0: 

Er wollte fie glühend umfangen, wie ein jcheues Reh huſchte ſie 
davon. Er lächelte, glüdlich, fiegtrunfen! Bald jaß er vor dem Piano 
und ae das beliebte Lied aus Nanon: „Was ift denn heute für 
ein Tag?“ 

Sonderlic) gut jang er nicht, feine Stimme Hang vielmehr rauh, 
aber auf feinem männlichen Geſicht lag eine Hinreigende Zuverſicht, 
eine innerliche Fröhlichkeit — Plötzlich verſtummte ſein 
Geſang. Zwei weiche Arme hatten ſich ſchüchtern um ſeinen Hals 
geichmiegt und Molly flüfterte: 

„Wenn Ste jo heiter ausjehen, habe ich Sie ſehr lieb.“ 

Den Arm um ihre Hüfte jchlingend, forjchte er entzückt: 

„Und wenn ich ernjt bin?“ 

„Dann fühle ich mich als ein unbedeutendes Nichtschen“, ge 
* ſie zutraulich, leicht zuſammenſchauernd, wie er ſie nun an fe 
preßte. 

„Das muß anders werden, Molly, mein Herzblättchen, meine ſüße 
Braut, Du wirjt mic) dann erjt recht Lieben lernen und fühlen, wie 
Du mir am allernothiwendigiten bift, wenn ich ernjt bin!“ 

Und Molly Blank hat es gelernt, jchon im Brautſtand, aber 
voll und ganz erſt, als fie jein liebes Weibchen geworden war und 
ihm mit * kindhaften, ſonnigen Heiterkeit entgegen lächelte, wenn 
er müde und abgeſpannt von feinem ſchweren Beruf heimkehrte. 








pe WW Dr VER Ar RE eh, — — — SER 4, 5, GER >, TORE un, WO 0, —— > DEE „7, EEE >26, WEN 56 BEE ©8n, WERE 50-,- — —— SRE ..“ & 
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Srankreih im Fichte feiner Fiteratur. 
Kritifche Eſſays von Charles Fujter. 
Autorijirte Ueberfegung von Ewald Paul. 

VI. 
Einer von der athenifchen Schule: 
Theodor de Banpville, 


3 giebt Schriftiteller, welche eine große künſtleriſche 
Idee, eine perjönliche uuffafiung der Dinge, eine be- 
SS jondere Erjcheinungsform des Lebens in jich infarniren. 
AT Theodor de Banvılle gehört zu ihrer Zahl. 
—* Eine ſeltſame Figur das, aber eine intereſſante 
Figur auf jeden F eine ſchöne ſogar, von lächelnder 
Schönheit, von der Schönheit eines Antinous. Zu unſerer 
Zeit, die wir nicht gerade verdammen wollen, die aber doch un— 
leugbar eine Zeit der mehr oder minder tiefgreifenden Entkräftung und 
Traurigkeit iſt und dies von Tage zu — noch mehr wird, iſt de 
Banville das geblieben, was Gautier und Paul de Saint-Vietor 
waren: Der Liebhaber der griechischen Plastik, der Künſtler mit den 
feinfühlenden Sinnen, welchen eine harmonifche Zeile entzückt, der 
Maler mit Tönen, der Mufifer mit Farben, der leidenjchaftliche An— 
beter des Wohlklanges und des Lichtes. Als Athener würde er Sap- 
pho geliebt und Alcibiades bewundert Haben, ——— weil ſie die 
„große Leier“ ſchlug, Alcibiades, weil er die höchſte Eleganz und An— 
muth beſaß. Er wiirde auf dem Himettos die Bienen munter gemacht 
haben, um mit Berangers allerliebjtem Ausdrud zu reden, einem Aus— 
drud, welcher le — einen anderen Athenienjer, aber einen folchen, 
den Paris jeden Tag von den Erinnerungen an Attika losrig — jo 
jehr Be De Banville iſt freilich den attiſchen Kulten immer 
treu geblieben: es jcheint ſelbſt, als ob er ſich heute, da jein Leben 
fait verfloffen und die Sanduhr beinahe laufen: noch mehr darin 
gefalle, er fan höher hinanfteigen zu den ewigen Wahrheiten, zu dem 
unwandelbaren Ideal, das allen literarischen Diskuffionen Troß bietet 
und alle Kunſtumwälzungen überlebt. De Banville iſt zu jpät in eine 
zu alte Welt gekommen, und er muß uns flein und häßlich finden, er, 
der in oft prächtigen Verſen die großen beflagenswerthen und ftolzen 
Berbannten, die Götter wachgerufen hat! 
Für de Banville ift das zeitgenöffifche Leben ein Eril und die 










624 Frankreicy im Lichte feiner Literatur. 


Götter find e3 nicht allein, die jich dankt dem Haß oder der Gleich— 
giltigfeit der Menjchen dahinbegeben. Es giebt auch andere, weniger 
große Verbannte, die allen niedrigen Gelüſten unterworfen jind, die — 
nad) den Worten des Dichters „die üble Laſt ihrer Eingeweide“ mit 
ſich jchleppen und Die — einen Blick voll ie und Liebe 
um Himmel erheben. Dergleichen ſind die Poeten. Nun giebt es 
Dichter, welche die Verbannung aufjtügig macht und die jchreien, Die 
Fäufte zeigen und fich wehren. Dies find die großen Verzweifelten, 
die Bejtegten auf dem Schlachtfelde des Lebens, die oft wunderlichen, 
oft erhabenen, aber immer unglüdlichen freiwilligen Märtyrer. Andere 
weinen und fie thun Unrecht daran, denn der Poet, jo jehr er auch in 
einer noch jo traurig Jade gedachten Welt irre geführt jein mag, hat 
immerhin feine Eöjtlıd) ſüßen Stunden. Dichter jein, das heißt ın jich 
taufend Urjachen zum Glück tragen, taujend kommende arg 
taujend Enthufiasmen, die ſich entfalten werden, wenn der zum Auf— 
blühen geeignete Moment hereingebrochen. Und der Poet hat gut 
lagen, er hat gut ſich beflagen laſſen — er bleibt darum micht 
weniger der, welcher die Seelen entzüdt, der, dem ein Fleines, ein nichts 
enügt, um ihn jelbft-zu entzüden. Wenn er von ewigem Weh jpricht, 
j glaube man * nicht ſogleich, denn von ſeinen Schmerzen wird er, 
obald erſt ein Augenblick der Beruhigung gekommen, ſchmerztragende 
Strophen machen und er wird, wenn anderer Freuden beraubt, 
noch die Freude haben, ſeinen Seufzer in den Herzen nachhallen zu 
— Die Poeten, welche weinen, ſind noch verhätſchelte Kinder des 
!ebens, weil die Frauen ihnen zulächeln — vielleicht aus Mitleid, 
aber was ſchadet das! Ein Weiberlächeln, ſelbſt im — zu⸗ 
geworfen, erzeugt ſo trefflich die Illuſion der Liebe! 

Es giebt Verbannte, welche ſich empören, es giebt deren, welche 
weinen — es giebt endlich ſolche, welche ſich in Erinnerung verſenken. 
De Banville gehört zu letzteren. Ehemals, zu den heldiſchen Zeiten, 
als der göttliche Plato in den Gärten von Afademus unterrichtete, 
als Iliſſus und Kephiſſos nod) nicht völlig auf dem Trodenen waren, 
als man in großen fühlen Häujern wohnte, wo Dleander ſich neben 
Eisbeden entfalteten; als die Schüler, nacdjläjjig in weiße Gewänder 
.gehüllt, das harmonische Wort der Meijter, welche gerade in Mode 
waren, anhörten, dieſes Wort, welches eine Mufif war und eine Mufif, 
einfach und fließend wie eben die alte Mufik it; als man auf der 
Agora jeine Sigungen hielt, um die Intereffen der Republik zu dis- 
futiven und um bis zum Ende die Reden anzuhören, denen man ge- 
itattete, leer zu jein, vorausgejegt, daß das Ohr darin gewiegt wurde; 
als die häßlichſten Leidenschaften — und welche waren häplich! — 
ſich unter einem jolchen Anjtrich von Reinheit verbargen, daß man ihnen 
fajt verzeihen Eonnte; als man ſich vor Göttern verbeugte, an die man 
wicht mehr glaubte, aber die man als ebenjo viele erhabene Ebenbilder 
der Vergangenheit vejpektirte; ald man in jener Stunde von Eleganz, 
Geſchmeidigkeit und Dilettantismus angefommen war, welche die athe— 
niſche Macht zu Ende gehen jah — jener Zeit hat unjer Poet ig 
wahres Leben zu verdanken, jein glücliches Leben, das eigene Leben, 
jenes, das er in der Erinnerung behalten und das er für Augenblide, 
‚wenn er einem recht ſchwungvollen und rythmiſchen Vers begegnet iſt, 


Frankreidy im Lichte feiner Kiteratur. 625 


wieder aufleben läßt. Er muß jenes Leben gelebt haben — man 
bildet es jich wentgitend ein, wenn man cine von jeinen Seiten und 
jet es ſelbſt die am meisten parifische von allen, lieſt — er hat alles 
das, was Die attische Luft von jprödem und beraufchendem hat, 
athmen müfjen. Er hat alle Myſterien durchlaufen und nur jene ver- 
mieden, wo man zu viel Yärm jchlug. Er hat die Redekünſtler ge: 
hört und deren feinen außer Acht gelajjen, dabei Reiz in der fchaljten 
Phraſe findend, wenn fie taktmäßig genug war und wohlflingenden 
Stil hatte, wenn ein wenig von jener inmerlichen Melodie, die wir 
in ums tragen, darin vorfam. In jenen Tagen der Jugend von Men- 
chen und Dingen war er ein Horaz vor Horaz, aber ein Iyrijcher 
Horaz, ein Horaz, welcher zugleich mit den Annehmlichkeiten eines ge- 
mäßigten Epikuräerthums den ganzen Zauber der großen vaujchenden 
Poeſie veritand. Bald lachend mit den Epheben, bald die heftigjten 
Klagen der Sappho anhörend, geitern auf den Stufen des Theaters 
jigend und einer Komödie aus der ariſtophaniſchen Schule Aufmerf: 
jamfeit jchenfend — heute auf dem — pr itehend, im Ange: 
jicht des ungeheueren, jchimmernden Meeres, deſſen Wogen rollen und 
übereinander herjagen; bald herrlich wie ein junger Gott oder wie ein 
Sieger aus den iſthmiſchen Spielen, bald erhaben wie der Begeijterte, 
welcher vor Enthufiasmus und Angjt zittert, hat er, indem er dieſes 
Doppelte Leben führte, die Weisheit des Sfeptifers mit der Leiden: 
ichaftlichkeit des Dichter8 und die Rojen des Horaz mit dem Wander- 
jtab Homers vereinigen müfjen. Wenn er nur Poet gewejen wäre, 
und jchwingender Seele und Elopfenden Herzens, hätte er nicht die 
ganze Weichheit der fraftentbundenen Zeilen, die ganze Anmuth glüd- 
licher Rhythmen, den vollen Reiz lichtgetränfter Himmel verstanden. 
Wäre er nur Epifuräer geweſen, jo hätte er nicht erfennen gelernt — 
und wie wenige haben es erkennen gelernt! — hätte er nicht gewußt, 
welches Drama das Dajein ijt und weld) verzweifelten Genuß man 
fojtet, wenn man ſich vom Zwiſt tragiicher Lerdenjchaften zermalmen 
läßt. Er, der nur feine Flöte für eine mehr oder minder aufjtügige Nymphe 
und unter einem mehr oder minder lauen Schatten zu ſpielen wußte, 
er hätte hauptjächlich nicht verjtanden, welche Trunfenheit darin Liegt, 
die Elfenbeinleier, dieſe „große Lyra“ in Händen zu halten, die er 
feiert wie fie heutigen Tages niemand. bejjer gepriejen hat. Es be- 
durfte eines außergewöhnlichen Zufalls, um derart in einem einzigen 
Meenjchen zwei jo verjchtedene Menjchen zu vereinigen, den Dilettanten, 
welcher jpielt, und den auf das äußerſte erregten Dichter, welcher jein 
Leben in den Wind wirft. Und dieſer aus zweierlei verjchtedenem 
Thon geformte Menjch ist, einmal in den Strudel unſerer Zeit ge- 
worfen, der zartempfindende und mächtige Künſtler — als den 
man ihn kennt. Nur wurde dieſer den Pariſer Asphalt tretende Grieche 
Barijer, joweit Barijer, als dies ein Grieche werden kann. Er hat 
von Paris das genommen, was Paris aus Athen empfangen bat: die 
Liebe zu eleganten Frivolitäten, den Gejchmad an Gouaillerien, den 
unwiderſtehlichen Reiz angenehmer Redekunit und jenes geheimnißvolle 
etwas von Wallung und Yaune, welches Alcıbiades jo gut kannte und 
welches der zu jtrenge Sofrates nicht genug in acht nahm. Indem 
unjer Poet verjtand, daß er fich in jeinem Elfenbeinthurm nicht ver: 


E 


626 Frankreich im Fichte feiner Literatur. 


einzeln könne und daß die Säulenheiligen jchlechtes Spiel haben in 
Diefer Beit, wo man viel mehr lärmen muß, als billig iſt und ein 
dreifach thätiges Leben führen muß, um nicht lethargiichen Schla— 
fes angejchuldigt zu werden, wußte er, der jid) dennoch nicht mit der 
trivialen Menge vermijchen wollte, dieſe durch fein geringjchägiges 
und wieder wohlwollendes Lächeln zugleich zu entzüden und zu be 
herrſchen. Treu den athenijchen Weberlieferungen hat er alles bejun- 
gen, was Beredjamfeit einzuflögen wert iſt — die Götter, welche man 
verjagt, die Mufif, die Malerei mit flüſſigen — den Marmor mit 
harmoniſchen Linien, das ſchauernde Meer, die liebenswürdigen oder 
wilden Landſchaften und namentlich — allem voran — das ewige 
Licht. Alles iſt lichtvoll da in dieſem Werke und überall trifft man 
darin eine großartige Verherrlichung des prächtigen Tages. Gewiß 
ſind das nicht die niedrigen Seiten des Lebens, die uns diejer immer 
ruhige und gewaltige Zauberer vorführt; das, was er uns zeigt, tit 
das Leben, das man genießt und das man jtirbt, das Inriiche Leben. 
Alles iſt bei ihm Pracht. Bei gewiſſen Schriftitellern der Gegenwart 
fann das Dajein traurig, grau, monoton erjcheinen und fait unjauber 
wie eine diejer Borftabtitraßen, wo der helle Untergrund der Fabriken 
allein von der Unreinlichfeit der Häufer und dem Staub der dürren 
Bäume abhebt. Ber anderen ijt das Leben nur ein nebelhaftes und 
melancholisches Mondnachtjtüd, in welchem ungenaue Schatten mit all’ 
der Unvollfommenheit diejer nächtigen oder dämmernden Erjcheinungen 
ittern. Bei de Banville tjt alles der großen Sonne zugängig, oder wenn 
* Nacht hereinbricht, ſo iſt das wenigſtens die glänzende Nacht, die 
dunkle Nacht, in welcher die Sterne ſchimmern. Durch eine zu äugſt— 
liche Aufmerkſamkeit hat der Dichter mehrere jeiner — auf dieſes 
Wort „Sterne“ hinauslaufen laſſen. In dieſer einfachen Thatſache 
liegt mehr oder weniger eine künſtleriſche Kofetterie, denn das, was 
Banville durch dieje fait unbedeutende Einzelheit bewieſen hat und 
was man übrigens beim Lejen jeiner lichtvollen und warmen Schöpfun- 
en erfennt, ijt jeine Leidenjchaft, jeine heroiſche Leidenſchaft für alle 
Roftbarfeiten und allen Glanz. 

Er hängt jich nicht an die Fleinen Geheimnifje des Alfovens oder 
an Streitereien im Schlachthaus — er überfieht dies nicht bloß, nein, 
er thut noch mehr, er ignorirt es vollitändig. Er liebt nur die ſchim— 
mernden Dinge, die Eöftlichen Linien, die in Sonnenjtrahlen getauchten 
Krone, die fnorrigen Bäume, unter denen Nymphen Tchliefen., Die 

ren Fontänen, in denen ſich Diana jpiegelte, die blendenden Tempel, 
in denen die Götter jprachen, das VBorgebirge, von dem fi) die Sappho 
hinabgejtürzt, das glänzende Meer, welches die Morgenröthe umarmt, 
die wie gefrorene Thränen in die Nacht gejäeten Sterne, den jchneeigen 
Staub der Milchſtraße. Füge man dazu noch das Lachen eines Kin 
des, das Ntolge Gefolge hochmüthiger Fürjtinnen, die Vergötterung 
eines jungen Soldaten, der für das Vaterland jtirbt, die Flamme der 
Weines, den — des Blutes, den Geſang des noch in ſeiner Blöße 
eleganten Bohene, den grotesfen Vorbeimarſch lächerlicher Weſen, dic 
Verherrlihung der Liebe und die Gutheigung der Freude, jo hat man 
das Werk des Boeten, diejes Werf, in welchem man ſich nicht mit der 
Beachtung der Mängel zu verjpäten wagt, jo jehr ift dafjelbe von 


Frankreich im Lichte feiner Kiteratur. 627 


— Strahlen erhellt, ſo ſehr tröſtet es in ſeiner Erhabenheit, ſo 
ehr bewahrt es bis zum Schluſſe ſeine wunderſame Lyrik. Indem 
man ſich damit he erfennt man, daß es in unjerer Epoche in— 
tellektueller Trübjeligfeit und moralischer Entmuthigung immer noch 
etwas giebt, das erhebt und dag — um mit dem jchönen Wort von 
Georges Lafenejtre zu reden — den Lebensmarjch erklingen läßt. 
Unfere längjt entjchwundenen Ahnen waren Gläubige, aufrichtige und 
fanatifche Gläubige, bereit, ſich tödten zu laffen — und man war im 
Mittelalter mit dem Tödten jchnell zur Hand — für eine Idee, die 
fie gelernt hatten. Unſere direkten Vorfahren find meijtens mehr oder 
minder glüdliche Epifurder und mehr oder minder in Dingen des 
Glaubens erleichtert gewejen. Wir hingegen ſind weder Gläubige, noch 
Epikuräer, wir können nicht mehr beten und wir verſtehen nicht mehr 
zu genießen. Man lehrt uns eine niederſchlagende Philoſophie, die uns 
enttäuſcht und die gewiß nichts lyriſches und leuchtendes hat. Ver— 
Baus it der alte Glaube, für den man jtarb, und die einfachen 

ergnügungen, die liebenswürdigen Freuden, welche das Leben leich- 
ter tragen machten! Alles ift voll erniten, jteifen Weſens, alles iſt 
vegelmätig, alles iſt mathematisch, alles erklärt jich durch Erjcheinungen 
der organischen oder der anderen Chemie und durch Gegenwirkungen, 
gegen welche wir nicht® vermögen und die wir nicht einmal jämmtlid) 
erfennen können. Das Leben iſt nicht mehr jener Wald, in dem man 
etwas auf? gerathewohl herumpilgerte, durch das Gejtrüpp behindert, 
aber jeden Tag neue Wege und unbekannte Lichtungen auffindend. 
Das Leben ijt auch nicht mehr eine Stadt, in welcher man luftig it 
und plaudert, nein, es iſt eine neblige, qualmige Borjtadt, welche ihre 
grauen Häuſermaſſen unter einem herabhängenden Himmel entfaltet 
und die weder Bäume noch jprudelnde Quellen hat. Und wenn man 
jieht, wie unerträglich unjere heutige Gejellichaft tit, wird dieje verzweifelte 
Umkehr verjtändlich, welche re Geijter zur Harmonie und Heiterfeit 
der —— Kunſt hin verſuchen. Freilich ſind ſie glücklich, wenn ſie 
zu den unvergänglichen Schönheiten hinaufzulangen vermögen und 
wenn ſie, wie dies Banville gethan, den Zauber des Rhythmus, die 
Blendung des Lächelns, die rang der wohlflingenden Worte und 
die Verehrung des Lichtes und der Sterne bis zum Ende bewahren! 


vu. 
£uifa Siefert, eine moderne Sappho. 

Wir leben — man muß dies zugeben — in einem Jahrhundert, 
wo die Leidenschaften wie die Glaubensmeinungen ſich bis zu ihrer 
Austilgung entkräften. Die romantijchen Liebjchaften find bei ung eben 
fo wenig ın Gunjt als jener heroiſche Fanatismus, welcher zugleich 
die Schwäche und die Stärke unjerer Väter war. Ehemals — und 
das iſt jicherlich nicht allzulange her — jpottete man nicht über jenen 
edelmüthigen Wahn, den wir heute belächeln; man fand jelbjt in dei 
poejiereichiten Träumereien Größe und eine, ic) weiß nicht was für eine 
Beredjamfeit in den übertriebenjten Wehllagen. Die Aufrichtigfeit 
ließ über viele Dinge hinmengchen, über das Wortgeflapper, über das 
Unzufammenhängende der Vorjtellungen und jogar über die Art von 
— welche ſelbſt die ehrlichſten Urtheile unangefochten laſſen 


628 Frankreich im Lichte feiner Literatur, 


fünnen. Das war die Zeit, in welcher man jagte: „Sch bete Dich an“, 
während wir heute nicht mehr zu jagen wagen als: „Ich liebe Dich“. 
Wenn wir dies jagen, jo geichieht dies mit Bean Vorbehalt, mit 
ich weil nicht was für einer Furcht vor Leidenjchaft, ic) weiß nicht 
was für einer trojtlojen Niedrigkeit. Wir opfern dem lieben Verſtande 
das jchöne Feuer einer triebfräftigen Jugend und glauben uns weijer, 
weil wir, indem wir unjere Empfindungen zergliedern und unſere 
flüchtigen Eindrüde analyjiren, dahin fommen, die Liebe von allem zu 
entblögen, was jie an urjprünglichem und freiwilligem hat. Bir 
find Opfer der pjychologischen Analyje und bald werden wir, indem 
wir die gründlichen Spikfindigfeiten, deren wir ung in unjerem intel: 
(eftuellen Leben bedienen, auf das jentimentale Leben übertragen, jo- 
weit gelangen, daß wir die bewundernswerthe Schwärmerei zärtlicher 
Liebe voller alle und voll nagenden Schmerzes nicht mehr zu ver: 
jtehen vermögen. Und dennoch hat jich in — Jahrhundert des 
billigen Mittelweges ein Weib — beſſer geſagt ein junges Mädchen 
— gefunden, welches die ſchmerzlichen Truggebilde, an denen es gelit— 
ten, beredt beſungen und alle ſeine beeinträchtigten Träume, alle ſeine 
Illuſionen, die es einen Augenblick zerſtört glauben durfte, in glühende 
Verſe umgeſetzt hat. Es fand ſich ein junges Mädchen, das bis zum 
äußerſten und mit um ſo mehr Feuer geliebt hat, als es von hüge— 
nottiſchem Stamme war und als die proteſtantiſche Erziehung mit 
dem, was ſie hartes und ſtrenges hat, die Seelen ſcharf zu durch— 
tränken und einen Thon daraus zu machen verſteht, welcher ſich von 
den ſtolzen Leidenſchaften formen läßt. Es hat ſich zu einer Zeit, in 
welcher die Zärtlichkeiten laſch wie die Glaubensmeinungen werden, 
eine keuſche Sappho gefunden, reiner als die wirkliche Suppbo, 
aber feurig wie jene, welche nicht vor dem Geſtändniß ihrer Qual ge 
zittert hat und die den unjchuldigen Muth hatte, alle ihm befreundeten 
Lejer zu ihren Vertrauten zu machen. Man hat ihr Beifall geflaticht 
und es war unmöglich, daß dies nicht geichah, denn dieſe jo raujchende 
und edle Poejie war etwas neues, dieſe Poejie, in welcher, nichts 
den Kunſtgriffen überlaffen tft und in welcher, nad) Edgar Poes Aus- 
drud, „ein entblößtes Herz“ blutet. Ja, ohne Zweifel hat man ihr 
Beifall geflaticht, aber jie iſt vielleicht nicht recht veritanden — ich 
meine von der Mehrzahl nicht recht verjtanden. Die einen haben in 
ihr eine große Märtyrerin Sn welche ſich in ihrem Leiden gefällt, 
ſich mit der Bitterfeit nagenden Kummers bejchwert und ein Leben 
jtillen Schmerzes und ewiger Klagen führt. - Die anderen — und 
dieſe find ficherlich zahlreicher — haben in dieſer Hingebung, in dieſem 
der Deffentlichfeit zugewendeten Bertrauen nur das — was 
darin an Ungeſchicktem und —— war; ihre — ſind 
ſtrenge geweſen, denn man verzeiht einem Weibe nicht, was man einem 
Manne jo leicht verzeiht: das Geheimniß ihres Lebens verlegt zu haben. 
Luiſa Siefert iſt verjchiedentlich beurtheilt worden und vielleicht wurde 
fie jchlecht beurtheilt und hat weder diejes zu jchnell erregte Mitleiden 
verdient noch dieje zu aufbraufende Härte, welche in der Verdammung 
des unbewußten Schammangels beim Geſtändniß Liegt. 

Luiſa Siefert ijt weder die große Märtyrerin gewejen, als welche 
man jie ſich einbildet umd noch weniger — iſt das überhaupt nöthig, 








Frankreich im Lichte feiner Literatur. 629 


noch zu bemerken? — die beinahe jchamloje Verliebte, deren Be— 
kenntniß ll empfindliche Gemüther empört hat. Ihre Gejchichte 
it jehr einfach. Alles in allem genommen ift I unjere Gejchichte, 
Die — unſerer erſten ſchönen, raſenden und romantiſchen Lieb— 
ten. 

Es giebt ein gewiſſes Alter, in welchem die jungen Leute — und 
darunter verſtehe ich jene, welche mehr oder minder frühreife Kinder 
eweſen — in welchem alſo die nur ſchlecht aus dem Gröbſten 
—— chüchternen, halb naiven, halb erfahrenen jungen 
Leute jene Leidenſchaften haben, welche lärmen. Man gefällt fi im 
Spott über jolche Grillen und jene, die jie nähren, risftren lächerlic) 
zu werden. Nehmen wir den unglüdlichen Fortunio an. Er liebt 
acqueline, und Jacqueline bedient jich feiner wie eines Spielzeuges. 
Fortunio erjcheint als eine traurige Gejtalt, nicht wahr? Und Ihr 
acht darüber, wie Jacqueline darüber lacht, wie Clavaroche darüber 
lacht, wie alle Welt darüber lachen wird. Seht dann Cherubin, lin- 
fiicher und weniger entzüdend bei jeinem friichen Ausjehen: Der 
Ihöne junge Mann wird eine traurige Figur fein und er mag jeine 
Dame. no jo jchön anſchwärmen, fie kümmert jich gar nicht darum. 
Vom Glüde begünstigt, it Fortunio bezaubernd, und Cherubin, das 
verhätichelte Kind, hat alle Reize, jelbjt den der Ungejchidlichkeit. Um 
das fünfzehnte oder jechzchnte Jahr und ſelbſt bis zum 18., haben 
alle jungen Männer oder fajt alle — es giebt jolche, die niemals ein 
Alter haben — haben aljo fajt alle jungen Leute das mit Fortunio 
gemeinjam, dat fie Sacqueline anbeten. Nur macht ſich gewöhnlich 
Sacqueline — und in wenigjtens 63 von 65 Fällen — über Fortunio 
luſtig. Clavaroche genügt ıhr, jet es, weil er in hohem und barjchem 
Tone jpricht, jei es, weıl er einen ſkeptiſchen Schnabel hat oder ein- 
fach, weil ihn das Ausjehen der Umwideritehlichkeit jo gut Eleidet. 
Fortunio jeufzt ganz leife und jtreift bei finfender Nacht unter den 
‚senjtern der Schünen herum, welche thut, al3 ob fie jchlafe;. wenn er 
den Mondjchein liebt, jo macht er ihn zu jeinem Vertrauten; er jchreibt 
Verſe auf altes Pergament oder auf englisches Papier und jegt mit 
une Unbefangenheit in dieſe Verje, welche man mit bedauerndem 
!ächeln Iejen wird, jein Beſtes; wenn er jene Klaſſiker kennt, wird 
er das Sonett von Arverd auswendig wijjen und mit mehr oder 
minder — in der Stimme vor der Grauſamen, die ihr Ohr den 
Wortſpielen Clavaroches leiht, herſagen; oder beſſer, wenn er tragiſcher 
Laune iſt, wird dieſer bartloſe Märtyrer, um ſo mehr Märtyrer, je 
unbärtiger er iſt, von einem edlen Ende träumen, er träumt, daß er 
dem Leben entfliehen und wenigſtens ein Wort des Bedauerns dieſen 
Lippen entreißen wolle, von denen er kein Wort der Liebe erobern konnte. 
Das ſind dann die geſchwätzigen und romantiſchen Arten der Ver— 
zweiflung oder die ſtillſchweigenden Träumereien, dieſe Träumereien, 
welche übel machen, weil ſie Euch erſchlaffen und entnerven. Die einen 
entziehen ſich ihnen — die Arbeit und durch eine energiſche Willens— 
anjtrengung; dies jind die Glücklichen, welche guten und gewichtigen 
Verſtand haben, diejenigen, welche jchnell das Lächerliche unmöglicher 
Situationen und die. bittere Verſpottung dieſer fchlecht angebrachten 
Bürtlichkeiten erkennen. Andere — die Glüdlichjten von allen, aber 


630 Frankreich im Fichte feiner‘ Literatur. 


die am ſeltenſten anzutreffenden — vergeſſen in einer frohen Liebe die 
Traurigkeit der wunderlichen, phantajtischen Liebjchaften; fie werden 
luftig und reizend, denn nichts erweckt jo jehr die Lebensgeijter als 
das Glück, und fie gelangen dahin, das Leben ſtolz und breit auf- 
zufajjen, als Eroberer, die fie jind, aber nicht von vornherein waren, 
daher fie die ganze Süße dejjen, der jeine Kraft fühlt, um jo bejjer 
zu koſten vermögen. Andere jchlieglich bewahren bis zum Ende den 
peinlichen, demütbhigenden und traurigen Eindrud diejer erjten, faum 
aus dem Gröbjten herausgearbeiteten, ungejchidt und närriich angelegten 
Romane. Sie erhalten fi) von daher ein räthjelhaftes Mißtrauen 
gegen jich jelbjt und ich werk nicht was für eine Eiferjucht gegen die 
übrigen. Sie bilden ſich ein, daß man jie nicht Tieben fünne umd 
man liebt jie nicht, denn ſie bleiben verjchüchtert, jftumm, ungejchict, denn 
alle Klönigreiche gehören den Starken. So vergehen genug Leben, in 
welche dieſe Jugendthorheiten eine tiefe und ——— Furche ge 
graben haben, eine dieſer Furchen, welche der Pflug in weichlicher, 
ſchwankender Erde aufreißt. 

Man hegt die Gewohnheit, über dieſes „undankbare Alter“, in 
dem ſich das Herz erhebt und in dem man genießen oder leiden lernt, 
u ſpotten. Man legt dieſen erſten Liebſchaften, welche in Wahrheit ſo 
indlich und ſo naiv zu erſcheinen vermögen, wenig Bedeutung bei. Und 
dennoch bleibt davon immer ſelbſt dem vollendetſten Don Juan, ſelbſt bei 
Georges Brummel, ſelbſt bei Lovelace eine ich weiß nicht wie zu benennende 
Traurigkeit zurück, deren peinliches Nachgefühl die Beneidetſten zu be— 
wahren haben. Dieſe erſten Eindrücke, welche lebhaft, unüberlegt, un— 
gefeilt ſind, hinterlaſſen eine unverwiſchbare Spur. Das Leben bat 
es mit ſeiner Mannigfaltigkeit der Eindrücke und Gefühle leicht, darüber 
hinwegzugehen, Fortunio, wenn er von Jacqueline nicht geliebt wird 
— was an der Fall ift — wird jtarf in Gefahr fommen, an 
der Möglichkeit, daß eine Jacqueline jemals Lieben könne, zu verziwei- 
feln. Er wird lange Zeit den Verdruß oder Schmerz über dieſe erite 
Enttäujchung bewahren; er wird infolge dejjen Ffepfiächer jein, als er 
e3 jein müßte. Und dieje lächerliche Neigung, über die man jich Luftig 
machen würde, wenn fie nicht jo torglic) verborgen wäre, genügt Ders 
art, um ein Leben zu verderben und ein zu früh verwundetes Gerz 
traurig zu machen. Es iſt noch ein Glüd, wenn diefes Herz davon 
nicht grauſam wird und nicht dahin gelangt, eine üble Rache zu juchen 
und eben jo leiden zu lajjen, als man es leiden lieh, und derart all- 
mählich alles das, was es an zärtlichem und edlem bejaß, einzubüßen. 

Das, was die jungen Männer in diefem undanfbaren Alter 
mit jo viel Herbheit fühlen, fühlen die jungen Mädchen, welche viel: 
leicht weniger ald wir das Bedürfnig nach Lieblojungen haben, welche 
aber jicher romantischer jind als wir und die fich viel Leichter Dem 
Traum überlajjen, gleichfalls. Nur jchweigen fie jtill: die Erziehung, 
die Zurücdhaltung, diefe entzüdende Schambaftigfeit, die allen, auch 
den Häßlichen, Neiz giebt, alles das befiehlt ihnen zu jchweigen. Un— 
terdrückt vom Leben, wie fie e8 find, wagen fie nicht einmal, jich in ihrem 
Traume zu gefallen, oder wenn jie ſich darin gefallen, jo muß Dies 
mit einem fremdartigen Eindrud von Furcht geichehen. Sie entwerfen ihren 
Roman, wie Luiſa Siefert den ihrigen entworfen hat, aber der Roman 


Frankreich im Lichte feiner £iteratur. 631 


bewahrt all’ das Unvollendete der Truggebilde. Jedoch dieſes Trug- 
gebilde Dauert aus, dieſes Zruggebilbe hinterläßt eine tiefe Spur, denn 
es liegt in der Natur des Weibes, lange zu vibriren, mehr als wir 
zu leiden, und ſich fejter als wir an unwahrjcheinliche Träume zu hängen. 

Luiſa Siefert hat fid) an einen Traum gebängt und diefer Traum 
iſt es, den fie ftolz, ohne irgend welchen Borbehalt, und mit diefer 
naiven Kühnheit, welche die Leidenſchaft giebt, gejtanden hat. Und 
wie lauter und einjchneidend dieſer erſte Madchentraum iſt! Er iſt aus 
Lieblichteit, Ergebung und taujend zarten und köſtlichen Gedanken ge- 
ſchaffen. Das iſt nicht etwa Jähzorn noch Flamme, nein, das iſt 
etwas gewichtigeres und weniger lautes, darin liegt die Liebe, wie fie 
ein von hugenottischer Erziehung, diejer jtärfenden und trojtgewähren- 
den Erziehung, gefejtigtes Herz zu empfinden vermag. Man fühlt, daß 
darin nichts Frankhaftes, nichts geziertes iſt: das ijt zugleich ‚das Aus— 
jtrömen eimer unendlich zärtlichen, verehrungswürdig weiblichen Seele 
und das herbe Bekenntniß eines mannbaften — welches das Leben 
tapfer aufnimmt und es nicht mehr als einen Augenblick verwünſcht. 
Dieſer erſte Traum war ein Wahn, aber es liegt in ſeiner argloſen 
Unſchicklichkeit ſo viel Edelſinn, daß man überraſcht iſt. Dieſes junge 
Mädchen von achtzehn Jahren opfert ſich mit einer wunderbaren Hin- 
gebung; alles Kiünjtliche iſt ihr fremd, alle faljche Scham ſtößt fie 
zurück — jie liebt und das ijt genug. Und num kommt der plögliche 
entjcheidende Schlag, der Theatercoup. So iſt e8 denn, wie fie in 
einem beredten —* ſagt: 


Ihr Leben von achtzehn Jahren zählt eine ganze Vergangenheit. 


Der Traum iſt zu Ende, der Traum iſt zerſchmettert, der Traum 
iſt verloren und ſie vermeint, daß ihr alles entflohen ſei, ſelbſt ihre 
ſüßeſte Hoffnung, dieſe Hoffnung, Mutter zu ſein, welche für ein 
Weib die köſtlichſte aller Hoffnungen ſein muß. 

Und dann die großen Qualen: er leidet und ſie kann ihm nicht 
beiſtehen; er ſpricht von Vergeſſen und ſie empört ſich gegen dieſes 
Wort; fie entſinnt ſich aller Einzelheiten ihres vergangenen Glücks; 
fie weint über ein anderes Weib, das für ihn gejtorben iſt; fie fennt 
die bittere Einſamkeit des Erils, fie nimmt Abſchied von allem, was 
das Leben an beraujchendem hat, von den zeiten, den Vergnügen, den 
MWonnen des Balles; fie überläßt ſich der Melancholie des Herbiteg, 
der Blätter, welche fallen, des Tages, welcher dahin geht, der Sonne, 
welche jtirbt; jie muß fich eine heitere Masfe anlegen und die jchred- 
liche Marter unter einem Ausſehen von Glüd verbergen, und dann 
heißt e8, die theuren Reliquien zu vernichten, 2 zu fügen und gleich 
einem Schrei höchſten moraliichen Stolzes diefe Berherrlichung des 
Kummers, dieſes vivere memento entjtehen zu lafjen, welche in eine 
geängftete Frage, in einen tragiichen, zur Gottheit emporgejchleuderten 
Appell austäutt 

Hierauf, nad) dem Buche der Liebe, jchreibt Luifa Siefert das 
Bud) der Pflicht. Nach den „verlorenen Strahlen“, deren Blendung 
ihr noch blieb, bringt fie ihren „Stoifern“ den ganzen, zuweilen etwas 
theatraliichen, aber aufrichtigen Heldenmuth diejer jo mannhaft fernigen 
Seele. Der Reſt ihres Lebens iſt wenig wichtig: um ein Leben aus: 


632 Frankreich im Lichte feiner Kiteratur, 


zufüllen, genügt ein Traum, und Luiſa Siefert hat ihren Traum 
gehabt, einen edlen, zarten, Traum, den jte befungen und beweint hat, 
den fie zur Höhe einer Folter erhob und der fie zu einer modernen 
Sappho, aber einer züchtigen und ſtoiſchen Sappho werden lie. 

Tadle fie, wer da will — id) bewundere ji. Mir jcheint, daß 
es nichts jo jchünes giebt wie die unbedingte Wahrheit und daß es 
ganz bejonderen Muthes jeitens dieſes jungen Mädchens bedurfte, 
damit es jeinen eriten Mädchentraum der Deffentlichfeit bloflegte. 
Wären jeine Verje formarm, jo wären jie doch noch werth bewundert 
zu werden. Nun iſt aber deren Form vollfommen, zuweilen prächtig 
und am häufigsten von jeltener Erhabenheit. Ebenjo wie das Gefühl weıb: 
lich, it die Sprache männlich. Es Liegt eine ſolche Kraft im Ausdrud, 
eine jolche Kunſt in der Wahl der Rhythmen, eine jolche Sicherheit in 
der Arbeit, daß man vor der Poeſie überrajcht jteht, wie man bervegt 
von dem Geſtändniß iſt. Aber das Gejtändniß jelbit würde genügen, 
uns einen Schrei von Bewunderung und fait von Zärtlichkeit für dieſe 
jtolze Seele zu entreißen, welche die erſte Enttäujchung jo grauſam 
verwundet hat, welche ihr Leiden jo lange andauern zu machen wußte, 
während wir uns mühen, die unjerigen zu betäuben, und welche den 
erhabenjten, heldiichen und edelmüthigen Wahn gehabt hat, in einer 
Beit gefälliger Liebhaberei den Aufruf einer Leidenjchaft ın den Wind 
zu werfen, wie wir fie nicht mehr zu haben verjtehen, und das Ge— 
heimniß eines Lebens, wie wir es nicht mehr zu leben vermöchten. Es 
giebt eben Schamloiigfeiten, die ſchamhafter ſind als alles Schweigen 
und ein derartiges Vertrauen it gejchaffen, um uns ein jeltenes 3 i⸗ 
ſpiel von Aufrichtigkeit, moraliſchem Stolz, einfacher und gewichtiger 
Größe zu geben, von dieſer Größe, welche ſich nicht fennt und welche 
die bewunderungswürdigite von allen iſt. 


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Das Innere der K 


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Berühmte Geigendauer und ihre Kunſt. 
— 


Sl er ſich nicht mit Spezialitäten befaßt, hat nur jelten 

je) einen Beariff davon, welche wunderliche Künſte be— 
SI 7 f trieben werden und welche abnorme Werthe Gegen- 
sl, Stände haben, die demjenigen, der jich nicht damit be- 
=> faht, entweder werthlos oder doch von jehr geringem 
52 Werthe erjcheinen. Die „Sammel“-Wuth hat hierzu 
4 “ am meijten beigetragen und vielleicht die le 
Erſcheinung auf diefem Felde ift der Werth von Briefmarken. 

Zoll es doc) Briefmarken Sammlungen geben, die 60— 100,000 
Mark werth find und einzelne Briefmarken, die bis zu 1000 Mark 
bezahlt werden. Ein nod) merkwiürdigeres Feld ijt dasjenige der 
italtenischen Saiten-Inſtrumente und ſpeziell italienijcher Geigen, und 
die Summen, die jolche Injtrumente vepräfentiren, geben, für den 
Laien geradezu ins fabelhafte. Wenn man bedenkt, daß eine gut— 
gemachte Geige, die aus 58 Stüden bejteht, dem Material oder der Arbeit 
nach mit 60 Mark gut bezahlt tft, jo wird es dem Nichtfenner kaum 
glaublich erjcheinen, daß ir ute Eremplare von Amati, Bergonzi, 
Guarneri, Stradivari und wie De alle heizen 2—40,000 Mark bezahlt 
werden, ja man behauptet jogar, daß eine Geige von Stradivarı mit 
60,000 Franes bezahlt worden ijt. Wäre die Geige Paganinis, Die 
jih in der Schatfammer in Genua befindet (eine „Joſeph Guarneri“), 
verfäuflich, jo it nicht abzujehen, welchen Preis je erzielen würde. 
In Deutjchland, Frankreich, Rußland, England und Amerika würden 
jich viele Nefleftanten finden und der Preis, den fie erzielen würde, 
würde ein geradezu fabelhafter jein. 

E3 wird allgemein angenommen, daß die erjten Geigen von Ker— 
lino und Duiffopruggar gebaut worden jind und zwar Anfang oder 
Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts. Wahrjcheinlich waren beide Ti— 
roler und hießen urjprünglich Kerl, Sterle oder Gerle und Tieffen- 
bruder; bet ihrer Ueberjiedelung nach Italien änderten fie ihre Namen. 
Beide waren urjprünglich Lautenbauer und Duiffopruggar jpeziell 
muß jich eines großen Rufes erfreut haben, denn Franz 1. berief ihn 

Der Ealon 1887. Heft XII. Band II. 43 






634 Berühmte Grigenbauer und ihre Kunft. 


1515 zugleich mit Leonardo da Vinci ald Hof-Inftrumentenmacher 
— dar, von wo er aber bald fort und nach Lyon ging, wo er 
auch Itarb. 


Da wir es hier nur mit jolchen Inſtrumenten zu thun haben, 
die einen Werth als jolche und nicht nur als Kuriofitäten haben, jo wollen 
wir gleich mit demjenigen Geigenbauer beginnen, dejjen Inftrumente heute 
noch geipielt werden und das ilt Gajpar da Salo, aus Salo am 
Garda-See gebürtig; er lebte in Brescia in den Jahren 1550—1612. 

2 Es giebt wenig gute Eremplare von diejem 
Meier. und ſie halten feinen Vergleich aus 
mit den Meiiterwerfen von Amatı, Joſeph 
Guarneri (del Jeſü) 
und Gtradivart. 
Dieje haben jie aber 
doch nur in derForm 
und den Verhält— 
niſſen verbeſſert. In 
der — ha⸗ 
ben Kerlino, Duif— 
fopruggar und Ga— 
ſpar da Salo die 
Geige, wie ſie heute 
nach ca. 250 Jahren 
vorliegt, feitgeitellt. 
Eines der Ihönften 
Gremplare dieſes 
Meiſters hatte der 
norwegiſche Geigen⸗ 
Virtuos Ole Bull. 
Manbehauptet, daß 
die Schnecke, die al— 
lerdings ſehr ſchön 
ft von — — * F — 
ini eſ nitten Schne e er a ar 
Dielen Per: Salo Geige, |. 3, im Beſitz 
: A von Ole Bull. 
zieren der Schneden 
Löwen > 77 aan) — das Ein— 
4 legen auf dem Rüden wurde nach und nach 
ki in —— immer ſeltener und die ſchönſten Geigen 
der großen Meiſter tragen keine derartigen 





Verzierungen. 

Nach Gaſpar da Salo war in derſelben Richtung Giovani Paolo 
Maggini in Brescia der bedeutendſte Meiſter. Seine Inſtrumente 
haben ſchon eine gefälligere Form und zeichnen ſich meiſt durch großen, 
wenn auch etwas näſelnden, demjenigen einer Bratſche ähnlichen Ton 
aus, Er lebte von 1590 bis 1640 und ſeine Inſtrumente find jelten. 
Man wurde hauptjächlich dadurch auf ihn aufmerfjam, daß der bel- 
güche Geigen-Birtuos de Beriot lange Jahre eine Geige von Maggini 
zu jeinen öffentlichen Vorträgen benugte. Mit Andreas Amati, welcher 
von 1520 bis 1580 lebte, begann die eigentliche italienische, d. h. 





Berühmte Geigenbauer und ihre Kunft. 635 


die Cremoneſer Geigenbaujchule Seine erjten Inftrumente haben 
zwar noch viel Nehnlichfeit mit denen der Brescianer Schule und find 
meiſt Elein, haben aber einen jehr Lieblichen Ton. Andreas Amati 
hatte einen Bruder, der von feiner hervorragenden Bedeutung war 
und zwei Söhne, Antonius und Hyronimus, welche von 1570—1635, 
meijt zufammen, arbeiteten und mit denen der Geigenbau einen ge— 
waltigen Fortichritt machte, um in Nikolaus Amati, dem Sohne des 
Hyronimus (geb. am 3. September 15%, gejt. am 12. Auguſt 1684) 
in dieſer Richtung zur höchſten Blüte zu gelangen. Die jogenannten 
„großen Amatis“ zeichnen ſich durch J——— Schönheit in 
der Form, jchönes Holz, wunderbaren Lad und 
roße Sorg— 
* der Arbeit 
aus. Bis vor 
etwa 50 Jah: 
ren galten Die 
Injtrumente 
des Nikolaus 
Amati für das 
Vollendetite 
der italieni— 
chen Geigen- 
baukunſt. Die 
großen Anfor: 
derungen, Die 
jeit dem durch 
die moderne 
Öeigentechnif, 
jowteim Bezug 
auf Ton an 
Konzert-⸗In— 
ſtrumente ge— 
ſtellt wurden, 
| ließen aber die 
/ Amatis mehr FF 
und mehr zu — 
= rüdtreten und 
Geige mit eingelegtem Boden heute werden 
aus der Brescianer Schule. jie, mit einzel: 
nen Ausnahmen nur noch von Dilettanten geſucht. Wieniawski 
indeß, der größte Techniker jeit Baganini, jpielte eine Amati. Der 
nächite große Geigenbauer war Antonio Stradivari, geboren 1644, 
eit. 1737. Man nimmt allgemein an, daß er ein Schuler des Nifo- 
aus Amati war, wiewohl dafür feine wirklichen Beweiſe vorliegen; 
die Zeit, in der er lebte, jowie die Verwandtſchaft jeiner erſteren 
Snitrumente mit denen Amati's lajjen dies aber als höchſt wahr: 
ſcheinlich erſcheinen. Stradivari, der für den mit der Geſchichte des 
Geigenbaues nicht Vertrauten überhaupt der einzige Reprölentont der 
ganzen italienischen Geigenbaufunft ijt, war jedenfalls eine merkwürdige 
und jeltene Erjcheinung. Zunächſt brachte er feine Kunſt zur höchiten 
43* 





rn - 


Geige von Nikolaus Amati. 


Berühmte Geigenbaner und ihre Kunſt. 


636 





Genealogiſche Tafel der Yamtilie der Hlrasivari. 

































































Strakiari, Aleſſande — Moran, Anna Der Broſchüre von Paolo Yonbardini entnommen, e 
eh en — 
Zirabivari, Giufeppe I, Strabdivart, Antonie, — verheiratet, 4. Juli 1607, — ZFerraboſchi, Arangesca (1) 
geb, 20, Mär, 1029, web. 1084, act. 18. Dei. 21 aeb. 7. Oft. 1640, aeft. 25. Mai 1608, 
1 3 3] A 4 5 6 
MR — . 
Giie, Francesco, Arancesco Katterina, Aieflanbre, Dmsbone, 
geb. 23. Dez, 1007; ab. u, Febr. 1670; geb. 1. I. 1971; geb. 18. Febr. 1074; geb. 2%. Vai 1677; geb. Mm. Nov. 1079; 
et — neft, 12. Febr. 1070, get. 11. Mai 1743, aeft. 3, Auguft 1748, geſt. 28, Jam. 1782, geft. 9. Juni 1742, 
geft. 7. Aug. 1707. 
Strativari, Antonio, — verheiratet (zweites Dal) — AZambelli, Antonia, 
acht. 18. Der. 1787. 24. Aug. 1009, geb. 11. Iurti 1804; geft. 3. Dläry 1797, 
7 ü “u | 10 11 
| ame F | 
Aranceka, oe», ae #8, Dlartine, (#iufeppe, Dacio, — Templari, Elena, 
ge. 18, Sept. 1700; geb. 6. New. 1701; geb. 11. Mon. 1703; geb. 27. Okt. 1704; geb. 26. Jan. 1708; geb, 1705; 
aeft. 11, Achr. 1720, geſt. 7. Iumi 1708, geft. 1. Nov. 1797. {(Priefter) Tuchhandler) geſt. 1776, 
geſt. 29, Non. 1781. geſt. 19. Oft. 1778, 
ae —— | 
| | | el 
Dalla Noce, — Auton.o Ll., Arancesca, Carlo, Francesco, Paolo, 
Dlaryarita, peb. 1738; geb. 1730, geb. 4. Dez. 1741; geb. 1744; geb. 1746; 
geb. 1740; get. 1780, geft. 1800 geft. 1808, geft. 1744, geft. 1702. 
neft. 1787, (Henne). . 
| | 
Gbinieppe, Luigia, Rranceka, Lornieri, Giuſeppa, — verbeiratet — Wlacom, — verbeiratet — Benazjl Antenia, 
geb, 1763, geb. 1705. geb. 1787. geſt. 25. Jar. IMs, 17W7, geb. 1709; zweites Mat Rojalinta, geb. 1771; 
aeft. 1828. Ist, web, Kam, net. 151, 
r — —— — = | — 
| 
Eefare, — verheiratet — Maini Yarinla, Pietro, Giufeppe, — verheiratet — Csxiſtini, Whacome HU, — verheiratet — Wofil, Kanny, 
geb. 1708, 1838, geb. 1808; geb, IRo0; geb, 1802. IR36, Maria, geb, 1m22; 1881, geb, 1835, 
Arzt, geit, IM, geft. IH0R, ach. 1807. zu Mailand). 1 
se ee Ban | a un se — 
| | 
Yıbero — verbeiratet — Pobeſta, Jauuu. Euſe mia. Enrico, Elena, Zulvia, Pierina. Baufto, 
geb. 20. Jan.1#40, 1807, Mievanna, 
Mechtagelehrter. ne aeb. 1842, 
I 
| ( 
Cictia, Aunita, Jtals, 


geb. 1868, geb. 1871, geb, 1878, 


Berühmte Geigenbauer und ihre FKunft. 637 


Bollendung, derm mit ihm und jeinem großen Nebenbuhler Joſeph Guar— 
neri (del Jejü) war diefe Kunſt auf der höchjten Stufe angelangt. Seine 
Söhne erreichten ihn nicht, jeine Schüler kaum, wiewohl Bergonzi, fein 
tüchtigjter Schüler, ausgezeichnete Initrumente gebaut hat. Von da an 
aber verfiel die Kunſt, ın Italien wenigitens, mehr und mehr, ſodaß 
heute die italienischen Geigenbauer weit Hinter denen anderer Länder 
zurüdjtehen; alle Injtrumentenmacher jeit Stradivari und Guarnert 
haben nicht mehr erreichen fünnen, als daß fie die Nejultate jener 
möglichit nachzuahmen ” 
juchten. Stradivart 
wurde 94 Fahre alt und 
joll ca. 1000 eigen, ne- 
ben Bratjchen und Eelli, 
gebaut haben. Nach der 
Zahl jogenannter echter 
Stradivaris zu urtheis 
(en, müßte er allerdings 
eine große Fabrik gehabt 
und die Inſtrumente in 
Majjen, etwa wie die 
Fabriken in Markneu— 
firchen, verſchickt Haben, 
aber wenn die unechten 
ausgejchieden find, To 
fällt die zahl jehr zu— 
jammen. Immerhin tt 
jie größer als von irgend 
einem andern Meiſter 
und es iſt daher um jo 
bezeichnender, daß dieje 
Inſtrumente nicht nur 
ihren hohen Preis be- 
halten, jondern daß der- | Ps 9 ISIN 
jelbe von Jahr zu Jahr Im BT | 
noch steigt. el )" JM 
Stradivari warein om! — 
großer, hagerer Mann, 
trug eine weiße Mütze, — 
eine weiße lederne Stradivari's Haus auf der Piazza Roma, Cremona. 
Schürze und war une 
unterbrochen bei der Arbeit. Sein Fleiß und jeine Tüchtigfeit brachten 
ihm auch den verdienten Lohn, denn „jo reich wie Stradivari“ war in 
Cremona jprichwörtlich. Das von ihm bewohnte Haus steht heute noch 
in der Piazza Roma unweit der von Amati, Guarneri und Ruggeri be: 
wohnten Käufer, wie der beifolgende Plan zeigt. Er muß bet Lebzeiten 
ſchon einen großen Ruf gehabt haben, denn es ijt nachgewiejen, daß er 
von vielen auswärtigen Höfen Beitellungen erhielt und ausführte. Die 
ſchönſten exijtirenden Eremplare find: 1) die jogenannte „Betts“Stradi— 
vari. Sie hat ihren Namen er daß ſie anfangs dieſes Jahrhunderts für 
20 Shilling, von einem englischen Injtrumentenmacher namens Betts, 





638 Berühmte Geigenbauer und ihre Kunft. 


erfauft wurde und viele Jahre in feiner Familie blieb; 2) die jogen. 
„Dolphin“ Stradivari, im on von R. Permett in London; 3) eine 
Geige im Beige von Herrn Havemeyer in New-York, jowie 1 ließlich 
die Inſtrumente, welche Sarazate befitt, wie man jagt, ein Gejchenf 
der abgejegten Königin von Spanien. Wären dieje Inſtrumente ver- 
——— jo würden fie Preiſe erzielen, die bis 40,000 Mark gehen 
Önnten. 

Der einzige Geigenbauer, der imjtande wäre Stradivarti die Palme 


— — 








1. Kirche San Domeniko. 2. Stradivaris Grabmal, 3. S. Mattäi 

(ſeit 1820 Poſt). 4. Klofter der Domenikaner Mönche. 5. Stra— 

divaris Haus. 6. Bergonzis Haus. 7. Guarneris Haus. 8. Ruy- 

geris Laden (via dei Coltellai). 9—10. Amatis Faden. 11. Sto- 
vionis (jpäter Cerutis) Laden. 


al3 dem größten Meiſter jeiner Kunst ftreitig zu machen, iſt Iofeph 
Guarneri del Jejü. Die Bezeichnung „del Jefü* führte er wegen des 


Beichens — das er ſeinen Zetteln beifügte, warum, iſt nicht bekannt, 


wie überhaupt bezüglich Guarneris Leben wenig bekannt it Man 
nimmt allgemein an, daß er einem geheimen veligiöjen Bunde ange- 
hörte. Soviel jcheint aber fejt zu stehen, daß er ein jehr unregel- 
mäßiges Leben führte und feine Arbeit eine jchr verſchiedene, zum 


Berühmte Geigenbauer und ihre Kunfl. 639 


Theil jogar geradezu Liederliche war. Der Tradition nad) joll er 
dieſe Initrumente im Gefängniß, wohin ihn jein Lebenswandel oder 
jeine Verbindung mit dem genannten veligiöjen Bunde gebracht hatten, 
emacht haben und die Tochter des Gefängnißwärters joll ihm Holz, 
Werkzeug ıc. dazu verichafft haben: allein, abgejehen davon, daß zum 
Bau einer Geige ziemlich viel Werkzeuge und Zuthaten gehören und 
daß eine jolche Arbeit wohl faum hätte geheim bleiben fünnen, zeigen 
auc) diejenigen Inſtrumente, die nicht in diefe Periode fallen, joviel Ver: 
Ichiedenheit in der Arbeit, daß man dieje Sage nicht braucht, um die theil— 
weile Unvollfommenheit derjelben zu 
erklären. Es ijt auc) allgemein ange: 
nommen worden, dab Guarneri ein 
Schüler Stradivaris gewejen jet, allein 
hierfür fehlt jeder Anhalt, und die Form 
jeiner Inſtrumente jpricht abjolut gegen 
eine jolhe Annahme. Hart in jeinem 
Buche: The Violin, its famous makers 
and their imitators, weiſt ziemlich über: 
zeugend nach, dal er weit wahrjchein- 
licher ein Schüler jeines Vetters Jo— 
jeph, Sohn des Andreas Guarnert war. 
Die Guarneri waren ebenfalls, wie die 
Amati, eine große Geigenbauer:zamilie, 
die in Cremona in unmittelbarer Nähe 
Stradivaris wohnten (}. Plan). Diejer 
Guarneri num, der 62 Jahre alt wurde, 
hat Geigen binterlafjen, die nach An— 
jicht der größten Kenner alles andere, 
auch Stradivart, überragen und zwar 
hauptjächlich wegen ihres großen, über— 
aus brillanten Tones, eine Eigenschaft, 
die heute bei den ſich fortwährend ſtei— 
gernden Dimenjionen der Konzertſäle 
in erjter Linie für Soltjten maßgebend 
ae und ‘ ut ir —— — — 
daß in nicht zu langer Zeit die Preiſe «,; — — 
der Guarneri Geigen ſchon aus dieſem a Na "Bet Be ee Dach, 
Grunde diejenigen der Stradivaris über= jetst im Befit von Brof. Flor. Zayie 
flügeln werden. Aber auch abgejehen in Straßburg. 16,240 Mart. 
hiervon jind die beiten Exemplare diejes 
Meifters in der That wunderbar jchön. Die jchöne Form, der wunder: 
bare Lad und die in einzelnen Fällen merfwürdig graziöſe und dod) fühne 
Form der Schnede, geitalten dieſe Injtrumente zu den Meiſterwerken des 
italienischen Geigenbaues. Man kennt von ihm nur 4 Injtrumente aller 
erjten Ranges, 1) die jogenannte — Joſeph Guarneri, im Beſitze 
von R. D. Hawley in Hartford, Amerika, die vom Bejiger auf 40,000 
Mark geichägt wird, 2) die Geige Paganinis, welche in der Schaß- 
fammer in Genua aufbewahrt wird und welche jeit Baganinis Tode nur 
ein Mal von Sivori gejpielt worden iſt und 3) die Geige des ver- 
ftorbenen Ferdinand David, welche jet im Beſitze des Herrn Prof. 





640 Berühmte Geigenbauer und ihre FKunft. 


Florian Zayig in Straßburg iſt und welche vor 3 be tür 16,240 
Mart verfauft wurde und 4) die Geige des Herrn Alard in Paris. 
Neben den erwähnten Geigenbauern hat es natürlich) noch eine 
große Anzahl jehr tüchtiger Meifter gegeben und wir wollen davon 
nur einige nennen: Joſeph Anton, Andreas und Peter Guarneri, 
Bergonzt, Guadagnini, Ruggieri von der Cremoneſer Schule; Grancino, 
Gagliano, Teftore und Llandulfus von der Neapolitaniſchen Schule; 
St. Serapbin und Montagnana von der Venezianiſchen Schule; Jaco 
Stainer von der Tiroler Schule (gehört aber 
eigentlich zu den Eremonejern) Lupot von der 
Sranzöftichen Schule (der jogen. franzöfijche 
Ztradivari), jowie noch eine jtattliche Anzahl 
Fleinerer Lichter in Italien, Frankreich, Deutſch— 
land und England. Allein alle lehnen ſich 
an die großen Meifter an und bieten nichts 
jelbjtjtändig Interefjantes. Mit dem Tode Jo— 
ſeph Guarneris war der lebte große Meiſter 
verjchwunden und unglaublich jchnell war aud) 
die Kunſt des Geigenbaues in Italien verjchollen. 
Sie war jo fomplett verjchollen, da man 
erst Anfang diejes Jahrhunderts wieder darauf 
— aufmerkſam wurde, infolge deſſen ſich dann ſehr 
Schnecke einer Geige von bald eine förmliche Jagd nad) alten italieniſchen 
Jacob Stainer. Geigen einjtellte. Ein gewiljer Luigi Tariſio 
/ hat im dieſer Beziehung merhvürdiges geleiitet 
und wohl Taujende von Inftrumenten aufgefunden und verkauft. Ur: 
fprünglich Tifchlergejelle und vollitändig ungebildet, lernte er nothdürftig 
Geige Spielen und fiedelte Sonntags auf dem Lande zum Tanz. Bald 
ſah ev andere Geigen, bemerkte die Berichiebenbeiten an Form, Ton und 
Bauart, und das Spielen trat bei ihm immer mehr in den Hintergrund. 
Er juchte überall Geigen zu jehen um die verjchiedenen Meijter und 
ihre Eigenthümlichkeiten fennen zu lernen. Bald genügte ihm jene 
Heimat (Genua) hierzu nicht mehr. Er beichloß zu reiſen, um verbor— 
ene cremonejer Geigen zu entdeden. Mit einigen alten eigen von 
Behr geringem Werthe trat er feine erjte Neife, zu Fuß an. Er bejudhte 
namentlich die Klöjter und fand hier reichlich Gelegenheit jeine Kenntniffe 
zu vergrößern. In vielen Füllen fand er werthvolle Injtrumente in 
gänzlich verwahrloitem Zuſtande, die er für ein Billiges veparirte:; 
wo es ging tauſchte er ein ſolches Inſtrument, das dem Beliger 
gänzlich unnütz erſchien, gegen eine hübjche neue Geige in jpielbarem 
Zujtande ein. Nach einiger Zeit kehrte er in jeine Heimat zurück, 
beichäftigte ſich einige Zeit mit dem Studium und dem Bergleichen 
jeiner Schätze, reparirte, legte das Beſte beifeite umd ging wieder 
auf die Suche und den Taujchhandel aus. Nachdem er durd) wieder- 
holte Reifen auf diefe Weiſe eine Anzahl guter Inftrumente gefammelt 
hatte, begab er ich, abermals zu Fuß, nad) Paris, da er dort einen 
bejjeren Markt für jeine Schäße vermuthete. Er begab fich, müde, zer— 
feßt und zerlumpt wie er war, zu Aldric, dem damals bekannten 
Snftrumentenmacher und bot ihm * Cremoneſer-Geigen, die er in 
einem Sade mit fich führte, an. Aldric konnte in dem wunderlichen 





Berũhmte Geigenbauer und ihre Kunft. 641 


Gejellen, der in jo fragmwürdiger Gejtalt auftrat, feinen Beſitzer echter 
cremonejer Inſtrumente vermuthen und wollte ihm verächtlich den 
Rüden fehren, bejann ſich aber bejjer und entjchloß fich, den Inhalt 
des Sades näher zu unterjuchen. Tarijio nahm eine Geige heraus 
und zu Aldrics größtem Erjtaunen zeigte es jich, daß fie ein jehr ſchön 
erhaltenes Eremplar von Nicolaus Amati von zweifellojer Echtheit 
war. Andere Injtrumente von Maggini, Ruggieri, und andere folgten, 
im ganzen jechs Stüd. Nach vielem Berlangen und Bieten fam der 
Handel zuſtande und Tarifio, der aber mit dem Gejchäfte nicht ſon— 
derlich zufrieden war, wanderte wieder nach Italien zurüd, um mehr 
Geigen zu holen. Bei jeinem zweiten Bejuche in Paris brachte er 
einige jeiner ſchönſten Inſtrumente mit, machte die Belanntjchaft von 
Villaume, Chanot u. a., die ihn ermunterten neue Reiſen zu unters 
nehmen und Injtrumente nach Paris zu dringen. Auf dieſe Weife 
brachte diejer jonderbare Menſch nach und nach die meijten der heute 
in England, Frankreich, Deutichland und Amerika befindlichen werth: 
vollen Inſtrumente aus Italien heraus. Seine Kenntniſſe und jein 
Gedächtnig in Bezug auf einzelne Inſtrumente jollen ganz merhvürdig 
eweſen fein und nach vielen vielen Jahren genügte es, ihm ein In— 
trument oberflächlich zu zeigen um cs —* wieder zu erkennen, mit 
allen darauf bezüglichen Umſtänden. Charles Reade, der englijche 
Schriftiteller, der ein ausgezeichneter Geigenfenner war und Tariſio 
genau Fannte, erzählt folgende Gejchichte von ihm: Eines Tages ent: 
chloß jich George Chanot, ein bekannter Pariſer Geigenbauer, eine 
Reife nad) Spanien zu unternehmen, um womöglich echte eigen zu 
finden. Er fand ſehr wenig; aber eines Tages fam er zu einem 
Heigenmacher namens Ortega umd zu jener nicht geringen Verwun— 
derung hing da die Dede eines echten Stradivari-Eello. Der Bieder: 
mann Ortega batte das Inſtrument von einer Dame zur Neparatur 
befommen und da die Dede jo viele Riſſe hatte, hatte er furzen Prozeß 
gemacht und der Dame eine jchöne neue Dede gefertigt. Chanot kaufte 
die Dede für eine Kleinigkeit und hing fie in jeiner Werkitatt in Paris 
auf. Als Tarijio ihn darauf bejuchte, bemerkte er ſie jofort und be— 
arbeitete Chanot jo lange, bis er ihm die Dede für 1000 Francs ver- 


. kaufte und ihm zugleich mittheilte, wo wahrjcheinfich der Reſt des 


Injtrumentes zu finden jein würde. Kaum hatte das Tarifio erfahren, 
als er auch Schon auf der Reiſe nach Madrid war. Won Ortega er: 
fuhr er die Adreſſe der Dame, begab ſich jorort zu ihr und fing an 
zu unterhandeln. Die gute ‚Frau zierte jich, machte Miene das In— 
jtrument nicht gern hergeben zu wollen, es jet jo lange in der Familie 
gewejen u. }. w. und glaubte wahrjcheinlich, den Fremden gehörig 
übers Ohr gehauen zu haben, als er ihr 4000 Franes dafür zahlte, 
Aber Tarifio wuhte das befjer. Mit jenem Bat unterm Arm begab 
er ji) aufs Cchiff und in der Bay von Biscaya wurde dafjelbe von 
einem Sturme arg mitgenommen, jo daß dafjelbe während eines Tages 
in wirklicher Serahr ſchwebte. Tariſio umjchlang jeinen Baß und 
zitterte, und die Worte, mit denen ev Charles Neade gegenüber jeine 
Angst bejchrieb, ſind bezeichnend für den Mann und dafiir, wie er in 
diefer Paſſion vollitändig aufging. „Ach, mein lieber Herr Reade“ 
jagte er, „es fehlte nicht viel, da wäre der ſpaniſche Baß auf 


642 Berühmte Geigenbauer und ihre Kunft. 


immer verloren geweſen.“ Daß auch er, Tarifio, dabei jein Leben 
rigfirte, Schien ihn ganz unbefümmert zu lajjen. Nad) Paris zurüd- 
gefehrt, wurde die Schöne neue Dede des Elugen Ortega von Billaume 
abgenommen, die echte darauf gebracht und das Inſtrument dann für 
20,000 Franes verfauft. In der in London im Jahre 1872 jtatt- 
gefundenen Ausstellung war es ausgeitellt. 

Tarifio war durch feinen fortgejegten Handel wohlhabend ge- 
worden, lebte aber äußerſt kümmerlich in einer Dachwohnung in Mai- 
land. Eines Tages ſah man ihn nicht ausgehen, wıe- gewöhnlich, und 
nad) einigem vergeblichem Klopfen wurde die Thür erbrochen. In— 
mitten einer Unmaſſe von Instrumenten aller Zeiten und Meiſter, Deden, 
Bargen, Schneden ꝛc. lag die Leiche Tariſios auf einem erbärmlichen 

opha. Man fand ein ziemlich bedeutendes Baar-Vermögen und 
nachdem die Verwandten Tarijios ermittelt worden waren, wurde der 
ganze Borrath von Injtrumenten und Injtrumententheilen an Villaume 
verfauft. Aus diefem Nachlaß Tarifios jtammt wahrjcheinlich die 
—— Guarneri, die jetzt im Beſitz des Profeſſors Zayiç in Straß— 
urg iſt. | 

Ein gewifjer Turina, durch den Erfolg Tarijios ermutbigt, legte 
fi) auc) auf das Suchen alter italienischer Inftrumente. Auch gelang 
e3 ihm einige wertbvolle zu finden, allein er ermangelte des jcharfen 
Urtheils, das Tarifio auszeichnete, auch war er dieſem, der früher an— 
fing, ein größeres unbearbeitetes Feld und die Injtrumente meiſt im 
ihrem urjprünglichen Zujtande vorfand, leichter geworden. 

Wiewohl das Sammeln in Bezug auf italienische Initrumente 
eigentlich erjt Anfang diejes Jahrhunderts, zwijchen 1830 und 1840 
anging, jo hat es do pn im 18. Jahrhundert einen Mann gegeben, 
der den Plan fahte, Mujter von allen bedeutenden Inſtrumenten— 
machern zujammen zu bringen. Graf Eozio di Salabue war nicht nur 
ein großer Sammler, jondern auch ein ausgezeichneter Kenner und 
faufte u. a. von den 91 Geigen, die Stradivari bei jeinem Tode hinter- 
ließ, aedn Stüd. 

er größte Sammler den es je gegeben, war ein Engländer, der 
befannte Stahlfeder:zabrifant Joſeph Gillott in Birmingham, der zu 
einer get über 500 Injtrumente beſaß. Er war urjprünglic) weder 
mufifalifch noch verjtand er etwas vom Geigenbau und dieſe Lieb— 
haberet entjprang einer eigenthümlichen Beranlajjung. G. hatte auch 
eine bedeutende Gemäldefammlung und verhandelte eines Tages mit 
einem Herrn Atheritone bezüglic) eines Bildes, das G. verfaufen wollte. 
Bezüglic) des Preijes waren fie nicht ganz einig und U. wollte, um den 
Handel zuftande zu bringen, eine italtenijche Geige mit angeben. „Das 
hätte feinen Zweck“ jagte G, „denn ich verjtehe weder von Muſik 
noch von Geigen etwas.” „Das weiß ich“ enviderte A. „aber Geigen 
find mitunter, auch als Kunjtwerfe, von erjtaunlichem Werthe“ G. 
lieg ſich noch etwas weiter über italienische Geigen erzählen und nahm 
ihlieglich das Injtrument mit an und der Handel war abgejchlojjen. 
Einige Monate jpäter hatte ihn der Gegenjtand jchon jo interejjirt, 
daß er eine anjehnliche Anzahl Instrumente der bejjeren Meiſter bei- 
—5 — hatte und in 4 Jahren hatte er die Sammlung auf über 
ünfhundert gebracht. Er verkaufte aber nach und nach viele und 


Berühmte Geigenbauer und ihre Kunſt. 643 


bei jeinem Tode waren nur noch etwas über 200 vorhanden, die im 
Jahre 1872 verauftionirt wurden. 

Zwei andere Sammlungen, die der Herren Goding und Plowden, 
waren zwar fleiner, allein im Verhältniß ungleich werthvoller. Herr 
James Goding, ein Brauer, beſaß 12 Stradivaris und 11 Guarneris, 
e Plowden 4 Stradivaris und 4 Guarneris, Eine der jchönjten 
Sammlungen befindet ſich jegt in Antwerpen und in den Händen von 
R. D. Hawley in Hartford, Amerika. Cs mag noch von Interefje jein 
zu erwähnen, wo die Inftrumente verjtorbener Geiger von großem Rufe 
bingefommen jind und joweit ich es habe erfahren fünnen, will ich es 
bier angeben. Paganinis Joſeph Guarneri befindet ſich, wie bes 
kannt, in Genua, Ernſts — hat Frau Norman Neruda, Moliques 
Geige beſitzt Freiherr von Dreifuß in München, Lipinskis Geige iſt 
in London im Beſitz des Herrn Schleſinger, Lafonts Guarneri hat 
Brodski (früher in der Godingſchen Sammlung), Kreutzers Geige be— 
ſitzt Maſſart in Paris. — iſt es mir leider nicht gelungen zu 
erfahren, wo die Gaſpar da Salo v. Ole Bull, die Lupot v. Spohr, 
die Maggini v. Beriot und die Hyronimus Amati v. Wieniawski jetzt 
ſind. Won jet lebenden Virtuoſen spielen Joachim, Lauterbach), 
Sarajate, Hedmann, Heermann, Röntgen, de Ahna Geigen von Stra= 
divari; Brodsfi, Zayıg und Alard Guarneris; Singer eine Maggini 
(ein ganz bejonders werthvolles Injtrument, das im Ge enjaß zu den 
meijten 9 agginis einen merkwürdig hellen Ton hat), —— Tua 
eine Amati. 

Es ließe ſich noch vieles über Originale erzählen, welche durch 
die Geigenbaukunſt hervorgebracht worden ſind und es iſt jedenfalls 
eine höchſt merkwürdige Erſcheinung, daß eine Kunſt, die innerhalb 
250 Jahren entſtanden, zur höchſten Blüte gelangt und verfallen iſt, 
ſo enorme Summen in Bewegung geſetzt hat. Ob die Kunſt wirklich 
verfallen iſt, darüber iſt man nicht ganz einig. Was die Form an— 
langt, jo baut man heute eben jo ſchoͤne Inſtrumente wie die ſchönſten 
Eremplare die Stradivari, Amati und Guarneri hinterlaſſen haben, 
und Billaume, Jacobs in Amsterdam u. a. haben Kopien der großen 
Meijter gemacht, die nur jehr jchwer von den Originalen zu unter 
— ſind. Die beiden Punkte, worin ſich die heute gebauten In— 
trumente, welche nicht Kopien ſind, aber vorläufig ſtets zu ihrem Nach— 
theile von den alten unterſcheiden, ſind: der Lad und der Ton. 
Da aber die Zeit rejp. das langjame Trodnen des Holzes, jowie der 
Einfluß, den die Vibration auf dafjelbe hat, jicherlich einen großen 
Einfluß auf den Ton haben müjjen, jo iſt es nicht unbillig anzunehmen, 
dag auch ein Theil der heute gebauten Inftrumente in ein paar 
Hundert Jahren die Vorzüge an Ton und Lad aufzuweifen haben 
werden, die wir heute an den Injtrumenten der großen Meiſter bes 
wundern und die man für unerreichbar gehalten hat. Es hat aller 
dings zu feiner Zeit an Leuten gefehlt, die mit Sicherheit behaupteten, 
das Geheimniß der alten italientjchen Meifter gefunden zu haben und. 
in neuejter Zeit nod wurde die Welt mit der Neuigfeit überrajcht, 
daß Herr Konzertmeiiter Schradiek in Amerika einen Baum gefunden 
hätte, der dem von den alten Meijtern verwendeten entjpräche und aus 
dejien Holz Injtrumente gebaut worden jein jollen, die den alten 


644 Berühmte Geigenbauer und ihre Kunfe. 


leich kommen oder wenigjtens näher als alle andern. Abgejeben 
avon, dat man ziemlich genau weiß, woher die Italiener ihr Hol; 
nahmen, gehört ein jtarfer Glaube dazu, um jich einzubilden, dat 
irgend eine neue Geige aus irgend einem Holze gemacht, jemals Die- 
jenigen Eigenschaften haben fann, die eine alte, welche ihre 150 bis 
250 Jahre hinter jich hat, aufweist. Oder jollten dieje Jahre an einer 
Geige Spurlos vorübergehen? Wohl faum zu glauben. Sollte es 
aber wirklich gelingen, aus dem genannten Dolge (die jogen. Balſam— 
fichte) Geigen zu bauen, die den alten im Tone gleichfommen, jo tit 
damit durchaus nicht erwie— 
$ V 2 ſen, daß ſie ſo bleiben wer— 
7 den. Kein Holz iſt bei jeiner 
r | Bearbeitung jo troden, das 
es ın 150 Jahren nicht 
trocfener wiirde, fein Yad 
trodnet in 6 Monaten wie 
in 150 Jahren und es iſt 
wohl mit Beſtimmtheit an- 
zunehmen, day feine Geige 
vejp. fein Ton von Diejem 
allmählichen Trodenprozen, 
jowie von den Wirkungen 
der Vibration und des Tem: 
peraturwechjels, dem fie im 
den vielen Jahren ausgejett 
worden tit, unbeeinflußt blet- 
ben fann. 

Wie jchon erwähnt, bat 
Billaumein Paris, der größte 
moderne Geigenbauer und 
Kenner, Heigen, Kopien alter 
| Meifter, gebaut, Die nicht 

von den Originalen zu un— 

| tericheiden waren und Die 

/ / r | ſehr jchön langen. Nach 20 
M r } Jahren hatten jie den Ton 

L: | verloren, man jagt, weil er 

Reparatur einer Geige. präparirtes, d. h. gebackenes 

Holz verwendete. Die Wir 

kungen der Natur, d. h. der Zeit, laſſen ſich eben nicht erſetzen und man 
fann nicht erwarten in einem Jahre das zu erreichen, avozu die Natur 
150-250 Jahre braucht. Billaume joll ca. 150,000 Franes an echten 
italienischen Geigen geopfert haben, die er mit dem Gelehrten Savart 
zujammen unterhuchte um das Geheimniß des alten Yadg heraus zu 
befommen, und day ihm das nicht gelungen iſt, liegt wahrſcheinlich 
einfac) daran, dal er eben die 150 bis 250 Jahre nicht erjegen kann. 
Für den Yaten mag c3 noch interejjant jein zu erwähnen, wonach jich 
der Werth eines italieniſchen Inſtrumentes richtet. Es find 4 Cigen- 
jchaften, die ihn bejtimmen: 1) die unbejtrittene Echtheit, 2) die Qualttät 
des Inſtrumentes, denn alle Meijter haben zu verjchiedenen Zeiten 






KSerühmte Geigenbauer und ihre Kunft. 645. 


verichieden gebaut, 3) der Zuitand des Injtrumentes, ob es viel 
Sprünge und Riſſe hat, die reparirt worden find, ob der Driginal- 
Lad nod) intakt vorhanden iſt zc. und 4) der Ton. Es giebt In— 
jtrumente, die jehr jchöne Eremplare des betreffenden Meiſters, die 
aber viel reparirt worden find, und wenig Ton haben oder jie haben 
jehr Ichönen Ton, jind auch gute Erarplare, haben aber viele Riſſe 
und der Lad ijt mangelhaft ꝛc. Kommen alle 4 Eigenjchaften in 
höchiter Güte zufammen, wie das bei der Guarneri des Herrn R. D. 
Harley die „King Joſeph“ oder der „Betts’-Stradivarı der Fall ift, 
jo jteigt der Werth enorm. Es giebt natürlich auch eine Majje In: 
jtrumente, die wegen des. Tones nur für den Geiger von Beruf einen 
Werth haben, die neu ladirt find, oder die Dede, dev Boden und die 
Schnede find echt, die Zargen neu ꝛc. (und was in Bezug auf Re— 
paratur geleijtet werden fann, dafür giebt die nebenjtehende Illuſtra— 
tion einen Beweis; dieje Dede beitand aus 28 vollitändig unzuſam— 
menhängenden Stüden und wurde von Yudwig Baufch jo zujammen 
efügt, dag man jchlieglich, mit Hilfe von etwas Lad natürlic, nur 
Behr wenig jah.) Dieje haben wie gejagt einen jehr geringen air 
allein bei der ich täglich fteigernden Nachfrage werden auch dieje 
noch im Werthe jteigen. Als Beweis dafür, wie gute echte Inſtru— 
mente im Werthe geiticgen ind, möge die Thatjache dienen, daß 
Ferdinand David jeine Guarneri im Jahre 1861 von Villaume, der 
jie auch nicht verjchleudert haben wird, für 6000 Frances, aljo 
4800 Mark kaufte, diefelbe, die vor 3 Jahren für 16,240 Mark ver: 
fauft wurde. | 

Nach Stradivari und Guarneri del Jeſu haben Miontagnana 
und Bergonzi die meiste Ausficht im Preife zu jteigen, wenigjtens be= 
hauptet das Hart, einer der beiten Geigenfenner Europas. 


A. Ehrlich. 





—— 
EEE ET TE) 


Ein Kind der Welt. 
Novellette von 5. I. Volfteg. 


[eb Dmitritich Bulgakin jtand unter den weiß und roth 

ejtreiften Vorhängen der Veranda und zog die Hand- 
5 * über die ſchmalen Dane Bor ıhm, in einem 
FF der zierlich geflochtenen Gartenſtühle lehnte mit der 
— N Haltung eines venvöhnten, jchinollenden Kindes ein 
s höchſtens achtzehnjähriges, weibliches Weſen, ein wah— 
("res Meifterwerk der Natur. Alles an ihr war tadellos 
und vollendet, der jchlanfe und doch üppige Körper, Die 
rein geichnittenen Züge, das natürliche blaujchwarze Gelof und 
die tiefdunfeln, ſammtweichen Augen, welche in diejem Momente unter 
den langen Wimpern hervor unzufriedene Seitenblide auf Bulgakins 
elegante Gejtalt warfen. 

„Alſo Du machſt Ernjt, Gleb, Du fährſt wirklich nad) Moskau?“ 
fragte jie_grollend, und die Heinen Hände zerrten ungeduldig an dem 
Spitenbejage des zartrofa Morgenkleides. Für jo unausſtehlich hätte 
id) Dich nie gehalten.“ 

„ber jo jet doc) De UI, fleine Eliane“, entgegnete er lachend 
in franzöfiicher Sprache, denn Eliane, sa bonne amie, wie er jie 
nannte, war eine Franzöſin, die jich der reiche, Abwechjelung Tiebende 
Erbe vor einigen Monaten aus ihrem Vaterlande mitgebradt. „Du 
fannjt mir im allgemeinen wohl nicht den Vorwurf machen, dat ich 
Dich um meiner Privatangelegenheiten willen vernachläſſige, aber dieſes 
Mal erheijchen wirklich wichtige Gejchäfte meine Aurpeieiiheit in der 
Stadt.“ 

„Bath — Gejchäfte”, wiederholte jie ungläubig, und rollte eine 
ihrer langen Locken um den Ru er. „Sch möchte wohl dieje Ge- 
chäfte kennen! Du fährjt nach Moskau, und ic) kann mich indejjen 
M Tode langweilen! Es ijt etwas entjegliches dieſe rujfische Sommer: 






riiche Puſchkino, wo jedem das Fleckchen Erde, wo er ſich frei be 
wegen und athmen darf, fnapp zugetheilt ift wie ein Stüdchen Brod 
zur der umgerönntt 

Fr lachte. 





Fin Kind der Welt. 647 


„D, wie ungnädig! Wie der Verger den Menfchen doch ungerecht 
macht! Ich würde Did) ja gern mit mir nehmen nad) Moskau, Kleine, 
aber eritens iſt die Stadt ın diejer Jahreszeit unerträglich, und dann 
müßte id) Dich ganz allein im Hötel lafjen, da ich Dir unmöglich zus 
muthen kann, mich auf meinen Gängen und Fahrten zu Berwaltern 
und Bankıers zu begleiten. Zu meinen Verwandten und meiner Taufe 
mutter fann id Di auch nicht Führen.“ 

Ste machte eine Geſte der Ungeduld. 

„Bann bat ich Dich je darum?“ bemerkte fie ärgerlic). 

Er beugte jich zu ihr nieder, nahm ihr Lodiges Köpfchen zwiſchen 
beide Hände und erichöpfte fich in Liebesivorten und Beinen en, 
um jie zu beruhigen und ihre üble Laune zu verjcheuchen. Ihr Ges 
jicht erhellte jich Schtbar und in ihren Augen begann der ihr für ge: 
wöhnlich eigene, fröhliche Lebensmuth aufzuleuchten, als fie fragte: 

„Und warn kehrſt Du zurüd, Gleb?“ 

„Uebermorgen um zwölf Uhr mittags, hoffe ich! Allerſpäteſtens 
in fünf Tagen, Kleine.“ 

„Fünf Tage!“ rief ſie erſchrocken. „Aber das iſt unabſehbar 


„Ah, nicht doch“, tröſtete er freundlich. „Du biſt mit intereſſan— 
ter Lektüre, Handarbeit und Naſchwerk verſehen. Damit kann man 
immerhin einige Zeit ausfüllen! Doch ich muß eilen, um den Zug 
nicht au verfehlen. Leb' wohl, mein Kind!“ 

Ein kurzer, ſtürmiſch-zärtlicher Abjchied, und Bulgakin ſtieg die 
Treppe hinab und ging leichten Schrittes über den breiten, mit weißem 
Sand beitreuten Ki zwijchen den Blumenbeeten hindurch auf das 
Gitterpförtchen Bu, welches ein Eleiner Diener im rothen Hemde eiligit vor 
ihm aufriß. Auf der Chaufjee hielt jein Wagen mit den jchönen 
Pferden, welche der ernjt dreinjchauende, jtattliche Kutſcher nur müh— 
jam u Stillftehen zwang. 

liane jtand u der Treppe und blidte dem raſch dahinrollen- 
den Gefährte nad. Dann wandte fie ſich wieder zum Frühſtückstiſche 
und jegte ſich an ihren vorherigen Pla. Sie zog die Tajje Chofo- 
lade näher und nahm das franzöfiiche Journal zur Hand, in dem fie 
vor einer halben Stunde gelejen. Sie überflog die Spalten der Zei— 
tung, Bolitik: ſie mochte diejelbe nicht leiden, Gerichtliches: das inter: 
ejfirte fie nicht, Annoncen, Stellengejuche, das ging fie ganz und gar 
nichts an! Was für trodene Buchjtabenmenjchen mußten doch dieje 
Nedacteure jein, die den Leuten zumutheten, jo langweilige, fich ewig 
wiederholende Dinge zur Unterhaltung zu leſen. Unmuthig legte fie 
das Blatt beijeite und erhob ſich. it umtölfter Stimm und ganz 
aufgelegt, alles mit Mißvergnügen zu betrachten, fchritt fie durch den 
Heinen, jorgfältig arrangirten Garten dahin. Aergerlich wandte fie 
ji) von den weißen Amoretten ab, deren jtumpfer, ewig lächelnder 
Gejichtsausdrud ihr heute unerträglich erjchien. Sie pflücdte eine 
Blume, als fie aber diejelbe ihrer Fruft näherte, um jie dort zu be= 
—— gewahrte fie eine kleine, * Raupe, die wie neugierig ihr 
hwarzes Köpfchen emporhob. Mit einem Ausrufe des Efels warf 
fie die Blume fort und ging langjam über den großen, mit Bäumen 
und Buſchwerk bejetten Safenplap, der die andere Seite des Gebäus 


648 Fin Kind der Welt. 


des begrenzte. Weiter nach unten jah man durch die Stämme der 
Tannen den Fluß jchimmern. Nach den Begriffen der Moskowiter 
war es ein großes Landhaus, das Eliane mit Gleb Dmitritſch bewohnte, 
aber fie wußte zu genau, wie weit ihr Grund und Boden reichte und 
in ihrer Verſtimmung erjchien ihr der aus ungejchälten Baumjtämm: 
chen roh errichtete Zaun, der jie vom Nachbargebiete trennte, wie un: 
überjteigliche Gefängnigmauern. 

„Dein Gott, wie langweilig!” klagte jie; der fleine, zierlich be- 

ſchuhte Fuß trat hart auf das Moos und in einer Anwandlun 
orniger Ungeduld warf fie jich zu Boden und drüdte das Geſicht a 
* verſchränkten Arme. Stimmen, vom Nachbargebiete herüberſchallend 
ließen ſie das Köpfchen heben. Jede, ſelbſt die kleinſte Abwechſelung 
war ihr jetzt willkommen, daher theilte ſie vorſichtig das Gebüſch, hin— 
ter dem I lag. Sie erblidte ein ganz junges Mädchen in reich ge- 
jtidtem, ruſſiſchem Koſtüm, neben dem ein höchjtens jechsundzwanzig- 
bis jiebenundzwanzigjäbriger Mann einherſchritt. Da fie ruſſiſch 
jprachen, jo verjtand Eliane nicht, was fie einander fagten, aber an 
ihren glänzenden Augen und lachenden Mienen errieth jie, daß es 
nicht unangenehmes ſei. Er fnicdte im VBorbeigehen einen blühenden 
Zweig vom Straud) und reichte m dem jungen Mädchen. Sie zer: 
pflüdte ihn umd warf ihn mit übermüthigem Yachen von fi, aber 
Eliane jah, daß ſie einige Blättchen heimlich zwijchen den Fingern 
behielt und jorgjam die Hand darüber jchloß; und zugleich floh eine 
tiere Burpurglut über das rojige Gejicht des Mädchens bis unter den 
glänzenden Scheitel des jchlichten, blonden Haares, das in zwei langen 
Böpfen den Rücken hinabfiel. 

Eliane richtete jid) empor und ſchaute den beiden nad) bis ſie hin— 
ter den Büjchen verjchwanden. Vom Fluſſe ber hörte jie noch die 
helle, lachende Stimme des jungen Mädchens. 

„Wie fie allerliebjt ijt“, dachte Eliane, „Hübſch? Nein, eigentlich 
hübſch iſt jte nicht, aber fie ift jo jung, jo friich und fie hat etwas in 
ihrem ganzen Weſen, das unwillkürlich für fie einnimmt. Sie mu 
gut und lieb jein! Wie gern möchte ich mit ihr plaudern!“ 

Aus dem Nachbarhaufe hörte man eine weithinjchallende Frauen— 
jtimme in franzöfiicher Sprache rufen: „Sina, Sina, Papa iſt ange: 
fommen.“ 

Wie in freudiger Erwartung blieb Eltane an ihrem Platze jtehen. 
Durch die Tannennadeln fielen wie Goldperlen Sonnenreflere, lagen 
in dem bläulich jchimmernden Gelod, auf dem halbentblößten Halje 
und den runden, weißen Armen, die faum bis zum Ellenbogen leichter 
Mufjelin und Spigengefräujel_ verhüllte. 

Raſche Schritte näherten Jich; das junge Mädchen lief mit glüben- 
den Wangen und flatternden Bändern voran, ihren Begleiter weit 
hinter fic) lafjend. Aber trogdem wandte jie in einer Regung weıb- 
ficher Neugierde das blonde Köpfchen zur Seite, um die drüben 
Stehende zu muftern und ein freundliches Lächeln theilte ihre Lippen, 
während fie den Blick zärtlicher Bewunderung auffing, den Elianens 
dunkle Augenfterne ihr zujandten. Eliane ging in das Haus zurüd. 
In dem Eleinen, fühlen Boudoir, wo die herabgelajjenen Marquifen 
eine janfte Halbdämmerung ſchufen, lag ſie lange im Schaufelftuhle 


Ein Kind der Welt. 649 


und träumte unter dejjen regelmäßigen, wiegenden Bewegungen von 
der blonden Sina. Warum war the diejelbe nur jo anziehend? 
Eliane war doch jchon vielen jungen Mädchen begegnet, ja jchöneren 
und anmuthigeren, und an allen gleichgiltig vorübergegangen, warum 
machte gerade dieſes einen jo tiefen Eindrud auf * Beibalb ers 
on Sina nur, als jie den Zweig zerfnidte und fortwarf? Warum 
ver arg jte die zurücdbehaltenen Blättchen heimlich in der Hand? 
Alles diejes bejchäftigte Elianens dunfellodiges Köpfchen, das weit 
zurüdgebogen auf der Lehne des Stuhles ruhte Sie fuchte den 
Schlüjfel zu all diefem zu finden, aber ihre eigene Meinung befrie- 
digte ſie nicht; jie jagte ſich daß fie nicht das Richtige getroffen. Wie 
ern hätte jie das junge Mädchen jelbit gefragt, und dennoch überfiel 
Be ein Gefühl der Scheu bei dem Gedanken, ſich ihm zu nähern. Ein 
unerflärliches Etwas bien ſich zwiſchen ihnen beiden aufzurichten, ein 
Etwas, das niemand entfernen fonnte und das Eliane mit Unbehagen 
und Mikmuth erfüllte. 

„Was gejchieht mit mir?“ murmelte fie und jtand auf. „Ich 
glaube, ich werde vor langer Weile wermüthig. O, für Gleb £riecht 
die Zeit in Moskau gewiß nicht jo ſchneckenhaft.“ 

Faſt mit Groll und Neid gedachte jie jeiner, während fie langjam 
auf und nieder jchritt. Ihr Kleid verfing fich in den Zierrathen eines 
Möbels und zwang fie zum Stillitehen. Dabei fielen ihre Augen 
auf Er Schleppe, unter der zerfegt und bejtaubt die Spigengarnitur 
der Balayeuje hervorjchaute und es fam ihr in den Sinn, daß es 
Zeit jei, Toilette zu machen. Paſcha, das Kammermädchen, konnte 
ihre Herrin heute Pewerer zufriedenjtellen, denn je. Faſt gegen alle 
ihr vorgejchlagenen Roben protejtirte Eliane fürmlidy empört, zo 
immer wieder die Haarnadeln aus den Loden und zwang — 
Paſcha von neuem zu beginnen, da ſie ihre Friſur bald zu breit und 
hoch, bald zu eng anliegend fand. Sie klagte, daß der Spitzenkragen 
ihr den * wund reibe und ihr die Stierel nicht paßten, wobei ſie 
ſich der ihr im Ruſſiſchen geläufigjten Ausdrüde: „unangenehm“ und 
„ehr jchlecht“ bediente. 

AL jie endlich völlig angefleidet vor dem Trumeau jtand, konnte 
% troß ihrer üblen Laune nicht anders, al3 ihrem Spiegelbilde bei— 
ällig zulächeln. Dann jeßte fie fi) mit einem Buche unter einen 
Baum in der Nähe des Zaunes und verjuchte zu leſen. Da fie aber 
mit gejpannter Aufmerkſamkeit auf jedes Geräuſch, jeden Laut nebenan 
— ſo verwirrte ſich der Inhalt des Buches zu einem ſinnloſen 
Durcheinander, indem ſie nur ein erröthendes, blondes Mädchenköpf— 
chen unterſchied, das ſo ſchlecht in den Gang des franzöſiſchen Roma— 
nes paßte, daß es Eliane unerträglich ward und ſie zu leſen aufhörte. 

Als man Eliane meldete, daß das Mittageſſen ſervirt ſei, und ſie 
ji) erhob, um in das Haus zu gehen, ſah ſie den jungen Mann, 
Sinas Begleiter von heute früh, über den Raſenplatz des Nachbar: 
terrains jchreiten, ein blaues Bändchen, wie das junge Mädchen deren 
an ihrem Anzuge hatte, vom Boden aufheben und eilig in feiner 
Brufttajche verbergen; er jchaute ſich dabei um, als fürchte er, bemerkt 
zu werden. 

Eliane lächelte mitleidig, wie Erwachjene zu tollen Streichen uns 

Der Ealon 1887, Heft XII. Band II, 44 


650 Ein Kind der Welt. 


vernünftiger Kinder — Bei Tiſch nahmen ihre Gedanken wieder 
eine andere Richtung als bisher: ſie fragte ſich, ob die blonde Sina 
wohl den ſchmächtigen, knabenhaften Jüngling gern haben könne, der 
Eliane wenig liebenswerth erſchien. Ihr machte das feine, bleiche 
Geſicht mit dem dunkelblonden Bärtchen auf der roſigen Oberlippe den 
Eindruck der Weichlichkeit, der Schwäche; er imponirte ihr in keiner 
Weiſe. Ihr ſüdliches Temperament fand herriſche, unbeugſame, zügel- 
loſe Charaktere ſympathiſcher. 

Sie verglich den Jüngling mit der ruhigen Stimme und den ge— 
meſſenen Bewegungen unwillkürlich mit Gleb Dmitritſch, der im Auf— 
wallen der Berdentchaft gewaltiam alle Bande geiprengt, die jie an 
ihre Umgebung gefmüpft und fie mit jich genommen, weil er es jo 
ewollt. Bor wenigen Monaten hatte dieje fühne Eigenmächtigkeit fie 
N, hingerifjen, daß ſie ihm begeiitert sugejanchät, daß fie zu ihm auf: 
geblidt, wie zu einem höhern Wejen; heute jtimmte es jie nachdenklich. 

Der Diener trug die Speijen 9 unberührt fort, wobei er mit 
verſtändnißvollem Lächeln Elianens verdüſtertes Geſicht ſtreifte. Beim 
Deſſert verſuchte ſie mit den wenigen Brocken Ruſſiſch, die ihr zu 
Gebote ſtanden, von dem Diener zu erfahren, wer ihre Nachbarn ſeien 

Mit der dem ruſſiſchen Volke eigenen Fertigkeit ſich leicht zu ver— 
ſtändigen, auch mit Perſonen, die der Sprache nicht mächtig ſind, be— 
griff Andreas ſogleich, was die Franzöſin von ihm wolle und erzählte, 
daß die Datſche (Landhaus) zur Linken ein reicher, gelähmter Herr 
innehabe, dem im vorigen Jahre ſeine Frau geſtorben ſei und den 
jetzt ſeine Tochter pflege. Das Landhaus zur Rechten aber bewohne 
der Staatsrath Trionoff mit ſeiner Frau, ſeiner Tochter Sinaida 
Romanowna und deren ehemaliger Gouvernante, gegenwärtig Geſell— 
ſchafterin Maria Pawlowna. Eliane verſtand kaum ein Viertel von 
all dem, was der redſelige Andreas ihr mittheilte, aber ſie wußte jetzt 
doch ungefähr, was ſie zu wiſſen wünſchte. 

Nach dem Mittageſſen ging Eliane ärgerlich und gelangweilt auf 
der Veranda auf und ab. Ste wuhte nicht, was ſie mit fich und 
ihrer Zeit beginnen jollte, denn noch nie hatte man fie jich völlig 
ſelbſt überlajjen. 

„Und fich vorftellen, daß vielleicht noch fünf ſolcher Tage vor 
mir liegen“, jeufzte fie. „Nein, ich kann das gar nicht ertragen, ich 
fann nicht!“ rief fie nachdrüdlich und ihr Kleiner Fuß trat wieder 
hart auf den Boden. ‚„Gleb amüfirt ſich und fir mich joll dieſes 
Stüd Leben ganz und gar verloren jein? Nein, ich will mich auch 
zerjtreuen, ich will ſpazieren gehen“, ge fie — hinzu und trod- 
nete die Thränen, welche gegen ihren Willen ihre Augen füllten. 

Eilig, wie eine Flüchtende, jchritt fie über die breite, jtaubige 
Sandftrae dem nah belegenen Walde zu. 

Es war jtill und einſam im Walde, rund umher niemand zu 


jehen. 

Eliane blieb jtehen und jchaute um ſich. Was jollte fie Hier? 
Steif und regungslos redten die Tannen ihre Riejengejtalten empor, 
als blidten fe verächtlich fort über diejeg Eleine, unvernünftige Wejen, 
das in plößlich aufwallendem, kindiſchem Schmerze ſich auf einen 
Baumftamm miederließ umd in lautes Schluchzen ausbrah. Ihre 


Ein Kind der Welt. 651 


ewig grünen Kronen, über die jahrelang die eifigen Stürme des Herb- 
jtes und Winters hingebrauft, hatten wohl jchon über anderm Weh 
gerauscht, als über dem diejes verwöhnten Kindes der Welt. 

Weiche Arme legten fi) um Elianens Schulter und eine janfte 
Stimme jagte in franzöjiicher Sprache neben ihr: 

„Warum weinen Site, o, bitte, bitte, weinen Sie nicht!“ 

Es war das blonde Mädchen aus dem Nachbarhauſe, das jelbit 
roße Thränen in den Augen, die Bekümmerte jo zu tröſten — 
Fin freudiger Schrecken durchzuckte Eliane und fe hatte große Mühe, 
fich jo weit zu beherrichen, um das junge Mädchen nicht mit einem 
Subelrufe an ſich zu reißen. Doc fand fie es zugleich jo einladend, 
die Rolle einer Tiefbetrübten und Trojtbedürftigen fortzujegen, daß 
fie das Tajchentuch gegen die Augen drüdte und von neuem laut auf- 
weinte. 

„O, weinen Sie nicht, ich bitte“, fuhr die blonde Sina eindring- 
fi) fort; die janfte Stimme wurde jehr unficher und die Eleinen 
Hände jtrihen in jcheuer Liebkojung über Elianens weiches Haar. 
„Sch habe Sie heute Morgen zum eriten Male gejehen. Site ftanden 
jo jtolz und glüdlich unter den Bäumen, und jet finde ich Ste jo 
niedergebeugt und in Thränen wieder. Können Sie mir nicht jagen, 
wa3 Sie betrübt, bitte, bitte.“ 


Das Hang jo — aus dem Munde des jungen Mädchens, 
daß Eliane nicht den Muth hatte, ihr Mitgefühl noch nun auf die 
Probe zu jtellen. Ste hob dag Geſicht empor und jagte Flagend: 

„Sleb ijt fortgefahren und hat mid) ganz allein gelajjen.“ 

„sur lange?“ forjchte die Kleine und jegte auf Elianens Erwide- 
rung: „Einige Tage“, freundlich Hinzu: „Nun, er kommt ja bald 
wieder.“ 

Eliane ergriff des jungen Mädchens Hände und blicte zu ihm 
empor. Es war durchaus keine Schönheit, die da vor Eh jtand, dieje 
ſchlanke Gejtalt mit den dürftigen Formen und den noch etwas unge— 
lenken Bewegungen des kaum überjtandenen Badfifchalters, aber die 
grauen Augen jchauten mit einem Ausdrud jo inniger Güte aus dem 
runden, blühenden Gejichtchen, es lag ein Hauch jo unausiprechlicher, 
unangetajteter Reinheit und Friſche über der ganzen Erjcheinung, daß 
Eliane ſich jeltfam bewegt fühlte. 

„Sina“, flüjterte fie, und ihre wunderbar jchönen, noch thränen- 
feuchten Augen liebkoſten gleichjam die jo Angeredete. 

Das junge Mädchen lachte. 

„Woher fennen Sie meinen Namen?“ fragte jie fröhlich). 

„Ich hörte Sie jo rufen“, erklärte Eliane. 

gr wahrjcheinlich von Maria Pawlowna“, bejtätigte Sina und 
jegte ji an Elianens Seite auf den Baumſtamm. „Lange wird fie 
mich aber ag mehr jo nennen, höchitens nod) einen Monat.“ 

„Woher das?“ forjchte die andere neugierig. 

„Weil in einem Monate meine Hochzeit it“, entgegnete die Kleine 
und die blühende Farbe ihrer Wangen vertiefte ſich um einige Töne. 
„Dann wird Maria Pawlowna mic) wie alle andern Sinaida Roma— 
nowna nennen.“ 

44* 





652 Fin Kind der Welt. 


vo; Ihre Hochzeit?“ rief Eliane überraſcht. „Aber Sie ſind noch 
o jung!“ 

„O nein, ich bin vor einem halben Jahre ſechzehn geworden“, 
verjegte Sina kleinlaut. „Meine ältejte Schweiter hat auch mit jech- 
zehn Jahren geheiratet und Lebt jehr N Freilich, Anja iſt mit 
mir auch gar . zu vergleichen. Als jie noch das Symmafium be- 
uchte, war fie jchon wie eine große Dame und jprach überall mit. 

aria Pawlowna jagt, daß fie * nie ſo viel Geiſt, Liebreiz und 
Güte in einer Perſon vereinigt geſehen habe, wie bei Anja, und ich 
ſolle ſie mir zum Vorbilde wählen. Ich bin ja leider ſo ganz anders! 
Ich fürchte mich entſetzlich davor, meinen eigenen Salon zu haben. 
Was werde ich meinen Gäſten nur jagen, womit fie unterhalten! 
Stepan Semeonowitjch wird die ganze Mühe haben, der Arme!“ 

„Und wen heiraten Sie?“ Frag Eliane neugierig. „Etiva den 
jungen Mann, welchen ich heute Morgen mit Ihnen zujammenjah ?“ 

Sina lachte wieder mit ihrem glüdlichen, hellen Lachen. 

„Denjelben!“ 

„Aber er ijt jo fremd Ihnen gegenüber, ser jpricht und lacht nur, 
er küßt fie gar nicht.“ 

„Küffen?“ wiederholte das junge Mädchen wie entrüjtet. „Nein, 

das darf er nicht! Anja hat ſich auch nicht mit ihrem Verlobten ge- 
füßt. Mama jagt, das dürfe nicht fein, Stepan Semeonowitich würde 
mic nach der Hochzeit nicht achten, wenn ich ihm jeßt jchon Ver— 
traulichfeiten geitattete. Bor dem Altare, wenn ich jeine rau bin, wird 
er mich vor dem Angejichte Gottes und den Augen der Menjchen 
füffen; dann iſt e8 erlaubt.“ 
Mit gejpannter Aufmerkjamfeit hingen Elianens Augen an den 
rofigen Mädchenlippen. Etwas, mit dejjen Finden fie jich oft gequält, 
trat ihr jett fajt greifbar nahe und zog wie ein dumpfes Wehe durch 
fie hin. Was fie oft jo peinigend empfand, war die Nichtachtung, 
welche Gleb Dmitritich hin und wieder durch feine Liebfofungen und 
Liebesworte bliden ließ. Die zarte Keufchheit, welche aus Sinas 
Ku und dennoc) nachdrüdlich gejprocjhenen Worten wehte, übte einen 
eltiamen Eindrud auf Eliane und berührte fie wohlthuend und 
jchmerzlich zugleih. Sie gab Sinas Hand frei, die fie bisher in der 
ihrigen — und ſenkte das Antlitz tief auf die Bruſt. Zaghaft 
und leiſe fragte ſie dann: „Sie lieben ihn?“ 

Sina beugte ſich nieder, um einen dürren Zweig von Roſen auf— 
zuheben; Eliane jah einen rofigen Schimmer auf Naden und Stirm 
des jungen Mädchens liegen. | 

„Sch Liebe ihn“, entgegnete fie innig. „Er iſt gut und edel und 
er hat jo viel Nachſicht mit mir.“ 

Sie richtete das blonde Köpfchen empor und blidte Eliane mit 
jtrahlenden Augen an. 

„Und ich meinte, Sie liebten ihn nicht“, wandte Eliane faft ſchüch— 
tern ein. Sie zerfnidten den Zweig, den er Ihnen gab, und warfen 
ihn fort. Und dabei errötheten Sie, id) glaubte vor Unwillen.“ 

„Sa, ich warf den Zweig fort“, geitand Sina und fügte wie be- 
ſchämt hinzu: „Aber nicht ganz und gar.“ 

Und mit jchelmischem Lächeln öffnete fie das goldene Medaillon, 


Ein Kind der Welt. 653 


welches jie an einem farbigen Bande um den Hals trug; zwei grüne 
Blättchen fielen heraus. Sina erhajchte fie und legte ſie jorgjam an 
ihren Bat zurück. 

„Wenn ich erſt ſeine Frau bin, will ich ihm das bei Gelegenheit 
zeigen“, ſagte ſie muthwillig. „Er behauptet immer, ich liebe ihn nicht 
ſo, wie er mich. Wenn ich ihm das doch verbieten könnte.“ 

Eliane ſaß ſchweigend da bei dem Geplauder der jugendlichen 
Braut. Ein wehmüthiges Sehnen, ein unerklärlicher Harm ergriff ſie, 
jie wußte jelbjt nicht wonach und warum. 

& — faßte nach Elianens Hand und ſchmiegte den Kopf an deren 
Schulter. 

„‚Wie ich mich freue, daß wir einander * begegnet ſind“, be— 
merkte ſie zutraulich. „Das iſt ein ganz ſelten glücklicher Zufall! 
Papa iſt noch von der Reiſe müde und Mama hat ihre nervöſen 
Kopfſchmerzen. Maria Pawlowna hält ihre Mittagsruhe; jo bin ich 
denn mit der alten Marfujcha — Sehen Sie, dort 
ſitzt ſie und wirft mir ganz böſe Blicke zu. Was ſie nur von mir 
will? Aber wir müſſen Freundinnen werden, nicht wahr? Noch heute 
bitte ich Maria Pawlowna, mich morgen zu Ihnen zu begleiten.“ 

Eliane antwortete nicht. Wenn ſie auch ihre Stellung in der 
Welt mit weit günſtigerem Auge anſah, als die Menſchen, ſo fühlte 
ie doch, daß ſie dieſem jungen, reinen Geſchöpfe weder ihre Freund— 
haft, noch ihren Umgang gewähren durfte. Der kindlich klare Blick 

er freundlichen, grauen Mädchenaugen, die jich bittend auf fie rich— 
teten, erwedten in ihr ein Gefühl der Beichämung, wie jie es noch 
nie empfunden, und jte jchlug die langen Wimpern nieder. 

„Sinaida Romanowna!“ rief die alte Magd mit grollender Stimme 
herüber. „Es ijt gewiß jchon Zeit nach Scak u gehen!“ 

„Sie iſt übler Laune, ich will fie nicht noch mehr ärgern“, lachte 
Sina. „Auf baldiges Wiederjehen aljo, meine Tiebe, ſchöne Nach— 
barin!“ Sie umarmte Eliane und küßte jie herzhaft auf den Mund, 
„Komm, Marfujcha!“ 

Sie ging, und e3 war Eliane, al3 ob eine Hand, die jich am 
Nande eines Abgrundes ihr hilfbereit entgegenitredt, ſich zurüdzöge 
und jie ftünde ohne Stüge und Halt vor der drohenden Tiefe, von 
der nur ein Schritt fie trennte, 

„Auf Wiederjehen“, Hatte die weiche Mädchenjtimme ihr zugerufen, 
Eliane legte das Geficht in beide Hände und blieb regungslos fiten. 
Nein, für fie beide gab es fein Wiederjehen, ihre Wege liefen zu weit 


auseinander! 
* * 
* 


Als das junge Mädchen zwiſchen den Baumſtämmen dahinſchritt, 
ſagte die alte Magd vorwurfsvoll: 

„Sinaida Romanowna ſollte mit ſolchen Leuten, wie dieſe ſchöne 
Fremde, nicht ſprechen.“ 

„Aber warum denn nicht, Marfuſcha?“ fragte Sina erſtaunt. 

Die Alte jchüttelte unwillig den grauen Kopf. 

„Weil das eine Sündige ift. Aber fragen Sie Maria Pawlowna, 
die wird Ihnen ſchon antworten.“ 


654 Ein Kind der Welt. 


Das Hang etwas pifirt, denn die gejprächige Marfujcha fand im 
geheimen Maria Pawlownas Anordnung, dem jungen Mädchen über 
ihm unbefannte Dinge feinerlei Erklärungen zu geben, jehr hart und 
fügte ji) nur nothgedrungen. So ein toßes Fräulein, das bald 
heiraten jollte, wie ein Eleines Kind zu behandeln! 

Ungefähr eine Stunde nad) diefem Geſpräch juchte Sina in der 
Laube am Fluſſe Maria Pawlowna auf. Etwas überrajcht blidte 
die würdige Dame auf das freudejtrahlende Gejicht des jungen Mäd— 
chens und ſchloß das Bud), in dem jie joeben gelejen. 

„D Maria Pawlowna, weld, ein veizendes Geſchöpf tit die Fleine 
Franzöfin von nebenan!” rief Sina förmlich begeiltert. „Im Walde 

abe ich jie getroffen und mit ihr geplaudert. Sch habe ihr ver: 
—— daß wir beide ſie morgen beſuchen würden.“ 

Hinter dem dichten Buſchwerk des Zaunes rauſchte es leiſe; dort 
I auf der Bank Eliane und laujchte begierig dem Gange der in 
ranzöfischer Sprache geführten Unterredung. Maria Pawlowna ſtreckte 
eine ihrer Eleinen, magern Hände aus und legte fie jchwer auf die 
Schulter ihres ehemaligen Zöglings. 

„Sie haben mehr Sn a als Sie halten können, Sina“, ent- 
gegnete jie ernit. „Die Gejellichaft, in der Sie aufgewachjen, jucht 
ihren Umgang nicht in den Kreifen, denen dieſe Franzöſin angehört!” 

„Die Bulgakins find doch adlige Gutsbejiger“, vertheidigte Sina 
eifrig. „Warum follten wir nicht mit ihnen verfehren? Warum jollte 
id) mich nicht mit der Frau eines Bulgafın befreunden ?“ 

Mit einer Frau vielleicht, aber dieſe Franzöſin iſt nicht ſeine 


„Nicht ſeine Frau? Aber wer iſt ſie denn?“ rief das junge Mäd— 
chen erichroden. 

„Seine Geliebte“, verjegte die Dame falt. „Sina“, fuhr fie dann 
in wärmerem Tone fort. „Ihre Eltern und ich haben bisher durch 
treue, achtjame Liebe eine Mauer zwijchen Ihnen und dem Schlechten, 
Niedrigen der Welt aufgerichtet, Jo day Ihnen diejelbe fremder tit, 
als manchem zehnjährigen Kinde“ Maria Pawlowna ſchwieg einen 
Moment, und gab dem jungen Mädchen ein Zeichen, neben ihr auf 
der Bank Platz zu — dann fuhr ſie fort: „Es giebt Frauen, 
ür die das jamilienleben feinen Neiz hat, die nicht mit ernſtem 

feige um das tägliche Brod jchaffen wollen, jondern die in Ueppig— 
eit und Trägheit ihre Tage hinbringen, von Vergnügen zu Vergnügen 
flatternd, von Laiter zu Lajter ſinkend, bis fie ım Sofitel oder auf 
den Steinen der Strohe ein Dajein endigen, welches meistentheils in 
Ueberfluß und Glanz begann. Die gebildete Gejellichaft, alle, Die 
auf Sitte und Anjtand halten, jchliegen dieje Klafje des Weibes mit 
Beratung aus ihrem Kreije, und dieſe Unglücklichen jelbit, die oft 
eine übertriebene Gleichgiltigkeit ‚gegen die Meinung der Welt zur 
Schau tragen, haben gewiß aucd Momente, wo jie die ganze Schmad) 
ihrer Stellung empfinden.“ 

Mit gejenktem Köpfchen ja Sina neben der Sprecherin. Ihr 
Naden, ihre Heinen Ohren, jogar die im Schooße gefalteten Hände 
waren von heller Röthe übergojjen. Ihrem reinen Gemüthe, das in 
einem eng begrenzten, ſorgſam gewählten Kreife nur wohlthuende Ein: 


Ein Kind der Welt. 655 


drüde in fic) aufgenommen, war diejes neue Bild der Wirklichkeit zu 
grell, um jie nicht zu erichreden und einzujchüchtern. 

„Es iſt ein Schmetterlingsdajein, das jte führen, dieſe unjeligen, 
verlorenen Gejchöpfe“, ſprach Maria Pawlowna mit ihrer jtrengen 
Stimme weiter. „Wenn der Blütenftaub der Jugend und le von 
— Flügeln gewiſcht iſt wirft man ſie fort und zertritt ſie achtlos. 

nd — verlöſcht ſo ſchnell die Spuren äußerer Schönheit, als das 
unſtäte Leben dieſer Kinder der Sünde, die von Hand zu — aus 
einem Arm in den andern wandern, Dr Neigung, aus Falter, hand» 
werfsmäßiger Gewohnheit, oft von Widerwillen erfüllt gegen den 
Mann, der fie bejigt! Und die le hier nebenan gehört aud) 
zu dieſer Klaſſe Frauen. Der reiche Bulgakin verfchafft ihr alle Ver- 
gnügungen, er überjchüttet jie mit fojtbaren Toiletten und Brillanten, 
und wenn er ihrer überdrüjjig it, entfernt er fie einfach, und fie ſinkt 
tiefer und tiefer, bis auch ihr Loos ſich erfüllt, und fie in Noth und 
Elend untergeht. Verſtehen Sie jegt, Sina, was Ste gethan, indem 
Sie ſich biefem Weſen näherten und ihm Freundjchaftsbewetje Br 
werden liefen? Was würde wohl Stepan Semeonowitſch denfen, 
wenn er erführe, zu wen jeine Braut ſich hingezogen fühlt?“ 

Athemlos, die verjchränkten Hände gegen die Bruſt gepreßt, ſaß 
Eliane an ihrem Laujcherpoften. Starr blidten ihre Augen vor fic) 
nieder und ein jtechender Schmerz zudte duch ihr Gehirn. Wie in 
Todesangit harrte jie der Antwort, welche Sina geben mußte. Sie 
wußte ja Icht, wer die war, welche heute früh „jo ſtolz und glücklich 
unter den Bäumen gejtanden: von unbarmberziger Hand jeden Reizes 
entfleidet, mit dem Brandmal der — auf der Stirn zeigte man 
ſie ihr in ihrer wahren Geſtalt. Würde das blonde Köpfchen ſich 
verletzt von ihr abwenden? Würden die weichen Mädchenlippen nicht 
ein Wort ſanfter Entſchuldigung oder liebevollen Mitleides finden 
— — deren Freundſchaft ſie am Morgen in naiver Unbefangenheit 

egehrt: ® 
5 "Ein Aufichluchzen ſchlug an ihr Ohr und Sinas weinende 
Stimme flehte: | 

„O, Maria Pawlowna, vergeben Sie mir meine unüberlegte Hand- 
lungsweiſe. Ic will nie wieder an Ihren guten Abfichten zweifeln. 
Ih hatte ja feine Ahnung davon, wen H) vor mir hatte! Nur 
bitte, bitte, jagen Sie Stepan Semeonowitſch nichts davon, ich will 
mich gewiß nie wieder der Franzöſin nähern!“ 

Fin ſchriller Aufichrei Elang aus Eltanens Munde und taumelnd 
erhob ſie jich. Einen Moment ftredten ihre Arme fich, wie eine 
. juchend in die Luft, und dann fiel ſie jchwer neben der Bank 
zu Boden. Verachtet, zurücgeitoßen! Das unerklärliche Etwas, wel- 
ches Eliane am Morgen bei dem Gedanken an das blonde td 
empfunden, war wieder da, gewann Gejtalt und drängte jich zwijchen 
fie beide: e8 war die Mauer der Sitte und des Anſtandes, die fie 
unüberjteigbar jchied. Ob jie nie jündigten, te, die jo Faltblütig den 
Stab über die Verlorene brachen, ob ihre Tugend e3 ihnen wohl 
verbot, mit warmfühlendem Herzen fich denen zu nahen, die unter der 
Schmach ihrer Exiſtenz erliegend, um Rettung zu ihnen aufjchreien? 

Angitvoll weilte Eliane vor dieſen fie Bett emanben Fragen, auf 


656 Ein Kind der Welt. 


die niemand ihr Antwort gab und die in ihrem jchmerzenden Gehirn 
zu einem unbeimlichen Chaos zujammenflojjen. | 

Sie erhob ſich vom Boden; jtöhnend, als jchmerze jie jeder 
Schritt, ging fie in das Haus zurüd. Bleich, mit gerötheten Augen: 
lidern 5 lich fie durch die Räume, welche am Tage vorher ihr noch 
jo wohnlich und freundlich erjchienen. Wie von allen Seiten ihr zu— 
gerufene Anklagen umgab jie alles: die üppig ausgeitatteten Zimmer, 
die feinen Stoffe und theuren Spigen ihres Anzuges, der funfelnde 
Brillant auf dem breiten, goldenen Armbande, es war der Lohn ihrer 
Sünde, die mit ——— Flitter ihre Augen blendete, während ſie 
ſie unmerklich dem Abgrunde zuführte, in deſſen düſterer Tiefe das 
Geſpenſt der Noth und des Kummers ihrer harrte. 

Zuſammengekauert ſaß Eliane auf der Couchette in ihrem Bou— 
doir und kämpfte mit aller Anſtrengung gegen die heute empfangenen 
trüben Eindrüde an. Sie rief alle ihr zu Gebote jtehende Fröhlich— 
feit, ihren ganzen Leichtjinn zu Hilfe, um das Gleichgewicht ihrer Seele 
wieder herzuftellen; aber e3 gelang ihr nur für Augenblide Sie warf 
die Arbeit, welche ſie zur Be genommen, bald beijeite, das frivole 
Liedchen eritarb auf ihren Lippen und jtumm lehnte jie da, ganz uns 
ter der Gewalt ihrer dijtern Gedanken. So verging Stunde um 
Stunde. Ungeduldig wies Eliane den Thee, das Backwerk und Obft, 
welche der Diener auf filbernem Plateau ihr brachte, zurück und ſchickte 
ihr Kammermädchen fort, welches fam, um jeine Herrin zu entfleiden. 

Unruhig warf Eliane ſich auf ihrem Lager hin und her. Das 
matte, bläuliche Licht der Ampel jtrömte wie bejänftigend über die 
‚alten der weißen Dede und das ſpitzenbeſetzte Nachtgewand des 
lieblichen, jungen Wejens, von dem bange Qual den Schlummer fern 
hielt. Wie dunkle Nachtvögel auf riefigen Schwingen umjchwebten fie 
ihre Gedanken und riſſen jte förmlich mit fich fort. Ein Sehnen, ein 
Trauern erjaßte fie, jo tief und wild, daß es ihr die Bruft jprengen 
wollte. Faſt völlig verwiſchte Erinnerungen ihrer Kinderjahre tauch— 
ten in ihr auf und fer gejpannt jtrengte jie ihre Gedanken an, 
um ſich ein erfennbares Bild daraus zu formen. Undeutlich, wie im 
Traume jah fie ſich als Feines Mädchen in einem weißen Bettchen 
und eine jchöne Frau mit rofigen Wangen und entblößten Schultern 
und Armen trat an ihr Lager; jie meinte noch das Rauſchen der lan- 
gen, jeidenen Schleppe zu hören. 

Und die Frau neigte Ni) nieder, küßte das Kind, legte feine 
Händchen zujammen und ſprach ein Gebet mit ihm. Es war Eliane, 
als fühle f. noch leije, leije die Berührung der weichen Finger und 
ihre Lippen bewegten jich flüjternd, wie um die Worte des Gebetes 
wiederzufinden, in denen das unjchuldige Kind einſt um Tugend und 
Frömmigkeit gebetet. Sie fand Ddiejelben nicht, fie batte fie ver: 

ejfen wie die Mutter, nach der jie als Kind, wie fie ſich heute ent- 
ann, einige Abende hintereinander mit ängitlichem Weinen gerufen. 
Die Mutter war verſchwunden. Wo fie geblieben, darüber hatte Eliane 
ſich Damals Feine Rechenſchaft abgelegt; heute wußte fie es, und dieſe 
Erfenntntg gab ihr eimen Stich) ın das Herz: ihre Mutter war aud) 
eine Verlorene gewejen, die von dem Lager Ihres unſchuldigen Kindes 


Ein Kind der Welt. 657 


fommend, noch die Worte des Gebetes auf den Lippen, ſich in den 
Strom der Weltluft jtürzte, der jie mit jich fort in das Verderben ri. 

Eine vorgebliche Verwandte, eine ehemalige Ballettänzerin hatte 
Eliane damals aufgenommen und wollte das jchöne, anmuthige Kind 
zur Tänzerin erziehen. Aber ein Beinbruch, den die Kleine ſich in 
einer Probe zuzog, ließ die Tante von diefem Vorhaben abftehen, zu 
dem fie auch. jpäter nicht zurückiehrte, als der Bruch ohne alle nach— 
theiligen Folgen geheilt war. In der mit einer gewifjen Stofetterie 
ausgeltatteten Wohnung diejer Verwandten, welcher, wie Eliane früh 
genug erfuhr, ein ehemaliger intimer Freund aus alter Anhänglichkeit 
die Mittel zum Unterhalte lieferte, hatte Eliane nur das leichte, Freie 
Treiben der demi-monde, das ungenirte Sichgehenlafjen in Wort und 
Benehmen der Männer gejehen. Im kurzen Kleidchen, auf der Schul- 
bank hatte fie jchon im Vereine mit Mädchen ihres Alters ſich dag 
männliche Ideal ihres Herzens ausgemalt, oe indefjen es übel zu 
nehmen, wenn andere, Die diefem Ideale durchaus nicht glichen, ihnen 
ihre Aufmerkſamkeit zumendeten. 

Und doch war Eliane nicht untergegangen in diefer Umgebung, 
in. deren gefährlichem Wogen und Stürmen Be gewappnet mit einem 
ewiffen Stolze, ſich vorwurfsfret erhielt big zu dem Momente, da fie 
Bulgatin fennen lernte. Der jchöne, elegante Fremde ſtand noch über 
dem Ideale ihrer Kinderjahre; Die ganze, ungebändigte Leidenschaft 
ihrer Seele jtrömte ihm entgegen und ließ fie alles vergejjen, jelbjt 
daß jie die verlobte Braut eines anderen war. Freudig ging fie mit 
ihm nad) jeiner falten, fernen — ohne mit einem Gedanken der 
Zukunft zu gedenken, nur der Gegenwart lebend. Sie liebte ihn ja, 
und er jollte ihrer überdrüffig werden, er follte fie verftoßen, vergeſſen 
fönnen, dem Elende und der Noth preis geben? Und fie, mußte fie 
dann dem Wege folgen, der im Hojpitale oder auf den Steinen der 
Straße endigte? Liebe hatte fie zu dem erjten, unbedachtſamen 
Schritte getrieben; konnte denn der, um deſſentwillen fie gefehlt, herz— 
[03 fie zu den VBerachteten, Verlorenen niederftoßen, fie, Die ihre Zus 
funft ohne Zögern ihm geopfert, Fonnte er das, nur, weil fie ihn 
geliebt? Und weiter, was dann weiter? Regte ſich auch in ihr dag 
heiße Blut der leichtiinnigen Mutter und ſtieß jie vorwärts ihrem 
Verhängniß entgegen? 

Mit einem Aufächzen warf Eliane den Kopf zurüd und preßte 
die Hände gegen die Schläfen. 

„Laß abends Deinen Engel nieberfteigen 


Und Lieblich tröftend fi zu denen neigen, 
Die Schmerz verzehrt und bie die Welt vergift." 


Dieſes Bruchſtück eines Gedichtes, welches fie als Kind gelernt, 
fiel ihr jeßt ein und rief in ihr zugleich den Gedanken wach an den 
Scugengel, der uns freundlich zur Seite jteht oder weinend fein 
Antlig von uns abwendet. Sie richtete ſich halb auf ihrem Lager 
empor und ihre weit geöffneten Augen irrten in fieberhafter Angjt 
durch das Gemach. Die mattglänzende Bronzefigur, welche zu Häupten 
nes Bettes die luftigen Borhänge in den hoch emporgejtredten Händen 
hielt, warf einen langen, jchrägen Schatten in die Ede, der in Elianens 


658 Ein Kind der Welt. 


krankhaft erregter Phantaſie die ‚Form einer verhüllten, abgewandten 
Geſtalt gewann. Mit einem Aufſchrei drücdte fie das Geficht in Die 
Kiffen, und das Schluchzen, welches ihrer eignen Bruſt entitieg, jchien 
ihr wie von ferne ber an das Ohr zu dringen; Flagendes Weinen des 
zurüdgejtoßenen Schugengels, herzzerreißendes Schluchzen einer un- 
glüdlichen, verlorenen Mutter, die ıhr Kind ebenjo tief gefallen ſieht, 
wie jie jelbit. 

D, warum war Cliane erjt jebt mit jolchen Menjchen in Be- 
rührung gefommen, wie ihre Nachbarn, warum 2. jie erit jegt dieſe 
Spracde, die je ſchmerzte und demüthigte und zugleich in ıhr ein 
— ſehnen 3 Verlangen erweckte, auch rein und makellos da— 
zuſtehen! 

Lange lag ſie weinend in den Kiſſen, dann hob ſie das thränen— 
überjtrömte Antlig empor und jtrich die welligen Haare von den 
Scläfen zurüd. Ein miüdes Lächeln glitt um die zudenden Lippen. 
Nein, es jollte nicht jo fortgehen. Morgen noc) wollte fie ſich an die 
wenden, welche die ihr anvertrauten jungen Seelen zu hüten verjtand, 
dat fie, fremd dem Elende und der Berdorbenheit der Welt, rein und 
frijch blieben, wie zarte Blüten. Sie wollte ſie um Rath und Hilfe 
bitten. Sie, die jo hart urtheilte über die Klaſſe, welcher Eliane an- 
gehörte, fie würde gewiß auch ein Mittel angeben fünnen, um fich aus 
iefem Schlamme hervorzuarbeiten! 

Erit als das Morgengrauen zwiſchen den Falten der Vorhänge 
in das Zimmer drang, verfiel Eliane in furzen, unruhigen Schlummer, 
= fie für Stunden wenigitens der fie peinigenden sort ent: 
rückte. 

Um zehn Uhr ea begab Maria Pawlowna jich wie gewöhn- 
lich zum Bade. Das Lafen und die Badehaube über dem Arm, den 
Sonnenjchirm in der Hand, jchritt fie langjam den Gang hinab, der 
zum Fluſſe führte. Schon wollte jie über den Bretterjteg der Bade— 
hütte, als die Büjche neben ihr raujchten und durch die re 
des Zaunes vom Nachbargebiete her ich eine jchlanfe Gejtalt in 
leichter Morgenkleidung drängte. 

Ueber das jchmale, gefurchte Gejicht Maria Pawlownas glitt ein 
Ausdrud unbejchreiblichen Erjtaunens, als jie jo plößlich und jo nahe 
die vor ſich jah, vor welcher fie gejtern ihren Zögling gewarnt. 

Mit einem gewifjen Interefje mufterte fie das in diefem Momente 
todtenbleiche Antlig mit den wunderbar jchönen, regelmäßigen Zügen 
und den dunfeln, flammenden Augen, indem fie fich vergeblich — 
was die Franzöſin von ihr wollte. 

„Madame“, begann Eliane erregt, „Sie haben mich gezwungen 
nachzudenken da, wo ich mich gegen jede beſſere Ueberzeugung wehrte, 
Sie haben mid) verachten gelehrt, was mir bisher nicht verächtlich er- 
ichien, Sie haben mir jo wahnjinnige Schmerzen bereitet, wie ich fie 
noc) nie gefühlt; denn ich habe gejtern alles mit angehört, was Sie zu 
Ihrem Zöglinge jagten, Ste jprachen ja meine Sprache, fo daß mir 
fein Wort verloren ging. Sie haben es mir unmöglich gemacht, mein 
bisheriges Leben fortzujegen. Ste fünnen Ihr Werk nicht halb vollendet 
lajjen, Madame! Sagen Sie mir, was ich beginnen joll, um wieder 
die Achtung ehrenwerther Menjchen zu verdienen.“ 


Ein Kind der Welt. 659 


Maria Pawlowna jtand förmlich erjtarrt vor dem jchönen Mäd— 

gen, das mit zudender Stirn und bebenden Lippen dieſe hajtigen 

orte Sprach. Die ganze Situation war eine jo überrajchende, daß 
—— alten Dame ſchwer wurde, ihren gewöhnlichen Aplomb wieder— 
ufinden. 
„Was wollen Sie von mir?“ fragte ſie endlich, und ihre Stimme 
klang noch ſchärfer als gewöhnlich. „Meinen Sie denn, daß es in 
meiner Macht ſtünde, Ihre — auszulöſchen? Meinen Sie 
denn, es gebe irgend ein Zauberwort, das uns die Achtung der Men— 
ſchen ſchafft, wie eine käufliche Sache? O, weit entfernt davon! Nur 
unſer eigner tadelloſer Wandel, unſer ernſtes Streben für andere, 
unſer eigner moraliſcher Werth kann uns dieſelbe geben.“ 

Eliane ließ das Geſicht tief niederſinken, ſo daß die langen Locken 
nach vorne über die heftig arbeitende Brujt fielen, und ihre zitternden 
Kleinen Hände erfaßten einander in peinlicher Verlegenheit. E3 lag 
etwas jo Llieblich demüthiges in ihrer Haltung, daß es ein Künſtler— 
auge entzückt, ein weiches Herz gerührt hätte, aber Maria Pawlowna 
ſah in diefem tadellos gebauten, von himmelblauem Muſſelin um 
— Frauenkörper mit dem aufgelöſten Haar und den en 
lrmen nur den Böjen in Lichtgejtalt, der ji) ihr in den Weg jtellte, 
um ihr die Laune zu verderben, 

„Sch verjtehe jo wie jo nicht, was Ste eigentlich zu unternehmen 
gedenken“, fuhr jie in gereiztem Tone fort. "Gier, wo fait jeder Sie 
als die Geliebte des reihen Bulgafin gekannt hat, würde Sie gewiß 
niemand aufnehmen. Und überhaupt, welch eine Stellung könnten 
Eie denn befleiden ?“ 

„Sa weiß es nicht“, murmelte Eliane; fie richtete das Haupt 
empor und jchlug die Augen, die in Thränen — zu der alten 
Dame auf. „Sch weiß es nicht. Aber ich will alles thun, was Sie 
mir jagen, alles! Nur helfen, rathen Sie mir, ich bitte, ich bejchwöre 
Sie, Madame!“ 

Maria Pawlorna fühlte jich immer —S in dieſem tete- 
A-tete, das ihr außerordentlich fompromittirend erichien und fie be— 
ſchloß demjelben eim jchnelles Ende zu machen, umjomehr, da fie 
vorausjegte, daß ein Streit zwiſchen Bulgakin und der Franzöſin wohl 
dem Ganzen zugrunde läge. Daher jagte fie hart: „Wenn Sie felbit 
mit ſich nicht im veinen darüber find, was Site eigentlich wollen, wie 
fünnen andere Ihnen da rathen! Auch fennt man das! Das Ende 
ijt das ewig alte: Euch verwöhnten Priejterinnen der Ueppigfeit und 
Trägheit tjt es ja unmöglich, n an Ei Arbeit zu gewöhnen! 
Ihr ehrt doch immer wieder zu der einmal gefojteten ſüßen Sünde 
zurüd. Und darum ift e8 am beiten, Ihr bleibt in Eurer Sphäre, 
damit Ihr durch) Eure Annäherung den Mafel der erniedrigenden 
Lebensweife nicht auch auf junge, reine Gejchöpfe werft!" Und mit 
einer energifchen Bewegung das niedergeglittene Lafen über den Arm 
ziehend, jchritt jie über den Steg in das Badehaus, dejjen Leinwand 
thür fie jorgjam ſchloß. 

Eliane blieb regungslos jtehen. Eine brennende Röthe, die Röthe 
einer qualvollen Scham flammte auf ihren Wangen auf, dann jtrömte 
alles Blut ihr zum Herzen und fahle Bläſſe floß über ihre Züge. Sie 


660 Ein Kind der Welt. 


umflammerte frampfhaft das rauhe Baumjtämmchen des Zaunes neben 
ihr und ließ die Stirn auf die Arme fallen. O, jie waren hart und 
efühllos, die, welche im Glorienjchein der Tugend durch das Leben 
Kritten, fie gingen theilnahmlos an dem Aufjchret um Rettung vorüber 
und Ei falt den Bittenden von ihrem Wege! 

Auf dem Raſenplatze erichten eine jchlanfe Mädchengeitalt mit 
fangen, blonden Flechten. Die lachenden, grauen Augen überflogen 
den Fußpfad und blieben erjchredt an dem jungen Weibe bangen, Das 
verhüllten Antliges an den Zaun ſich Iehnte Sie wandte ſich und 
floh wie ein gehetztes Reh in das Haus zurüd. Sie hatte ja ver- 
ſprochen, jich nie mehr der Franzöſin zu nähern, und fie mußte ihr 
Wort halten. Was wußte ihre jonnige Jugend, vor der die Zukunft 
im Lichtichimmer des Glüdes lag, von dem furchtbaren, unjagbaren 
Weh eines auf immer hoffnungslos zeritörten Dajeins! 


a * 
* 


An demſelben Tage kehrte Gleb Dmitritſch in Be —— mehrerer 
Freunde aus Moskau zurüd. Lachend und lärmend — ie Herren 
aus dem Wagen; wußten ſie doc), daß ſie ſich hier völlig zwanglos 
bewegen durften, und der Diener trug die Padete und Kartons, welche 
Bulgakin mitgebracht hatte, in das Haus. 

Gleb Dmitritich jchien unangenehm überrajcht, Eliane nicht zu 
feinem Empfange ug zu jehen und ging, um fie zu juchen. E 
fand fie im Schlafzimmer auf der Couchette jigend, im Morgenkleide, 
das Haar noch ungeordnet über den Rüden fallend. 

„Eliane, Kleine!“ rief er lebhaft, zu ihr eilend und die Arme 
öffnend. „Bin ich nicht beijpielslos liebenswürdig, jo jchnell heimzu— 
fehren? Mein armes Kind hat gewiß Sehnfucht nach mir gehabt, wie?“ 

Sie jtieß jeine er — und wandte ſich ab. a bu nach 
ihm? Zum erſten Male legte ſie ſich dieſe Frage vor. Nein, die 
eigenen Qualen hatten ſein Bild ganz in den Hintergrund gedrängt. 
Der Gedanke an ſeine Liebe war ihr nicht näher getreten, um mit 
milderndem Lichte ihre Lage zu verklären, er hatte das Gefühl der 
— der Unwürdigkeit, das ſchmerzhaft auf ihr laſtete, nur 
vermehrt. Es überlief ſie kalt. O, wenn alles, auch dieſe Liebe eine 
Lüge wäre! | 

Erſtaunt blidte Gleb Dmitritjc) sa bonne amie an. Sie beſaß 
im allgemeinen einen gleichmäßig beitern Charakter und zeigte ihm 
nicht oft Laumen; umſomehr überrajchte ihn der heutige Empfang. Er 
entfernte ſich für einige Augenblide, ohne daß fie fich auch nur nach 
ihm umjah, und kehrte 29 darauf zurüd, beladen mit mehreren 
Kartons und Eleineren Gegenjtänden, die er lächelnd zu Elianens 
Füßen niederlegte. Da fie immer nod) ohne Bewegung dajaß, jo 
öffnete er jelbjt die Kartons und rollte jchwere, glänzende Seidenzeuge, 
helle Sommerftoffe und zarte, duftige Spigen vor ihr auf. Er meinte, 
damit das Zauberwort gefunden zu haben, das fie aus ihrer Apathie 
weden mußte, und blidte jie erwartungsvoll an, ob noch immer fein 
Lächeln auf ihrem Gefichte erjcheine, dann nahm er aus einem Etui 
ein jchweres, goldenes Armband und legte es um ihr feines Handgelenk. 


Ein Kind der Welt. 66: 


Sie zudte zuſammen und jchüttelte heftig den Arm, als wollte fie den 
Schmuck fortichleudern. 

„Eliane*, jagte er bejtürzt. „Was iſt mit Dir gejchehen?“ 

Sie erhob ſich, als mache eine nervöje Gereiztheit es ihr unmög- 
lich, auf derjelben Stelle zu bleiben und legte, dicht vor ihn hintretend, 
beide Be auf jeine Schultern. 

„Sleb Dmitritjch“, ſtieß fie zwijchen den zujammengebijjenen 
Mae hervor. „Was wird dann fein, wenn Ste mid) nicht mehr 
eben ?" 

Er jchaute fie unficher an, als juche er in dem Ausdrude ihres- 
Gefichtes die Antwort, welche fie erwartete, dann lächelte er ſardoniſch. 

„Welch jonderbare Frage“, bemerkte er achjelzudend. „Unjere 
— iſt noch viel zu neu, als daß man ſchon an das Ende denken 
önnte.“ 

„Aber enden muß ſie einmal, nicht wahr?“ fragte ſie dringender; 
ſie zog die Hände von ſeinen Schultern zurück und verſchränkte ſie 
über der Bruſt. „Sie muß.“ 

Er ſetzte ſich auf die Seitenlehne der Couchette und wiegte ſeine 
hohe Geſtalt Hin und her. 

„Schön, aljo fie muß enden“, meinte er mit einem Lächeln, wel- 

Eliane empörte und noch einen Schritt weiter zurüdtreten ließ. 
„Run, jo find Deine prachtvollen Augen und Dein junonischer Wuchs 
die beite, unfehlbarite Garantie für Deine Zukunft. Mancher meiner 
jogenannten Freunde wartet wohl ſchon ungeduldig auf ein Zerwürf- 
niß zwiſchen uns beiden. Aber ſag' mir doc), Kleine, haft Du denn 
jetzt Toon die Abficht, Dich anderweitig zu etabliren?“ 

Sie biß ſich auf die Unterlippe und jah ihn unter der Stirn. 
hervor düſter an. 

„Wirſt Du Dich einmal verheiraten?“ — ſie. 

„Eh, gewiß doch“, — er leichthin. „Meine Taufmutter, die 
mit unermuͤdlicher Geſchäftigkeit Ehen ſtiftet, hat mir ſchon eine Frau 
ausgeſucht, ein allerliebſtes, unſchuldiges Mäuschen mit einem nicht zu 
verachtenden Vermögen und einem lammfrommen Herzen, welches wohl: 
thuend auf meine ungejtüme Natur wirken joll, das Herz nämlich.“ 
Er lachte übermüthig auf und jprang mit einem Satze von der Lehne 
‚empor. „Sc als Ehemann, es iſt zu ge 
: „Und die Hochzeit ift bald?“ Ihre Stimme klang leife und tonlos 
bei diejen Worten. 

„O, nicht vor dem nächjten Winter! Die Kleine ift doch noch 
gar zu jung. Es iſt ja noch gar feine Raſſe in jolchen Schulmädchen, 
die eben Erich aus den Händen der Gouvernante fommen, und denen 
wan auf zehn Schritte Schon die kaum überwundenen unregelmäßigen 
Verben und die Czernyſchen Etüden anjieht.“ 

„Und mit mir ift es dann natürlich zu Ende?“ fragte Eltane kalt. 

„Barum denn das?“ erwiderte er verwundert. „Allerdings werde 
ic in der erjten Zeit meiner Ehe Dich Hin und wieder ein wenig ver- 
nachläſſigen müjjen, aber jpäterhin, bah, freilich vorausgejegt, daß wir 
nocd an einander Gefallen finden.“ 

Sie wandte ſich brüsf ab, jtampfte mit den Füßen den Boden 
und jchrie auf. 


662 Ein Kind der Welt. 


„Was fehlt Dir?“ rief er erjchredt. 

„Nichts“, entgegnete fie hart. „Ein Freudenruf, der dieſer ent- 
züdenden Perſpektive gilt!“ Und ein jeltiames Lächeln hob ihre Ober: 
Lip e, während ein wildes, Dämonijches Feuer in ihren dunfeln Augen 
aufloderte. Sie Ffauerte zu den mitgebrachten Sachen nieder und 
drücte in lauten, frohlodenden Worten ihre er und Be 
wunderung aus. Und dabei zitterten ihre Hände und über die heiken 
Wangen rannen Thränen und fielen auf die Spitzen und fojtbaren, 
glänzenden Gewebe, die in wirrem Durcheinander ihre Kniee dedten. 
„Wie gut Du bift, Gleb, wie Du mich verwöhnjt!" Mit den Füßen 
die raufchenden Stoffe bei Seite jtoßend, jprang fie empor, warf jich 
ihm an die Bruft und jchlang die Arme um feinen Naden. Und unter 
jeinen leidenjchaftlichen Liebfojungen durchriejelte e3 jie abermals wie 
Fieberfroſt und fie jchloß die Augen, als fürchte fie, er könne den 
falten Haß auf dem Grunde ihrer Seele lejen. Ja, jett fühlte fie es 
deutlich: es war zu Ende. Sie konnte ſich nicht mehr & ihrer eignen 
Entſchuldigung jagen: Du haft aus Liebe gefehlt. Er jelbit hatte 
mit une Hand das zeritürt, was jie angttoofl zu hüten bemüht 
geweſen. 

Wie Abſcheu gegen ſich ſelbſt fühlte ſie es in ſich aufſteigen, 
jedes Liebeswort, jede Liebkoſung, die ſie von jetzt ab — und 
gab, war eine mit Bewußtjein an jich jelbjt begangene Erniedrigung, 
Lüge und Schmach eine Stufe näher zu dem furchtbaren Ende in 
Roth und Elend, 

Nachdenklich mujterte Bulgakin ihr Liebliches Geficht, deſſen eigen- 
thümlich fremder Ausdrud ihm auffiel. „Sie liebt mic) wirklich“, 
dachte er bei jich. „Meine Abwejenheit hat ihr mehr Kummer bereitet, 
als ich geglaubt hätte“ Er wußte ja nicht, weldye Gedanken hinter 
ihrer weißen Stirn ſich verbargen, was in den Tiefen ihrer Seele fich 
regte und ihr Herz jo wild pochen machte. 

„Komm, Steine, laß Dich ankleiden“, begann Gleb Dmitritjch 
nad) einer Weile. „Ich habe die Gebrüder Korfow und Deinen Lieb— 
ling Frangois Sſawelitſch mitgebracht. Ste finden es gewiß nicht 
liebenswürdig, fie jo lange allein zu lafjjen. Ich würde auch mit Ber: 
gnügen frühſtücken!“ 

Sie ſtrich mit der Hand über Stirn und Augen. 

„Beitelle das Frühſtück, Gleb, ich fomme bald.“ 

Der Diener war noch mit dem Deden des Tiſches auf der 
Beranda bejchäftigt, als Eltane erjchien. Won dem violetten Seiden- 
fleide mit dem fielen Halsausichnitt und den nur aus Schleifen und 
ſchwarzen Spigen gebildeten Aermeln hob Ir, geijterhaft bleich ihr 
feines Geficht mit den fieberhaft brennenden Augen ab. Mit Tächeln- 
dem Munde nahm fie die Huldigungen entgegen, welche die Herren 
fic) beeilten, ihr darzubringen. 

Man jervirte das Frühſtück und die Gejellichaft ſetzte fich zu 
Tiih. Das Geſpräch bewegte jich anfänglich in den Grenzen der 
Tagesbegebenheiten, nach den erſten Gläjern Wein nahm es eine freiere 
Färbung an. Yrangois — Elianens nächſter Nachbar, ein 
beweglicher Franzoſe, der feinen ftechenden Blid hinter einem bläu- 
lihen Pincenez zu verbergen trachtete, ftüßte die Ellenbogen auf den 


Ein Kind der Welt. 663 


Tiſch und gab eine der pikanteſten Anekdoten zum beiten, deren er 
inmer in Bereitichaft hatte. 

Eliane war oft Zeugin ähnlicher Scenen gewejen, die fie zwar 
nie bejonders angenehm berührt hatten, die fie indejjen hingenommen, 
als etwas unvermeidliches. Heute aber erfüllte es fie mit jolchem 
Widerwillen, daß es fie Ueberwindung Eoftete, auf ihrem Plate figen 
zu bleiben. Das Bild Sinas trat wieder vor fie hin, das zierliche, 
blonde Köpfchen mit dem klaren Blid der grauen Augen. Man hatte 
Sina ja jo jorgjam von dem Niedern, Schlechten fern gehalten — 
und fie — fie jtieß man in diefe Umgebung, die die Seele vergiften 
und Scham und Sitte vom Werbe jtreifen mußte. Man brachte den 
Champagner. Gleb Dmitritih und die Gebrüder Korkow taufchten 
in ruſſiſcher Sprache ihre Meinung über den Berfauf eines Grund- 
jtüdes aus. 

Eliane antwortete einfilbig auf die Liebenswürdigkeiten ihres 
Nachbars. Aber als er mit dem jchäumenden Glaſe jich zu ihr neigte 
und ihr etwas zuflüfterte, zudte fie empor, wie von einer Schlange 
gejtochen. Mit einer wilden Bewegung goß fie ihm ihren Champagner 
ın das Geficht, jchleuderte das Glas weit fort in den Garten, dag es 
— in Stücke ſprang, und ging nach ihrem Boudoir, wo ſie ſich 
einſchloß. 

„Alle Wetter, iſt Ihre Kleine aber reſolut“, meinte François 
Sjawelitjch, ſich mit der Serviette das Geſicht trodnend, während 
a der jüngere wie ein Kobold lachte und Bulgakin ärgerlich be— 
merkte: 

„Sa, weiß der Himmel, was Sie ihr da aud) wieder für Undinge 
gejagt haben.“ 


* * 
* 


Seit jenem Tage waren vier Wochen verflojjen. Paſcha, das 
Kammermädchen, lag neben ihrer Herrin auf den Knieen und ordnete 
die Falten der Robe, welche Eliane jveben als das Neuejte aus dem 
Modemagazin erhalten. Dabei erzählte fie Eliane, dab heute Sinaida 
Nomanownas Hochzeit in Moskau ftattfinde. Sie hatte es von ihrer 
Freundin, Die bei den Trionoff ald Stubenmädchen diente und heute 
in Puſchkino gewejen war, um einige auf der Datjche vergefjene Ge- 
genſtände zu a 

„Und Du weißt, in welcher Kirche?“ fragte Eliane haſtig. 

„Sch weiß eg, und die Trauung iſt um Sehe Uhr abends.“ 

„D, ich will Hin! Du mußt mit mir fommen, Paſcha, und mic) führen.“ 

Ganz erregt theilte Eliane Gleb Dmitritich ihren Plan mit. 

„Wenn e3 Dir Vergnügen macht, wollen wir hin“, verjeßte er 
lächelnd. „Obgleich ich völlig überzeugt bin, daß das, was man zu 
eben befommt, in feiner Weiſe für die Stunde Eijenbahnfahrt ent- 
hädigt. Dieje Eleine, blonde Trionoff ift doch wahrhaftig nicht ſchön!“ 

„Sleichviel, gleichviel, ich will hin!“ rief jie lebhaft. 

„But, ich höre und gehorche”, lachte er. „Aber in die Kirche 
fomme ich nicht mit; ich hole Did, hernach von dort ab. In —— 
acht Tagen ziehen wir übrigens ganz zur Stadt, dann iſt Deine 
Wohnung fertig. Es wird hier ſchon langweilig.“ 


— 


664 Fin Kind der Welt. 


Eliane erwiderte nichts, aber fie trieb ihr Mädchen zur Eile, ob— 
leich es noch viel zu früh war, ließ den Kutjcher zweimal zum Anz 
pannen mahnen und fonnte, als jie mit Bulgafin im Waggon ſaß, 
faum den Abgang des Zuges erwarten. In Moskau angelangt, wies 
fie Gleb Dmitritſchs Vorſchlag, ſich ein Stündchen im Hötel zu er: 
holen, ungeduldig zurüd und erklärte auf feine Bemerkung, daß es 
noch viel zu früh jet, fich in die Kirche zu begeben, fie würde mit 

Paſcha zu Fuß dorthin gehen. 

Als fie endlich, gefolgt von dem Kammermädchen, die Kirche be- 
trat, und durch die jchon zahlreich verjammelte Menge ſich einen Weg 
bahnte, blieb mancher Blick an ihr halten und manches Wort der 
Bewunderung wurde laut. Sonſt hatte jie das gefreut, heute war es 
ihr läftig und fie fühlte ſich erjt geborgen, als ſie im Schatten eines 
— ſtand. Von dort aus überſchaute fie die Kirche, die in einem 
!ichtmeer jchwamm, dejjen breite, von bläulichen Weihrauchwolken 
gedämpfte Wellen über die goldenen Strahlen der Altarthür, die gol- 
denen Rahmen der Heiligenbilder und die hoben, jilbernen Leuchter 
binjpielten. Im der ganzen dichtgedrängten Menge von Gäjten in 
diefem Durcheinander von Atlas, Sammet und Brillanten der Tonnen, 
den jchwarzen, ordengejchmücten Fracks und glänzenden Uniformen 
der Männer gab es für Eliane nur einen Bunft, der ihre Aufmerf- 
famfeit fejjelte: das jchlanfe Mädchen im weißen Seidenkleide unter der 

ülle des lang niederwallenden Schleier an der Seite des jungen, 
Yang Vragesirde Mannes. Sie waren beide ernſt und bleih und 
ihre Blide hoben ji) nicht vom Boden bei den verjchiedenen Cere- 
monien, mit denen die griechijch-rechtgläubige Kirche ihre Trauungen 
verbindet. Es war, als vergäßen fie einander ganz über der Feierlich- 
feit des Momentes, als bewegten fie in ihren jungen Seelen nur das, 
was der in jtarren Goldbrofat gefleidete Rriclter ihnen eintönig vor- 
ſprach, was der Chor der Ktirchenjänger jang. 

Eliane folgte aufmerfjam dem Gange der Ceremonie. Das Halten 
der Krone über dem Haupte des Paares, dejjen dreimaliger Rund— 
gang unter . des Prieſters waren ER ebenjo neu, wie Das 
Aufrollen eines Stüdes roja Atlas zu den Füßen der Beiden, vor 
dem die blonde Braut bejcheiden ftehen blieb und dem Manne en 
Wahl den Bortritt gab, zum Zeichen, daß nie fie, jondern er das 
Oberhaupt in der Ehe jein möge. 

ie eierlichkeit war zu Ende, und Eliane jah den jungen Neu— 
vermälten den Arm um Sinas jchlanfen Leib legen und fie in Gegen: 
wart aller auf den Mund küſſen. Und fie jchlug die feuchten Augen 
auf und ihre Blide begegneten jich in einem Aufftrahlen gegenjeitiger, 
inniger Hingebung, während ein glüdliches Erglühen ihr Tiebliches 
Geſicht farbte. Dann verließen fie die Kirche, welche in wenigen Augen— 
blicken ſich Leerte. 

Mit weit geöffneten Augen ſchaute Eliane dem Paare nach. Es 
ſchien ihr, als zöge alle Heiligkeit, alle Weihe, alle Helligkeit des Ortes 
mit dieſer jugendlichen, weißgekleideten Geſtalt davon, die ihr liebreizend 
und verehrungswürdig vorkam, wie noch nichts in der Welt. Und 
der rg den jte in den legten Wochen durch verdoppelte, wilde Fröh— 
lichkeit zu bannen gejucht, trat wieder in ganzer Gewalt an fie heran. 


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Ein Kind der Welt. 665 


Die Reinen, die Geachteten wieſen fie mit Widerwillen zurüd und zu 
den Berachteten wollte fie nicht gehören, die Erde hatte feinen Raum 
für fie! Alles, alles war für jte zu Ende. Sie vermochte es nicht, 
ſich diefem Kreiſe zu entziehen, der jie mehr und mehr bejudelte, je 
länger jie in ihm weilte. Ihre Ovangenblüten waren zerdrüdt, ihr 
Schleier zerriffen, und der, dem ſie jich hingegeben, ſprach lächelnd von 
dem Ende ihrer Liebe! Sie jank auf die Kniee und drückte die Stirn 
gegen die falten — es Bodens. ‚Verzeihe mir, großer Geiſt, 
wenn id) nicht nach Deinem Rathſchluſſe handele“, flüſterte fie und 
ihre Thränen tropften auf den Boden. „Wenn ich Dir meine Seele, 
von der fie jagen, jie jet unsterblich, wiedergebe, ehe fie bis zur Un— 
fenntlichkeit entjtellt und entwürdigt iſt.“ 

Die Magd warf einen verwunderten Blid auf das farblofe, 
thränenüberitrömte Gejicht Elianens und raunte ihr zu, während jie 
ihr vom Boden aufhalf: „Gleb Dmitritſch wartet draußen.“ 

Bulgakın ging vor der Kirchenthür auf und ab. 

„Wo bleibit Du jo lange, Kleine“, redete er jie ein wenig unge— 
duldig an. „Komm, wir wollen in die Eremitage fahren und ſpeiſen.“ 

„Aber ich kehre heute Abend nach Haufe zurüd“, entgegnete fie 
dumpf; die Thränen erjtidten ihre Stimme. 

„Ganz wie Du willjt, mein Kind“, gab er bereitwillig zu. „Ich 
muß diefe Nacht in der Stadt zubringen.“ 

_„Baicha iſt ja mit mir“, jagte ſie. „Auch Habe ic) den Kutſcher 
mit der Equipage an die Bahn bejtellt.“ 

Gleb Dmitritjch gab der Magd Geld und die nöthigen Anord— 
nungen und fuhr mit Eliane in das in Moskau allgemein bekannte, 
reich ausgeitattete Hötel. Da fie feine Luft hatte, in dem großen, ge 
meinjchaftlichen Saale zu jpeijen, jo nahmen jie eines der neben dem: 
jelben belegenen SKabinetts. Er jtudirte jorgfältig die Wein- und 
Speiſekarte, während Eliane im Zimmer auf und abjchritt, von Zeit 
u Zeit das Taſchentuch gegen Stirn und Augen drüdend. Der 
Reiner war faum verjchwunden, um das beitellte Eſſen herbeizufchaffen, 
als Eliane vor Bulgalin hintrat und ihn mit I) jeltfamem Blicke 
mufterte, daß es ihn wie Unbehagen überfam und er von jeinem 
Stuhle aufjtand. 

„Gleb Dmitritjch”, begann fie tief und mühſam athmend. „Liebten 
Sie mid), ald Sie mich aus hierher brachten?“ 

Es lag etwas unerflärliches, feterliches in ihrer ‘Frage, was ihn 
zwang, ohne Zögern zu antworten: 

„sch liebte Dich, Eliane.“ 

„Aber wenn Du mich Liebtejt, Gleb, warum hajt du fein Mitleid 
mit mir gehabt, warum haft Du mir nicht gelaat: „Eliane, flieh den 
Weg des ek der Sünde, der alles Edle und Reine im Weibe 
vernichtet und dajjelbe herabdrüdt zu einer erbärmlichen, verachteten 
Kreatur. Es ift nicht der Frauen Beruf, in Müfjiggang und Ueppig- 
feit dahinzuleben, nad) Vergnügungen und Put zu jagen, fie haben 
auch ernite zen zu erfüllen. Warum haſt Du mir nicht gejagt: 
„Bleibe in der Nähe des Mannes, der es ehrlich mit Dir meint, 
heirate ihn, jei ihm eine treue Gattin; vergiß die thörichten, überjpann« 
ten Ideen Deiner Kinderjahre, vergig meine Schmeichelvorte, meine 

Ter Salon 1887. Heft XIL Bank II. 45 


666 Ein Kind der Welt. 


NEN, bleibe in Deiner bejcheidenen Stellung, und Du wirft 
nie Schmach und Reue fennen lernen.“ 

Ste hatte bisher in weichen, Elagenden Tönen Ken jetzt 
warf fie ſich in einen Stuhl und brach in leidenſchaftliches Schluchzen aus. 

„ber ich bitte Dich, Eliane“, mahnte er, unangenehm berührt 
durch ihre Worte. „Du wirft mir bier doc) feine Scene machen!“ 

„Oder wenn Du dazu nicht edel genug warjt, wenn Du dem Ber- 
langen, die jchöne, jo leicht erworbene Beute mit Dir, heimzunchmen 
nicht widerjtehen fonnteft, warum ließeſt Du mich allein, daß ich mit 
jenen in Berührung fam, die mir meine Gejunfenheit zum Bewußtjein 
gebracht, die mich gelehrt, daß es ſüß iſt, mit offener Stirn jedem be- 
egnen zu können, Achtung und ehrerbietige Behandlung zu verdienen. 
Di Gleb, Du wollteft nur meine jugendfriiche Schönheit und ob meine 
Seele dabei zugrunde ging, das war Dir gleichgiltig“ Die lebten 
Worte jprach fie mit müder, leifer Stimme. Den Kopf in die Hand 
gejtüßt, blieb fie jchweigend, mit gejenkten Wimpern jigen. 

„Sch erkenne Dich nicht wieder, Eliane*, ergriff Bulgafın das 
Wort. „In leßter Zeit warjt Du jo heiter und liebenswitrdig, als 
irgend möglich, und heute haft Du nur Vorwürfe und wieder Vor— 
würfe für mich, Was willft Du dadurch erzielen? Was einmal ge- 
ſchehen iſt, ijt gejchehen und nichts tft dabei zu ändern.“ 

„And nichts iſt dabei zu ändern“, wiederholte fie halblaut. „Und 
es ijt doch jo traurig, jich das jagen zu müjjen. Aber ein Tag fann 
viel; er kann nicht wieder gut machen, aber größeres Elend verhindern.“ 

Der Diener trat mit dem Eſſen ein, jervirte und entkorkte die 
Flaſchen. Eliane berührte kaum die Speifen und wies den Wein 
zurück. 

„Aber, liebes Kind, ſo iß doch“, ſuchte Bulgakin ſie zu überreden. 
„Der Zug geht erſt um acht Uhr ab und jetzt iſt es kaum ſieben.“ 

„sn zehn Minuten fahre ich von hier aus“, entgegnete ſie haſtig, 
ihren Teller zurückſchiebend. 

„Du zähljt ja Fürmlid) die Minuten bis zur Abfahrt, als wolltejt 
Du — wie möglich jedes Zuſammenſein mit mir verkürzen“, meinte 
er pikirt. 

Thränen traten in ihre Augen, die ſich träumeriſch und traurig 
auf ihm richteten. „Ich danke Dir für jede Minute, in der Du wirk- 
liche Liebe für mich gefühlt haft ohne den Beigejchmad der Berachtung, 
ohne den Nebengedanfen, daß mich einjt eine andere erjeßen könnte“, 
jagte fie plöglich innig. | 

Er lieg Meſſer und Gabel finken und jah fie an. „Eliane, Du 
wirft immer unbegreiflicher“, bemerfte er. 

„Und für jede Minute dieſer Liebe wünsche ich) Dir Jahre des 
Glückes“, fuhr fie ebenjo weich fort, „aber nicht jcheinbares, buntes, 
rauschendes Glück, das nur betäubt, jondern ganzes, dauerndes, das Die 
Seele wirklich ausfüllt.“ 

Sie erhob fi) und ſtreckte ihm die Nechte hin. „Leb’ wohl, Gleb.“ 

Er jtand ebenfalls auf umd wollte fie an fich ziehen. Mit einer 
abwehrenden Bewegung trat fie zurüd. „Ob, ich bitte Dich, Liebkoje 
mich heute nicht, ich eis es nicht ertragen“, murmelte fie und ein 
Ausdrud der Qual aing über ihre erblaffenden Züge, 


Ein Kind der Welt. 667 


„Du bift nervös aufgeregt, Kleine“, meinte er. „Der Gejang und 
der Weihrauch in der Kirche Sind Dir zu ungewohnte Dinge. Mlorgen 
ijt alles wieder gut, nicht wahr?“ 

„Morgen“, ſprach ſie langjam nad. „Ja, Morgen.“ 


* * 
* 


Es war ſchon dunkel, als Eliane in Begleitung des Kammer— 
mädchens zu Haufe anlangte. Paſcha nahm Hut und Mantel in 
Empfang und Eliane ging nad) dem Schlafzimmer. Sie entledigte 
jich des eleganten Kleides und warf eine a Cachmirbluſe über, 
deren fofetter Schnitt den weißen Hals und die jchön gemeißelten 
Arme frei ließ. Sie sog die Haarnadeln aus dem Haar und nahm 
die dunfeln Loden im Naden mit einem jeidenen Bande zujammen. 
Dann trat jie vor den Trumeau, wo fie, von dem fladernden, röth- 
lichen Lichte der Kerzen beleuchtet, einen Moment regungslos jtehen 
blieb. Wie in — Frage prüfte ſie ihr Spiegelbild, das mit 
den lang niederfallenden Gewändern, den entblößten, mit Goldreifen 
geichmücten Armen und den entfeffelten Haarmaſſen fich jcharf von 
dem mattjchimmernden, jilbernen Hintergrunde der Tapete abhob. 

Sie wandte ich ab, und wieder trat J näher und die langbe— 
wimperten Lider hoben ſich und langſam, als könne er ſich nicht los— 
reißen, glitt ihr Blick über die jugendſchöne Geſtalt, die ſo fremd aus 
dem goldenen Rahmen des Glaſes ſchaute. Ein furchtbarer Schmer 
krampfte Elianens Herz zuſammen und verzerrte ihre Züge. „Leb 
wohl, Eliane“, klang es zitternd von ihren Lippen, und es war, als 
halle der Laut leiſe klagend von den Wänden wieder. Sie wickelte 
ſich in einen großen, weichen Plaid und trat auf die Veranda hinaus. 
Feucht und kühl wehte die Abendluft ihr entgegen, Wolken zogen 
langſam über den Himmel fort, hin und wieder brachen mit fahlem, 
mattem Scheine die Mondesjtrahlen durch das Gewölf. Eliane trat 
an das Geländer der Veranda und jchob die Vorhänge zur Seite. 
Ihre Gedanken kehrten wieder zu Sina zurüd, zu der ſchlanken Ge— 
italt im weißen, bräutlichen Gewande. Sie jah das holde, bleiche 
Gefichtchen mit den ler Wimpern und dem fejt gejchlojjenen 
Munde wieder vor ſich. Jetzt war jie die Battin des Mannes, dem 
ihre Seele gehörte, und ohne Scheu durfte fie ihm den ganzen tiefen 
Liebesreihthum ihrer reinen Brujt zeigen. Und wenn das Leben 
Sina das nicht bot, was ſie von demjelben erwartete, wenn das in 
der Ehe erhoffte Glück zu jchaler Alltäglichfeit herabjanf, wenn fie 
einjt unglüdlich ward, jo war jie doch nicht jo elend, wie Hunderte 
ihres Gejchlechtes, es blieb ihr ja die Erinnerung an eine Zeit ihres 
Lebens, wo alles licht und oh für he war, an die Zeit ihrer keujchen, 
jelbitlojen Liebe, die in dem kleinſten, unbedentendjten Etivas ein 
werthvolles Andenken von dem Geliebten erblidte. 

Eliane lehnte den Kopf an die Säule neben ihr und blidte 
finnend in den dunfeln Garten hinaus. Ihre Liebe lag nicht auf 
dDiefem zarten, duftigen Hintergrunde, aber auch für jie hatte es eine 
Zeit gegeben, wo ihr nichts ferner lag, als der Gedanke an ein Ende 
Serielben. Oh, warum war fie nicht geitorben, untergegangen in dem 

45* 


668 Ein Kind der Welt. 


lammenmeer der Leidenjchaft damals, als fie noch der bejeligende 

ahn einer immer dauernden Liebe umfing! Cie liebte ihn nicht 
mehr! Zu Ende, zu Ende! Eine Rückkehr gab es für fie nicht, es 
bot jich ıhr nur ein Ausweg! 

Sie gedachte des Mannes, der fie zu jeinem Weibe machen ge— 
wollt, des lebhaften, oft aufbraufenden Jules, der jo voll Zärtlichkeit 
und Aufmerkſamkeit für fie gewejen. Er war mit jolchem Eifer be- 
müht, den Eleinen Laden einzurichten, in welchem ſie, als jeine Frau, 
fünjtliche Blumen verkaufen jolltee Er hatte ihr mit jo lebendigen 
Farben das Bild ihres gemeinjamen Wirkens und Schaffens gejchildert 
und jie war mit — Begeiſterung darauf eingegangen bis zu dem 
Augenblicke, da Gleb Dmitritſch mit ihr in Berührung kam; da ver— 
ſchwand alles! Ob er die treubrüchige Braut wohl vergeſſen hatte? 

Sie ſtieg die Stufen hinab und blieb mitten im Gärtchen jtehen. 
Die jcharfe Nachtluft hatte Schon längjt das frijche Grün der Blumen: 
blätter gebleicht, ihren Kelchen Duft und blühende Farbe genommen; 
fie welften langjam ihrem Tode entgegen. Die Amoretten blickten 
nicht wie jonjt lächelnd auf fie nieder, eine wehmüthige Frage jchien 
auf ihren farblojen Lippen zu jchweben: „Was willit Du beginnen, 
Eliane, wohin, wohin?“ 

Zangjam ging fie über den Najenplag dem Fluſſe zu. Dürres 
Laub raschelte au ihren Füßen; das leije Geräujch that ihr weh und 
erwecte jchmerzliche Gedanken in ihr: fie waren aud) einjt frifch und 
grün gewejen, diefe Blätter. Froſt und Sturm Hatten fie entfärbt 
und zu Boden geworfen. Niemand dachte mehr an das Entzüden, mit 
dem man fie begrüßte, als fie ihre Blütenfnojpen jprengten. Man 
zertrat jie zu Staub und feine Thräne wurde ihnen nachgeweint: es 
mußten ja wieder andere kommen zu jeiner Zeit! 

mischen den Baumkronen jchimmerte ıhr ein Stern entgegen. 
Abermals blieb ſie jtehen und hob das Antlig empor. „Du lächelit 
jo freundlich, weil Du nicht weißt, auf wen Du blidjt“, jagte fie laut, 
als müſſe der lebloje Himmelsförper fie hören und verjtehen. „Du 
weißt nicht, daß die Erde feinen Raum für mich hat.“ 

Wie hoch umd düjter das Himmelsgewölbe ſich hindehnte. Was 
diejen weiten, bläulichen Raum wohl füllte? Ob auch die das AU 
umfafjende, göttliche Liebe, die durch jchmerzvollen Tod eine ganze 
Welt erlöjte? Es war ein liebliches Wort, aber fie hatte feinen Theil 
daran, es war wohl nur für die gejprochen, die durch Reinheit und 
QTugend der Gotthert näher jtanden. Sie jtredte die Arme zum Him— 
mel aus und ein namenlojes Weh überfiel fie. „Warum it es doch 
jo unglaublich jchwer, dieje Erde zu verlajjen, wenn man erit achtzehn 
Jahre lang ihre Schönheit, ihren Wechjel und ihr Leid fennt“, mur— 
melte fie. „Und wie, wenn ich zurückkehrte zu den Freuden der Welt, 
wenn ic) durch verdoppelte, wilde Luft die Dede meiner Brut zu be- 
täuben juchte?" Ein Fröſteln jchüttelte fie, fie hüllte ſich enger in 
den Blaid. „Oh und das Ende? Ich fände dann nicht einmal mehr 
die Kraft, dieſes erbärmliche Dajein freiwillig von mir zu werfen.“ 

Sie ging weiter, immer weiter und jtand erjt am Fluſſe ſtill. 
Ein Gefühl unwiderftehlicher Angſt überfiel fie, als fie das Wafjer 
jo dunfel und lautlos vor ſich Liegen jah. 


Ein Kind der Welt. 669 


„Die Menjchen haben feine Hilfe für mich, fie ſtoßen mich zurück 

u der Sünde, die mir Abjchen einflößt, der Weg, der zu Tugend und 
einheit führt, iſt für mic) verfperrt. Willſt Du mir auch verweigern, 
was ıch von Dir fordere?“ 

Sie neigte ji) zum Waſſer und trat jchaudernd wieder zurüd. 
Dann jebte Ne fid) auf einen Stein am Ufer und flocht in jtummer 
Verzweiflung die Sände in einander. Ihre ganze Vergangenheit er: 
Itand nochmals vor ihr und überjchüttete jie fürmlic mit ihren jelt- 
jam lebendigen Erinnerungen. Wie wellenförmig ich bewegende Lichter 
und Schatten zogen fie durch ihre Seele, deren brennendes Weh in 
tiefes, jtilles Trauern fich wandelte. Es war, als ob die Mutterhände 
jie wieder berührten, als ob ein warmer Athem ihre Wange jtreifte 
und eine janfte Stimme ihr ins Ohr flüfterte: „Schlaf wohl, kleine 
— Ja, ſchlafe wohl, Eliane, und vergiß Dein Elend und Deine 
Schande! 

Eliane erhob ſich und ihre Blicke irrten angſtvoll über die dunkle 
Wafjerfläche, 

Da theilten jich die weißlich jchimmernden Wolkenmaſſen und in 
breiten Strömen erhellte das Mondeslicht den Fluß. Den Plaid zu 
Boden werfend, trat Eliane hart an das Ufer und im nächſten Augen— 
blide wogte das Waſſer ie und plätjchernd auf, ein leijer 
Wehelaut hallte durch die jtille Abendluft, — noch einmal hob jich ein 
weißer Arm mit einem funfelnden Goldreif empor. Dann ſchloß Ir 
das Wafjer und zog feine Kreiſe weiter und weiter und — ſi 
über der Stelle, wo die den Tod gefunden, für welche die Erde keinen 
Raum gehabt. Und auf der dunkeln, unbewegten Oberfläche des 
Fluſſes ſpiegelten ſich die Sterne wieder wie Augen, die in Thränen 
glänzten, und ein Rauſchen ging durch die Lüfte, als flöge ein Engel 
der Barmherzigkeit über die nä — Lande dahin und ſtrecke ſeine 
Hand — aus über das feuchte Grab der Verlorenen, welcher 
menſchliche Tugend Hilfe und Vergebung verſagt! 


AN. 





Grillparzer und feine Beziehungen zur Tonkunft. 
Von Ferdinand Pfohr. 
l 


rillparzer ift eine jener merkwürdigen Erjcheinungen in 
der Literaturgejchtchte, deren künſtleriſcher Lebensbe- 
thätigung ımglaublihe Hindernijje himvegzuräumen 
blieben, bevor jie zu jener Stellung gelangten, die 
Tihrem Talente, die ıhrer Individualität gebührte, eine 
Stellung, die ihnen Die on ihrer Umgebung 
"und eine durd) Borurtheile und Wahnideen verdüjterte Zeit 
[ [eider nur zu lange vorenthalten hatte. Grillparzers zwingende 
Senialität ijt jedermann geläufig und doch find jeine Werke in 
ihrer Gejanmtheit nur wenigen befannt; der äußere Gang feiner poe— 
tijchen Entwidelung iſt merfwürdig genug: die Lorbeeren, die Dem 
Awanzigjährigen in überreicher Fülle zutheil wurden, immer ſpär— 
licher werden fie mit zunehmender Reife und der mit ihr immermehr 
zutage tretenden klaſſiſchen Durchgeiftigung feiner dichteriichen Vor— 
wiürfe; der Dichter —98 immer vorſichtiger in ſeinen Beruͤhrungen 
mit der Oeffentlichkeit, und als Laube in Pe lee Freundſchaft Das 
ganze Gewicht jeines Anjehens und feiner Macht zu Gunjten Grill- 
parzers in Die ——— wirft und durch muſterhafte Aufführungen 
der Dramen ſeines Dichters einen neuen glänzenderen Ruhm dem mit 
der „Ahnfrau“ verbleichenden zugeſellt, ſelbſt dann noch bewahrt in 
faſt jungfräulicher Scham der —* von Gottes Gnaden ſeine für 
viele unbegreifliche Zurückhaltung und vereinſamt nach außen hin 
immer mehr und mehr; der Lärm des Literaturlebens läßt ihn kalt; 
er unterhält feine oder doch nur fühle Beziehungen zu jchriftitelle- 
riichen Berühmtheiten, zu literariichen Streifen. So kam es, daß 
Grillparzer als Dichter eine namentlich in Deutſchland höchſt einjeitige 
Würdigung erfuhr; den Einen war er der — Bureaufrat, 
der eingef — Oeſterreicher, den Meiſten der Dichter der „Ahnfrau“, 
grujeligen Angedenfens. Man warf ihn mit Müllner und Werner in 
einen Kopf zuſammen. Schidjalstragödie, Schiejalstragödie! „Die 
Kritif konnte diefem außerordentlichen Stüde gegenüber den pedanti- 
schen Standpunkt Iange nicht [08 werden. Sie war in ihrem Rechte, 








Grillparzer und feine Beziehungen zur Zonkunft. 671 


joweit jie die Gefahr erfannte, gerade durch cine außerordentliche 
Leiſtung die jogenannte Schidjalstragödie, welche dus große, das Welt: 
gericht vertretende Fatum der Griechen in ein fleinliches eigenwilliges, 
grillenhaftes Familienſchickſal verkehrte, noch ſtärker auf der deutjchen 
Bühne eingebürgert zu jehen. Ste war im Unrecht, injoweit fie die 
große poetische Kraft, welche in überfommene Formen hineinjtrömte, 
verfannte und nahm vollends eine literarifche Schuld auf jich, als fie 
fortfuhr, den immer jelbjtjtändiger und freier werdenden, den immer 
di Sag hervortretenden Geiſt Grillparzers an dem Jugendwerfe zu 
meſſen.“ 

Schickſalstragödie! Dieſe Anklage war, wie Laube bemerkt, in 
den Sammelwerken, wie Konverſationslexika und Encyklopädien es ſind, 
gleichſam „ſtereotypirt“ worden; dem Dichter aber war es gar nicht in 
den Sinn gekommen, Verbrechen durch Verbrechen entjühnen zu lajjen 
und in der Berfettung von Schuld und unglüdlichen Ereignijjen, 
welche den Inhalt des Trauerjpieles ausmacht, ein neues Syſtem des 
Fatalismus darzujtellen. Und doc) fand gerade dieje „Ahnfrau“, die 
wahrhaft jtroßt von dramatiichem Talent und blendet durch poetische 
Schönheiten, eine jo begeijterte Aufnahme, daß in diefer Beziehung 
die jpäteren Dramen Örillparzers nicht im entferntejten an jein 
Jugendwerk heranreichen. Ja, beinahe mißvergnügt erlebte die gaffende 
Menge, die jich an den Springfluten jchranfenlojer — an 
den ( gi aufgewühlter Gedanken und an den Strudeln einer 
erjtörenden Negation alles Bejtchenden ergögte, das große Schau— 
Bet, daß ſich der wogenjchlagende Strom erregt=poetiicher Empfin= 
dung unſeres Dichters in den Ufern klaſſiſcher Formen glättet und 
mit erhabener Ruhe in neuem Bette dahingleitet. Aber die große 
Menge begreift nimmer den Kulturzwed des Stromes; fie weiß nichts 
oder nur abenteuerliche Gerüchte von den fernen Landen, die feine 
Ufer jäumen ... 

Wer ſich mit Grillparzer freundjchaftlich befannt gemacht hat, 
dem werden bei der Lektüre jeiner Schriften eine Menge theils epi— 
grammatiſch jcharfer, teils äſthetiſch kritiſcher —S aufgefallen 
ſein, die nicht zum geringſten Theil jener „freieſten, einzig freien aus 
der Echweiterfünjte Drei“, der Tonkunſt gelten. Grillparzer war das, 
was man einen guten Mufifer nennt: zu der —— Veran⸗ 
lagung, die freilich bei ihm auf dem halben Wege ihrer Ausbildung 
ſtecken blieb, geſellte ſich ein aufgeſchloſſenes, an Mozarts und Beetho— 
vens Werken gebildetes Muſikverſtändniß, das ihn mit oft bewunde— 
rungswürdiger Unfehlbarkeit auf das Richtige hinleitete und dieſes 
feſthalten ließ. Seine techniſch-muſikaliſchen Kenntniſſe ſind wohl nicht 
allzu hoch, aber auch nicht zu gering anzujchlagen, obwohl oder viels 
feicht weil er als junger Mann Unterricht von dem befannten Wiener 
Hoforganijten Sechter erhielt, demjelben Scchter, der als Variationen— 
Sichter durch jeine 100 + x Bartationen über irgend ein Thema (die 
Lorbeeren Beethovens ließen den — Mann nicht ſchlafen) in der 
Muſikgeſchichte zu eben ſo trauriger Berühmtheit gelangte, wie etwa 
der Leipziger Kantor Schicht, der den Komponiſten der IX. Symphonie 


*) Alfred Klaar, „Geihichte des modernen Dramas“, S. 169. 





672 Grillparzer und feine Beziehungen zur Tonkunſt. 


„ein muſikaliſches Schwein“ nannte. Uebrigens mujizirte man in Grill: 
parzers Vaterhauſe recht Hetbig: den eriten Klavierunterridht erhielt 
der Eleine Franz von jeiner Mutter. Das Klavierbändigen jcheint 
ihm aber nicht recht behagt zu haben, jintemalen jeine in ıhrer Liebe 
für die Muſik wohl etwas übertrieben leidenjchaftliche Mutter durch- 
aus nicht Die ei Schonung walten ließ, wenn er „Daneben“ griff: 
und Franz griff leider immer daneben, denn wie er in jeinen Tage- 
buchblättern — die zuerit Prof. E. Hanslid durch QWermittelung von 
Katharina Fröhlich zu Gefichte befam und auch theilweiſe veröffent- 
lichte — erzählt, mußte er, noch bevor er den vollfommenen Gebrauch 
feiner Gliedmaßen hatte“ ans Klavier heran und wenn er einen Ton 
fehlgegriffen, riß jeine Klaviermutter die Eleine Hand rauh von den 
Taſten hinweg. Bald darauf befam er einen Stlavierlehrer, der auf den 
Namen Johann Mederitic) oder Gallus hörte. Diefen nennt Grill 
parzer „einen ausgezeichneten Kontrapunktiſten, den aber Leichtſinn 
und Faulheit hinderten, jeine Kunjt zur Geltung zu bringen“ Die 
Klavierjtunde unter einem in dieſer Keife charakterıjirten Lehrer ſah 
jonderbar genug aus. Lehrer und Schüler frochen mehr unter dem 
Klaviere herum, als daß ſie darauf gejpielt hätten. 

Mederitſch war ein Meijter in der freien Phantaſie: hatte er Die 
erite Hälfte jeiner Slavierjtunde mit Kinderpoſſen glüdlid) todtge- 
ichlagen, jo füllte er die peinliche zweite Hälfte mit Phantajiren aus; 
diefer Gallus ijt es jedenfalls gewejen, der in der Seele des Knaben 
den erjten Antrieb erwecte für diefe Kunſt, die nicht an Äußere weit 
entwidelte ?ertigfeit gebunden ijt, jondern aus der Tiefe der Brut 
ohne Zwang und Wegel hervorquillt. In jeiner jpäteren Lebens— 
periode, da eine verfnöcherte Bureaufratie und der Unverjtand, dem 
er überall begegnete, trübe Schatten in die Seele des Dichters ge— 
worfen, war es gerade das Phantafiren, das ihm Vergeſſen jener 
großen und Eleinen Schmerzen brachte. 

Stundenlang jaß er danı in der Dämmerung am $tlaviere, träu— 
mend und Ddichtend. Im jener Zeit der Klavierjtunden aber hatte 
Franz eine heftige Abneigung gegen das Klavier gefaßt; er wollte fich 
dem läftigen Zwange entziehen und als jein Bruder Geigenjtunden 
nahm, verliebte ſich Franz geradezu in die Violine; er übte nun jo 
iiberaus fleigig Skalen und Paſſagen, daß er in furzer Zeit mit dem 
erjtaunten Geigenlehrer Duette jpielen konnte; die Eltern machten 
indejjen diejen nicht vorgejehenen und nicht gewollten Birtuojenan- 
läufen ein, frühes Ende; Franzens Streben war nun racheheiſchend 
darauf gerichtet, auch dem Klavterjpiel den wohlverdienten Untergang 
zu bereiten; das Ende vom Lied fiel beinahe grotesf = komisch aus. 
Bei einer Soiree in Grillparzers Elternhauje jollte auch Franz die 
‚Früchte eifriger Kunftbejtrebungen in Elingenden Beifall — 
nachdem ſoeben Franzens Bruder ſeinen erſten — gefeiert; aber 
Franz war nirgend zu finden... man ſuchte ... Alles vergeblich; 
Franz war und blieb verjchwunden. Als ſich aber die Gäſte verzogen 
hatten, tauchte er urplöglich wieder auf... er hatte fic) in das Bett 
des Bedienten verkrochen. 

Bon nun an blieb er von Klavierſtunden verjchont; er ſpielte 
nicht mehr Klavier, aber bald äußerte jich der ihn erfüllende Muſik— 


Grillparger und feine Beziehungen zur Tonkunſt. 673 


trieb in anderer Form, er fomponirte: jonderbarerweije war e3 eine 
Horaziſche Ode „Integer vitae, scelerisque purus“, die er oft des Abends 
um — zum Klaviere ſang; er blieb jedoch nicht bei dem einen 
Ve we itehen, jondern wagte e3 bald mit einem Gedichte Heines 
(„Du ſchönes Schiffermädchen“), nachdem vorher jchon jeine Kompo— 
jition zu Goethes „König von Thule“ jelbjt die Billigung und den 
Beifall des geitrengen Vaters gefunden. Felle Yanslıd, der die 
Driginalmanujfripte gejehen, erzählt, jie jeien mit feiner, deutlicher 
Notenschrift aufgejegt und wenn auch nicht gerade originell in der 
Erfindung, jo beweije gerade in jchlichte Korrektheit, daß der große 
Dichter die Muſik nicht bloß begeijtert anzufingen, jondern fie aud) 
fünftleriich zu handhaben wußte. 

Es iſt befannt, daß Grillparzer fein erſtes Lorbeerreis ſich mit 
einer Novelle „Der arme Spielmann“ erjang. Dieje jcheinbar kunſt— 
(oje und des äußeren Schmudes gänzlich entbehrende, rlihrende Ge— 
ihichte zeugt von empfindungsgroßer Hingabe an die Mufif, von bes 
alücdtem und beglüdendem Sichverjenfen in die Tiefen der Töne. 
Diefe Gefchichte Fonnte nur ein Poet fchreiben, deſſen durftiges Ohr 
zerlechzte in der Schnjucht nach der „ewigen Wohlthat und Gnade 
des Klanges“, dejjen Be wie eine Aeolsharte in wunderjamen Accor= 
den erjchauerte, wenn fich ein fchöner und edler Gedanfe aus jeinem 
Innern losrana. 


Il. 


Obwohl gerade Grillparzer die Selbjtherrlichkeit der abjoluten 
Muſik zu ſeinem oberiten muſikaliſch-äſthetiſchen Prinzipe erhob und 
nichts jo jehr jcheute wie das, was einem Programme ähnlich ſah — 
er ließ ja nicht einmal den vollflommen berechtigten Kunſtausdruck 
„Zondichter“ beſtehen — jo halte ich dafür, daß gerade Grillparzer in 
den Augenbliden * dichteriſchen Inſpiration das Unausſprechliche 
der tiefſten Empfindung als Klang in ſeinem Herzen wiederhallen 
hörte, aber in der Weiſe, daß ihm die Muſik das Programm war zu 
der eben ſich gebärenden Dichtung, im Sen zu jenen berufs= 
mäßigen PBrogrammmufifern, welche einer Tonſchöpfung eine Text— 
unterlage mit Gewalt unterzwingen. Etwas ähnliches wie von Grill: 
parzer gilt ja auch von den zwedbewußten Erfindern und Meijtern 
der Programmmuſik von Berlioz und Lilzt: Berlioz 3. B. ließ ſich 
von jeiner Oattin, einer vortrefflichen englischen Schaujpielerin Shake— 
jpeares „Romeo und Julie“, vorlejen, Liſzt vertiefte jich in die Wırn- 
derwelt des Goethejchen Fauſt. Beide, Berlioz wie Liſzt, dichteten 
gewijjermaßen dieje großen Gedichte nach, freilich mit der Abficht, 
“ mufifalifch einen Flug zur Sonne zu nehmen und die auf dieje Ab- 
jicht gerichtete Fonzentrirtejte Aufmerkjamkeit des Ohres lie die Em— 
pfindung, die ein jeder beim Hören oder Leſen hatte, als Ton, Klang 
und Rhythmus in Feſſeln jchlagen; jo entjtanden die ſymphoniſchen 
Dichtungen „Romeo und Julie“ und die grandioje „Fauſtſymphonie“. 
Der She Gedanfe iſt aljo das Frühere, Urjprünglichere, Die 
muſikaliſche a das Spätere, Abgeleitete, die Deſzendenz des 
poetischen Gedanfens: der Poet wird hier zum Vater des Muriters, 
Nihard Wagner theilt uns, die eben ———— Behauptung be— 


674 Grillparzer und feine Beziehungen zur Conkunſt. 


weijend, in Bezug auf den Werdeprozeh jeiner Tondramen mit, dar 
ji) bei ihm die Poeſie unmittelbar in Muſik umjegte. Es folgt aber 
daraus — wenn etwas ähnlich, wie ich annehme, auch bei Grillparzer 
* vollzog — keineswegs, daß dieſe den neugeborenen poetiſchen Ge— 
anken als Wiegenlied umſummende Muſik zu derſelben vr mit 
enem ſich aufſchwingen müßte Wir haben es, aus den berührten 
Proben zu jchliegen, feinesfalls zu bedauern, da Grillparzer nich 
unter die Komponiſten gegangen; nichtsdeſtoweniger aber muß es eigen- 
thümlich und befremdend erjcheinen, daß er mit jeiner durch und durch 
mufitaliichen nach und mitempfindenden, wern auch nicht vorempfin 
denden Natur als Lyriker nicht freundlicher den modernen Tondichtern 
entgegengefommen ijt, indem er Lieder in jener gewiſſen Form ge 
ſchaffen hätte, welche, wie in den lyriſchen Knoſpen Heines, zur Ber: 
tonung na verführt. Während mancje Lieder Heines über hun: 
dertmal von — und nicht berühmten Tonkunſtler komponirt 
wurden, haben jelbjt die föjtlichiten unter den Grillparzerichen Stim- 
mungsbildern und Liebeslievern faum einen liebevollen Sänger ge 
funden. Der Grund diefer Vernachläjfigung liegt wohl in der Auf: 
fafjung, die Grillparzer von der Poſie eigen war: fie war ihm ja der 
vollendetite Ausdrud des Gedanken: Franz Schubert fomponirte 
zwei Gedichte, „Ständchen” und „Mirjams Stegesgejang“, Franz Lach 
ner die Kantate „Weihgefang” und tendelstohn ein einziges Gedicht 
(op. 8, Nr. 3), als deſſen Textautor merfwürdigerweife — Hoffmann 
von gilt. 

Mit Schubert war Grillparzer ebenjo wie mit Beethoven, weichem 
er einen Operntext „Melufine“ verfaßte, perjönlich oft_in Berührung 
— nachdem den jungen Dichter ſeine erſten Dramen ſchneü 

erühmt gemacht hatten. In Heiligenjtadt wohnte die Grillparzerjche 

Familie Jogar in demjelben Haufe mit dem großen Tonberos; Franz 
war damals noch ein Knabe; ev mochte ſich wohl vor dem Manne 
mit dem finjter blickenden Charakterkopfe gefürchtet haben. Beethoven 
war und iſt eben niemals ein Gejellichafter für — Kinder geivejen. 
Der Graf Dietrichjtein war jpäter derjenige, der bei Grillparzer eines 
Dperntertes wegen anfragte. Grillparzer war darob in nicht geringer 
Verlegenheit. „Einmal lag mir der Gedanke“ — jchreibt er — „ie 
ein Opernbuch zu jchreiben, am jich jchon ferne genug, dann zweifelie 
ich, ob Beethoven, der unterdejfen völlig gehörlos geworden war ımd 
dejjen legte Kompofitionen, unbejchadet ihres hohen Werthes, einen 
Charakter von Herbigfeit angenommen hatten, die mir mit der Be 
ee der Singſtimmen in Widerjpruc zu jtehen ſchien, ich zwei— 
elte, ſap ich, ob Beethoven noch imſtande ſei, eine Oper zu kompo— 
niren. Der Gedanke aber, einem großen Manne vielleicht Gelegenheit 
zu einem, für jeden Fall höchſt intereſſanten Werke zu geben, überwog 
alle Rückſichten und ich willigte ein.“ 

Bekanntlich aber hat Beethoven nur eine Oper gejchrieben; der 
„Fidelio“ jollte allein bleiben und der Tert Grillparzers vergilbte auf 
dem Tiſche des Meiſters. Im der Folge hatte jedoch Grillparzer 
Gelegenheit, Beethoven dann und wann zu beſuchen. Dieſe Beſuche 
ſcheinen ſich aber nicht allzu häufig wiederholt zu haben, denn es 
wäre ſonſt nicht zu erklären, wie Grillparzer durch die von Schindler 


* 


Grillparzer und feine Beziehungen zur Tonkunſt. 675 


dem ami de Beethoven, überbrachte Nachricht von der eriten Kran: 
heit des Meifters, die jeden Augenblid das Schlimmite fürchten Laffe, 
völlig unvorbereitet getroffen wird. Als dann der 26. März (1827) 
mit jeiner Katajtrophe fam, war Grillparzer jo jehr erjchüttert, daß 
ihm die Thränen aus den Augen jtürzten, denn er hatte ja, wie er 
befennt, Beethoven, — geliebt“. Er bildete in ſeinem Verhält— 
niß zu Beethoven einen leuchtenden Gegenſatz zu Goethe; diejer ver- 
mochte den großen Tondichter niemals zu begreifen. Goethes Muſik— 
verjtändnißg war nur ein theoretijches; in der praftijchen, als der einzig 
richtigen natürlichen Auffafjung, war er nicht aus den Kinderjchuhen 
herausgejchlüpft. Als Goethe mit Beethoven in Teplig zujammentraf, 
da fühlte ich der gejchniegelte und gebügelte Hofmann von dem wenig 
jalonfähigen, fantigeherben „Benehmen“ Beethovens peinlich abgejtoßen: 
Goethe brachte dag Kunſtſtück zuwege, kalt und ungerührt auszujehen, 
nachdem ihm Beethoven privatijjime vorgejpielt; derjelbe —— den 
doch Bettinas von Arnim bei —— Briefe über die 
unergründliche Genialität Beethovens ee angeregt haben 
mußten, derjelbe Goethe fällte bei einem Bejuche des jungen und be— 
rühmten URN, welcher ihm den eriten Sat aus der jchid- 
jalstroßigen C-moll- Symphonie — nicht ſchlecht vorgeſpielt 
atte, das ergötzliche Urtheil: „Das iſt alles ſehr groß, ganz toll! 
an möchte ſich fürchten, das Haus fiele ein; und wenn das nun 
alle Menſchen zuſammenſpielen!!“ Goethe verſtand eben den genial— 
ſten Muſiker jener großen Epoche nicht; das iſt die Achillesferſe an 
ſeiner Univerſalität. 
Wie ganz anders Grillparzer! Er hatte ja Beethoven eigentlich 
eliebt und war auch bis zu einer gewijjen Tiefe in dejjen Öielen, 
Khöpfungen eingedrungen; freilich, für den Beethoven der letzten IRe- 
riode fehlte auch ihm das Verſtändniß; jein Gert war eben zu kon— 
jervativ, zu jehr in der Formaläſthetik aufgehend, als daß er di mit 
diejer, alle Schranfen und alle Dämme theoretijcher Gelchrtengrübelei 
überjegenden, gigantischen Individualität hätte befreunden können. 
Der Beethoven der legten Periode war für Grillparzer fein Klaſſiker 
mehr, das bezeugen nur zu deutlich Folgende Zeilen: 


Ob mir's gefällt, ob nicht gefällt — 

Sein Rubnt bleibt ganz und beil; — 

Denn jeder Kauft — das weiß die Welt — 
Hat feinen — zweiten Theil! 


Für das Werf, in dem Goethe und Beethoven die Träger eines 
Lorbeerfranzes jcheinen, für den „Egmont“, hatte ſich Grillparzer jo 
begeijtert, daß er einen die einzelnen Mufikbilder verbindenden, für 
die Aufführung im Konzertjaal berechneten Text jchrieb; dieſer Text 
icheint aber in der ai von Mojengeil keineswegs gewonnen zu 
haben, da man ihn neueſter Zeit durch ein Gedicht von M. Bernay 
zu erjegen pflegt. Ganz bezeichnend für feine aus J—— Grün⸗ 
den ſich ergebende Abneigung gegen die letzten Tonſchöpfungen Beetho— 
vens, die heutzutage sefbit bei den verjtocteiten Muſikantenſeelen fein 
fritijches onfichürteln mehr erregen, find auch die Verſe, welche Grill- 
parzer auläßlich des Berliozfeites in Wien (1846) jchrieb: Berlio; 


676 Grillparzer und feine Beziehungen zur Tonkunft. 


ift ihm die fremde Einheit, um die fich die einheimijchen Nullen 
ſchaaren; Vater Haydn und Onfel Mozart jind ihnen ein abgethaner 
Standpunkt, das Weich der eigentlichen Muſik beginne erſt mtt Beet: 
hoven, denn 

Beethoven erft bob fih vom Staub, 

Drum fei er unſer Lehrer! 

Heißt das: von da an, wo er taub! 

So wünſchen wir die Hörer! 


Ill. 

War Grillparzers — für Beethoven als Künſtler im 
Gegenſatze zu dem ungeheuren Crescendo des Beethovenſchen Ent— 
wickelungsganges in ein Decrescendo auslaufend, ſo trüben keine äſthe— 
tiſchen Tollkühnheiten, keine formalen Abweichungen von der Linie des 
ideal Schönen die — Hingebung unſeres Dichters an Mozart. 
Ihm gelten folgende Verſe, die vielleicht die ſchönſte Charakteriſtik 
enthalten, die überhaupt von Mozart gegeben wurde: 


Er aber klomm ſo hoch als Leben reichte, 

Er ſtieg ſo tief hinab als Leben blüht und duftet, 
Und ſo ward ihm der ewig friſche Kranz, 

Den die Natur ibm wand und mit ibm theilet ... 


Auf die mafellofe, klaſſiſchreine Formenjchönheit feines Lieblings 
übergehend, fingt er die prächtigen Berje: 


Weil er nie mebr gewollt ald Menjchen jollen, 
Tönt auch ein Muß aus allem, was er fhuf... 
Und lieber jchien er Heiner ala er war, 

Als fih zu Ungetbümen anzujchwellen. 

Das Reich der Kunft ift eine zweite Welt, 

Doch weſenhaft und wirklich wie die erfte, 

Und alles Wirkliche geborht dem Maß. 


Mozart war für Grillparzer das deal eines Tonjegers, feine 
keuſche Naivetät, umrankt von holder Sinnlichkeit, und feine melodiſche 
Unerjchöpflichkeit bezauberten ihm vollends Herz und Sinne; gerade 
Mozarts Mufit hatte zum erjten Male die Gentifolie ſüßer Liebe in 
ſeinem keuſchen Buſen erblühen lajjen, als er die jugendliche Sängerin 
Henriette Teimer in der doppelten Verklärung der Mufif und ihrer 
eigenen Schönheit als Cherubin in der „Hochzeit des Figaro“ jah 
und hörte: ein ſtarker, beraujchender Duft quoll diejes Leidenschaft 
athmende Gedicht aus jeinem Herzen. 

Daß Grillparzer an dem mufifalischen Leben Wiens lebhafteften 
Antheil nahm, beweijen jeine — an Virtuoſen gerichteten, oft 
epigrammatiſch herben Verſe. Der von einem dämoniſchen — 
umwitterte Paganini läßt in Grillparzer eine ähnlich aus Grauen 
und Bewunderung ſich miſchende Empfindung auflodern, wie in dem 
nichtmuſikaliſchen Heine: „Du wärſt ein Mörder nicht? Selbſtmör— 
der Du! Was öffneſt Du des Buſens ſtilles Haus und jagſt ſie aus, 
die unverhüllte Seele und wirfſt ſie hin, den Gaffern eine Luſt? 
Stößt mit dem Dolch nach ihr und triffſt! Und klagſt und weinſt 
und zählſt mit Thränen ihre blutigen Tropfen? Dann aber höhnſt 


Grillparzer und feine Beziehungen zur Tonkunſt. 677. 


Du ſie und Dich, brichjt jpottend aus in gellendes Gelächter! Du 
wärjt fein Mörder? Frevler Du am Ich des eigenen Leibs, der eig- 
nen Seele Mörder! Und auch der meine — doc) ich weich Dir aus!“ 

In diejer meijterhaften, poetischen Schilderung des großen Geigers 
und jeines Spieles Elingt zum ae ein Gedanke hinein, der keck 
in einem Liſzt (1840) gewidmeten Bierzeiler ſich ausjpricht: 


Noch ſtürmt des Beifalls, des Entziidens Flug, 
Es läßt das Maß fih kaum noch mehr vergrößern, 
Drum ſei's, o Herr, der Trefflichkeit genug: 

Wir danken Dir, doch ſend' uns keinen Beſſern! 


Wenn das Benehmen Jenny Linds nicht jedermann gefalle, jo 
ehe es ihr wie anderen reichen Leuten: jie hat nicht immer fleines 
eld. Ole Bull, der mufifaliiche Doppelgänger Baganinis, ein Ge— 

ſpenſt, das fein Gejpenft, nur ein Körper bi ... Das Quartett eines 
einheimischen Komponiſten giebt Grillparzer Gelegenheit, liebenswürdig 
zu werden. Er jagt: 

Dein Quartett Hang als ob einer, 

Der da badt in dumpfen Schlägen, 

Mit drei Weibern, welche fägen, 

Eine Klafter Holz verfleiner ... . ! 


Dergleichen Ausjprüche wie der letteitirte lafjen an vernichtender 
Deutlichkeit nichts zu fürchten übrig. Jedenfalls hatte es das Fami— 
lienſchickſal der Grillparzer weije eingerichtet, daß dem berühmteiten 
Sprößling des Gejchlechtes nicht das Amt eines Muſikkritikers zufiel; 
aus zwei Gründen: der eine liegt in der Erwägung, daß dergleichen 
braftsäche ren keineswegs geeignet waren, die perjönliche Sicher: 
heit und Beliebtheit des jatirtjchen Griesgram zu fürdern. Grillpar- 
jer litt ohnehin jein ganzes Leben hindurch an ſich jelbit, und infolge 

eſſen an jeiner Umgebung, die wie ein Hohljpiegel die doc) nur von 
ihm ausgehende ka ig sang und das ihm eigene mürriſche Zuges 
fnöpftjein auf ihn al3 den Brennpunkt wieder zurückwarf. 

Dann jpricht noc) ein zweiter Grund für die ar unjeres 
Dichters und jeines verlegend jchroffen, nicht immer gerechten Urtheiles 
von den Tagesfragen der Kunſt und ihren Neuerungen. Bejtimmt, 
wie er war, nahın er natürlich zu jeder neu am Horizonte der Kunſt 
auftauchenden Erjcheinung Stellung und wenn nun jein Einfluß To 
weit gereicht hätte, daß ein von ihm in jeiner Verbitterung gefälltes 
Urtheil generalifirt zum Urtheil der oberen Zehntaufend hätte werden 
fönnen, 6 würde die in den — Jahren ſich vollziehende Revo— 
lution in der Kunſt mit ihren Wogen vergeblich vor den Wällen 
Wiens gebrandet haben; man hätte die Zugbrücke der konſervativen 
Hochburg nimmermehr herab elaſſen. Wien ward ohnehin von der 
aus dem Sauerteig Wagneriſcher Ideen hervorbrodelnden ungeheueren 
Gährung erſt ſpät — hier, wo Beethoven, der Do Fort⸗ 
ſchrittsmann gelebt, gerade hier hatte die Gegenrevolution ihr Haupt- 
quartier aufgejchlagen; aber fie vermochte es troßdem nicht zu hindern, 
daß eines ne Hichnrd Wagner mit bronzejtirniger Kühnheit an die 
feiten Thore Elopfte und Einlaß heifchte; man muß ihn einlafjen.... 

Bevor id) aber Grillparzers Verhältnig zur Zufunftsmufif bes 


678 Grillparzer und feine Beziehungen zur Tonkunſt. 


leuchte, muß ich den Aeſthetiker Grillparzer zu Worte kommen laſſen 
Wie Schon bemerkt, fordert er die vollite Eelbſtherruchken der Inſtru— 
mentalmuſik. 
Tonkunſt, die vielberedte, 
Sie iſt zugleich die Stumme: 
Das Einzelne verſchweigend 
Giebt ſie des Weltalls Summe. 


Den Gegenſatz zwiſchen Muſik und Poeſie faßt er erklärend 
dahin auf, dab die Dichtung dem flaren Tage gleiche, die Muſik aber 
der weltenverbindenden Nacht. Das Dunkel dieſer Räthſelworte Flären 
indefjen jeine zahlreichen auf die Muſik Bezug habenden Apergus und 
äfthetiichen Stoßjeufzer wenigſtens theifiwerte auf. 

Wenn man den Grundunterjchied der Mufif und der Dichtkumit 
ichlagend charafterifiren wollte — jagt Grillparzer — jo müßte man 
darauf aufmerfjam machen, wie die Wirkung der Mufif vom Sinnen: 
reiz, vom Nervenjpiel beginnt und — nachdem das Gefühl angeregt 
worden, höchitens in legter Injtanz an das Geiſtige gelangt, indeß die 
une zuerjt den Begriff erwedt (?), nur durch ihn auf das Ge 
fühl wirft und als äußerſte Stufe der Vollendung oder der Erniedri- 
gung erjt das Sinnliche theilnehmen läßt; der eg beider iſt Daher 
der umgefehrte. Die eine Vergeiftigung des Körperlichen, die andere 
Verförperung des Geiſtigen. en oft gebrauchten Satz: die Muſik 
jet eine PBoejie in Tönen — läßt Orillparzer gänzlich fallen; er 
jagt dazu: 

O ihr funftbiftoriiches Gelichter, 

Nennt ibr den Tonjeter: Tondichter? 

Dann nennt auch, was wir Dichter nannten, 
In Zukunft Wörtermufitanten. 


Die Tiebevolle rei von Boejie und Muſik, wie jte 
Wagner in feinem volleinheitlichen Kunſtwerke der Zukunft will, iſt 
Grillparzer nun einmal verhaßt. Wörtermufifanten! Kann man einem 
Dichter ein größeres Kompliment machen über den jinnlichen Wohl: 
(aut feiner Verſe, als wenn man fie mit Mufit vergleicht? Manche 
der Lieder Heines oder Goethes tragen die Mufif in jich und Hamer— 
lings herrliche Verſe jtehen in Elanglicher Beziehung der Muſik ala 
jolcher am nächſten. Schließlich it ja jedes Wort, das wir jprechen, 
auf einen Ton abgejtimmt; der Redefluß eines modulationsfähigen 
Sprachorganes wird in der That zur unendlichen Melodie; ja, 
jelbjt die Sprache des gemeinen Tages iſt Muſik; wir theilen ung 
unjere Gedanken mit finnlichen, wenn auch monotonen Klängen mit. 
Im Gegentheile dazu: jprechen nicht die Inſtrumente Wagners eine 
ſehr deutliche Sprache? ringt Beethoven nicht mit der ganzen Kraft 
jeiner vulfanischen Natur in der Neunten nach fajt begrifflichem Aus: 
drud? Die Muſik ijt der Ausdruck der Bewegung und jind unjere 
Gedanken etwas anderes als Bewegung? Reden wir nicht in Der 
Mufif von „Sägen“, von muſikaliſchen „Gedanken“? Wie wäre das 
möglich, wenn nicht eine Beziehung nahverwandtichaftlicher Art zwi— 
ichen den beiden „Schweſterkünſten“ bejtände? ie Muſik ift Die 
Sprache für das Unausjprechliche; ihre Gedanken erklingen jehr deut: 


Grillparzer und feine Beziehungen zur Tonkunſt. 679 


lich im mufifalischen Bewußtjein und regen dort das in des dich— 
teriſchen Gedankens auf. Wenn Grillparzer ſagt, daß das ſo geprieſene 
Charakteriſtiſche der un häufig ein jehr negatives Verdienſt jet, 
das ſich meistens darauf beſchränkt, daß die Freude durch Nichttraurig- 
feit, dev Schmerz durch Nichtluſtigkeit, Die Wilde durch Nichthärte, der 
Zorn durch Nichtmilde, die Liebe durch Flöten und die Verzweiflung 
mit Trompeten und Pauken und obligaten Kontrabäſſen ausgedrüdt 
wird — jo kann dieſer Vorwurf niemals die Muſik, jondern immer 
nur den Tonfünstler treffen, dem der Mangel an Begabung es ver- 
jagt bat, einen padenden charakterijtiichen Ausdrud zu finden. 

Wo die Poeſie aufhört — jagt Grillparzer an anderer Stelle 
— füngt die Muſik an; wo der Dichter feine Worte mehr findet, da 
[öjt ihn der Sänger ab. „Wer Deine Kraft fennt, o Melodie! die 
Du ohne der Worterflärung eines Begriffes zu bedürfen, unmittelbar 
aus dem Himmel, durch die Bruft wieder zum Himmel ziehjt, wer 
Deine Kraft Fennt, der wird die Muſik nicht zur Nachtreterin der 
Poeſie machen .. . .“ Aus diefen Worten fühlt man die gegen 
Wagner und fein Kunſtwerk gerichtete Spitze deutlich heraus; Wagner 
will ja die Muſik keineswegs zur ig der Poeſie machen; er 
itrebt im Gegentheile eine gegenjeitige Durchdringung aller Künjte an. 
Wie heftig Grillparzer die neue Nichtung anfeindet, geht insbejondere 
aus einer den heutigen Leſer überaus humoriſtiſch anmuthenden Be- 
Ipöttelung der Tannhäuſer“Ouverture hervor. 

„sch habe die Duverture zum Tannhäuſer gehört und bin ent— 
züdt; heißt das: gegenwärtig, denn während des Anhörens thaten mir 
die Ohren ziemlich weh. Sch bemerfe aber gleich, daß es ſich hier 
nicht um ein Vergnügen für das Ohr, jondern um den Sinn und die 
tiefere Bedeutung handle. Weber diefe Bedeutung waren übrigens ich 
und einige neben mir ſitzende Kunjtfreunde, die damals gleich mir 
nicht einmal den Titel des Werfes kannten, jehr im Zweifel... Der 
eine meinte, die Muſik drüde den ruffisch-türfischen Krieg aus, wo 
die ige und Trompeten des chrijtlichen Chorals den Todesmuth 
der Aujjen und das Zittern der Violinen die Furcht der Türken ver- 
jinnlicht, obwohl in Wahrheit die Türken fich nicht jehr zu fürchten 
ichienen . . Ein zweiter meinte, es jtelle den Eisitoß dar... Zwei 
andere dachten der eine auf die Erjchaffung, der andere auf den Unter: 
gang der Welt. Endlich) gab uns ein freundlicher Mann, leider erjt 
am Schlufje der Duverture, das Programm des Verfaſſers; num erjt 
waren wir im Karen und bejchlojjen, dieſe herrliche Ouverture bei 
feiner jpäteren Aufführung zu verſäumen. Ein alter Herr, der hinter 
uns jaß, meinte zwar, man jolle lieber nur das Programın leſen und 
die Muſik gar nicht hören, um die Meinung des Tondichters ganz zu 
erfafjen, aber wer wird auf Leute achten, die hinter der Zeit zurüd- 
geblieben jind? Es lebe der Fortſchritt!“ 

Aus diefen Worten merkt man die Abjicht; man fühlt heraus, 
daß hier die Parteien aufeinandergeplagt waren; wäre die Duverture 
ohne Programm aufgeführt und hätte man den Namen ihres Schöpfers 
umgangen, jo hätte fe Grillparzer mindejtens jehr interejfant, geiitvoll 
und originell finden müfjen. Hier aber jteht der Dichter auf der 
‚inne der Partei. 





680 Grillparzer und feine Beziehungen zur Tonkunſt. 


Nobert Franz ſagte mir einmal: „Das Berderblichjte in der 
Muſik find die Parteien — jie find in der Kunſt überhaupt ein thö— 
richter Frevel.“ — Aber nicht bloß mit projaischen Keulenſchlägen be: 
grügt ſich Grillparzer; er fhicht vom Bogen jeiner Dichtkunſt archi- 
ochiiche Pfeile ab, Pfeile mit jcharfen Spiten, die indejjen nur den 
Schatten vertiefen halfen, in dem Wagner kämpfte: 


Man fagt, Du verachteft die Melodie, 

Schon das Wort erfüllt Dich mit Schauer; 

So ging's aud dem Fuchs, dem enthaltiamen Vieh, 
Der fand die Trauben ſauer. 


Wenn Wagners reformatorijches Genie von Männern wie Grill- 
parzer unverjtanden blieb, von wem jollte er dann noch verjtanden 
werden? Aber der Parteiſtandpunkt, der Barteiitandpunft! ... 

Nur im vorübergehen jei erwähnt, da Grillparzer feine muſika— 
fische Bildung aud) nad) der Seite der hijtorijchen Entoidefung der 

Öttlichen Kunft zu erweitern ftrebte. Nicht uninterefjant find jeine 
Bene zur griechiſchen Mufik; entzüdend feine Einfälle, die ein 
aus feinem Muſikſinne entiprungener Gedankenblig beleuchtet. Wenn er 
jagt: „Menjchen von Talent find weniger Muſiker als vielmehr muſi— 
kaliiche Inſtrumente; ohne fremde Hilfe bringen jie feinen Ton hers 
vor, aber bei fremder, auch der leijeiten Berührung, entwidelt ſich aus 
ihnen eine herrliche Melodie ... .“ jo iſt das jo treffend, wie die fol- 

ende Frage den angeborenen Humor, die feine, graziöje Schalfhaftig- 
eit unjeres Dichters offenbart: find die Moll-Tonarten nicht die 
Weiber in der Mufif? Die ſich von ihrem Vater (der Dur-Tonart, 
von der fie entjtanden) trennen und die Vorzeichnung ihres Gatten 

(der Dur-Tonart ihrer nächſten Verwandtichaft) annehmen? 

Seinem jcharfen Verjtande, feiner geiftvollen Beobachtung entgeht 
eben nichts; den trivialiten Wahrheiten wei jeine Art zu denfen und 
u fühlen eine neue, oft überrajchende Seite abzugewinnen! Nur dauert 
eine gute Laune nie lange; den blauen Himmel jeines Geijtes trüben 
immer wieder jchwarze Wolfen, aus denen gar bald mit beftigem 
Donner ein Wetterjtrahl zur Erde niederfährt; die leidige Zufunfts- 
mufif macht dem Mozartianer faterochen viele Sorgen; immer_ wieder 
fommt er auf fie zurück und jchlielich, wie er die Lawine größer umd 
rößer werden ſieht, Die — das Junge Grün befreiend, ins 
Thal hinabrollt, jo dal der Gipfel des Parnafjes, von neuem Son: 
nenlichte gefüßt, in ungeahnter Pracht erjtrahlt, da ruft unjer Dichter 
in troftarmer Nefignation aus: 


Ein Thor, wer der Zeit wiberftrebt, 
Man muß e8 der Zeit übergeben, 

Habe die Hegelihe Philoſophie überlebt, 
Werd’ auch die Zukunftsmuſik überleben! 


Armer Grillparzer! Wohl haft Du die Hegelihe Philofophie 
überlebt, wenn auch siger und Viſcher noch dauern, aber die Zu: 
funftsmufit wirſt Du nicht überleben, denn Du biſt — unjterblich! 


Strandritt in Kafuden! 
Banwiige Sand! Ein Fiicherhaus, 


Ein Zaun aus morjchen Latten, 

Zwei Führen breiten drüber aus 
Den fümmerlichen Schatten. — — 
Und ſchweigend reiten wir hindann, 
Die Filcherpferdchen traben; 

Nur Dünen rings und dann und wann 
Ein leerer Baflergraben. 

Doch die Erinn’rung wandert mit 

In dieje öde Gegend; 

Ic höre fie auf Schritt und Tritt 
Die blafjen Lippen regend. 

Ein jeder Stein hier ward getränft 
Aus einer Heldenwunde; 

Doch jtill, mein Herz, hinabgeſenkt 
Die alte Schlachtenkunde! — — 
Mein Führer Hält und ftredt die Hand 
Voll Gier nad) feinem Lohne; 

8 iſt doch in einem Heldenland 

Ein echter Epigone! 

Sein Ahn ruht bei dem todten Lieb: 
Der Freiheit, unter'm Hügel; 
Verflucht! — mit einem Gertenhieb 
Schwing’ ich mic) aus dem Bügel. 
Saarfühig eine Knabenſchaar 

Stürmt lärmend mir entgegen, 

Sie bietet mir zum Kaufe ar 

Den legten Wellenjegen; 

Die Jugend und das Abendroth 
Strahlt wieder von den Wangen; — 
Und giebt's hier aud) nur Bettelbrod, 
Es ſchmeckt den wilden Rangen. 
Langweilig läßt das Bretterthor 

Die beiden Flügel gähnen, 

Ein wrader Fiſcher fteht davor, 

Die Pfeife in den Zähnen. 

„Panicz!“ beginnt er feinen Gruß 
Mir polnisch herzufagen. 

PBanicz! — Ic hört's zum Ueberdruß 
In allen diefen Tagen. 

a, Ruhm und Adel find dahin, 

Sch falte trüb die Stirne; 

Dies Land — einst eine Königin — 
Es ward zur Betteldirne! Kurt von Köppen. 


Der Salon 1887. Heft XII. Band II, 46 


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Ein Veſuch bei den Kartäuſern. 


(Mit zwei Alluftrationen.) 








Ta N, Er unter dem Namen Chartreuje befannte Likör, der in 
den hübſchen golden und grün glänzenden Flaſchen 
TER DB; jedem Gajtronomen bekannt it, wird feinesiwegs, wie 
STIL man allgemein annimmt, in dem großen Klojter glei- 
ao chen Namens jelbit hergejtellt, welches unweit Grenoble 
| BEN in öder Gegend im Jahre 1086 vom heiligen Bruno 
FRI) geitiftet wurde und jenen bewunderungswürdigen Männern 
zum Aufenthalt dient, die, jeien jie im Leben auch nody ſo 
hochſtehende Perfönlichkeiten gewejen, bei ihrer Aufnahme das 
Gelöbniß eines unbedingten, unmeigerlichen Gehorſams machen müjfen. 

Die Dejtillation des beliebten Lilörs gejchieht in einem Fleinen 
Drt, namens Fourvoifie, der nicht weit von der „Grande Chartreuse“ 
gerade an der Grenze liegt, wo jener öde Landſtrich beginnt, der fich 
nad) dem Kloſter zu weit hinauf in die Berge hinzieht. Hier jind 

undertundfünfzig Mann unter der Aufjicht von zwei oder drei Kloſter— 
rüdern mit der Fabrikation bejchäftigt. Fünfundzwanzig Mauleſel 
find in age Bewegung, um den Verkehr zwiſchen Four⸗ 
voiſie mit der nächſten Stadt Voiron zu vermitteln. Dieſe zuver— 
läſſigen Träger bringen den nöthigen Alkohol aus Voiron herbei 
und kehren mit bleibeſchlagenen Kiſten, welche die Flaſchen mit Char— 
treuſe enthalten, dahin zurück. Die Mönche müſſen ſich die Berech— 
tigung zu dieſer Likörbereitung jährlich) um eine bedeutende Summe 
von der Regierung erfaufen, während das ganze Einfommen des 
Klojters zur Unterjtügung der Armen verwendet wird. Diefe That- 
fache ift wohl zu berüdjichtigen, wenn man ein Urtheil über das 
Klofter und die — Likörfabrikation fällen will. 

Käufern des edeln Getränkes möchten wir an dieſer Stelle einen 
bedeutſamen Wink geben: Der Likör kommt in ganzen und halben 
Flaſchen zum Berjand. Nun ijt der Boden an den eriteren außer: 
ordentlich did, und es hat wohl einmal — ein leichtes Mittel 
entdeckt, wie man in denſelben mittels eines dünnen Bohrers ein kleines 
Loch bohren kann. Durch daſſelbe iſt es möglich, den echten Likör 
auszugiegen und durch einen täufchend nachgeahmten zu erjegen. Das 
—* wird dann vermittels einer Emaillirlampe wieder ausgefüllt, ſo 











Ein Seſuch bei den Kartäufern. 683 


daß der Betrug gar nicht zu entdeden iſt. Die Geſtalt der halben 
Flaſchen iſt Dagegen glücklicherweiſe derartig, daß dieſe vor der Gefahr, 
des echten Inhalts auf eine jo jchlaue Weiſe beraubt zu werden, 


jicher ſind. 
Alle geihäftlichen Angelegenheiten, die Buchführung über den 
Ein: und Ausgang ꝛc. werden im Kloſter jelbjt erledigt, welches an 


und für N eine der bemerkenswertheſten Anftalten von ganz Frank— 
reich ijt. Die düſtere Schönheit feiner Lage, hoc) oben zwiſchen den 
Bergen, wo der Schnee neun Monate im Jahr fernen Abſchied nimmt 
und der geheimnißvolle Ruf, den der wunderbare Fleck erlangt, deſſen 
Bewohner jeden Standes freiwillig der Welt entſagt haben, üben 
eine Art Zauber auf das Gemüth aus. Seltſame Dinge hört man 
von denen, welche ſich von der Welt hierher zurückziehen, um ſich einer 
autokratiſchen Regierung willig zu fügen, die despotiſcher iſt wie irgend 
eine, von der die Weltgeſchichte weiß. Wenn die kleinen Gläschen mit 
Chartreuſe im Geſellſchaftskreiſe herumgegeben werden, dann tauchen 
alle die Erzählungen auf von der a Be Strenge der 
Regeln, dem harten Charakter der Strafen und den oft unverjtänd: 
lihen Beweggründen, die jo manchen verleiten, einen lebendigen Tod 
freiwillig gi wählen. | 

Die Berge rings um das Kloſter find bewaldet: Schöne Eichen, 
Buchen und Fichten, wohin das Auge blickt; oft find die Bäume hier 
in merfwürdiger Weile im rechten Winkel zur Abdachung des Berges 
gewachjen. Gier mag vielleicht vor langen Jahren eine kleine Eichel 
oder Bucheder in eine jchmale Rite des ſteilen Abhangs gefallen fein, 
die dann zu einer zierlichen Eiche oder Buche heramvuchs und uns 
jegt gigantiſch entgegenjtarrt, wenn fie gerade über einen Abgrund 
berabblidt, al3 wollte jie jich in neugieriger Weiſe die Welt von bod)- 
oben herab betrachten. 

Eine vorzüglich gepflegte Straße führt zu dem zwiſchen zwei 
Felswänden gelegenen Klojter, unter welcher der Fluß Guiers-Mort 
manchmal vom 8 aus unſichtbar dahinfließt, während man ihn an— 
dererſeits von den Brücken aus, die über e geipannt find, zu erbliden 
imjtande iſt. Dieje Straße, ein Wunder der Baufunjt, wurde erjt im 
Anfang diefes Jahrhunderts gebaut. Bor diejer Zeit fonnte man das 
Klojter jeit der Zeit jeiner Gründung her nur auf Maulejeln erreichen. 
Aber auch) jetzt noch iſt der Weg ein fteiler und bejchwerlicher, denn 
man bedenfe, daß das Kloſter mehr als neunhundert Meter über dem 
Mieeresipiegel legt. Bon allen Seiten — es Berge, deren höch— 
ſter Le Grand Som iſt, ein ſteiler Gipfel, auf deſſen höchſter Spitze 
ſich die ſcharfe Kontur eines eiſernen Kreuzes bei ganz nebelloſem 
Wetter von dem blauen Himmel klar abhebt. 

ea werden niemals in die Chartreufe zugelajjen, eine jtrenge 
Regel, von der nur zu Gunften gefrönter Haupter eine Ausnahme 
zulaitig it. Die Mönche find anderen Befuchern gegenüber zuvor— 
ommend und gajtfreundlich, doch ift der vorherrichende Eindrud, dei 
jie hinterlaffen, Beklommenheit und melancholiſche Trauer. 

Die Ardjiteftur der Gebäude ift feine einheitliche, da das Kloſter 
ji) im Laufe der Jahre, als jein Auf. fich vergrößerte und die Zahl 
der Brüder anwuchs, dementſprechend ausdehnen mußte, jo dag es 

46* 


684 Ein Seſuch bei den Kartäufern. 


heute auf den erjten Blick wie ein Dorf ausfieht. Wenn man ein- 
tritt, jo erblidt man einen geräumigen Hofraum, durch dejjen Mitte 
der Lauf eines braufenden Bergitroms ſich dahinzieht. Jenſeit des— 
jelben ijt eine weite Halle, wo Photographien des Kloſters, Rojen- 
fränze, der berühmte Likör, jowie Speijen und Getränke für die Be— 
jucher, die täglic) herauffommen, verkauft werden. 

Die ſchönſte und jehenswerthejte Partie des Innern der Räum- 
lichfeiten ift der prächtige, zweihundert Meter lange Säulengang, der 
fein Licht durch hundertundzehn Fenjter erhält. Die Kapelle iſt Elein 
und nichts weniger als ausieftönifch bewunderungswerth. Sie zer 
fällt in zwei rt von denen eine für diejenigen Kartäufer 
bejtimmt ijt, welche eigentliche Geiftliche find, während die andere Die 
Laienbrüder aufnimmt. 

Das Refektorium iſt eine große Bogenhalle. Am Ende des Zim- 
mers ift eine bejondere Tafel für den Prior des Kloſters refervirt; 
die anderen Mönche jegen ſich dann ganz der Länge der Zeit ent- 
iprechend, die fie bereit3 hier verweilen, in der Weije, dat die dem Prior 
am nächiten figenden Diejenigen find, welche dem Klojter am längſten 
angehören, Gierbecher, Gabeln, Teller und Löffel, alles iſt aus Holz 
verfertigt. Zinnerne Gefäße 2. für Wein und Wafjer beitimmt, und 
irdene Töpfchen werden an Stelle anderer Glasgefäße benußt. Diefe 
eigenthümlichen Zrinfbecher haben zu beiden Seiten einen Henkel, 
denn es ift eine althergebrachte Sıtte, an der bis auf den heutigen 
Tag itreng feitgehalten wird, dat die Mönche beim Trinken das Glas 
mit beiden Händen feitzuhalten haben. Die Kartäujer ſelbſt pflegen 
den Likör, der nach ihnen bemannt tjt, nicht zu trinken. Sie genichen 
fein Fleisch und dürfen im Refektorium nie ein Wort jprechen, aus— 
genommen an Sonntagen und bei ganz bejonderen Gelegenheiten. 
Mit jehr wenigen Ausnahmen gleicht ihr Leben einer Einöde. 

Ihre Zellen find Kleine, jeparate Häuschen, von denen jedes aus 
zwei Stocdwerfen bejteht. Im Untergejchoß befindet jich ein Zimmer, 
worin fich wie in der Werkjtatt eines Schreiners Holz und Werkzeuge 
zur Bearbeitung dejjelben befinden. Oben iſt das Schlafzimmer, wo 
man noch Leinwand zu jehen befommt, die von dem heiligen Bruno, 
dem Stifter des ohtr herrührt. Ein kleines Wohnzimmer, das 
mit einem Tiſch aus gewöhnlichem weißen Holz und einem Stroh— 
ſeſſel ausgeſtattet iſt, macht die dritte und letzte Räumlichkeit des 
kleinen Gebäudes aus. ————— geht eine Galerie, unter der I, 
bei schlechtem Wetter jeder Kartäuſer der Einjamfeit hingeben fo 
Ein Eleiner Garten vor dem Häuschen iſt der Obhut des betreffenden 
Inhabers anvertraut umd mag wohl in vielen Fällen die einzige helle 
Freude des armen jtillen Bewohners bilden. 

Der Tag jedoch, wo jedem Mönch Erholung von dem einförmigen 
Dajein der Woche gewährt wird, ift der Montag. An dieſem Tag ift 
eine wunderbare Veränderung in dem Leben und Treiben der Brüder, 
ja im Ausfehen des ganzen Kloſters zu bemerfen: Das jtille Gefäng- 
niß da oben bietet dann ein helles lebendiges Bild, jorglojes Lachen 
ertönt, wenn die Kartäuſer mit ihren Alpenſtöcken höher hinauf in 
die Berge steigen, und man glaubt plaudernde und übermüthig 
jchreiende Schulfnaben zu hören, wenn die Berge die ungewohnten 


Ein Sefudy bei den Kartäufern. 685 


Laute zurücdichallen laffen. Diejer freie Montag mag vielleicht man 
chen Bruder vor Wahnjinn bewahrt haben. Die Thatjache, dag zum 
mindejten ein Tag in der Woche die furchtbare Dede ablöjt, an dem 
ein jeder nach Belieben jchalten und walten und jich, jo weit es die 
Berhältnifje zulaifen, feines Lebens ein wenig erfreuen darf, dieſe mag 
die meijten die Einjamkeit und den jtrengen Gehorfam an den fie 
während der anderen ſechs Tage gebunden Kind, einigermaßen ertragen 
lafjen. Diejes freien Tages beraubt zu werden, heißt eine Strafe, 
deren Größe unmöglich von denen verjtanden werden fann, die Tag für 
Tag ich ſelbſt und der Welt gehören. 

Seltjam und ergreifend iſt der Mitternachtsgottesdienit der 
Kartäujermönche: Wenn der Ton des Glödchens gehört wird, die 
zum Dienst ruft, jo treten die Mönche, ein jeder jeine Mönchskappe 
über den Kopf gezogen und eine Lampe in der Hand, Heraus aus 
ihren Zellen. Nach wenigen Minuten eines vollftändigen und unheim— 
lihen Schweigens heben jie einen Gejang an, in dem ſich die Stim- 
men junger Männer, die durch die Machtigfeit ihres Organs ihre 
ungebrochene Jugendfriiche verrathen, mit den umjicheren zitternden 
Tönen der Greije in ergreifender Weiſe vermijchen. Ein prachtvoller 
Tenor, den wir jet heraushören und dejjen Beſitzer warme Lebens» 
fraft und Lebensluſt unmöglich abhanden gefommen jein fünnen, er: 
innert uns im Geiſte an den verzweifelnden hoffnungslojen Ausdrud 
der dunkeln Augen des jungen Mannes auf Dores wundervollem 
Gemälde: „Der Neophyt.“ Welche inneren Kämpfe und Stürme 
drücken jich in dem Gejang diefer Männer aus, von denen viele den 
beiten Familien Frankreichs angehören. Unter ihnen befinden jich jo 
viele ehemalige Offiziere und höhere Militärperjonen, daß die Auf: 
wärter des Kloſters Offiziere überhaupt für die ſündhafteſten unter 
allen sterblichen Wejen erflären. Ob fie wohl zurüdfehren möchten, 
wenn jie wieder künnten, nach jener anderen Welt mit ihrer aufreiben- 
den Tätigkeit, ihrer leichtfertigen Zeritreuung, ihrer ununterbrochenen 
Aufregung? Nun, es it wohl nicht zu zweifeln, da es in der Natur 
des Mentchen begründet ijt, daß ihnen allen — fait allen oder viel- 
leicht aud) allen ohne Ausnahme ein heißes Sehnen innewohnt, wie: 
der — in den heißen Kampf des Tages zu eilen, anjtatt hier in 
den dumpfen Mauern des Kloſters hinzuvegetiren. Könnte man nur 
ihnen ihre geheimiten Gedanfen von den Lippen ablejen, ihren jehn- 
jüchtigen Wunjch nad) einer Lebensjtellung, einem trauten Heim, nur 
einem Punkt dort in den Wogen des Alltagslebens, e8 würde ein 
unerreichbares Urtheil über Elöfterliche Einſamkeit jolchen vorgehalten 
werden fünnen, Die e3 zu hören verdienen. 

Ein jeltiames Spiel tjt es fürwahr von der unbarmberzigen 
Ironie des Lebens, daß te dieje verzweifelnden Männer, von denen 
ein jeder mit feinem eigenen unabänderlichen, furchtbaren Loos lebens— 
länglicher Abgejchtedenheit von der Welt bejchäftigt ift, mit jenem 
Liför in Zulammenhang bringt, der herumgereicht wird, wo frohe 
Herzen fich heiter und jorglos gemeinjam am Leben freuen und leich- 
tes Lachen, unjchuldige Scherze herüber und hinüber tönen über die 
fleinen Gläschen, deren Inhalt aus jenem trüben und traurigen 
Bergland zu uns fam. | 


- 


NE NA ED DE A ER RE NED RR 


m DT TR ET a Re De En nn 


# ET Enz — 
De SSSIISISISISIISSSSSSSHSHIIIDIISIISISISSHIHID 
7 7 \ 





- - — - - r - —ñ— * 


FSiehfdiaften Auguſt des Starken. 
Von Dr. H. Th. Traut. 


Motto: „Der allgewaltigen Liebe und des 
Haſſes Kampf und Sieg, Luſt und 
Leid, ſelig-unſelige Schuld, endend 
und gefühnt im Tode — führt bie 
Geihichte uns immer wieder vor 
in allen Zeiten ynb Landen und 





. — erſchüttert jedes Herz wie mit 
Te — eigener Luſt und eigenem Weh.“ 
RER Sa iemals erichien in Deutjchland Pracht und Galanterie 


| in einem höheren Glanze als zu Ende des 17. und zu 
gi Anfange des 18. Jahrhundert? umter den Regierungen 
ZJohann —— und Friedrich Auguſts, zubenannt 
— D rfürſten von Sachſen und erwählten 
g EN Baur von Polen. Lebterer war der Sohn Johann 
N” 9° Georgs IH. und der dänischen Prinzejfin Anna Sophia, und 
AR am 12. Mat 1670 zu Dresden geboren. VBortrefflich erzogen 
und von außergewöhnlicher Körperjtärfe und Gewandtheit, hat 
er viel geliebt, jo dap ihm der Sinn für die erniten Lebensaufgaben 
eines Fürſten verloren ging. 

Der ältere Bruder unſeres Helden, Johann Georg IV. war jeinem 
Vater jehr jung in der Negierung geroigt und jtand unter der Will- 
für feiner Maitrejje, Fräulein von Neitſch, die als herrſchſüchtig, ftol;, 
rachgierig und unzufrieden gejchildert wird. Trotzdem hatte dr nicht 
gewagt, jeine Heirat mit Eleonore von Sachſen-Eiſenach, Wittive des 
Markgrafen von Brandenburg-Ansbach, zu hintertreiben. Dieje Heirat 
änderte aber nichts in dem Verhalten des Kurfürjten gegen jeine Mat: 
treffe, und der Berdruß der Kurfürjtin berührte auch den Prinzen 
August unangenehm. 

So entſchloß ſich unjer Held endlich (1687), Dresden zu Kein 
und reijte unter dem Namen eines Grafen von Meißen durch Deutich- 
land, Frankreich, Holland, England, Spanien, Portugal, Italien umd 
Ungarn. Ueberall hatte er Liebjchaften und zeigte einen unauslöſch— 
lihen Hang zur Oalanterie. 

Er fam nad) Madrid. Hier wurde ein Stiergefecht zu Ehren 
der Königin Maria Anna, einer pfälziichen Prinzeffin, gegeben. 


— 
— — 






Fiebfchaften Auguft des Starken. 687 


Am Tage des Kampfes fand ſich der Prinz incognito mit Ge— 
folge ein. Baufen und Trompeten gaben das Signal. Die Ritter 
erjchienen. Mean lieh die Stiere los, das Gefecht begann. Der Prinz 
ah erit eine Eleine Weile zu, dann fam er vor die Schranken, ritt 
hinein und verrichtete Wunder der Stärfe und Behendigfeit. Einem 
der wüthenditen Stiere gab er mit feinem Fänger einen Hieb in den 
Naden, jo daß demjelben der Kopf am Rumpfe hing. Das Thier 
jtürzte. Alle waren verwundert, auch der Stönig und die Königin, 
und wollten wijjen, wer dieſer Fremdling jet. Als fie den Namen 
des Prinzen erfuhren, bat ihn die Königin um feinen Bejud). 

Am Eingange des Kabinetts der Königin wurde der Prinz von 
der Gräfin von Berlepich, die aus Deutjchland jtammte, empfangen 
und in das Audienzzimmer geführt. Die Königin jtand unter einem 
Baldachin an einen * gelehnt. Zur Rechten befand ſich ihre erſte 
Kammerdame, Katharina de Monrade Arregon, Gemalin des Duc de 
‚sernandine, zur Linken die übrigen Hofdamen und hinter diejen die 
Slammerdienerinnen. 

Nachdem er der Königin die Hand gefüpt, unterhielt fie ſich mit 
ihm jo heiter und wohlwollend, daß die Augen aller Damen auf ihn 
gerichtet waren. 

Unter den Damen der Königin bemerkte der Prinz eine, die alle 
andern an Schönheit überjtrahlte. Es war die junge Marqueja von 
Monzera, die Tochter der oben erwähnten Duchefje von Fernandine, 
Ihre Blicke begegneten jich, und fie jchlug die Augen erröthend nieder. 

Die Königin jelbit war auch entzüdt von dem jungen Prinzen 
und zog ihn ihrem Gemal vor, der freilich Elein und ſchwächlich, 
fränflich und verdrieglich war. 

Der Prinz jann auf Eroberung der jungen Marqueja, die einen 
Ieht eiferfüchtigen Gemal hatte. Nachdem er lange darüber nach— 
gedacht, entdedte er jein Vorhaben einem Bettelmönd, Stephan, 
einem gebornen Italiener und feden Gelegenheitsmacher. Der dienſt— 
fertige Mönch entledigte ſich jeines Beichätts mit jo meijterhaftem Er- 
folge, daß er zunächit die Vertraute der Marquefa, Donna Lora, für 
ji) gewann. Es war ihm bekannt, daß fie bei ihrer geizigen Ge— 
müthsart der Freigebigkeit des Prinzen nicht widerjtehen würde. Zora 
erzählte nun ihrer Gebieterin jo viel jchönes von dem Prinzen, daß 
jie endlich aufgeregt fragte: „Nun, weißt Du nichts mehr von dem 
ſchönen Fremdling?“ 

Der Prinz wurde nunmehr auch am Hofe des Königs eingeführt. 
Karl II. empfing ihn mit allen Ehren und befahl ſeinen Hofleuten, 
ihm eben die Honneurs zu machen, wie den Prinzen von Geblüt, 
Hierauf entließ er den Prinzen zum Handkuß der Königin, die ihn 
mit Sehnjucht erwartete. Sie empfing ihn mit all der Achtung und 
Zuneigung, mit welcher jie 1m das erite Mal empfangen hatte. 

Bährend er ſich mit der Königin unterhielt, Nein feine 
Blide umher, die Marquefa de Monzera auszujpähen. hatte auch 
* das Vergnügen zu bemerken, daß ſie ihn mit Aufmerkſamkeit 
anſah. 

Den Tag nach des Prinzen Audienz — die junge ver— 
gnügungsſüchtige Königin ihren Gemal zu einem Ball. Der Prinz 


— 


688 Liebfchaften Auguft des Starken. 


ward dazu eingeladen. Die Königin eröffnete die Neihe der Tänze 
mit dem Ehrengajt, während der König nicht tanzen wollte. Als * 
der Prinz an ihren Platz zurückführte, fragte er ſie galant, welche 
Dame ſie ihm befehle zu engagiren. Sie erwiderte, er habe völlig 
freie Hand. Ohne ſich lange zu beſinnen, ging er daher zur Marqueſa 
Monzera. Sie tanzte mit ſolch entzückendem Anſtand und konverſirte 
in fol interefjanter Weije, dab er überglüdlic ausrief: „Mein Gott, 
it es möglich, daß Sie jolch einen bezaubernden Anjtand mit jolch 
einer Schönheit verbinden fünnen!“ 

Die Margueja erröthete bei diefem unvorfichtigen Erguß jeiner 
ee Ihrer Mutter, der Ducheſſe, entging nicht dieſer 

toment, und jie ward unruhig darüber. 

Am meisten aber ward die Marqueja dadurd) geängitigt, daß ihr 
Gemal den Ausruf des Prinzen gehört hatte. Im höchſten Grade eifer- 
jüchtig, befahl er ihr, nicht mehr mit dem Prinzen zu tanzen. 

Sie mußte gehorchen. 

Eine leichte Umpäplichkeit, die fie angab, diente ihr zur Entſchul— 
digung das Tanzen — und zu Hauſe befahl ſie der Lora, 
nicht wieder von dem Prinzen zu reden. 

Aber Donna Lora gehorchte nicht. Sie redete vielmehr unaufhörlich 
von ihm, und die Marqueſa beſaß nicht Entſchloſſenheit genug, ihr 
ſolches ferner zu verbieten. 

Der Prinz war von allem, was bei der Marqueſa vorging, unter— 
richtet. Er entſchloß ſich, an ſie zu ſchreiben, und Pater Stephano 
mußte den Brief zur weitern Beſorgung der Lora einhändigen. Noch 
denſelben Abend hinterbrachte ſie ihrer Herrin, daß ihre ſtille Zurück— 
gezogenheit die Liebe des Prinzen mehr anſchüre, als erlöſche. Er 
habe einen Mönch in ſein Intereſſe gezogen, der ihr einen Brief über— 
geben habe. Ber dieſen Worten erblaßte die Marqueſa. 

„Lora“, rief fie zitternd, „Du machſt mid) unglüdlic! Soll ich 
die Pflichten gegen meinen Gemal vergefien? Nein, nein, jage mir 
fein Wort mehr vom Prinzen! Mein Herz“, fuhr jie fort, und die 
hellen Thränen rannen über thre Wangen herab, „jagt mir mur zu 
viel von ihm.“ 

„Sie wollen aljo diefen Brief nicht annehmen?“ fragte Zora. 

„Nein, nein!“ rief die Marqueja ungeduldig. „Geb ihn dem 
wieder, der ihn gebracht hat, und verbiete ihm mein Haus.“ 

Lora geriet bei diefen Worten in nicht geringe Bejtürzung. 

„Dann jind Sie jchuld an dem Tode des Prinzen“, jagte fie. 

„Zora“, rief die Marqueja, „laß mich!“ 

Ber diejen Worten jchwammen ihre Augen in Thränen. Lora 
hielt dieſen Augenblid für günitig, den Brief zu erbrecyen, und warf 
Jich ihr zu Füßen. 

„O meine Gebieterin“, rief jie, „leſen Sie das Billet!“ 

Nunmehr konnte die Marqueſa nicht länger an ſich halten und 
las den Brief. 

Was jonjt noch bei diefem Auftritte vorfiel, das alles erzählte 
Zora dem anjtelligen Mönch, der das erjte Mal unverrichteter Sache 
a mußte. 

er Prinz jtand am Fenſter und konnte die Rückkunft des Bruder 


Kiebfcyaften Auguft des Starken. 689 


Stephano faum erwarten. Wie erjchraf er aber, al3 er den ganzen 
Hergang der Sache erfuhr! 

Drei Tage lang trauerte der Prinz, ohne zu wijjen, was er an— 
fangen follte. Endlich entichloß er fi), den Stephano noch einmal 
abzujchiden mit einem Briefchen voll der zärtlichiten Klagen. Die 
Marqueja las es und jchrieb auch eine Antwort an den Prinzen, in 
welcher jie ihre Liebe zu ihm gejtand, aber ein Zujammentreffen mit 
ihm ablehnte. 

Trotzdem erregte der Inhalt des Billets in dem Herzen des 
mutbhigen Prinzen neue Hoffnungen. Die Gefahr jchredte ihn nicht. 
Und jo gelang es ihm endlich, ſich jeiner Geliebten zu nähern, öfter, 
als er geglaubt hatte. 

Indeſſen erfüllte ſich das tragische Schiejal. 

Der Marqueje machte die fürchterliche Entdedung, daß ihm feine 
Gemalin untreu geworden war. Nie mag eines Menjchen Verzweif: 
fung jo hoch gejtiegen jein, wie jeßt bei ihm. Er verfiel in einen Zus 
ſtand jtillen Hinbrütens, unjäglichen Kummers und jchloß fich ein, 
nur ein einziger Kammerdiener blieb bei ihm, der allein in alles ein- 
geweiht war. 

Der Tod des Prinzen ward bejchlojjen. 

Während der Marqueje über diejer jchredlichen That brütete, 
waren unjere Liebenden mit ihrer Liebe bejchäftigt und ahnten nichts 
von dem Unglüd, das ihnen bereitet wurde. 

Es vergingen einige Tage Der Kammerdiener hatte im ftillen 
drei Banditen gedungen. Dieje drei, geführt vom Kammerdiener, vigi- 
lirten auf den Prinzen. Es fam zur Attacke, der Prinz wurde leicht ver- 
wundet, zwei Bandıten blieben todt, einer war tödtlich verwundet und 
der vierte Mann hatte die Flucht ergriffen. 

Der Prinz fam nad) Haufe und ließ fich jeine Wunden verbinden. 

‚Aber mehr als jeine Wunden beunrubigte ihn das Schickſal der 
Marqueſa. 

Interdefjen war der Palaſt von Monzera der Schauplatz von 
Verwirrung, Schreden und Traurigfeit geworden. Als der Marqueje 
hörte, daß der Prinz jeiner Rache entgangen war, und die Juftiz durch 
den Banditen jeinen vorgehabten Meuchelmord erfahren habe, hielt er 
jich für verloren. Aber er wollte nicht eher jterben, als bis er feine 
Rache im Blute abgekühlt habe. Er ergriff einen Dolch und einen 
Giftbecher. So jtürzte er in das Zimmer feiner Gemalin, wo er 
auch Zora traf. Den Dolch jtieß er der leßteren in die Bruft und 
den Giftbecher reichte er jeiner Gemalin. Sie mußte ihn in jeiner 
Gegenwart austrinfen. Er eilte davon. 

Nach einiger Zeit erjchien die Duchefje Fernandine Cie jah 
Lora todt vor ich und ihre Tochter in den legten Zügen. 

Indejjen fich dieje traurige Scene in dem — der unglück— 
lichen Marqueſa abſpielte, lag der Marqueſe in ſeinem Zimmer tödt— 
lich krank. Die Ducheſſe beſuchte ihn, konnte aber den traurigen An— 
blick nicht ertragen und entfernte ſich deßhalb wieder, ihn unter 
ſeinen Bedienten laſſend, in deren Armen er ſtarb. 

Der Rang des Marques und die Freundſchaft, die der König 
für ihn hatte, bewirkten, daß die Juſtiz, jo lange er am Leben war, 


60 Fiebfhaften Auguft des Starken. 


nichts gegen ihn unternahm. Nach dejfen Tode befahl der König 
auch, ſein Andenken nicht zu bejchimpfen. 

Der Prinz aber war untröjtlich, und er geitand jpäter noch am 
Ende feines Lebens, day er fein Weib jo zärtlich und innig geliebt 
habe, wie die Marqueſa, und daß er nie einen Schmerz gefühlt, jenem 
Br den er bei ihrem Verluſte empfunden hatte. 

ad) dem Tode der Marqueja verabjchiedete ji) der Prinz bei 
dem Könige und der Königin, um nach Sachſen zurüdzufehren. 

Er reijte über Venedig und Rom, und jein angeborener Hang 
zur Öalanterie führte ihn iu neuen Liebjchaften, über welche er die 
unglüdliche Marqueja von Monzera bald vergaß. 

In Venedig lernte er die jchöne Frau von Moncenigo fennen, Die 
ihn zwar jehr liebreich aufnahm, aber feine Wünſche nicht erfüllte. 
Dagegen hatte er mehr Glüd bei einer jungen vornehmen Wittwe. 
Er ging öffentlich zu ihr, ganz Venedig wuhte um jeine Liebe. Frau 
von Moncenigo aber war froh, daß er eine andere Verbindung ein- 

egangen war, umd jcherzte nun gern mit ihm wegen jeiner Unbe. 
Hünbigfeit 

Aber trogdem die ſchöne Wittwe die feurigite Liebe zum Prinzen 
heuchelte, betrog fie ihn. Er fand fie eines Tages in den Armen 
eined Dominikaner. In jeiner Erregtheit nahm er feinen Rohrſtock 
und tummelte ihn weiblich auf des feiſten Mönches breitem Rüden. 

Seit, diefem Auftritt zerfchlug ſich natürlich der Umgang des 
va mit der Wittive. 

Sr machte bald darauf Bekanntſchaft mit einer Modedame Bene: 
digs, der Trompettina. Täglich jpeijte er bei ihr in Geſellſchaft der 
vornehmiten jungen Rouéès von Venedig. 

Während der legten Zeit in Venedig divertirte er ſich mit bürger— 
lichen Liebjchaften, befonders mit der Kaufmannsfrau Mathe. Dann 
nahm eine Nonne ihre Stelle ein. Nach anderthalb Jahren verlich 
er dieſe Stadt und — Bologna und Florenz, wo er ſich dem 
Großherzog Kosmus III. vorſtellte, der ihm zu Ehren große Feſtlich— 
keiten veranſtaltete, und fam-nad) Siena, wo er ein ſehr ſchönes Mäd— 
chen mit dem Manne ihrer Wahl verheiratete und den jungen Ehe— 
leuten ein ſehr anſehnliches Jahrgeld ausſetzte. 

Der Prinz reiſte nun her Rom. Hier erwies ihm der Papit 
Innocenz XI. alle Ehren. 

Unter allen Häujern Roms war feins jo begierig, den jungen 
Prinzen bei fich zu jehen, wie das Haus des Connetables; auch der 
Prinz war lieber da, als in jedem anderen. Die Gemalin des Con: 
netables war feine Schönheit, aber jie hatte einen noblen Anjtand und 
einen feinen Verſtand. Man jand in ihrem Haufe fröhliche Unge— 
— und der sun brachte daher gewöhnlich den Abend hier 
zu. Uber bald ward die Eiferjucht des Gemals rege, und jo war fie 
gezwungen, mit diefem auf jeine Landgüter bei Neapel ſich zurüd: 
zuziehen. 

Der Prinz wußte ſich zu tröften, er liebte die Signora Monti, 
die erſte Schönheit Roms. Aber fie hatte zu wenig Geiſt um ihn 
u a und jo flatterte er von einer Schönheit zur andern. 

Nunmehr begab er ji) auf die Reife nad) Neapel, jchiffte ſich 


Liebfchaften Auguft des Starken. 691 


nad) Sicilien ein und bejuchte die anjehnlichiten Städte der Inſel. 
Als er aber die Nachricht erhielt, daß Ludwig XIV. dem Kaiſer Leo: 
old den Krieg erflärt habe, eilte er an den Rhein zur Armee und 
wies hier jene umerjchrodene Tapferkeit, die ſich immer gleich blieb 
und jelbit jeinen Feinden Bewunderung abnöthigte. 

Nach Beendigung des Feldzuges wurde er von feiner Mutter und 
— Bruder Johann Georg nach Sachſen zurückberufen. Er nahm 
einen Weg über Nürnberg und Baireuth und ward in der letzteren Stadt 
vom Markgrafen von Brandenburg prächtig — Er Iah hier die 
Prinzeſſin Eberhardine, Tochter des Markgrafen. Die blendende Weihe 
ihrer Haut und ihr blondes Seidenhaar verliehen ihr einen Glanz, 
der Jemen ec juchte. Ihre Züge waren regelmäßig, ihr Wuchs und 
ihr Gejicht hatten unendlichen Liebreiz. Befcheidenheit und en üte 
im Verein mit jenen Tugenden machten die faum fünfzehnjährige Prin- 
zejfin dem Prinzen begehrenswürdig. Er hielt um ihre Hand an, fie 
ward ihm bewilligt. 

Der Prinz ging mit feiner jungen Gemalin nad) Dresden und 
verlebte mit ihr die erjten Monate in lauter Lujtbarfeiten. 

Da ereignete es ſich, daß das Bauen von Neitſch, welche den 
Kurfürften immer noch liebte, an den Blattern jtarb. Der alte Kurfürst 
war untröftlih. Man konnte ihn von der Leiche nicht entfernen, und 
N defam er durch Anſteckung auch diefe Krankheit, an welcher er am 
iebenten Tage jtarb. 

Sobald Sg Georg todt war, ließ der neue Kurfürjt Friedrich 
August die Gräfin von Rochlig, die Mutter der Neitjch feitjegen. Aber 
fie jtarb, als ihr Prozeß eben beendet war. 

August des Starken Thronbefteigung gab dem jächjiichen Hofe 
eine neue Gejtalt. 

Der Kurfürit lebte anfangs mit jeiner Gemalin in unverbrüc)- 
licher Einigfeit. Sie liebten jich beide mit gleicher Zärtlichkeit. Aber 
e3 dauerte nur eine Zeit lang. 

Die Kurfürjtin Mutter hatte unter ihren Kammerfräulein eine 
gewijje von Keſſel. Dieſe war «8, die den Kurfürſten treubrüchig 
machte. Er ſah jie einmal im Vorzimmer feiner Mutter und unter: 
hielt fich lange mit ihr. Ihr Geiſt und Witz entzüdten ihn, und von 
diefem Augenblide an war er in jte verliebt. Den Tag darauf fam 
er wieder, und jo ging es den ganzen Monat hindurch * Sie war 
eine ſchlanke Brünette, mit großen ſchmachtenden Augen und einem 
Teint, deſſen Feinheit nur von der Feinheit ihres Verſtandes über— 
troffen ward. Der Kurfürſt konnte ihr nicht widerſtehen und ſchickte 
ihr alsbald für 60,000 Thaler Diamanten und mehrere Stücke präch— 
tiger Stoffe. 

Indeſſen hatte die junge Kurfürftin bemerkt, daß ihr Gemal kälter 
gegen fie geworden war. Endlid) lernte fie den Grund fennen. Sie jah 
as Fräulein am Geburtstage des Kurfürſten, geſchmückt wie eine Königin 
mit den fojtbariten Diamanten, die fie als jolche von ihrem Gemal 
errührend erfannte. Sie ließ das Fräulein ER und ging zur 

rfürjtin Mutter, Die beiden Kurfürſtinnen bejchlojfen nun, fie vom 
Hofe durch eine Heirat zu entfernen und erhielten auch nad) langem 


692 fiebfcyaften Auguſt des Starken. 


Warten die Genehmigung des KHurfürjten dazu. Sie ward an den 
‚seldmarjchall von Haugwig vermält und fam nad) Wittenberg. 

Aber der Kurfürjt war dadurch nicht auf immer von jeinen Lieb— 
ichaften kurirt. 

Eine Schönheit erjten Ranges aus Schweden — die Gräfin 
Aurora von Königsmark — war mit ihrer Schweiter, der Gräfin von 
Löwenhaupt, nad) Deutihland gekommen, um die Hinterlajjenjchaft 
ihres einzigen Bruders, der in et plößlich geitorben war, zu 
heben. Da fie aber Schwierigkeiten, jowohl hier als in Hamburg 
fanden, wo der Verjtorbene beträchtliche Summen eingezahlt hatte, 
eilten jie nach Dresden, um des Kurfürſten Beiitand in Ddiejer trau: 
rigen Angelegenheit anzurufen. Sie wurden von den beiden Kur— 
fürjtinnen gnädig empjangen, der Kurfürſt war von der Leipziger 
Meſſe noch nicht zurüd. Als er zurüd fam, war er nicht wenig er- 
jtaunt über die Schönheit der Gräfinnen, aber jeine Augen hefteten 
ſich bald ausſchließlich auf Aurora. 

Nachdem ſie ihr Anliegen dem Kurfürſten vorgetragen hatten, lud 
er jie ein an feinem Hofe zu bleiben, bis die Sache ausgemacht jet 
Er entfaltete nunmehr all jeine Pracht, um jeiner geliebten Aurora 
zu gefallen. Feſtlichkeiten, Bälle, Theater, Spazierfahrten wechjelten 
ab, und die größten Summen wurden nicht gejpart. Die Moritburg 
weiß davon genug zu erzählen. 

Natürlich) war dadurd) das Berhältnig des Kurfüriten zu jener 
Gemalin und zu feiner Mutter wieder ein recht unerquidliches gewor— 
den; aber Aurora verftand es, den beiden KHurfürjtinnen Achtung ab 
zugewinnen, da fie den Kurfürjten zwang, ſich nicht von jeiner Ge 
malin zu entfernen. 

Ihre Schweiter war bereits wieder abgeretit. 

So fam es denn auch, daß die Herren am Hofe mit Ehrfurcht 
auf fie jahen, und auch die Damen konnten fie nicht haſſen. Ihre 
bejcheidene Sanftmuth und Feinheit verließen fie nie, jie fam mit 
Güte und Gefälligfeit jedermann entgegen und half Nothleidenden nad 
allen Kräften. Ihr Andenken blieb lange lebendig bet allen, die fie 
gefannt hatten. _ 

Einige Zeit jpäter verjtand jich die Stiftsäbtiffin zu Quedlinburg 
dazu, jie zur Pröpjtin zu erwählen. Dies gab ihr Rang und Würde, 
von nun an jpeijte der Kurfürſt alle Abend bei ihr, und von allen 
Seiten famen Freunde nad) Dresden und fehrten mit Bewunderung 
und Achtung vor dem Liebhaber und der Geliebten zurüd. 

Die Folgen ihres intimen Umganges mit dem Kurfürften blieben 
nicht aus, und Aurora fam mit einem Sohne nieder, der Morig ge 
— wurde und ſpäter als Graf Moritz von Sachſen eine Rolle 
ſpielte. 

Bon der Zeit an zog ſich der Kurfürſt von ihr zurück, behandelte 
fie aber ſtets mit Achtung. 

Der Kurfürſt leiftete dem deutjchen Kaiſer gerne Folge, als er 
nad) Wien gerufen wurde, um das Kommando über die fatjerlice 
Armee in Ungarn zu übernehmen. In Wien ward der Sieger über 
die Türfen von Amor beſiegt. Die Gräfin Ejterle raubte ihm Her 
und Freiheit. Auf einem Ball, den der römische König, des Kaners 


fiebfchaften Auguft des Starken. 693: 


ältefter Sohn, gab, jah er fie zuerjt. Strenge Tugend war nicht ihre 
Sache; aber jie war wirklich jchön. Ihre jchönen blonden Haare 
riejelten in Locken über ihre Schultern herab. Sie trug ſich gewöhn— 
lid im Roſa mit Silber; Blumen waren auf das Kleid geitidt, die 
mit der Natur wetteiferten. Eine dichte Perlenjchnur hob die Schön- 
heit — alſes, und ihre Wangen waren mit Lilien und Roſen in 
reizender Miſchung übergoſſen. Sie ergab ſich dem Kurfürſten, der 
ſie faſt jeden Tag beſuchte. Endlich kam der Graf Eſterle hinter die 
Untreue ſeiner Gemalin und ward äußerſt unglücklich. Aber er willigte 
zuletzt ein, daß ſie die öffentliche Maitreſſe des Kurfürſten wurde, und 
ji daß die Kinder, die fie noch befommen würde, den Namen 
Siterle führen jollten. 

Als diefe neue Liebjchaft des Kurfürjten in Dresden befannt 
ward, legte die Gräfin Königsmark Iogleich ihre Maitreſſenſchaft nieder. 
Aber jie blieb am Hofe und jah den KHurfüriten mit ihrer Neben- 
bublerin ruhig anfommen. Gie Ken jogar das Glüd, nach ihrem 
Sturze viele ud: und feinen Feind zu haben. 

Aber die Ejterle gefiel nicht in Dresden, fie war ftolz, rachſüchti 
und in der Freundſchaft und Liebe nicht aufrichtig. Sie hielt fich 
mehrere Liebhaber, von denen fie immer einen nach dem andern opferte, 
wenn e3 ihr Interejje erforderte. | 

Die Kurfürftin hatte ihre Ankunft nicht ohne Diurren vernommen, 
aber jie war gleichgiltig geworden; die Kurfürjtin Mutter dagegen 
reijte alsbald nad) Lichtenberg ab und nahm den. Kurprinzen, ıhren 
Enfel mit, dem fie eine jorgfältige Erziehung zutheil werden lie}. 

Inzwiſchen wurde der Kurfürjt von Er zugleich König von 
Polen. Die Ejterle begleitete ihn auf der Krönungsreife nach Krakau 
und feierte ihre größten Triumphe. Bon hier ging der neue König 
mit jeiner Maitreife nad) Warjchau, wo fie vom polniichen Adel jehr 
seht wurde. Ste nahm aber den Grafen von Flemming zu ihrem 

ünftling an und bielt e8 auch mit dem Prinzen Wiesnowitsky. 
Darüber ward der König jehr zornig und ließ ihr befehlen, in zwei 
Stunden den Palaft und in vierundzwanzig Stunden Warjchau und 
ohne Aufenthalt das Land zu verlafjen. 

Sie gehorchte. | 

Nun lebte der König eine Zeit lang ohne erklärte Maitrejje, aber 
nicht ohne einige flüchtige Liebeleien. 

Bei der Frau von ba, geb. von Flemming, lernte der ver- 
liebte König ein türfifches Mädchen fennen, das bei Ofen zur Kriegs— 
beute gemacht worden war, die Fatima. Er gab dem unjchuldigen 
jungen Mädchen jo anhaltende Verficherungen feiner Zärtlichkeit, da 
hie ich bald von ihm befiegen Lich. 

Indeſſen befam er ſie auch bald jatt und verheiratete jie an einen 
Herrn von Spiegel, Oberjtlieutenant in jeiner Armee. 

Eine andere Schönheit bemächtigte fich feines Herzens, die Prin— 
zeſſin Lubomirsky, die Gemalin des ae ſchatzmeiſters und Nichte 
des Kardinals Radziowsky, Primas von Polen. Bon ihren Reizen 
hingeriffen, liebte er fie in vollem Ernjt. Sie lichte Vergnügungen 
und Aufwand. Nichts ward gejchont; die franzöfiichen Schaufpieler 
und die Kapelle wurden aus Dresden gerufen, alle Tage waren Komödie, 





694 Kiebfchaften Auguſt des Starken, 


Ball, Karufjell, Sagd, Wafjerfahrten und Lotterien und taufend andere 
Luſtbarkeiten. Nie war Warjchau jo lebhaft und glänzend. 

Einmal gerieth die Fürſtin Lubomirsky in große Sorge, als jie 
den König bei einem Ringelrennen vom Pferde jtürzen jah. Aber 
bald danach jahen jich beide nn) bei der Fürſtin Sobiesky, 
die zu Ehren des Königs einen Ball gab. Er eröffnete den Ball mit 
der Fürſtin, wurde aber plötzlich unwohl und mußte nad) Haufe ge- 
bracht werden. Die Lubomirsky bejuchte ihn täglich in jeinem Palaſte 
und aud) dann noch, als er wieder hergejtellt war. Das erfuhr endlich 
ihr Gemal und jtich einige beleidigende Worte aus, die den König 
betrafen. Er durfte nicht mehr an den Hof fommen, und jo reijte er 
auf — Güter ab, aber ohne ſeine Gattin, die von ihm geſchieden 
wurde. 

Der König su nunmehr nad) Sadjjen, und die Fürjtin Lubo— 
mirsky folgte ihm. Bald darauf wurde ſie durch ein faijerlicyes Diplom 
zur Fürſtin von Tejchen ernannt. Sie machte mit dem Könige ver- 
ſchiedene Reifen in Sachſen und fam auch nad) Leipzig zur Meſſe, wo 
fie der Königin von Polen und der Königin von Preußen vorgeitellt 
wurde. Der Empfang war höchjt ceremoniell; aber die Fürſtin ent- 
fchädigte ſich dafür dadurch, daß jie fürjtliche und gräfliche Perſonen 
zu einem lufulliichen Mahle einlud, dem cin Ball folgte. 

Auguſt der Starke lieh es ſich — angelegen ſein, die 
Wohlfahrt und Verſchönerung der Stadt Leipzig zu fördern. So war 
er es, der 1701 und 1704 die Beleuchtung und Beſchleußung der 
Stadt forderte. Er veranſtaltete die Anlage einer Allee im Roſenthale, 
verlangte eine Beſſerung und Ueberſäulung des Rathhauſes, die Grün— 
dung einer Ererceitien-Afademie, eine neue Armenordnung und ange: 
mejjene Einrichtung des neuen Waijenhaujes. Auch die jolenne Ab: 
haltung des großen Vogelſchießens, welches alljährlich auf der jo: 

enannten Pfingſtwieſe beim Kuhthurme abgehalten zu werden pflegte, 
ie Verbeſſerung der Kirchenmufif und die Ueberwachung der zu jener 
Zeit ziemlich zweideutigen Kaffeehäufer ließ ji) der König angelegen 
jein. Der damalige Bürgermeijter, Konrad Romanus, fonnte dieje 
landesherrlichen Verordnungen nur bis 1704 unterjtügen, weil er in 
diefem Jahre wegen gemeiner Verbrechen verhaftet und auf Lebenszeit 
nach der Feitung Königjtein überführt wurde. 

Bon Leipzig aus reijte der König nad) Deffau, die Fürſtin nad 
Dresden, wiewohl nur ungern. Dejto N röhlicher aber war das Wieder: 
jehen in Dresden. Der König ging mit ihr nad) Polen, dort lieh er 
fie und fam nad) Dresden zurüd, wo er jich königlich amüfirte, am 
metiten mit der Frau von Hoym, die feine Daitrefte wurde und den 
Titel Gräfin von Cofjell (Kojel) erhielt. An fie vergeudete Auguſt 
der Starfe immenje Summen. Sie ward, wie befannt, die Beherricherin 
des Königs und des Staates. 

Als der König mit der Eojjell nad) Polen ging, und die Fürjtin 
von Teſchen davon Kunde befam, verlieh diefe Warjchau und begab 
ſich zu ihrem Onfel, dem Kardinal: Primas. Der König jeßte 23 aber 
bald wieder auf guten Fuß mit ihr. Zugleich) machte er aber auch 
>= folgenreiche Befanntjchaft der Henriette Duval, eines Weinhändlers 

ochter. 


£iebfchaften Auguft des Starken. 695 


Die Gräfin Coſſell jchöpfte Verdacht und zweifelte nicht mehr 
daran, daß der König eine neue Liebjchaft habe. Sie ging nad) Dres- 
den zurüd, er jtellte I an die Spige jeiner Armee zum Kriege gegen 
Karl XII, der gegen Warjchau vorrüdte. Nach dem für Auguft un— 
glücklichen Ausgang des Kampfes zog er ſich nach Dresden zurüd, wo 
die Eojjell Mutter einer Tochter wurde. 

Inzwiſchen fam auch die Tänzerin Duparc, die der König früher 
in ri fennen und lieben gelernt hatte, nad) Dresden und bereitete 
der Eojjell, die wieder mit einer Tochter niedergefommen war, unend- 
lihen Verdruß. Sie wurde jeine Maitreffe; die Eofjell blieb aber 
jeine „regierende* Geliebte. 

Um den polnischen Thron wieder zu erhalten, war Auguft nad) 
Potsdam gekommen und hatte Friedrichs I. Hilfe nachgeſucht. Dazu 
bedurfte es aber der Vermittelung des Grafen von Wartenberg und 
deſſen Gemalin. Auguſt ſetzte ſich bei ihr in. Gunft, fie liebte ihn. 
Er befam Polen wieder. | | 

Nun wurde ihm in Warjcjau eine neue Maitreſſe zugeführt, die 
Gräfin Dönhof. 

Die Goffeli erfuhr dies, eben als fie einem Sohne das Leben 
geichenkt hatte, Friedrich August, der ganz das Ebenbild jeines Vaters 
— welcher ihm nachmals den Titel eines Grafen von Rutowsky 

ilegte. 

Im dem Unglück vorzubeugen, das ſie in Warſchau bedrohte, 
faßte fie den Entichluß, dahin abzureifen. Da. jchidte ihr der unbe- 
ftändige König zwei Geſandte mit Gefolge entgegen, um fie eventuell 
mit Gewalt nad) Dresden zurüdzuführen. Sie mußte ſich nad) langem 
Widerjtreben fügen. Aber aud) aus Dresden ‚mußte fie weichen, ehe 
der König mit der Dönhof dort anfam, fie ging nach Pillnig. Bon 
se entfloh fie nach Berlin und Halle, wo fie verhaftet und nad) 

eipzig eskortirt wurde. Nun Fam jie ala Gefangene auf die Feſtung 
Stolpen und fand hier ihre legte Ruheſtätte. 

Aber auch die Gräfin Dönhof wurde wieder verdrängt, durch das 
Den Diesfau. Sie war jhön, wie die Göttin der Liebe. So 
ebhaft indejjen jeine Neigung zu ihr war, ward fie doch bald von 
einer andern erjtidt. Fräulein von Ofterhaujen war nie vergnügter 
mit dem König, als wenn fie jich ohne Zeugen jahen. Später wurde 
fie mit dem Kammerherrn Stanislafsky ın Warſchau vermält. 

Der oben erwähnte Graf von Rutowsky hatte die Tochter der 
Henriette Duval und des Königs in fein Haus aufgenommen und wartete 
auf eine a fie — vorzuſtellen. Er erkannte ſie als 
ſeine Tochter, ſchloß ſie in ſeine Arme, nannte ſie ſein Kind und gab 
ihr den Titel einer Gräfin Orſelska. Sie genoß alle Vorrechte einer 
rechtmäßigen Tochter. beſchäftigte ihn anſtatt Frauenliebe einzig 
und allein die Sorgfalt für ſeine geliebte Tochter, die er mit einem 
Prinzen von Holſtein-Bek vermälte. 

ditten unter Feſten und Entwürfen überraſchte eh den Starfen 
der Tod, er jtarb in Warjchau am 1. Februar 1735 und ward in 
Krakau begraben. | 

Er hat prächtig gelebt und viel geliebt! 





—* am meiſten 
ichtbarwerden, 
ewegung, F geheimniß⸗ 





alle Tage anſichtig werden, jene Pyänomene, die ſich be— 
37 itändıg oder in regelmäßigen HZwijchenräumen vor unjeren 

Augen wiederholen, vermögen unjere bejondere Aufmerkjamtett, 
unjere Neugier nicht mehr zu weden. „Nicht ohne Grund“, jagt d'Alem⸗ 
bert, „eritaunt der Philojoph, der einen Stein fallen jieht, und das 
Bolt, welches jein Staunen verladht, würde e3 theilen, jobald es ein 
wenig nachdächte.“ 

Man muß eben nachdenken, um auf den Punkt zu gelangen, nach 
dem Wie und Warum der ums täglich erfichtlichen oder in regelmäßigen 
Bertabjchnitten vor Augen geführten Thatjachen zu fragen. Die be- 
wunderungswürdigiten Erjcheinungen bleiben unbemerkt, die Gewohne 
heit, welche den Eindrud abgejtumpft hat, läßt uns gleichgiltig. Selt- 
jamerweije erzeugt das Unerwartete, das Mußergewöhnliche jtet3 Furcht, 
niemals Freude oder Sleichgiltigfeit. So hat aud) die Erſcheinung 
eines Kometen, jein plößliches — am Horizont, das fahle 
Licht ſeines Strahlenhaares in allen Ländern und zu allen Zeit— 
epochen auf den Geiſt der Völker den Eindruck einer fürchterlichen 
und die uralt hergebrachte Weltordnung gewaltſam bedrohende Macht 
hervorgebracht und zwar, da die Sichtbarkeit des Phänomens nur 
auf einen kurzen Zeitraum beſchränkt iſt, einer Macht, deren Wirkung, 
wenn nicht jofort, jo doch in nahe bevoritehendem Zeitraum eintreten 
muß. MUeberdies bieten die Vorgänge auf diefer Erde in ihren Ver— 
— ſtets Umſtände dar, welche ſich als die Erfüllungen ſchreck— 
licher Vorbedeutungen auffaſſen laſſen. 

Mit wenigen Ausnahmen haben die alten Aſtronomen die Kome— 
ten entweder als atmojphäriiche Meteore oder als vergängliche 


Bur Gefchichte der Kometen. 697 


Himmelserjcheinungen angejehen. „Für die einen waren die Kometen 
irdiſche Ausdünſtungen, welche ſich in der Region des Feuers entzün- 
deten; für andere waren ſie Seelen großer Männer, welche gen Him— 
mel gejtiegen, unjern armen Planeten, indem fie ihm entflohen, jenen 
Geißeln überliegen, von denen er jo oft heimgejucht wird. Die Römer 
jcheinen allen Ernites — großen Kometen, welcher beim Tode 
Cäſars, im Jahre 43 M Chr. erſchien, für die Seele des Diktators 
gehalten zu haben. Selbſt Glevetius und Kepler waren im ſiebzehn— 
ten Jahrhundert noch nicht abgeneigt, die Kometen für Emanationen 
zu halten, welche dem Erdförper und anderen Planeten entjtiegen. Man 
begreift, daß unter jolchen Vorausſetzungen die Berechnungen der 
Kometenbewegungen jehr vernachläffigt wurden. Erſt Danf den For: 
Ihungen eines Tyco de Brahe, dann Newton, Halley, bejonders der 
neuen Ajtronomen hat jie ſich zu der wijjenjchaftlichen Höhe der 
Theorie über die Gejege der Kometenbewegung erhoben. 

Der Gejchichtsforjcher Suetonius giebt, den Anfichten des Nitro: 
logen Babilus beijtimmend, die Scheuflichkeiten des Nero der Er: 
jcheinung eines Kometen Schuld und verjichert, daß ein jolcher auc) 
den Tod des Claudius verfündigt habe. Und Dio Gaffius jchreibt: 
„Mehrere Wunder gingen dem Tode des Veipafian voraus; ein Komet 
war längere Zeit jichtbar, das Grab des Augujtus öffnete ſich von 
jelbit. Als die Merzte ihn darauf aufmerfjam machten, da er von 
einer ——— Krankheit befallen ſei und dennoch ſeine gewöhnliche 
Lebensweiſe fortführe, und den Staatsgeſchäften obliege, antwortete 
er: „Ein Kaiſer muß aufrechtſtehend ſterben.“ Als er vernahm, wie 
einige Höflinge ſich leiſe von der Erſcheinung des Kometen unter— 
hielten, ſagte er lachend: „Dieſer langhaarige Stern geht mich nichts 
an, er hat vielmehr Bezug auf den —* der Parther, denn dieſer 
beſitzt Haupthaar, ich aber bin kahl.“ 

Derſelbe Glaube war in Griechenland verbreitet. Ein Komet 
vom Jahre 371 v. Chr. und von Ariſtoteles erwähnt, verkündete nach 
Divdojos Lifulos die Decadence der Yafedämonier und nad) Ephorus 
die Zerjtörung der Städte Bura und Helife in Achaia durd) die 
Fluten des Meeres. 

Plutarch berichtet, daß der Komet vom Jahre 344 v. Chr. für 
Timoleon von Korinth den glüdlichen Ausgang jener während dejjel- 
ben Jahres gegen Sizilien gerichteten Erpedition bedeutet habe. 

Der Gejchichtsjchreiber Sokrates Scholaſtikus erzählt, daß im 
Jahre 400 unjerer Zeitrechnung ein Komet in Form eines Degens 
über Konjtantinopel geleuchtet und in demjelben Moment die Stadt 
zu berühren gejchienen habe, als fie durch den Verrat) des Gainas 
edroht war. R 

as Mittelalter übertraf womöglich das Altertum noch an un- 
jinnigen Ideen in Bezug auf die Kometen und hat Bejchreibungen 
jolcher Himmelsförper geliefert, welche an Ungeheuerlichkeit alles 
denkbare überjchreiten. Fnracelfus behauptet, daß fie von Engeln ge— 
jandt jeien, um uns zu warnen. Alphons IV. König von Portugal, 
jtürzte, ald man ihm die Erjcheinung des Kometen von 1664 meldete, 
auf die Terrajje jeines Schloſſes, Fiofeuberte -Benvünfdnangen gegen 
das Geſtirn und ſchoß mit der Pijtole nach ihm. Doch 309, dieſes 

47 


Ter Salon 1887. Heft XII. Band II. 


698 ur Geſchichte der Kometen. 


königlichen Zornes ungeachtet, der Komet majejtätisch weiter auf feiner 
Himmelsbahn. 

Der berühmteite unter den periodisch wiederkehrenden Kometen it 
— welcher den Namen des Aſtronomen Halley führt, der zuerſt 
ſeinen Lauf berechnet und ſeine Wiederkehr vorausgeſagt hat. Dieſer 
Komet iſt ſchon achtzigmal von unſerer Erde aus ſichtbar geweſen ſeit 
dem Jahre 12 vor unſerer Zeitrechnung, bis wohin die Aufzeichnungen 
ſeines Vorüberganges an der Erde zurückreichen. Seine erſte in der 
Geſchichte Frankreichs denkwürdige Erſcheinung fand im Jahre 837, 
unter der —— Ludwig des Frommen ſtatt. Ein anonymer Chro- 
nift mit dem Beinamen der Ajtronom, jchildert ihn als Augenzeuge 
folgendermaßen: „Inmitten der heiligen Djtertage erjchien ein unheil— 
drohendes, unbeimliches Phänomen am Himmel. Sobald der König, 
der derartige Erjcheinungen jehr — beachtete, dieſes Phänomen 
bemerkt hatte, gönnte er 6 keine Ruhe mehr. „Ein Regierungswechſel 
und der Tod eines Fürſten ſind durch dieſes Zeichen verkündigt“, 
ſagte er mir. Er befragte die Biſchöfe um ihren Rath und ſie riethen 
ihm, zu beten, Kirchen zu bauen und Klöſter zu gründen. Er befolgte 
dieſen Rath und ſtarb drei Jahre nach Erſcheinung des Kometen. 
Der Halleyſche Komet erſchien wieder im Jahre 1006, da Wilhelm 
der Eroberer ſich Englands bemächtigte, Die Chroniſten ſchreiben über— 
einſtimmend in Bezug auf dieſen Umſtand: „Die Normannen, ange— 
führt von einem Kometen, bemächtigten jich Englands.“ Die Herzogin- 
Königin Mathilde, Gemalin Wilhelms, hat naiverweije diefen Kome— 
ten und den Eroberungszug auf jenem berühmten, jiebzig Meter lan— 

en 3 geſtickt, den jedermann heute no: im Stadtarchiv zu 
Bayer in Frankreich kann. Die Königin Viktoria trägt in ihrer 
Krone ein Kleinod, welches dem Schweif diejes Kometen, der jo große 
Bedeutung für den Ausgang der Schlacht von Haſtings gehabt, ent- 
jtammen A 

Doc) die berühmtejte jeiner Erjcheinungen ijt die vom Jahre 1456, 
drei Jahre nach der Eroberung Konjtantinopel® durch die Türfen. 
Ganz Europa bebte noch unter der Nachwirkung dieſes furchtbaren 
Ereignifjes. Man erzählte, daß die der heiligen Sophie gemeihte 
Kirche in eine Moſchee umgewandelt worden, dab alle hriftfichen Be⸗ 
wohner der Stadt zu Sklaven — oder erdroſſelt worden ſeien, 
man zitterte vor dem allgemeinen ickſal der chriſtlichen ehr 
Der Komet erichten im Sunt 1456. „Er war grob und jchredlich“, 
jagen die Chrontjten jener Zeit, „jein Schweif bededte zwei Himmels: 
zeichen; er war von leuchtender Goldfarbe und HR einer wallenden 

lamme* Man erkannte in ihm ein jicheres Anzeichen des göttlichen 
Jornes. Die Türken jahen ein Kreuz in ihm, die Chriften wollten 
die Form eines Yatagans in ihm erbliden. Bei Io großer dräuender 
Gefahr ordnete der Bapfı Galirtus III. an, daß die Gloden aller 
Kirchen täglid” um Mittag geläutet werden jollten und hielt die 
Gläubigen an, hierbei ein Gebet zu jprechen, um den Kometen und die 
Türken zu beijchwören. Diejer Gebrauch bat fich bei allen Fatholijchen 
Völkern erhalten, obwohl fie wohl ebenjowenig Furcht mehr vor dem 
Kometen wie vor den Türken haben. Dies iſt der Urjprung des 
Angelus. | 


Zur Geſchichte der Kometen. 699 


Uebrigens bildet diefer Komet Feine Ausnahme von der allge: 
meinen Regel. we Himmelserſcheinungen haben ſtets Efitaje oder 
Entjeßen zn en. Feuerdegen, blutige Kreuze, brennende Dolche, 
Lanzen, Drachen, flammende Schlünde und ähnliche Bezeichnungen 
jind den Stometen zur Zeit des Mittelalterd und der —— 
zutheil geworden. Kometen wie jener vom Jahre 1577 mögen durch 
ihre ſeltſame Geſtaltung u die Titel rechtfertigen, welche man ihnen 
zugelegt hat. Die ernithafteiten Hijtoriographen fünnen fich ihnen 
egenüber des Grauſens nicht erwehren. So jchildert der berühmte 
hirurg Ambroife Pare in einem Kapitel über die himmlischen Un: 
eheuer, den Kometen, des Jahres 1528 in den lebhaftejten und ab- 
Prerfenbften gen wie folgt: „Diejer Komet war jo jchauderhaft 
und fürchterlich) und übte auf die Menge ein derartiges Entjegen aus, 
daß viele am Schreden jtarben, andere in jchwere Krankheiten fielen. 
Er jchien von ungeheurer Länge zu jein und hatte eine blutrothe 
— An ſeinem untern Ende ſah man die Form eines gebogenen 
Irmes, der einen großen Degen in der Hand hielt, als oo er zum 
Schlag aushole. An der oberen Spige leuchteten drei Sterne. Zu 
beiden Seiten des Schweifes bemerfte man eine große Anzahl von 
Aexten, Mefjern, Degen, alles von blutrother Farbe, unter welche ſich 
auch menschliche Geſichter von entjeglichem Anjehen, mit langen Bär- 
ten und zerzaujtem Haar mijchten.“ 

Im Jahre 1661 jchreibt Madame de Sevigne an ihre Tochter: 
Wir haben Ne einen Kometen, der von jehr bedeutender Länge ift. 
Sein Schweif iſt das Schönfte, wa3 man jehen kann. Alle großen 
Perjönlichkeiten find alarmirt und glauben, daß der Himmel, jehr mit 
ihrem drohenden Verluste bejchäftigt, durch dieſen Kometen jolchen an= 
fündigt. Man jagt, dag die Schmeichler dem jterbenden Kardinal 
Mazarin, um dejjen Todesfampf durch ein Wunder zu ehren, jagten, 
daß ein großer Komet am Himmel jtehe, der ihnen Furcht iin öße. 
Er beſaß noch die Kraft, ſie zu verſpotten, indem er ihnen lä 


elnd 
antwortete: „Der Komet erweiſe ihm eine allzu große Ehre.“ Zwan— 
zig Jahre zeigten indeſſen die Großen am Hofe — des Vier⸗ 
—— nicht ſo viel Weisheit wie Mazarin. Man lieſt in den 
Chroniken des Deil de Beuf vom Jahre 1680: „Alle Ferngläſer find 
jeit drei Tagen nad) dem Firmament gerichtet. Ein Komet, wie man 
jolchen in der neueren Zeit noch nicht erblidt, bejchäftigt Tag und 
Nacht die Gelehrten der Academie des seiences. Der Schreden in 
der Stadt ijt groß. Die furchtiamen Gemüther wollen hierin das 
Anzeichen einer neuen Sündflut jehen, da, wie fie jagen, Waſſer jtets 
durch Feuer verfündigt werde, wovon wir aber durchaus nicht über- 
jeugt jein würden, wenn Mr. Caſſini ſich — Mühe nähme, 
die nz diefer Behauptung zu beweijen. ührend die Furcht— 
jamen ihr Tejtament machen und, das Ende der Welt nahen jehend, 
all’ ihr Hab und Gut den Mönchen verjchreiben, bejchäftigt ſich der 
go aufs Lebhaftejte mit der Frage, ob das irrende Gejtirn nicht den 

od irgend einer großen Perſon anfündige, jo wie ein jolches einjt- 
mals, wie jie jagen, den Tod des römijchen Diktator verkündigt habe. 
Einige — Höflinge verſpotteten geſtern dieſe Anſicht, als der 
Bruder Ludwig des Vierzehnten, der wahrſcheinlich fürchtete, plötzlich 

47* 


700 ur Gefchichte der Kometen. 


ein Cäjar zu werden, ihnen trodenen Tones zurief: „Eh, messieurs, 
Ihr habt gut lachen, Ihr andern jeid feine gringen!“ 

Der Gelehrte Bernoulli felbjt erhebt ſich nicht über das Vor— 
urtheil der anderen und meint, „wenn der Stern des Kometen nicht ein 
fichtbares Zeichen des göttlichen Zornes jet, jo fünne doch der Schweif 
wohl ein ſolches fein.“ Diejen Kometen jchrieb Whijton die Sünd— 
flut zu, indem er ſich auf mathematische Berechnungen jtügte, welche 
in ihren Borausjegungen ebenjo abjtraft wie unbegründet waren. 

Diejer Engländer, der ein Zeitgenofje Newtons und zugleich Ajtro- 
nom und Theolog war, veröffentlichte im Jahre 1696 eine „Theorie 
der Erde“, in welchen Werfe er darzulegen juchte, daß die geologiſchen 
Nevolutionen auf unjerer Erde und die in der Geneſis ar ae 
Vorgänge den rg ide eines Kometen zuzujchreiben jeten. Seine 
Theorie war anfangs durchaus hypothetiſch, indem er ſich hierbei nicht 
auf einen bejtimmt bezeichneten Kometen bezog, doch nachdem Halley 
den berühmten Kometen von 1680 eine ellinttfihe Bahn nachgewielen, 
welche er während eines Zeitraumes von 575 Jahren durchlaufe, und 
Whiſton darauf hin in der Gejchichte der Erfcheinungen diejes Kome— 
ten zurüdgehend, ein Datum auſge unden, welches mit dem der moſai— 
ſchen Sündflut zuſammenfiel, ſo zögerte der theologiſche Aſtronom 
nicht länger ſeiner Theorie einen mathematiſchen Ausdruck zu geben 
und ertheilte dem Kometen von 1680 nicht nur die Rolle des ehe: 
maligen Vertilgers des Menjchengejchlechtes durch Waſſer, jondern aud) 
diejenige eines fünftigen Mordbrenners. 

„Als der erfte Menſch gefündigt hatte“, jagt er, „paifirte ein jehr 
Heiner Komet die Erdnähe und verjette unjern Plancten in eine roti- 
rende Bewegung, indem er in jchräger Richtung jeine Bahn durch— 
jchritt. Gott hatte vorausgejehen, dat der Menſch jfündigen würde 
und daß ; jeine Sünden auf ihren Höhepunkt angelangt, eine 
fürchterliche Bejtrafung erfordern würden. Daraufhin hatte er am 
Schöpfungstage er einen Kometen mit erjchaffen, welcher beſtimmt 
war, das Werkzeug jeiner Rache zu fein. Diejer Komet ijt derjenige 
von 1680, 

Wie kann nun aber derjelbe Komet, der ein erites Mal das 
Menjchengeichlecht mit Waſſer ge ein zweites Mal durch einen 
Zuſammenſtoß mit unjerer Erde dieje durch Feuer verheeren? Whiſton 
iſt mit der Erflärung ‚nicht verlegen und jagt: „Er wird, dem Erd- 
ball in jeiner Bahn folgend, feine Bewegung verlangjamen und jeine 
fait zirfuläre Bahn in eine jehr erzentriiche Ellipfe ummvandeln. Die 
Erde wird dadurd) der Sonne jehr nahe fommen und der heftigiten 
Hite ausgejegt, endlich in Flammen aufgehen. Hierauf wird auf der 
durch Feuer regenerirten Erde, welche durch Gottes Allmacht wiederum 
bewohnbar geworden, taujend Jahre lang ein gehgiligteree Menschen: 
geichlecht wohnen, bis endlich ein letter Komet Fe Erdbahn, durch 
einen abermaligen Zuſammenſtoß mit unjerem BL. neten, in eine äußerit 
langgezogene Ellipfe und die Erde ſelbſt ſomit in einen Kometen 
ummandelt, welcher aufhören wird, bewohnbar zu jein. 

Kann man nach diefer Erflärung behaupten wollen, daß die 
Stometen feinen Zweck im Univerfum haben? 














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Zwei königliche Pichterinnen. 
Bon E. Redenhall, 


Die dreihundertjährige Wiederkehr des Tages, an welchem Maria 
Stuart hingerichtet wurde, hat vielfach dazu a Dee unglüdlichen 
Königin SF Worte des Gedenfens zu weihen. Wenn wir dennoch 
heute nochmals darauf zurückommen, jo gejchieht es, um unjeren Lejern 
den eigenthümlichen Zug, die Wandlungen ihres Schidjals und Ge- 
müths poetijch darzujtellen, den fie mit ihrer Todfeindin Elijabeth von 
England gemein hatte, vorzuführen und zu zeigen, daß troß Diejer 
Uebereinftimmung doc) auch die beiden füniglichen Frauen grundver- 
jchieden waren. Beide waren A nun. doc während Maria Stuart 
jtet3 der Regung des Augenblids folgte, gab Eliſabeth nie einer 
momentanen Stimmung nad) und verknüpfte alles mit dem umfajjenden 
Plane ihres Lebens. Marias Gedichte ſind lyriſch, eine leiſe, Tiebliche 
Muſik umflingt fie, Elifabeths ericheinen dagegen wie dramatijche 
Monologe. Maria tft jtet3 ganz Stimmung, ganz Laune, ſie dichtete 
in franzöfiicher, jchottifcher, italienischer, jogar in lateinischer Sprache, 
und was jte gab, war ſtets von inniger Grazie, von feiner, getjtiger 
Bildung durchhaucht. Ihren Abjchied vom heitern Frankenlande be— 
klagt jte in einem Eleinen, wehmüthigen Liede, während fie in der 
Schlußſtrophe fich ſelbſt tröftet, denn das Boot... 


. 68 trägt bie Hälfte nur von mir, 
Ein Theil für immer bleibet Dein, 
Mein fröblich Land, der fage Dir, 
Des andern eingedent zu jein! 


Wohl blieb ihre Seele immer in Frankreich und ſehnſüchtig ver: 
Tangte fie nach dem heitern Lande ihrer Jugend zurüd. Weder die 
Dunkeln, falten Berge ihres Reiches, noch die düſtern, ernjten Stirnen 
ihres Volkes heimelten fie an, ıhre Gedanken führten ſie jtets nad) 
dem Süden, wo man ſich unbefangen freue und nur den Moment, 
aber auch diejen ganz und voll jein nennen durfte. Schmeichelnde ver- 
Lodende Lieder jang ıhr „der Sänger Rizzio“ ins Ohr: 


Soll denn der raube Norbwind bier 

Dir rruben Deine Pracht? 

Nein, flieh' folh Loos und zieb dabin, Maria! 
Du mei ec Seele Königin! 


E3 war das letzte, einige Achnlichkeitt mit Goethes „Mignonlied“ 
verrathende Lied, das er jo gejungen: Der Dold) des Mörders traf 
ihn vor den Augen der Gelichten und dieſe drückt in einem Gedicht: 
„Die Klage“, ihre Trauer um den Verlorenen aus: 


702 Am Kamin. 


Lenk ich zu Himmelsanen 

Die Blide thränenjchwer, 

Dann aus den Wolten fchauen 
Die füßen Augen ber, 

Wie aus dem Grabe fchauen 

Sie aus der Flut, der blauen.... 


Schlimme Rache übte die gr und wurde an ihr 
jelbit vollzogen, die RS vom Thron und das englische Gefängniß 
wartete ihrer. Wir haben ein lateiniſches Gebet von ihr, das ſie ım 
Kerker verfaßte, ferner ein italienisches Sonett, das fie zwiichen Hoffen 
und Bangen der Königin Elifabeth jandte. Jedoch nichts bleibt ıhr 
—R als ſich zum Tode vorzubereiten und mit Ergebung ſchließt 
ie ein Abſchiedsſonett an ihre Freunde: 


Und weil ich ſchwer geſtrafet ward hienieden, 
Erfleht mir meinen Theil am ew'gen Frieden! 


Eliſabeth dagegen lebt nie dem Moment. Als ſie die Tage ihrer 
Jugend in enger Haft vertrauern muß, da richtet fie eine männlich 
Icharfe Anklage an das harte ungerechte Geſchick, hofft aber auf Ret— 
tung und Rache: 


Und doch wird ihre Mifgunft nicht gewinnen, 
So &ott den Feinden jdidt, was fie fir mid erfinnen! 


Ihre Pol erfüllt jih. Ein gewaltiger Wirkungskreis wird 
dem jugendlich thatkräftigen Geiſt all Aber das Frauenherz, von 
Staatsaftionen oft bedrücdt und verlegt, mischt zuweilen in ſtillen 
Stunden jeine al Klagen in die Herricherforgen. Dieſer 
innere Zwieſpalt iſt trefflich ausgedrüdt in den Verſen: 


Ich gräme mid und muß den Sram verfchweigen; 

Ih liebe — Haß zu beucheln, zwingt e8 mich; 

Ich bin ein Kind — und muß mich weile zeigen; 

Ich jcheine ftumm, doch plaudr’ ich innerlich: 

Ich bin, — bin nicht; alt, — fühl’ ich beißen Brand. 


Allein durch alle il ringt ſich bei Eliſabeth der Wille 
zu fejten Entſchlüſſen und Unternehmungen hindurch. Dies kennzeichnet 
trefflich die ftolzen Worte, die fie zur Devije ihres Lebens gewählt: 


Den! nicht, das Schidfal kann den Sieg erringen, 
Wo ftarfer Muth es kann zum Dienen zmingen! 


Wir wollen uns an den vorgeführten Proben genügen lajjen, 
beweijen fie doch hinreichend, wie richtig und lebenswahr bei aller 
Idealität unjer Schiller die beiden föniglichen Frauen geitaltet hat. 
Diejenigen unjerer geehrten Lejer, welche dieje Lieder vollitändig fennen 
lernen wollen, verweilen wir auf die Sammlung engliſch⸗ſchottiſcher 
Poeſien: „Roſe und Diſtel“ von Gisbert Freiherrn von Vincke. 


Am Kamin. 103 


Wiener Brief. 
Wien, 5. Augujt 1887. 

„Unſchuldig, mein Vater, heilig Dein einfames Grab. Jetzt weiß 
ich, wie der Weg in der Welt, bin nimmer heimatlos.“ Dieſe Worte 
ſpricht Anna, des Balthajars Kind, als der verlotterte Gejelle Mat: 
thias, der Schwager der Sonnwendhofbäu'rin zu ihr auf die Alın 
fommt und fie zum Mordbrennen verleiten will. Mit diefem Anjchlage 
verräth; er ſich jelbit als denjenigen, welcher in der Ilſangſchmiede 
vor langen Jahren Feuer angelegt und den rothen Balthalar, den 
man jterbend unweit derjelben fand, in Verdacht des Mordbrennens 
brachte. Dieje tragifche Scene, welche einen Theil des in den jechziger 
Jahren entjitandenen Moſenthalſchen Volksſtückes bildet, ijt es, welche 
immer mit dem Sagenfreije ummwoben bleiben wird, der den Sonne 
— umgiebt. Jeder geographiſche Leitfaden ſagt uns überdies, 
daß der Sonnwendſtein oder Göſtritz zu den höchſten Spitzen der 
niederöſterreichiſch-ſteieriſchen Gebirgskette gehört. Kir wiſſen ferner, 
daß jein Name von den Sonnwendfeuern herrührt, welche jeit Urzeiten 
auf jeinem Gipfel angezündet werden, auch daß er eine heidnijche 
Kultusstätte gewejen je. Was aber neu an ihm ijt, das find weder 
die dDramatiichen Rühreffefte, die unter jeinem Namen von einem jo 
bedeutenden Poeten, wie S. H. Mojenthal es war, in der gebildeten 
Welt verbreitet wurden, noc die geographiichen Fakta, aus denen 
wir entnehmen, daß der Sonnenwenditein 1523 Meter über der 
Meeresfläche emporragt, daß er gold», jilber: und bleihaltig jein joll, 
= ſchon eine gewiſſe touristische Routine dazu gehöre, ihn zu beiteigen, 
daß von feinem Hochplateau aus ſich dem entzücten Blid ein zauber: 
haft jchönes Panorama bietet, durch welches man unwillfürlich an die 
bibliiche Parabel erinnert wird, in welcher Satan den Heiland auf einer 
Bergkuppe in Verſuchung führen wollte, indem er ıym die Welt in 
ihrem ganzen Zauber zu jeinen Füßen zeigte. 

Neu und überrajchend iſt ung am Sonnwendjtein nur die Kul— 
tur, welche uns auf dejjen Gipfel entgegentritt; jo angenehm fie ung 
berührt, fühlt man fich doch verjucht, fie dem alten Gejellen übel zu 
nehmen. „Auch Du, Prutus, auch Du von Kultur beleckt!“ 

Und mit Seheraugen blicken wir um ein Säkulum voraus, ſehen 
wir wie der Kunſtmäcen, welchem ſeine verſchiedentlichen mediziniſchen 
Leibſpezialiſten — denn ohne dieſe thut es ein Kunſtmäcen des zwan— 
zigſten Jahrhunderts ſchon gax nicht — in ausnahmsweiſer Einträch— 
tigfeit ıhren Patienten Höhenluft gerathen haben, um ſich ſeiner zu 
entledigen. Dieſer begiebt ſich folglich mittels Drahtſeilbahn auf den 
Sonnwendſtein und beabſichtigt * jeweilige Balleteuſe aus der 
dritten oder vierten Quadrille dorthin nachkommen zu laſſen; ſie be- 
nutzt die Flugmaſchine, welche anno 1887 in den Hundstagen in Wien 
ein jo Flägliches —* erlebte, hundert Jahre ſpäter aber in ver— 
beſſerter Auflage den Leuten um den Leib geſchnallt wird, und es 
ihnen ermöglicht ſich emporzuſchwingen zu jenen lichten Höhen, in 
denen die menſchliche Phantaſie, ſich die nach der Vortrefflichkeitsſkala 
abgeituften De On Ringen denft, in denen jene haufen, die deu 
Erde ſchon Balet gejagt. Meademoijelle Olympia oder Delilla — im 


704 Am Kamin. 


Privatleben und im Wiener Jargon Nanni oder Wetti genannt — 
bedarf bei ihrem - Fluge auch feines unnügen Totlettenballaites; 
das roſenrothe Trikot iſt jalonfähtg geworden. Sie tanzt ihre pas 
le deux und Pirouetten auf der asphaltirten Plateaufläche ebeno 
jicher, wie heute im Opernhauſe und telephonirt, jobald der gicht- 
brüchige Mäcen zur Ruhe gegangen, dem Hujarenlieutenant des Tages, 
dejien Börſe fie nebenbei aut Korn genommen, er möge jene Flug— 
majchine fonnwendjteimvärts richten und in rajcheitem Tempo zu jeiner 
Dulcinea emporjteigen. Ganz joweit jind wir heutzutage doc) nicht. 
Mir finden zwar am Sonnwendjtein ein neu eröffnetes, recht hübſches 
Hötel, welches Zach, der ehemalige Inhaber jener Jubelhalle leitet, 
die anläßlich des hieſigen Literariichen Kongrefjes im Jahre 1881 alle 
Gäſte aus dem deutjchen Reiche, welche den Semmering bejucht haben, 
entzüdte; diejes Hötel aber vermag nur einer bejchränften Anzahl von 
Gäſten Obdach zu bieten und fichert uns jomit wenigjtens zur 
Scjlafenszeit vor jener Touriftenüberflutung, die das Schredbild aller 
Naturfreunde iſt und deren begreifliches Anhängfel dort, wo nicht 
leicht Riejenhötels gebaut werden fünnen, in jchlechter Koſt und ſchlech— 
tem Trunk bejteht. Man bejteigt den Sonnwendſtein jegt bequem auf 
einer neu gebahnten Straße, die „Fahrweg“ heißt und von Semmering 
aus emporjteigt. Als Fahrweg jchlagen wir ein Kreuz vor diejer 
Straße, als Gehweg ift fie prächtig, wenn auch nicht für gichtijche 
Mäcenenbeine und gehunfundige Salonpüppchen. Das Schutzhaus, 
welchem man zu Ehren des Generaldirektor der Südbahn den Na- 
men „Friedrich Schüler = Alpenhaus“ gegeben, weiſt nebſt eleganten 
Speijelofalitäten in altdeutichem Stil mit Butenfcheiben und allem 
jonjtigen dazu gehörigen alt modernen Firlefanz zwei von einem 
Zourijtenvereim und von Touriitenfreunden gejtiftete wunderhübiche 
Schlafzimmer auf, eines derjelben in eingelegtem Zirbelholz. Die 
übrigen Schlafgemächer, jorwie die Mafjenquarttere jind natürlich ein= 
facher, aber rein und nett, die Koſt tadellos; und daß man ein Glas 
Wafjer um Elingende Münze eritchen muß, wird durch den Umjtand 
entjchuldigt, daß man genöthigt it, mit Ochjemvagen eine Stunde weit 
ur Quelle zu fahren, um jich das labende Naß zu verjchaffen. Die 
Ausſicht, welche ſich ung von der höchiten Spite des Sonnwendſtein 
aus bietet, iſt herrlich und würde weit größere Anjtrengung und 
Mühe lohnen. Des Defterreichers Erbjünde bejteht aber nun einmal 
darın, daß er die Schönheiten jeiner Heimat nicht fennt oder nicht 
erkennt, beide Eigenſchaften find tadelnswerth. Erſtere vorzüglich 
dann, wenn feine pefumären Schwierigkeiten jich dem Stennenlernen 
bindernd in den Weg jtellen. Um den Sonnwenditein zu bejteigen, 
braucht man weder ein Kröſus noch ein gejchulter Bergfer zu jein; 
drum rathe ich Ihnen allen, die Ste draußen im Deutichen Reiche, 
mit denen wir Dejterreicher dod) immer eng verbunden bleiben, dieſe 
Zeilen lefen, wenn Sie nad) Wien fommen, vergejjen Sie den Sonn: 
wendjtein nicht, auch jo lange feine Drahtjeilbahn und feine Flug— 
maschine Sie dorthin befördert. Mir aber verzeihen Sie, wenn mein 
heutiger Wienerbrief eine gewaltige Abjchweifung von jenem gewohnten 
Thema ist. Die Stadt ift jegt jo heiß und unerträglich, daß ıch Ihnen 
aus derjelben nichts angenehmes zu erzählen wußte, die Eröffnung 





Am Kamin. 705 


der Oper ijt wieder hinausgejchoben worden, jene des Slarltheaters 
ebenfalls, die Kunſtinſtitute find gejperrt, die Konzert- und Vorleſungs— 
jäle nicht minder, und das Ereigniß des Tages, die endliche Inhaft- 
nahme des Pojtdefrandanten Zalewsky, ijt Denn doch ein zu alltäg- 
ficher Umſtand, ijt das naturgemäße Ende des Anfangs, jo, daß ich 
Ste nicht damit langweilen will, wenn auch die hieligen Tagesblätter 
Spalte auf Spalte davon zu jchreiben wijjen, und der Wiener Humor 
üppige Blüten deßhalb getrieben, die jehr häufig ein Plus an Derb- 
heit aufzuweijen hatten. 
Mar von Weißenthurn. 


Qippfaden. 

Die Zeitungen der Welt. Nah einer von franzöfifher Seite gemachten 
Zufammenftellung beträgt die Zahl fämmtlicher Zeitungen ungefähr 35,000; nimmt 
man die Zabl der Erdbewohner auf eine Milliarde an, fo ift alfo auf 28,600 Köpfe 
ein Blatt zu rechnen. Unter den fünf Erbtbeifen fommt die höchſte Zahl, 20,000, 
auf Europa; von den europätfhen Großmächten weift Deutfchland die böchfte, Ruß— 
land die niebrigfte Zabl auf. Im Deutfchland ericheinen etwas mebr als 5000 
Zeitungen, barunter 800 Tagesblätter. Den zweiten Rang nimmt Gngland mit 
etwa 4000, darunter ebenfalls 800 täglich erjcheinende Blätter ein. Faſt die gleiche 
Zahl bat Frankreich aufzumeiien. Es erfcheinen 1668 Blätter in Paris, 2506 in 
der Provinz, die Zabl der täglich erjcheinenden ift 360. Italien folgt mit 1400, 
von denen 160 täglich erjcheinen; auf Rom kommen 200, Mailand 140, Neapel 120, 
Turin 94, Florenz 79 Blätter. Oeſterreich ift mit 1200, darunter 150 Tageblätter, 
vertreten. Spanien zäblt etwa 850, von denen ein Drittel täglich erſcheint. Ruß— 
land bat nur 800 Zeitungen aufzumeien; in St. Petersburg ericheinen 200, in 
Moskau 75. Mehrere derjelben ericheinen in zwei oder mebr Sprachen, eine zu— 
gleih in rufftifcher, in deutſcher und franzöfifcher, eine andere zugleich im ruſſiſcher 
und deutſcher Sprade. Eine verhältnißmäßig ſehr bobe Zabl weiſt Griechenland 
auf; bier ift faft jeder fled mit mwenigftens einem Blatt vertreten. Die Schweiz 
zäblt 430 Zeitungen, darunter einige vecht bedeutende; Belgien und Holland je 
etwa 300. 

Aſien hat im ganzen ungefähr 3000 regelmäßig eriheinende Zeitungen aufzu- 
weijen. Berbältnigmäßig wenige Blätter erjcheinen in China; das amtliche Regie- 
rungsblatt „King-Pao“ in Peking erjcheint täglich in drei Ausgaben, jede berjelben 
auf Papier von bejonderer Farbe; andere bedeutende Blätter find die in Shanghai 
ericheinende „Tſcheng-Pao“ und „Bu-Pao” und das Regierungsblatt von Kora. 

Einen riefigen Aufihwung nimmt die Tagespreffe in Japan, das etwa 2000 
Zeitungen aufweift. Die drei bedeutendften führen die Namen „Hatſchiſchimbum“, 
„Zboyaihimbum‘ und „Mamitihiihimbum”. In Tonglking iſt in letter Zeit ein 
Blatt „L'avenir du Tongking“ gegründet worden. Belutſchiſtan und Afghaniftan haben 
bis jetst noch feine Zeitungen aufzumeifen; in Perſien erfcheinen im ganzen ſechs. 

Sehr menige Zeitungen fommen auf Afrifa, und zwar faum 300, biervon 30 
auf Aegypten. Weitaus zablreicher ift dagegen die Tagesprefie in Amerila vertreten. 
Allein in den Vereinigten Staaten von Nordamerika erjcheinen 12,500 Zeitungen, 
unter welchen etwa 1000 Tagesblätter enthalten find. Es ſei noch bemerkt, daß in 
den Vereinigten Staaten 120 Zeitungen ausſchließlich von Negern verwaltet, beraus- 
gegeben und rebigirt werben; das ältejte dieſer Negerblätter ift der „Elevator“, der 
vor achtzehn Jahren gegründet worden ift. In Kanada, meldes 700 regelmäßig 
ericeinende Blätter zäblt, bat die franzöftfche Prefie das Uebergewicht. Bon den 
zwanzig Zeitungen und Revuen, die Quebec aufweift, erſcheinen nur vier in eng- 
licher, alle iibrigen in franzöfifcher Sprache. 

Ordnet man jümmtliche anf der Erde ericheinende Zeitungen nad den Epracden, 
jo muß der englijhen Sprade der Löwenantheil zuerfannt werden, und zwar mit 


706 Am Kamin. 


16,500 Blättern; bierauf folgt bie beutihe Sprade mit 7800, bie franzöftfche mit 
6850 und bie ſpaniſche Sprache mit 1600 Blättern. 

Ein beftrafter Kup. Ein New-Norfer Blatt berichtete: „Ein Kußheld 
übelangelaufen! Der Grobſchmied M'Cormick von 199 Thompion Street ging eines 
Abends mit feiner Gattin aus, um Einkäufe zu machen. Ihr Weg führte fie auch 
nad der 6, Avenue, und dort trat Mr. M’Cormid allein in einen Paben, während 
feine Frau auf der Straße auf ibn wartete. Da ihr Dann länger ausblieb, als fie 
gedacht hatte, fpazierte Frau M'Cormick, ein hübſch geffeivetes junges Weibchen von 
angenehmen Aeußern, langjam auf und ab und blieb einen Augenblid an der Ede 
der 26. Straße fteben. Plöglih kam ein feingefleideter Herr auf fie zu, ſchloß fie in 
die Arme und gab ihr einen Kuß. Entrüſtet riß die frau fich los, Tief laut fchreiend 
in den Yaden, in welchem ihr Mann fi befand, und erzählte unter Thränen, was 
ihr begegnet. Wüthend ftürzte Mr. M'Cormick hinaus, um den frechen Beleibiger 
zu züchtigen, allein dieſen hatte bereits ein Polizift am Kragen gepadt und führte 
ihn nach dem Stationshaufe des 29. Bezirks. Dort gab der Arreftant an: er heiße 
Francis Howland, jei ein „Gentleman, 40 Jahre alt und wohne Nr. 94, 5. Ave- 
nue. Er mußte die Nacht in Arreſt verbringen und am nächſten Morgen vor ben 
Schranken des Jefferſon Market Polizeigerichtes erfcheinen, wo auch das M'Cormichkſche 
Ehepaar fih einfand und Anklage gegen ihn erhob. Richter Birbus Urtbeil lautete: 
in Zahlung einer Geldftrafe von 10 Dollars (40 Mark) und Stellung ven 500 
Dollars Bürgjhaft für fünftiges gutes Verhalten, ober ſechs Monate Aufenthalt 
auf der Strafinjel. Da aber „Gentleman Howland weder Gelb noch Bürgen zur 
Stelle batte, ließ ibn der Richter bis auf weiteres ins Gefängniß bringen.“ 

Vom alten Blücher. Blücer, der feine Frau mit dem Schmerzensrufe be- 
Hagte: „Sa, ſchön war die Kröte wie die Schwerenotb, und Sentiment hatte fie 
von taufend Teufeln!” jchrieb nach der Schlacht von Waterloo an Metternih: „Die 
ſchönſte Schlacht ift geichlagen, der herrlichfte Sieg ift erfochten. Das Detallige wird 
nun vollzogen, ich denfe die Bonapartiche zu ſchütteln; ift num wohl ziemlich wieder 
zu Ende. Ye Belle Alliance, 19. früb, ih kann nicht mehr fchreiben, denn ich zittere 
an allen Gliedern, die Anftrengung war zu groß. 19. morgens 2 Uhr. Blücher.“ 
Einen ähnlichen Brief batte der Marſchall Vorwärts nach Haufe geichrieben. 

In einem Schreiben vom 13, Juli 1815 berichtet Metternih an feine Tochter 
Marie: „Geftern fpeifte ich bei Blücher, ber fein Hauptquartier in Saint-Eloud bat 
und im dieſem ſchönen Schloffe als echter Hufarengeneral wirtbhichafte. Er und 
feine Adjutanten vauden da, wo wir den Hof in feinem höchſten Glanze gefeben 
haben. Ich dinirte in dem Saale, wo ich, wie oft! ftundenlange Geipräde mit 
Napoleon gehabt. Die Armeeſchneider haben ſich da eingerichtet, wo es zum Theater 
ging, und bie Muſiker eines Jägerregiments angeln die Goldfiihe in dem großen 
Baſſin unter den Fenftern des Schlofies. Als wir durch die große Galerie gingen, 
jagte der greife Marfchall zu mir: „Da muß doch eener een rechter Narre geweſen 
find, der man das alles hatte und nah Moskau gelaufen ift!“ 


Die Kinder von Wohldorf von Ferdinand Avenarius. Dresben. 
Verlag von Louis Ehlermann. Mit der freude und Erquidung, die nur das 
Bert eines echten Poeten zu bereiten vermag, lafen wir dieſe holde Dichtung. Stofi 
und Sprache find von unbeichreiblicher Pieblichkeit; erfterer freilich fo ſchlicht, daß ihn 
unfere jüngften Poeten, in ihrer „Sroßartigfeit” natürlich nie der Beachtung werth 
gefunden hätten. Wie viel Tiefe, wie viel hohes, rührendes Menichentbum ver vor- 
nehmere Dichtergeift aber gerade mit der einfachften Fabel zu verbinden vermag, 
erhellt jo vecht deutlih aus bem vorliegenden Bud. Es ift die Geſchichte eines 
fahrenden Spielmanns, dem ein ſchweres Lebensſchickſal, das der Dichter nicht näher 
beriibrt, die Blume feines Pebens gebrochen. _ Wandermüde fucht er in einem Dorf 
Aufnahme und Heimatrecht, welche ihm Borurtheil, Härte und Rohheit der Bewoh—⸗ 
ner nicht gönnen. So baut er fih in der Nähe des Dorfes, im Wald fein Hans, 
wo er Blumen und Bögel und jchließlih die Dorflinder zu Freunden gewinnt. Der 
wunderbare Einfluß, den er auf die Kleinen ausübt, ſchmilzt im Laufe langer Jahre 
die Eisfhicht von Trog und Miftrauen, die aber wieder zu froftiger Härte erftarrt, 
als ter Fremtling, ohne das Geheimniß feines Schmerzes preiszugeben, feinem 


Am Kamin, 707 


Leben jelbft ein Ende madt. In dunkler Nacht foll der „Selbjtmörder im Galgen- 
feld unterm Hocgericht vergraben werden. Die Kinder aber, treu und feft, in ihrer 
Liebe, folgen erſt einzeln, dann zu Schaaren, mit Weinen und Singen, dem Sarg 
des geliebten Todten und erheben ben traurigen Grabesgang jo zu der rübrendften 
und erichiitterndften Feier. Bon unverftandenen Gemalten durchichanert, folgen bie 
Bauern ihren Kleinen nah, ihr Trog verwebt und der müde Pilger wird, von 
Taufenden geleitet, im geweihter Erde zum Schlafe gebettet. Dies in aller Kürze 
die Fabel, welche die Kunft des Dichters mit Natur- und Seelenmalereien der zar- 
teften Art wunderſam umrankt. Möchte das Buch ein allgemeiner Piebling werden. 
Der geringe Preis bei bübjcher und eleganter Ausftattung bilft ihm die große Ver— 
breitung fichern, die wir ibm von Herzen wünſchen. Sx. 

Hellenifche Erzählungen. Ueberjest und herausgegeben von Profeffor 
Dr. Aug. Bohtz. Halle a. ©. Drud und Berlag von Otto Hendel. 116. und 
117. Bändchen der Bibliothek der Gefammtliteratur des In- und Auslandes. Preis 
50 Pig. Eröffnet werden die reizenden Erzählungen mit einer jpannenden Novelle 
von Georgios Droffenis, deſſen Bild beigegeben ift. Um neugriechifches Leben in 
unterbaltender Weife lennen zu lernen, verlohnt es fich, das Doppelbändchen zu leſen. 
Man wird dies nicht nur einmal thun, da Stoff und Bearbeitung einen eigenthüm« 
liben Reiz auf den Leſer ausüben. 

Liederbuch für Kegelbrüder. Mit Porträt und Vorwort von Hermann 
Brügner, Borfigender des „Verbandes deuticher Kegelllubs“ und Jlluftrationen. 
Hannover, Berlag von Willy Frank. 214 ©. 12%. 1 Marf. 

Arbeitstheilung ift das Motto unſerer Zeit — NArbeitstheilung auch im Ber- 
nügen: 

ER Ein jeder Stand bat feine Freude, 
Ein jeder Stand bat bald fein — Liederbuch! 


Weßhalb nicht auch diejenigen waderen Gejellen aller Stände, die fih um das Ban- 
ner „Gut Holz!" jchaaren, namentlich wenn bejagtes Liederbuch fo genial und urfidel 
zufammengeftellt ift, wie das vorliegende? Es find alle Stimmungen und Bedürfniffe 
des Kegelbruders wiedergegeben: patriotifche Lieder; unjer Sport; Klub- und Vereins- 
lieder; Feſt- und Tafellieder; Toafte für Kegelfefte; allgemeine Kneip- und Kommers- 
lieder: im ganzen 134 gute Gelegenheiten, fich prächtig durftig zu fingen. Ueberall 
neues, iiberrafchendes, Uriges und bis auf ganz wenige Ausnahmen lauter bekannte 
Melodien. Wo „Gut Holz!" ertönt, darf auch dies Taſchenbüchelchen nicht fehlen, 
als Diamant» und Univerfalfitt der gefammten Kegelbrüderei! 

Patriotifche Gefchichte des Königreichs Sachjen und ber ſächſiſch— 
tbüringifhen Lande von den älteften Zeiten bis zur Gegenwart. Nach archivaliſchen 
Quellen volksthümlich bearbeitet von Albert Erlede. In 12 Pieferungen gr. 8° 
a 50 Pf., mit Illuftrationen und Porträts der Pandesfürften. Ernft Shmeitgners 
Berlag in Chemnitz und Yeipzig. 

Die vorliegende 1. Lieferung (48 ©.) enthält ein lebenswahres, großes Porträt 
Ihrer Majeftät der Königin Carola von Sadien, nad dem Gemälde von Leon 
Boble und nad einer Photographie aus dem Berlage von Ad. Gutbier in Dresden. 
In Harer, echt volksthiimlicher Schreibart, bei der man ben bier natürlich ganz 
zwedwidrigen Apparat gelebrter Nachweiſe und Citate mit Vergnügen vermißt, 
ſchildert der jeine Thema vollftändig beherrſchende Verfaſſer das alte Sachſen, die 
Gründung der Markt Meigen, die Dart Meifen bis zur Erblichleit des Haufes 
Wettin (1127) und gebt dann auf die Geſchichte des alten Thüringens und der 
thüringiſchen Marken über. Namentlih alle Sachſen, albertinijcher wie erneſtiniſcher 
Dependenz, ſei dieſes als Spezialwerf einzig baftebende Buch auf das Wärmſte 
empfohlen: es ift die Rubmeschronif der „Sachſen“, d. b. der „Schwertmänner des 
Geiftes, des Rechtes und des Glaubens! 


Farbenftudien. (Mit Illuftration.) Da bat fih im Dorfe ein Maler aus 
Münden niedergelaffen, der feine Studien fleifig betreibt und nicht allein draußen 
im Freien Anfichten vom Dorfe mit bäuerlicer Staffage oder ein Stüd von ber 
Viehweide farbig fkizzirt, fondern auch die Interieurs der Yauernbäufer, die Schän- 
ten und Stuben mit PBinfel und Farben auf die Leinwand bringt. In einem Haufe 


708 Am Kamin, 


bat er ſich's beſonders bequem gemacht und daſelbſt fleifig gemalt. Ein wenig Luft 
zu ſchöpfen oder zu luſtwandeln, ift er eben binausgegangen und hat feine Sieben- 
ſachen für furze Zeit im Stich gelaffen. Da ftebt auf einem Schemel der Malkaſten, 
deſſen Dedel gleichzeitig als Staffelei dient umd deſſen Inneres ein buntes Gewirr 
von Farben, Palette und Pinfeln beherbergt. Oben auf dem mit weißem Pinnen 
gebedten Tiſch befinden ſich noch einige Flaſchen mit Subftanzen, die der Maler 
beim Skizziren ſtets gebraucht, einige Pinſel und bie befannten Farbenbeutelchen aus 
weichen biegiamem Staniol. Kaum ift indeflen der Maler zum Zimmer hinaus, ba 
bucht e8 leife von der andern Seite herein. enden, des Hauſes blondes Töächter- 
den, iſt's, welches ſchon lange aus der Entfernung dem wunderbaren Treiben des 
fremden Mannes zugeichaut, aber in finderhafter Scheu nicht gewagt hatte, näher zu 
fommen. Jetzt aber ift die Luft rein und Lenchen beichaut ſich nun des Künftlere 
Handwerkszeug aus nächfter Nähe. Es bleibt natürlich nicht beim bloßen Betrachten, 
denn es währt nicht lange, ba bat Penden den Stuhl erflettert und macht fich über 
die höchſt drolligen Farbenbeutelchen ber, mit denen fich jo hübſch fpielen läßt. Be— 
fonders erfüllt es enden mit Jubel, daß beim leifeften Drud auf die blanfe Hille 
der oberen Oeffnung des Beutels ein öliger Saft entquillt, der fidh fo ſchön bumt 
ausnimmt und bie Hand in der anmutbiaften Weife färbt. Gerade iſt Lenchen in 
dieje Farbenftudien vertieft, als ihre ältere Schmweiter eintritt, welche ſich nicht min- 
der über die pofftrliden Dinger amüfirt. Wie aber dem Befiter diefer Sonberbar- 
feiten, dem fremden Maler, Lenchens Farbenftudien gefallen werden, das zu erratben 
oder fi in lebhaften Farben auszumalen, dürfte dem Leſer oder Beichauer unjeres 
niedlihen Bildchens nicht Schwer fallen. 


SHerbitlicher Wald. 
(Mit IHuftration.) 


Noch flattert trennungsbang das rubeloſe, 
Schlaftrunkne Buchenlaub an dem Geält. 
Noch bält der Strauch die Hagebeere feft, 
Das VYiebespfand der todten Haideroſe. 

Es ſäumt der Vogel in der Puft und fchaut 
Noch grüßend nieder auf den fahlen Hain, 
Wo er im goldengrünen Dämmerjcein 

So jelig einft das Feine Neft gebaut! 


Nur widerftrebend mit verzagtem rollen, 
Ningt fih der Wald von feiner Schönheit los 
Bom Aſte tropft es in das braune Moos 

Wie Ihränen, die dem Trauernden entrollen. 
Mas einſt das jonnentrunfne Herz gelallt, 
Bon treuem Glück und ewigem Befteb'n, 

Iſt mit der Wanderihwalben Flügelwehn 
Fängft wie ein Kinder-Märchenſang verbalft. 


Die Edelrüſter, die in kühnem Horfte 
Den Häher barg im boben Paubgezelt, 
Liegt reglos num, von blanfer Art gefällt! 
Ein ſchrilles Klagen zittert durch die Forfte. 
Iſt es die Säge, die nicht morden mag? 
Iſt e8 der ftolze Baum, der fterbend jchreit, 
Um melfes Glück, um todte Herrlichkeit, 
Um den verloren, furzen Pebenstag? 
Frida Schan;. 


— ⏑ — 





Neueſte Moden. 


Ar. 1. Anzug für Damen zum Radfahren. 
Diefer praftiihe Anzug für Radfahrerinnen ift fehr einfach und befteht aus 


98* 
*41 


1 " 





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Nr. 1. Anzug für Damen zum Radfahren. 


einem glatten, Tangen Rod von dunlelfarbigem Tuch oder Flanell; derſelbe ift am 
der Taille eingereiht und unten mit einem kräftigen Saume verfehen. Die runde 
Der Salon 1887, Heft XIL Banb IL, 48 


710 Neueſte Moden. 


Taille ift vorn herab gefnöpft und an den Schultern etwas vollkommen gefchnitten. 
Eine glatte, loſe anliegenbe Jade mit langen Schößen, ſowie ein einfacher glatter 





er 





zur 2 


Nr. 2. Hut „Italian, 


leinener Kragen oder Krane, mit einer Heinen Broche geſchloſſen, vervollftändigen 
dieſen bübjchen, feften Anzug. Die Hände find mit feften Handſchuben bekleidet 


2 
Nr. 3. Schürze für Mädchen. 


und die Füße mit ebenfolhen Schuhen verfehen. Ein einfacher Matreſenhut von 
Strobgefleht oder Filz mit glatter Band ſchüht den Kopf. 


Heuefte Moden. 711 


Ar. 2. But „Italian“. 
Der Strohhut mit ziemlich flachem Kopf bat eine, vorn ſehr breite, vorftebende 


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— 





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E N — 4° 
Nr. 4. Hut „Ninon“. 


und ausgebogene Krempe. Diejelbe ift am Hinterkopf gejpalten und die Spiten nad 
oben gekebrt. Auf dem Kopfe befinden fihd Mobnblumen, Weizen und Sommer- 
blumen mit durchſichtigen Schlupien und Windungen von eucalyptusfarbigem Seiden- 





Nr. 5. Schürze für Kinder 


tül. Im Iunern des Hutes befinden ſich gleichfarbige Rüſchen von Seibentüll, 
welcher am Hinterkopf als langer Schleier endigt, der fich loſe um den Hals ſchlingt 
48* 


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wamogs Bun] anl Entug 9 "26 


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1. Neueſte Moden. 


Ar. 3. Schürze für Mädchen. 

Die aus Eerufarbener Eretonne angefertigte hübſche Schitrze bat am Borbertbeile 
von oben bis unten bin Falten, welche in ber Taille mehrfach eingereibt und zujam- 
mengezogen find. Am Hals ift diefe Schürze, welche anf dem Rüden einen ange- 
ſchnittenen Matrofentragen bat, mit einer beftidten Spitenfalbel umgeben, wie über- 
baupt die Ränder der Schürze ringsum damit begrenzt find. Kleine, unten jpig 
und am obern Rande mit einer gejtidten Spitze verzierte Tafchen find an beiden 
Seiten angebradt. Ein breites Stoffband ift an den Seiten der Schürze befeftigt 
und im Rüden befindet ſich eine breite Schleife mit langberabhängenden Enben. 


Ar. 4. Hut „Ainon“. 

Diejer Hut — mit ziemlich ‚niedrigem Kopf und mit binten breit aufgejchlage- 
nem Rand, welcher vorn niedergebogen das Geficht beſchattet — ift aus ſchwarzem 
Strobgefleht angefertigt. Auf der linken Seite find drei große jehöne Federn be- 
feftigt, welche, mit Windungen aus eucalyptusfarbigem Seidentüll vermiſcht, am 
Hinterfopf weit über den Rand des Hutes berabbängen. 





Mr. 8. Unterfleid für Mäpden. 


Ar. 5. Schürze für Kinder, 

Dieſe Morgenſchürze für Kinder ift aus Andrinople oder Nanſouk in Bloufen- 
form bergeftellt. Das Vordertheil ift mit drei geftidten Einfägen verziert, zwiſchen 
denen der Stoff in Heine alten gelegt if. Den Halsausfchnitt umgiebt ein gleicher 
Streifen, welcher an beiden Seiten mit geftidten Zaden begrenzt if. Das untere 
Rodtheil der Schürze ift beftidt und mit einem beftidten Zadenftreifen, gleich denen, 
welche die Aermel am Handgelenk umgeben, verjeben. Ein beftidter Gürtel verbindet 
den Rod mit dem Taillentheil und endigt im Rüden mit einer breiten Stoffjchleife. 


Ar. 6. Anzug für junge Damen. 

Auf einem falfchen Rod aus Taffet befindet fi ein anderer, aus filbergrauer 
Voile angefertigter glatter Faltenrod. Derjelbe ift am untern Rand mit zwei breiten 
Seidenborden bejett. Die vorn in Reibfalten angeſetzte Tunifa ift an den Hüften 
emporgefaßt und unter der Taille befeftigt, binten einen Puff bildend. Der Rand 
der Tunika ift ebenjo wie der Rod mit zwei Reiben Seidenborde benäbt. Die an- 
liegende Taille ift ziemlich lang und unten an ben Vordertheilen zadig ausgeichnit- 
ten. Den obern Ausjchnitt der Taille begrenzt an beiden Seiten ein Faltentheil aus 
Surah, welches ſich unter der Bruft in einen miederartigen Ausjchnitt verliert. Das 


Aeuefte Moden. | 715 


Latztheil iſt mit drei querlaufenden Borden beſetzt. Die anliegenden Ellbogenärmel 
baben einen glatten Aufſchlag von Surah. Die Taille iſt vorn herab mit kleinen 
Knöpfen geſchloſſen. Der Stehkragen iſt vom Stoff des Kleides. Der hohe Stroh— 
but iſt hinten aufgeſchlagen und die an ber rechten Seite ſehr hoch heraufgehende 
Krempe beffelben mit rothem Sammet belegt. Eine fohöne große Feder legt ſich 
vom Hinterlopf nad vorn auf den niebergebogenen Raud des Hutes. Rother Sonnen- 
Ihirm mit Spitenfalbel. An Stoff zu diefem Anzug ift erforderlich: 4 Mtr. Taffet 
zum erften Rod. 5 Mir. 50 Centm. Wollenftoff von 1 Mir. 20 Eentm. Breite. 


Ar. 7. Anzug für Damen, 
Kurzer falfcher Rod aus Taffet. Auf einem zweiten Rod aus fenerfarbenem 
Surab, der vorn ziemlich glatt füllt, befindet fi ein Doppelrod aus gleichfarbigem 
Surab, deſſen VBorbertheil am untern Rande in Bogen ausgejchlagen ift, in ber 
Zaille nad) der Hüfte zu in Falten genommen wird und von ba aus nach unten bin 
eine fih verbreiternde Tollfalte bildet. Im Rüden ift der Rod zu einem Bauſch er- 





Nr. 9, Kinder-Rutte, 


boben. Born über dem Zadenrand befindet fich eine breite, reiche Stiderei von far- 
biger Seide. Die Taille ift aus broſchirtem, feuerfarbenem Peline angefertigt und 
bat an den Seiten der Vorbertbeile ein angejchnittenes, lang herabreichendes Theil, 
welches bis ziemlih an den Rand des Rodes reicht. Der Stehlragen, ſowie das 
glatte Fatztbeil ift vom Stoff des Kleides in langes Faltentheil aus Surah be- 
grenzt das Latztheil. Ein Miedertheil aus feuerfarbenem Sammet hält die Taille, 
fowie die Faltentheile, welche bis weit auf den Rod herabreichen, zufammen. Die 
Enden der Faltentheile find mit Paflementen und Perlen verziert. Auf der Taille 
neben dieſen Theilen find Auffchläge von feuerfarbenem Sammet angebradht, welche 
fi) in dem Miedertheil zugeipitt verlaufen. Die furzen, nicht bis zum Eflbogen 
reihenden Aermel vom Stoff des Rodes haben einen Aufjchlag von fenerfarbenem, 
brodirtem Peline. Sehr lange Handſchuhe bebeden volftändig den Arm. Der jehr 
hohe ecrufarbene Strohhut, deffen Krempe auf der rechten Seite hoch aufgebogen ift, 
bat einen Auspuß von feuerfarbenen und roſa Bandſchlupfen, nebft einem farbigen 
Bogel. Die Krempe des Hutes ift mit feuerfarbenem Sammet belegt. An Stoff zu 
biefem Anzug find 4 Mir. 20 Centm. Taffet zum erften Rod verwendet. 14 Mir. 
60 Centm. Surah zum Rod, ber Zunila, ben Draperien und Aermeln. 2 Mir. 


BB 





716 Neueſte Moden. 
10 Gentm. Peline zur Taille und 90 Centm. Sammet zu den Auffchlägen und zum 


Mieder. 
Ar. 8. Anterkleid für Mädchen. 


Das aus bedrudtem Fonlard angefertigte Unterkleidchen hat einen anſchließen- 
den Rüden mit Bloufenlag und einen Steblragen. Den zwei, den Rod bildenden 
Falbeln ift eine dritte im Rüden beigegeben. Alle drei FZalbeln, ebenfo Die Aermel— 
ränder find in Zaden geſchnitten und beftidt. 





Nr. 10. Ueberfragen. 


Ar. 9. Kinder Kutte. v 


Die aus blauem Batift angefertigte Kutte ift rotb beſtict. Dem vorn aflatt 
fallenden Rodtbeile ift oben am Borbertheile ein Faltenftreifen eingefiigt, welcher in 
der Taille durch Reihfalten befeftigt ift. Den Halsausjhnitt umjäumt eine geitidte 
Falbel. An der Seite befindet fih eine Heine Tafche, welhe am obern Rand cben- 
falls beftidt ift, wie ber Nand des Rodes unten. Die Aermel find ziemlich weit und 





Nr. 11. Etulpe. 


fang und endigen in einem Heinen Bündchen mit beftidter Falbel. Die Kutte wird 
im Rüden vermittels Knöpfe geichloffen. 
Nr. 10. Aeberkragen. 
Drerſelbe ift aus feinen Spiten und geht im Rüden, fowie an dem Bordertbeile 
ziemlich weit herab glatt auf die Taille, die Aermel frei laſſend. 
Nr, 11. Gtulpe. 


Dieſe Stulpe ift von gleicher Spite wie der Kragen und ringsum gleich⸗ 
mäßig breit. 


etacnon Berlag und Drud von A. 9. Payne ın Neupnig bei Leipzig. 


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